Georg Engel
Claus Störtebecker
Georg Engel

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VII

Der Mond verglomm in seinem feuchtblassen Hof, als Claus aus dem toten Geäst des Sassenwaldes auf die Höhe der Dünen heraustrat. Unten strich ein kräftiger Wind über Strand und Meer, so daß der Dunst hinweggefegt und eine weite Aussicht für den Ankömmling eröffnet wurde. Schwarz und finster wogte die schwellende Fläche vom Rande des Horizontes, und ihre dunklen Hügel wandelten schräg in schwermütigen Reihen der fernen Bucht von Binz entgegen. Dazu glitt von überall her ein nie abreißendes Summen über die Bahn, als ob im Morgengrauen verschlagene Bienenschwärme den Heimweg suchten.

Und doch, dort unten tagte es, und der Spuk der grauen Buchenstämme war überwunden. Endlich! Der Heimgekehrte, Übernächtige wandte sich noch einmal nach dem kalten, nebelhauchenden Gehölz zurück, um ungläubig zu ergründen, ob wirklich all die wirren Gestalten, die ihn bisher begleitet, dort hinten zwischen den triefenden Sträuchern vom Boden eingeschluckt seien. Aber nichts rührte sich mehr, und es war wohl nur seine verzweifelte Erinnerungsgabe, wenn ihm noch immer spitze, halb irrsinnige Töne durchs Gehör schnitten. Es klang wie das Weinen eines geplagten Kindes. Claus schüttelte sich und spritzte die Regentropfen von der Stirn. Dann trat er weiter hinaus, und seine Augen tranken durstig das stille große Bild. »Ja, dort draußen«, murmelte er wunschbeflügelt, »dort draußen!« Die uralte Vorstellung der Küstenbewohner befiel ihn, der silberne Ring, der die bewohnte Erde umgürtete, er besäße auch zugleich die Kraft, alles Ungemach, alles Leid der Sterblichen in Freiheit und Vergessen aufzulösen. Und er wußte noch nicht, daß alle Wasser der Ozeane nicht genügen würden, um die Brandmale zu kühlen, die seine zarte Seele heute nacht empfangen. Der Wind knisterte um ihn wie Fahnenrauschen, und das Meer sang unter ihm sein tausendstimmiges Schlachtlied, das riß den Leichtentflammten fort. Beide Hände warf er empor und schrie zur Antwort hinunter: »Ich will – ich will.« Was er freilich damit in heiliger Entschlossenheit beschwor, wer könnte es angeben? Und doch – es war sein Bündnis mit dem Weltwillen. Und der Weltwille gebiert die Tat. Und die Tat allein ändert das Geschaffene.

In dem unerklärlichen Gefühl der unverdienten Entsühnung schickte er sich zum Abstieg an. Da wurde er noch einmal aus seinen goldigen Wolken herabgerissen. Tief unter ihm, dort, wo zwischen den beiden vorspringenden Hügeln das Häuschen der Mattenflechterin Knuth eingeklemmt lag, dort bewegten sich trotz der frühen Morgenstunde ein paar unerkennbare schwarze Punkte. Es sah aus, als ob hungrige Krähen um einen Bissen Fleisch stritten. Claus stutzte. Das waren doch Menschen? Was suchte das Gezücht dort? Gerade an jener einsamen Stelle? Und in langen Sprüngen setzte der mißtrauisch Gewordene von den Dünen herab. –

Fast im gleichen Augenblick trafen sich drei Männer vor der windschiefen Pforte der Mattenflechterkate, die sonst nur für Eingeweihte sichtbar, wie ein großer brauner Pilz zwischen dem Geröll herabhing. Vom Strand aus war es der Vogt, der mit schwerer Faust und lautem Gepolter gegen die Tür schlug, während über den Dünenweg, kaum einen Gedanken später, ein pelzgekleideter Jägersmann mit seinem Knecht um die Ecke der elenden Siedlung bog. Unmittelbar vor dem Eingang stießen sie aufeinander. Überrascht, verdrießlich schob sich der vorderste der Schützen die grüne Schute aus der Stirn und fuhr den Vogt an, als wäre dieser soeben auf einer Überschreitung seiner Befugnisse ertappt worden. Aber zugleich sprühte dem Jäger verräterisch eine Welle der Verlegenheit über die Wangen.

»He, was gibt's?« rief er, durchaus nicht über die Begegnung erfreut.

Langsam zog der Vogt die Lederkappe vom kahlen Schädel.

»Ich bin's, Junker«, erklärte er ohne sonderliche Furcht. »Laut rentmeisterlicher Verfügung muß ich –«

Allein ehe der Satz zu Ende langte, wurde von innen der Querbalken zurückgeschoben, und spähend, kaum notdürftig bekleidet, beugte sich Anna Knuth über die Schwelle. Vor dem Morgennebel verzog das Mädchen ihre nur durch ein Linnenhemd geschützten Schultern, und unter dem kurzen Rock fröstelten die nackten Füße. Ihre reichen, blonden Haare fielen ihr noch ungeordnet weit über den Rücken. Statt einer Anrede legte sie nur bittend den Finger vor die Lippen, zum Zeichen, daß vor allem die Ruhe nicht gestört werden möge; dann glitten ihre noch immer kindlichen Augen scheu und bittend zu dem Grafen hinüber, und ihre ganze Gestalt begann zu zittern wie ein Tier, das den Schlachthieb erwartet. Die Bewegung erzählte von unentrinnbarer Armut, von Verfolgung und Umstricktwerden und dem jammervollen Elend des nahen Erliegens. So sprechend war die Gebärde, daß selbst dem Junker von Cona ein unnatürliches Lachen entfloh.

