Georg Engel
Claus Störtebecker
Georg Engel

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II

Goldgrüne Schatten spielten um die Buchenwipfel hoch über der roten Klostermauer. Auf einer der verfallenen Grasstufen, die in breiten, unkrautbewachsenen Abständen zu der schmalen Eingangspforte hinaufleiteten, hatte sich ein einsamer Bruder hingelagert. Achtsam trug er in einer Falte seiner Kutte ein paar Brosamen weißen Hirsekuchens verborgen, und nun streute er die Krumen in weitem Bogen den Finken, Meisen und Amseln des Waldes hin, die in einiger Entfernung hoch aufhuschend nach den leckeren Bissen pickten. Noch hatte der Einsame seine gefiederten Freunde nicht allzulange gefüttert, als der Schwarm plötzlich schwirrend und rauschend auf die untersten Zweige der Buche abzog, stutzend vor eiligen Schritten, die den Waldpfad heraufklangen. Der Klosterbruder hob das Haupt. Der Tritt, dieses hastige, sprunghafte Ausgreifen deuchte ihm bekannt. Seit sechzehn Jahren fast hatte er ihm prüfend und abschätzend gelauscht. Und jetzt – aus dem schwarzgrünen Bogengang stürmte es hervor. Ja, Pater Franziskus kannte jene schlanke, geschmeidige Knabengestalt in dem weißen Linnenkittel, oft hatte er die wohlabgemessene Form dieser Knien und Waden in ihrer braun gesonnten Nacktheit bewundert, mit heimlichem Schrecken aber fast immer in die schwarzen begehrlichen Augen hineingeschaut, die wie zwei flimmernde Abgründe in dem schmalen Jugendantlitz brannten, ewig bereit, Nahes und Fernes zu verschlingen. Immer aufgetan zu neuer Forderung. Niemals zu müde, um zu suchen und zu fassen. Davor war dem Mönch nicht selten ein drückendes Befremden aufgestiegen, denn diese rastlos einschlürfenden Augen widersetzten sich allzusehr dem geduckten Dasein eines Gassenkindes. Ebenso wie die braunen Wellen des Haupthaares das Gebot der kurzen Schur leichtfertig mißachteten.

In weiten, glatten Sprüngen setzte der weiße Schatten durch den Wald. Daher kam es, daß seine Gefährtin, ein etwa vierzehnjähriges Mädchen, dem sein rotes Röckchen hindernd um die entblößten Beine wirbelte, eine geraume Strecke hinter dem Buben zurückblieb. In den Kranz der blonden Zöpfe, die das Kind dichtgeflochten und eng um das Haupt trug, waren bläuliche und rötliche Muscheln gesteckt, und so erhielt die Kleine ein fremdartiges und wildes Aussehen. Zu dem sanften Gesicht wollte der absonderliche Schmuck keineswegs passen. Auch zögerte die jetzt ruhiger Schreitende und griff sich ein paarmal verstohlen in die Flechten, in sichtlicher Furcht, wie man das blitzende Stirnband an der Klostermauer beurteilen würde.

In der Tat war der ungewohnte Zierat das erste, was dem Bruder, während er sich auf seiner Grasstufe ein wenig aufrichtete, störend ins Auge fiel. Halb unwillig riß der Ruhende ein paar Halme aus, bevor er mit einer raschen Kopfbewegung nach den Muscheln wies:

»Wozu das, Anna? Was soll der Putz?«

Kaum war die Mißbilligung gefallen, als ein tiefes Rot über die Wangen der Getadelten ging, ihre blauen Augen drehten sich ängstlich, und unwillkürlich falteten sich ihre Hände vor der Brust. Dazu warf sie dem Knaben im weißen Kittel einen jähen Blick zu, als wäre dieser der Herr, von dem sie und ihr Schicksal abhingen. Der ließ sie auch nicht im Stich.

»Ich hab's ihr hineingesteckt«, sagte er lachend, und seine Augen weideten sich wohlgefällig an seinem Werk, als möchten sie sich von dem blaufeuchten Glanz der Muscheln nicht trennen. Dazu strafften sich die schlanken Beine, die er schon früher gespreizt aufgestemmt hielt, noch etwas fester in den Sehnen, und der ganze Bursche sah unbekümmert und keck aus, wie wenn nach seinem Wohlgefallen sich Regen und Sonnenschein zu richten hätten.

Unbehaglich bemerkte es der Mönch. Gerade dieses Aufbegehren einer unbändigen Natur suchte er zum Heile des Knaben zu unterdrücken. Der Fischerssohn, dem er anhing, mußte gegen sein Blut geschützt werden. Das war's. Dazu gehörte, daß man seine Unwissenheit nicht allzusehr erhellte. Auch durfte er nicht über seinen Stand hinauswachsen oder gar, wie er es liebte, seine Gedanken fabulierend ins Weite schweifen lassen. Das Meer verlockte zu derartigen Nebelfahrten. Aber solches Entgleiten war einem Sassenkind nicht günstig – jedenfalls in solcher Jugend nicht.

»Nimm der Dirne die Torheit aus den Haaren«, befahl er darum hart.

Claus Beckera rührte sich nicht. Nur seine Augen blitzten hartnäckig auf, und seine Rechte vollführte eine ungläubige, fortschleudernde Bewegung, als könnte er damit die unbegreifliche und ihm unklug dünkende Abneigung des Klosterbruders zerstreuen.