»Da bin ich«, rief er gepreßt, obwohl der Gruß munter klingen sollte, und ohne daß der Jäger begriff, wie ein Aufmerksamer leicht das abgekartete Einverständnis hinter diesem Ausruf entdecken könnte. Eine Weile blickte daher auch der Vogt schweigsam von einem zum anderen, dann jedoch verzog er die struppigen Augenbrauen, zuckte die Achseln und wandte seine wuchtige Bedrängergestalt wiederum dem Mädchen zu. »Ja, das hilft nichts«, beharrte er, »die Frist ist abgelaufen. Wie steht's?« Auf die brummige Forderung lief ein erneuter Schauder um die Schultern der Gemahnten, die Farben auf ihren Wangen wechselten, und während sie halb willenlos in die Hütte zurückwies, stotterte sie, um doch irgend etwas zu erwidern:

»Wahr und wahrhaftig, Mutter liegt krank.«

Der Vogt griff sich an die Bartkrause, er schien an die Ehrlichkeit des Einwandes zu glauben.

»Ich weiß«, gab er zu, »wo fehlt's?«

Jetzt hielt sich die Blonde an dem Pfosten fest.

»Das Feuer schlägt ihr aus«, stammelte sie, von der Aussicht getäuscht, ihr Ungemach könne ihr vielleicht doch Mitleid werben. »Sieht und hört nichts.«

»Schlimm«, murmelte der Vogt, »die schwarzen Nebel sind schuld.« Aber gleich darauf schlug er an seine Ledertasche, und in Ausübung seines harten Berufes fragte er weiter: »Hat sie dir den Wehrpfennig ausgehändigt?«

Da riß die Kleine ihre blauen Augen weit auf, und überzeugt, daß ihr jetzt die letzte Hoffnung schwinde, ließ sie den erhobenen Arm sinken, um zerknirscht und auf alles vorbereitet den Kopf zu schütteln. Sie sah aus wie ein eben gefangener Vogel, der kampflos und betäubt durch die Stäbe blinzelt.

»Ja, dann hilft das nichts«, entschied der Vogt, und nach einer Weile knurrig, »kannst du dir's nicht von den Beckeras leihen?«

Noch war es ungewiß, ob das Mädchen in seiner Verständnislosigkeit den ihm hingeworfenen Faden aufzuraffen vermöge, als etwas Rasches, Unerwartetes geschah. Mißfällig hatte der junge Graf schon lange diesen Verhandlungen gelauscht, wobei er von Zeit zu Zeit seinen beiden dänischen Doggen, die ihn schlangenhaft umstrichen, zum Scherz die Köpfe zusammenstieß. Jetzt aber schob sich Malte Cona ungeduldig an das Mädchen heran, ganz dicht und eng, so daß der schmale Türspalt für die beiden Körper fast nicht mehr ausreichte, und es war wirklich kaum wahrnehmbar, wie nun der Jäger seiner Nachbarin, die seine Hilfe nicht im geringsten unterstützte, geschickt hinter ihrem Rock ein kleines Lederbeutelchen in die Hand spielte. Kaum spürte die Tochter der Mattenflechterin freilich den prallen Gegenstand zwischen ihren Fingern, als eine auffällige Veränderung mit ihr vorging. Ihr ganzes Gesicht wurde so weiß und eben wie Leinen auf der Bleiche, die Füße versagten ihr den Dienst, und ihre vorher noch so klaren Augen senkten sich matt und schuldbewußt auf das Riedgras vor der Schwelle. Einem fremden Willen untertänig, völlig ohne eigenen Trieb streckte sie dem Vogt das Empfangene entgegen.

»Hier«, murmelte sie tonlos. Und dann plötzlich, als ob sie etwas zwänge, sich des Geldes schnell wieder zu entäußern: »Da – da – nimm.«

Zu deutlich redete der Vorgang, als daß er mißverstanden werden konnte. Wieder ließ der Vogt seine Blicke prüfend von einem zum anderen gleiten. Dann aber nahm er den Beutel langsam in Empfang, um bedächtig und ohne Eile den Inhalt zu überzählen.

»Es ist zuviel«, stellte er endlich fest.

»So behalt den Bettel«, rief der junge Graf grimmig.

Der Vogt jedoch blieb undurchdringlich wie stets. »Die Knuths haben nichts zu verschenken«, meinte er gelassen, während er dem Mädchen den Überrest bereits zurückreichte, und rätselhaft setzte er noch hinzu: »Ihr wißt vielleicht nicht, Geld kehrt bei armen Leuten gar selten ein.«

Damit begann der struppige Mann umständlich seine Ledertasche aufzubinden und schien nicht übel Lust zu verspüren, auch bei dem, was nun folgen sollte, den Zeugen abzugeben. Allein der Junker, den die feuchte Kälte immer schneidender umwitterte und der durch die Nähe des demütigen, zitternden Geschöpfes daran erinnert würde, daß er zur Jagd erschienen wäre, zur Menschenjagd, er beschloß all den unnötigen, schon seit Monaten ertragenen Hemmnissen durch ein Herrenwort ein Ende zu bereiten.

»Komm, Dirn«, forderte er bedenkenlos und doch mit einer Art gutmütiger Frische, »ich will dir Ehre antun. Gib mir dort drinnen einen Schluck Heißes, und ich werde dich loben.«

Hier riß der Vogt gewaltsam die Senkel seiner Tasche zusammen und brach in einen schweren Wolfshusten aus. Das Mädchen jedoch, ohne auf die Anwesenheit des anderen noch weiter Bedacht zu nehmen, spannte beide Arme gegen die Pfosten der Tür, so daß der Eingang gewehrt wurde, und indem sie ihre hellen Augen an den stattlichen Menschen hing, rief sie in hoher Angst, aber zugleich auch wie in wirrer andringender Neigung:

»Bedenkt, Herr, das könnt Ihr nicht wollen. Meine Mutter – sie sieht und hört nichts.«

Da lachte der Jäger halb vor Trotz und halb vor Scham, weil ihn ein Dirnlein von ihrer Schwelle treiben wollte. Hastig umspannte er ihren Arm und drückte ihn zur Seite.

»Mach keine Männlein«, redete er ihr zu, »was braucht mich die Alte zu sehen, wenn ich bei dir bin?«

Schon setzte er seinen Fuß auf die Schwelle. Das schwache Geschöpf aber, im Gefühl, wie es jetzt von jeder äußeren und inneren Hilfe verlassen würde, lehnte beide Fäuste gegen seine Brust und hauchte ohne Widerstand noch Zorn:

»Habt Erbarmen, lieber Herr, habt Erbarmen.«

Wäre jetzt ihr Bedränger mit ihr allein gewesen, vielleicht hätte er scheltend und schimpfend von ihr gelassen, denn die schlichte Sauberkeit ihrer Magdschaft verfehlte nicht ganz ihren Eindruck auf sein herrisches und nur arg verwöhntes Gemüt. Allein zum Unglück sahen die beiden Fremden dem Spiele zu, wie konnte da der Grafensohn die Zurückweisung einer solchen Katendirne hinnehmen? Spöttisch verzog er die vollen Lippen und stieß einen gellenden Pfiff aus, so daß die beiden Tiere hoch an ihm in die Höhe strebten.

»Vogt«, rief er mit seinen dunkel sprühenden Augen, die in ihrem Jähzorn denen von Claus Beckera so sehr glichen, »wie ist das? Gehören hier nicht längst ein paar Fischerknechte her? Wie wäre es, wenn wir das Nest ausräumten und die Weiber auf den Hof brächten?«

Die Drohung war wohl nur darauf berechnet, das Sträuben der Blonden vollends zu überwinden, auf den Vogt blieb sie jedenfalls ohne Wirkung. Ruhig schloß der breitschultrige Mann seine Tasche, packte seinen Kronenstab fester und schüttelte endlich bestimmt das wuchtige Haupt.

»Dazu habe ich keinen Auftrag«, lehnte er die Zumutung ohne ein Spur von Entgegenkommen ab. »Ich tue, was meines Amtes, nicht mehr.«

»Nun, dann pack dich«, befahl der Jäger dunkelrot und gereizt.

»Gut, Herr, gut, das kann ich tun«, stimmte der Vogt immer mit derselben Bedächtigkeit zu, »warum nicht? Gehabt Euch wohl.«

Ehrbar, als wäre nichts weiter geschehen, lüftete er seine Kappe und strebte dann weiten Schrittes den Dünen entgegen. Allein, kaum hatte er den Saum der Weidenbüsche erreicht, so ließ er sich auf eine Sandwelle niedergleiten und duckte seinen ungefügen Leib vorsichtig hinter die übriggebliebenen braunrostigen Blätter der Ruten. »Potz Velten«, dachte er bei sich, »die Art meint immer, sie sei allein auf der Welt. Wie lange läßt man sie wohl noch den Rahm von der Milch schöpfen?«

Damit stieß er seinen Stab in den Boden und lauerte.

Vor der Katenhütte jedoch hatte unterdessen die Sucht des Besitzergreifens den Streit entschieden. Zwischen Bitte und Befehl war der Jäger in den halbdämmrigen Raum gedrungen, ja, er mochte es nicht einmal hindern, daß seine beiden Doggen ihm schnuppernd voranliefen. Jetzt spürten sie in der düsteren Engnis umher, bis die Tiere plötzlich, wie auf einen Schlag, vor einem traurigen Bettgestell haltmachten. Lechzend wiesen sie ihre roten Zungen einem wächsernen Menschenbilde entgegen, das mit geschlossenen Augen und wehenden Atems tief in einem groben Strohsack eingekratzt lag. Es war ein schreckhafter Anblick, als der Eindringling zuerst dieses fieberzuckende Menschenhäufchen gewahrte, und vor den schwarzen Höhlen der Wangen und der spitz hervorstoßenden Nase wich der Unvorbereitete zuvörderst zurück.

»Gott gebe Euch einen guten Tag, Frau«, ermannte er sich allmählich zu einem Gruß, wobei er nichtsdestoweniger die unerbetene Zeugin seiner tollen Leidenschaft nach Kräften verwünschte. »Wie geht's? – Was treibt Ihr?«

Allein aus der Lade drang keine Antwort; nur ein rasches Keuchen vermischte sich mit dem Lechzen der Hunde, und statt der Hingestreckten erteilte endlich die Tochter die Auskunft. Am Kopfende des Bettes stand sie, und während Haupt und Arme ihr schlaff herabhingen, sagte sie leer und geistesfern:

»Sie weiß von nichts.«

»Teufel ja«, nickte der Junker.

Ungemütlich und von der drückenden Stickluft unter dem niedrigen Gebälk benommen, ließ der junge Mensch, einen raschen Blick über das kahle Elend seiner Umgebung wandern, über die Holzwände voll Rauch und Spalten, über den geringen Hausrat, und sein Geruchsinn empörte sich heftig gegen den Dunst eines Haufens von Binsen, der wohl in besseren Tagen zum Knüpfen der Matten benutzt werden sollte. Jetzt lag er zum Trocknen geschichtet auf dem Fachwerk unter der Decke. In all dieser hoffnungslosen Armut gab es nur einen Schimmer, eine Helligkeit, so dünkte es wenigstens den immer heftiger Gespannten, die strömten von den langen Flechten des Mädchens aus. Weißblond glommen sie durch den Dämmer, gleich einem fein gesponnenen Netz jungen Flachses, und an jene seidigen Fäden klammerte sich jetzt der unbeherrschte Wille des vornehmen Gastes fest. Unruhig ließ er sich auf den einzigen Stuhl am Tisch nieder, und da er seine Befangenheit vor dem Wachsbild in dem nahen Bett doch nicht ganz bezwingen konnte, so versuchte er seine Absichten vor den verdorrten Ohren der Lauscherin wenigstens möglichst zu verbergen.

»Komm her, Dirn«, flüsterte er.

Folgsam schob sich die Angerufene heran, man merkte kaum, daß sie dabei die Füße bewegte. Dann stand sie dicht neben dem Jäger. Eifrig griff er nach ihrer Hand.

»Kuck«, murmelte er eindringlich und legte ihre Finger auf sein Herz, »wie es klopft! Du hast es mir angetan.« Als das Mädchen jedoch verängstigt den Kopf schüttelte, fuhr er überstürzt fort: »Fürcht' dich nicht, du dumme Trin', es soll dir fortan besser werden. Hast ja nicht einmal ein Bett! – Sag, wo schläfst du eigentlich, du bleiche Leinwand?«

»Dort, Herr.« Sie wies auf den Schragen der Kranken.

»Da?«

Bei dem Gedanken, daß dieser jugendlich warme Leib allabendlich seine Ruhe neben dem grauenerregenden Gerippe suchen sollte, fuhr ein sichtbares Frösteln über den Hals des Mannes. Überredend legte er den Arm um ihre Hüfte, aber kaum spürte er die schlanke, sich leise gegen ihn sträubende Biegung des Leibes, da stieg eine heiße Woge von Begehren bis über seine Stirn, und in ihren roten Wirbeln sank er unter.

»Dirn – verfluchte«, stieß er in einer inbrünstigen, unvernünftigen Hitze hervor. Und während er die Blonde zu sich auf den Stuhl zwang, da kümmerte er sich den Teufel weder um die kurzen Atemzüge, die dort in der Ecke den Strohsack im Schaukeln hielten, noch um die hölzerne Starrheit jener Glieder, die er jetzt durchaus zu biegen und zu brechen strebte. Nur Glut brodelte in ihm und die planlose Verworrenheit des Ergreifens. »Goldfuchs«, stotterte er bei dem heißen Ringen, »komm, sperr dich nicht. Seit Monden bin ich hinter dir her – ja, ja, du weißt es ganz gut. Du bringst mich schier von Sinnen. Oder sag, Dirn, sag, bin ich dir etwa zuwider?«

Sie lag schon in seinen Armen, schreckverwirrt, atemberaubt, aber dicht vor seinem Munde bat sie noch immer mit dem rührenden Bewußtsein der Verlorenen:

»Herr, es taugt mir nicht, darum zu wissen. Schont meiner.«

Da hörte er aus ihrem Erlöschen das Bekenntnis heraus. Jauchzend unter einem hellen Lachen raffte er sie ganz an sich, und in der lebenerschütternden Verschmelzung eines Kusses entschwand ihnen für die Dauer eines fallenden Regentropfens alle Wesenheit. Gleich zwei beseligten Bienen, die selbst der Sturm nicht auseinander treibt, hingen sie in einer unwirklichen, blauen, golddurchzitterten Luft, und das einzige, was die Zeit unter ihnen maß, war der hämmernde Hufschlag ihres Blutes.

Aber dort auf dem Schragen? Öffneten sich nicht ein paar glanzlose Augen? Der tote Silberschein eines geschlagenen Fisches konnte nicht entseelter zu ihnen herüberglotzen, und so eifrig auch der Betörte sein Haupt hinter den Schultern des Mädchens versteckte, das blinde Metall jenes Blickes schmolz durch die lebende Hülle hindurch.

»Dirn, nun hab' dich nicht länger. Die Alte tut dir nichts.«

Am Fußboden schnupperten die beiden Doggen lebhafter, sie wurden unruhig, schlugen an und prallten dann vor dem Ansturm des Tageslichtes zurück, das zu der geöffneten Holztür hereinschoß. Eine hohe, dunkle Gestalt zeichnete sich schwarz gegen die Helligkeit ab. Da rang sich zum erstenmal ein Laut von den Lippen, die aus Furcht vor dem Junker, aus Scheu vor seinem fremden Glanz und versiegelt von seiner stürmischen Zärtlichkeit bisher der Stummheit verfallen waren.

Ein Schrei gellte gegen die Decke und wurde von dem Querbalken zurückgeworfen: »Claus!«

Dann wurde es wieder still. Ängstlich, betörend still. Man hörte nur, wie das Röcheln der Kranken durch den Raum sägte.

Endlich raffte sich der Junker auf, langsam, unsicher, denn ihn verwirrte nicht nur der Anblick des Mädchens, das beide Hände vor ihr Antlitz geschlagen hielt, nein, auch die unselige Scham des Ertappten, in seinen brennendsten Wünschen Gehinderten fraß bissig an seinem Hochmut. Dazu empörte ihn immer wilder das rätselhafte Schweigen dieses vermaledeiten Sassentölpels, der bleich und atemlos vor ihm stand, als hätte sein zuckendes Maul einen Richterspruch zu fällen.

»Was soll's?« fuhr plötzlich der Jäger in die Höhe und riß mit einem Griff seine Armbrust an sich. »Weshalb arbeitest du nicht, du Flegel? Was hast du hier herumzulungern? Weißt du nicht, was dir gebührt?«

Ja, der große, schlanke Bursche wußte wirklich nicht mehr, welchen Platz er in der Welt einnahm. In diesem Augenblick empfand er nichts als das ungeheure, qualmige Zusammenbrechen all seiner kindlichen Träume, die so lange und zärtlich von seinen Eltern und dem guten Mönch genährt und behütet waren. Nichts – nichts – die Träume hatte ein Lügner so bunt und herrlich angestrichen, auf der Erde tobte lediglich Gewalt, und nur Gewalt konnte das rasende Wüten der Mächtigen brechen.

In die weit aufgerissenen Augen des Jungen sprang ein merkwürdiges Wandern und Schielen, und obgleich der lange Leib sich kaum bewegte, so bemerkte sein Gegner doch mit Grauen, wie die Finger des Burschen wie im Krampf sich öffneten und wieder schlossen.

Gespenster, schwarze, verzerrte Fratzen tanzten um ihn her. Was aus der verruchten Nacht gegen ihn angesprungen war, das drehte sich jetzt heulend um ihn im Kreise. Geschminkte, an Leib und Seele entmenschte Dirnen zausten ihn an den Haaren, taumelnde Galgen fielen über ihn her, entrechtetes, in Hungertürmen vertiertes Volk spie ihn an, und die zu Lust und Nutzen der Macht Gehenkten, sie schleuderten ihre Stricke um seinen Hals und schnürten ihm die Luft ab. Kein Atemzug schlich ihm mehr aus der zerpreßten Kehle, nur ein heiseres Wimmern riß sich mühsam aus der wunden Brust.

Erde, Erde, wo ist ein sicherer Halt vor Entwürdigung und Schande? Wo eine Zuflucht für die Gequälten? Wo ein Richter für die Peiniger und Erbarmungslosen? Nirgends, nirgends. Zerbrach, verwüstete man nicht hier vor seinen sehenden Augen ein stilles, reines, heiliges Gefäß, aus keinem anderen Grunde, als weil es einem Schwelger gefiel, bereits am grauen Morgen ein Fest zu feiern? Hier wollte ein gekitzelter Gaumen sich Speise bereiten aus Claus' eigenem Fleisch, aus Claus' eigenem Blut.

»Vieh«, brüllte der aus seinen Fieberwirbeln Hervortaumelnde und sprang besinnungslos hinzu.

Der Jäger war hinter den Tisch gewichen, nun flog die Armbrust an seine Schulter.

»Knecht«, zischte er in überschäumender, haßverzehrter Wut, »dir wird ein eigener Galgen gesetzt.«

»Freilich, ein eigener Galgen, ich weiß, ich weiß, damit ich doch hübsch jung in der Luft tanzen lerne.«

Ein Satz – etwas Schwarzes fuhr über den Tisch, Bügel und Kolben der Waffe schwankten einen Gedanken lang in der Luft, formlos, bald oben, bald unten, dann ein Schlag, ein dumpfes, weichliches Geräusch, und beide Arme hebend brach der Graf unter den vier Füßen der Platte zusammen. Nicht lange.

Als der Vergewaltigte unter seinem Tisch, mit summenden Ohren und verprügeltem Bewußtsein hervorkroch, da meinte er weit hinten durch die geöffnete Tür seinen Bändiger wahrzunehmen, wie er in weiten Sätzen am Strande dahinfuhr. Über die Schulter hatte sich der Bursche die Dirne geworfen, jene willige Dirne, die dem Gelüst des Grundherrn doch nur aus Bosheit, aus Abgunst geraubt war, und ohne durch die Last behindert zu sein, schien der Strolch, der Aufrührer, auf den doch schon nach Fug und Recht das eiserne Halsband, die Stachelschraube oder der Galgen warteten, dem Schutz seiner heimatlichen Hütte zuzufliegen. Das durfte nicht sein. Auf allen vieren schleppte sich der Gedemütigte bis zur Schwelle, aber während er hier auf die Brust niederstürzte, so daß seine Lippen das Riedgras küßten, quoll es in ohnmächtiger Raserei aus ihm hervor:

»Heda, Thor, Freya, packt an – packt an –«

Und sich noch einmal nach dem Schützen herumwälzend, der seinem Gebieter beispringen wollte, ächzte er sinnlos:

»Schieß – schieß, du Schuft, wenn du den Mordbuben nicht triffst, schmeckst du die Peitsche! Himmel und Hölle, leg an, und wenn du den Heiland mitten durch die Brust spießen solltest.«

Zerrissen, zerstückt wurden Claus alle jene Flüche durch den feuchten Wind nachgetragen, und alsbald spürte er auch das Hetzen der Hunde über den nassen Sand.

Weiter, weiter.

In ihm nebelte nur der eine Plan, diese zur Entwürdigung Bestimmte, die bei vollem Bewußtsein und doch steif und kalt gleich einem Stein aus seinen Armen ragte, der Gier ihres Peinigers zu entziehen. Die künftigen Mütter der Armen brauchten nicht überall entweiht zu werden.

»Eine einzige –«, stammelte er keuchend, »eine einzige muß bewahrt werden. Eine einzige nur.« Er wußte nicht mehr, was er bettelte, denn seine eigene Schande und Bedrückung, sie mischten sich mit dem Schicksal seiner Verwandten. Und so wunderte er sich auch kaum, weil ihm keine Antwort zuteil wurde.

Weiter – weiter!

Da waren auch die beiden Doggen schon nah auf seinen Fersen. Leib an Leib peitschten die Bestien über den aufspritzenden Sand, und der heiße Dampf, den sie ausschnaubten, puffte stoßweise in den dicken Nebel. Einen gellenden Ruf stieß der Flüchtende aus, allein seinen ungestümen Lauf setzte er in wilderen Sprüngen fort.

»Eine einzige nur«, murmelte er noch einmal.

Es zischte etwas. Ein warmer Regen sprühte über den Läufer. Und das Steinbild zuckte und wankte ein wenig in seinen Armen.

»Anna«, schrie er und schüttelte sie.

Da fiel ihm die Last dumpf und dröhnend zu Boden. Und jetzt erst, jetzt entdeckte er den Pfeil, der Hals und Nacken des Opfers durchfiedert hatte. Darauf versank die ganze Gegend eine Weile in Lautlosigkeit, als ob Mensch, Erde und Meer einen letzten Herzschlag erlauschen wollten. Unten auf dem durchweichten Sand reckte sich das Mädchen, es schlug die Augen verwundert gegen den grauen Himmel auf, schüttelte ganz sacht und ohne Begreifen ihr Haupt – und legte sich zur Ruhe.

Entgeistert starrte Claus in das sich verfärbende Antlitz hinab, und währenddessen rannen ihm statt Tränen die warmen Blutstropfen über Stirn und Wangen bis in den schreckgebannten Mund. Und dennoch – der salzige Trank aus dem Kelch des bittersten Leides, das ihm das blinde Walten des Lebens bis jetzt zum Kosten gereicht, er weckte in dem Burschen an Stelle von Entsetzen und Ergebung vielmehr unbändigsten, gebieterischsten Drang zum Dasein. Der Tropfen Blut, die letzte Labe, die ihm die Heimat bot, er floß ihm glühend und sengend durch Hirn und Herz und begann dort von nun an die Welt zu bespiegeln, in rotem Rahmen und doch eisig und unerbittlich klar!

Er sah vor sich ein neu hingestrecktes Opfer der Willkür, den Pfeil in der Kehle und die offenen Augen auskunftheischend gegen den Himmel gerichtet, er urteilte, daß die beiden Hunde nur noch ganz kurze Zeit die Schläferin auf dem Sand umkreisen würden, und er erspähte, wie der Schütze des Grafen und hinter jenem, unwillig zwar und doch gezwungen, der Vogt in weiten Sätzen auf ihn einstürmten. Da wußte er, daß der Zeiger seiner Sonnenuhr auf Leben wies und noch nicht, noch lange nicht auf Untergang und Ausgelöschtwerden.

Ein düsterer, beteuernder Blick war es, mit dem er von der Toten schied, der ersten, die ihm das Menschheitsmeer vor die Füße gespült, ein zweiter, längerer flog über die Dünenberge zu der Hütte empor, aus deren Schornstein ein friedlicher Rauch kräuselte. Dann wandte er sich jäh und versuchte das Unerwartete. Ein wilder Sprung zur See, die grau und verschleiert auf ihn zukroch, unter seinen Füßen splitterte die dünne Eisdecke, bis zu den Knien sank er ein, dann setzte er abermals in die Höhe, gewann für ein paar Schritte das gefrorene Feld, bis er von neuem in dem berstenden Glas verschwand. Aber gleich darauf hatte der Vorwärtsdrängende das offene Wasser erreicht, und weit ausholend warf sich der geübte Schwimmer hinein. Seine Lebensflamme brannte so stark, daß sie die lähmende Kälte des Elements überwand. Auch hatte er sich den Wogen nicht planlos anvertraut, denn von seinen scharfen Augen war längst ein kleines rotes Segel erspäht worden, das voll gebläht gegen den Strand stürmte.

Heino Wichmann!

Ja, dort hinten, gegen die schwarze Wand des Wassers, dort flatterten die blonden Haare des Kleinen im Wind, geduckt hockte der Meister der Schiffahrt am Steuer, und während das überspülte Haupt des Flüchtenden ab und zu hoch aus den rollenden Fluten auftauchte, da summte ihm die Stimme der Hoffnung zu: »Er sieht dich – noch einen Schlag, und noch einen – er sieht dich.«

Hinter ihm heulten die Hunde und jagten fangbegierig über die noch ungebrochene Fläche, rauhe Stimmen schrien, ein Pfeil sauste über den Schwimmer hinweg und schnitt unhörbar in die Wellen – der Atemlose, vom Kampf bereits Verwirrte schickte dem Todesboten nur ein wildes, verächtliches Lächeln nach. Oh, dieses Herumgeschleudertwerden zwischen Vernichtung und Gelingen, das fühlte der bereits in Wesenlosigkeit Fortgleitende, es bildete das Höchste und Köstlichste, was ihm aus des Lebens Abgrund gereicht werden konnte. Es blitzte wie ein heller Edelstein. Es lohnte sich, danach zu greifen oder im Werben darum zu vergehen. Um ihn begann die eisige Flut mit tausend Stimmen zu singen, und während sein Körper sich immer tiefer hinabgrub, da unterschied er noch die Worte des großartigen Liedes, das ihm den Schlummer und die Schmerzlosigkeit brachte. Sie sangen alle zusammen, die sein Dasein jemals umstanden, Pater Franziskus und die Becke, der Vater und Anna Knuth, der junge Graf und die Mutter, Heino Wichmann und all die vielen Bauern, ja selbst der Jude wirbelte das blitzende Beil um sein Haupt und fiel ein in den gewaltigen Chor, der da trotz allem Leid die unverwüstliche Schönheit von Sonne, Erde und Meer pries und die Feiertäglichkeit jedes wilden, unruhigen Geschehens.

Claus gurgelte, noch aus der Tiefe wollte er einstimmen in dies allgemeine Lob, da spürte er, wie er ohne sein Zutun stieg und stieg, sättigende Luft drang zu ihm, durch die Schwärze brach Licht und öffnete ihm die Augen, und weit vor ihm dehnte sich die Freiheit des Unbegrenzten. Er lag im Kahn, und über ihn beugte sich Heino Wichmann. Das Segel war herumgeworfen, das Bugspriet zeigte gegen die offene See. Hinter ihnen schrumpfte die Küste immer dünner zu einem langen schwarzen Arm zusammen, der liebevoll das dunkle Schwellen an sich zog. Kaum unterschied man noch die höchsten Erhebungen der Insel mit ihren finsteren Waldkronen. Mühsam raffte sich Claus bis zur halben Höhe empor und schickte einen müden Blick aus. Seine Glieder waren noch von seinem Willen und seinem Bewußtsein getrennt, und aus seinen Kleidern floß stromweise das Wasser.

»Heino«, seufzte er, indem sein Herz dem weiten, weiten von Qualm und Nebel erfüllten Raum unruhig entgegenschlug, »wohin führst du mich?«

»Wohin?« Der andere streifte den daniederliegenden Gefährten mit seinem seltsamen Augenspiel, dann brach er in sein gewöhnliches Kichern aus. »He, Bübchen«, meinte er, »welch eine kitzliche Frage! Wohin geht der Mensch, wenn er einen Fuß aus der Tür setzt? Weißt du das? Ich weiß es nicht, denn der Weg kommt meistens auf den Wanderer zu. Aber ängstige dich nicht, ich glaube sagen zu können, ich führe dich deine Straße.«

Dabei stieß der kleine Strohblonde wie zufällig mit dem Fuß gegen etwas Klirrendes. Und siehe da, es war der Ravenneser Hieber, den er bei seiner Ankunft getragen, und neben jenem ringelten sich die Reste der ehemaligen Goldkette. Und jetzt – jetzt entdeckte Claus auch, daß unter der Steuerbank ein kleiner Flechtkorb verborgen stand, der Brot und Milch enthielt. Es war augenscheinlich, hier an Bord war alles für eine längere Fahrt vorbereitet.

»Heino«, rang der Liegende seiner Schwäche ab, »du wolltest dich von uns fortstehlen?«

Der Angeredete griff fester in das Steuer und verglich die Spitze des Bugspriets mit dem Silberband des Mondes, dessen Phantom noch am Tage durch den Seequalm dämmerte. Dann erst wies er ausweichend und in seiner spitzfindigen Art den erhobenen Vorwurf zurück.

»Sei still, Büblein, was heute geschieht, braucht morgen nicht zu geschehen. Mich dünkt, es lief für dich nicht übel ab, weil ich meine Tage hier für erfüllt hielt. Aber nun verkünde auch du mir, warum man dich mit Hunden vom Strand deiner Väter hetzte? Nicht wahr, du frommes Kind, das ist dir doch geschehen?«

Da kroch Claus bis zur Steuerbank heran, und seine Arme leidenschaftlich um das Knie seines Lehrers schlingend, ließ er unter Tränen und Verwünschungen, unter Haß und Zweifeln alles aus sich herauspulsen, was die letzte Vergangenheit ihm an Traum und feindlicher, unbegreiflicher Wirklichkeit entgegengeschickt. Es wurde das überströmende Bekenntnis eines Erdenläufers, der sich mit deutlich gefühlten Schwingen zum Himmel heben will und jetzt vor Schmerz aufheult, weil die geballte Kugel des Lehms, des Schmutzes und des Kotes an seinen Füßen klebt.

»Sag mir, Heino Wichmann«, flehte er zum Schluß inbrünstig, während er den Magister mit beiden Fäusten beinahe von seinem Sitz hob, »wer – wer gab diesen Ungerechten, diesen Blutsaugern, Peinigern und Landschluckern jene fürchterliche Gewalt? Wer beugte ihnen diese Tausende demütiger Nacken unter die Füße, wer – wer?«

Mit herb verzerrtem Munde schaute der Steuermann auf den in wilden, zuckenden Feuern Verglühenden hinab.

»Wer?« wiederholte er, und in seinen zwiefarbigen Augen funkelte etwas wie die Befriedigung über ein endlich erreichtes Ziel. »Wer ihnen das alles gab, mein Cläuslein? – Ihr Wille.«

»Und wir?« stammelte der Junge, in Enttäuschung zurücksinkend. »Gib auch uns eine Hoffnung!« »Wir? Wir suchen noch nach unserem Willen.«

»Suchen?«

»Aber wenn wir ihn gefunden haben«, sagte der Kleine unheimlich leuchtend, »dann werde ich mir im Fürstenprunk des Kaisers Tochter laden, und du, Bübchen, magst meinetwegen auf dem Sinai stehen, um neue Gesetze in die Tafeln zu graben.«

So fuhren sie noch manche Stunde in das Meer hinaus. Der Magister das Steuer in seinen feinen Händen, und auf die Schulter des Freundes gestützt der Junge, das Haupt unabänderlich dorthin zurückgewandt, wo nur noch der sich niederwölbende Horizont die Küste verriet. Längst war sie hinter den ruhig tanzenden Wellen versunken, und doch zauberte sich der Sassensohn unaufhörlich das kleine Stückchen gelben Sandes vor und auf ihn hingelagert das tote Mädchen, dessen offene Augen auch jetzt noch verständnislos auf Leben und Vergehen zurückblickten. Abermals schlug ihm das Herz wie eine Trommel, die zum Kampf fordert.

Allmählich sank der Tag, die Wogen wanderten breiter daher, und ihre Hügel bedeckten sich im Widerspiel des Mondes mit tausend unruhigen Silberameisen. Gegen das Bugspriet aber schwoll das Ungewisse, der Dunst, das Geisterreich des Nebels tat sich auf. Da – gerade als Claus an Gefahr zu glauben begann, da nahm er wahr, wie sein zwerghafter Gefährte plötzlich gegen alle Regel das Steuer freiließ; im nächsten Augenblick war das Segel herabgerissen, und dann – in dem Tor der Dämmerung spielten verwunderliche Zeichen auf und ab. Ein rotes Licht tanzte hervor, ein grünes schoß darüber hinweg, eine seltsame Zwiesprache huschender Feuerchen wurde daraus. Und ehe der schreckgebannte Zuschauer seinen Gefährten noch anrufen konnte, da hatte der Magister hastig in seinen Gürtel gegriffen, und gleich darauf schwang sich schrill und gellend ein nie gehörter Pfeifentriller über die Flut. Der weckte in dem Qualm einen ähnlichen Laut. Nur vielstimmig, verzehnfacht kam es über die Fläche geschwirrt, und nun schwoll auch schwarz und turmhoch die ungeheure Brust heran, aus deren Tiefen dieses unheimliche Gekicher ausgestoßen wurde. Unvermittelt starrten zwei sonnengroße Augen auf die Meerfahrer nieder, rot und grün, eine breite Treppe fiel an dem hohen Bau herab, und wie im Traum fühlte sich Claus von den willensstarken Fingern seines Führers über die Stufen gezerrt.

An Bord des Schiffes – eines drei Stock hohen, wie es der Junge vordem niemals geschaut – wurde es hell. Eine Laterne wurde ihnen vor das Gesicht gehalten, ein Schwarm bärtiger, verwogener Gesellen umdrängte die Fremden, und eine starke Stimme schrie nicht eben freundlich:

»He, ihr Vögel, wer hat euch unseren Pfiff beigebracht?«

»Du bist ein Kalb, Zeiso Ulbrecht aus Wismar«, erwiderte der Magister seelenruhig und versetzte dem Laternenträger eine schallende Maulschelle, »kennst du jetzt meine Handschrift?«

Ein Tumult entstand, aber gerade der Gezüchtigte wehrte mit Armen und Füßen die hinzuspringenden Seeleute ab und brüllte halb toll vor Freude:

»Jungens, Jungens, Mord und Hagel, das Zwerglein ist wieder da, die Brandfackel von Hamburg, der lateinische Hieber. Seht ihr nicht die goldenen Jungfernhaare? Jungens, Jungens, wie werden jetzt die Goldstücke wieder springen. Viktoria für den Hauptmann Wichmann!«

»Heil dem lateinischen Hieber – Viktoria für den Hauptmann Wichmann!«

»Es ist gut«, nickte der Kleine gelassen, »und jetzt führt mich zum Admiral.«

In dem Kreise aber regte sich kleinlauter Widerspruch. »Er hält Kriegsrat«, hieß es.

»Da gehöre ich hin«, bestimmte der Magister stolz, und sich zu seinem Begleiter zurückwendend, dessen Antlitz bei den letzten Enthüllungen bleich, wie nie zuvor, durch die Nacht starrte, sagte er beinahe mitleidig:

»Fasse dich, Cläuslein, du befindest dich auf der anderen Seite der Welt. Dort das anfänglich Gute zum Schlechten verzerrt, hier das ursprünglich Schlechte fürs Gute eingesetzt. Narretei und Wahn, hüben und drüben. Nur eines haben wir vor den anderen voraus: wir sind vorläufig noch die Schwachen und Ausgestoßenen, aber aus ihnen geht allemal das Heilige hervor! Komm, Bübchen, ich führe dich jetzt zu einem gar großen Herrn – Gödeke Michael.«


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