»Es sieht gut aus«, beharrte er noch immer in Bewunderung vor dem fremden Glanz. »Es sind Maimuscheln. Die Gnadenbilder in der Klosterkirche und die Fräuleins auf dem Schloß tragen auch solch bunte Steine.«

»Eben darum ziemt sich der Tand nicht für Anna Knuth, die Tochter der Strohflechterin«, belehrte Bruder Franziskus ruhig und streckte die Hand nach dem abenteuerlichen Schmuck aus, wobei er sich stellte, als bemerke er das heftige Zusammenzucken des wilden Jungen nicht. »Es sind Unterschiede in die Welt gesetzt. Sie stammen von Gott.«

Er zerpflückte jetzt die Muschelschnur zwischen den Fingern, und da er wahrnahm, wie sein halbwüchsiger Freund, um den er sich sorgte, die rote Unterlippe nagte, fuhr er begütigend fort: »Schau um dich, Nikolaus, schau auf den Wald. Hier blüht der Haselstamm und wird nur ein Strauch. Daneben aber die Buche wächst über zwanzig Ellen. Und machen doch zusammen den schattigen Wald aus und müssen sich dulden. So geht es auch bei den Menschen.«

Eine Weile raschelte der Wind durch die Zweige. Dann lachte der Knabe mit einem Male hell auf.

»Was hast du?« fragte Franziskus verwundert.

Heftig reckte sich der im weißen Kittel. Ein Zug von Vorwitz und frühreifer Spottsucht lief über sein schmales Antlitz, als er nun die Rechte bestimmt vorwarf.

»Da sieh, Geweihter«, rief er selbstsicher, denn er gebrauchte häufig für den Mönch die ehrfürchtige Bezeichnung seiner Mutter, »den Hasel- und den Buchbaum hier. Ob die einander gleichen?«

»Nein«, murmelte der Zisterzienser noch im Ungewissen, »sie gleichen einander nicht. Sie sind von verschiedener Art.«

»Aber die Menschen, die gleichen einander«, vollendete der Knabe jetzt rechthaberisch, tat einen Luftsprung und warf seiner Begleiterin einen Blick des Schutzes zu. »Du hast selbst gesagt, wir wären alle nach dem Bild Gottvaters gemacht.«

Da brach der Mönch verstimmt und finster das aussichtslose Gespräch ab. Zumal er auffangen mußte, wie das kleine Mädchen ob der Keckheit des Burschen verstohlen zu lächeln anhob.

»Es wäre dir besser«, brummte er aufgebracht, indem er sich ratlos mit beiden Handflächen die ergrauten Schläfenhaare zurückstrich, »dein Vater hätte dir öfter mit dem Gürtelriemen den Rücken gewalkt.«

Als des Vaters Erwähnung geschah, wich das vorlaute Wesen des Knaben gedankenschnell. Kleinlaut senkte er das Haupt und scharrte mit dem nackten Fuß über den Moosboden.

»Vater rührt mich nicht an«, meldete er nachdenklich. »Er sitzt den ganzen Tag auf der Düne und sonnt sich.«

Jetzt fuhr der Bruder mitleidsvoll über das wellige Gelock des Burschen. Sein Groll war verschwunden. Die Erinnerung an ein ehrenhaft mühselig Leben hielt ihn gefangen. »In deinem Vater sitzt die zehrende Sucht«, sprach er leise, »der Frühling ist für ihn ein gefährlich Ding. Und was tust du, sein Los zu erleichtern, Nikolaus?«

»Ich? –« Der Gefragte blickte suchend umher. Endlich schienen die scharfen Augen etwas erwischt zu haben, als sie rückschweifend einen schmalen Ausschnitt des durch die Stämme schimmernden Meeres entdeckten. »Ich fahre hinaus und lege seine Netze«, verteidigte er sich erwartungsvoll, denn er wollte gelobt werden. »Ich bringe mehr heim als er. Manchmal bin ich die ganze Nacht fort. Und ein sein Segel hab' ich gemacht aus rotem Packtuch«, setzte er befriedigt hinzu, »und kann den Wind vor- und rückwärts abfangen. Davon hat der Vater nichts verstanden. Das ist ein neu und gut Ding. Und Mühe hat es gekostet.«

»Dich nicht«, versetzte der Mönch unbeirrt, wobei er versuchte, den irrlichternden Strahl der schwarzen Augen auszuhalten. »Lüge nicht, Bursche. Dir ist es eine Lust, auf dem Wasser zu liegen und dich mit dem Wind herumzuschlagen. Du dünkst dich dann besser als andere Menschenkinder. Dort draußen fängst du auch die grilligen Gedanken, die dir nicht taugen. Sage, was führt dich heute her?«

Jetzt trat der Knabe näher und küßte zärtlich die feine weiße Kutte des Mönches. Ein Staatskleid der Brüder, das nur bei besonderen Anlässen getragen wurde.

»Mir war bange nach dir, Geweihter«, brach es inbrünstig aus ihm heraus, und er streichelte verstohlen das Tuch des faltenreichen Gewandes. »Es quält mich oft eine Unruhe, wenn ich dich nicht nach diesem oder jenem fragen kann. Denn du weißt alles, was mir fehlt.«

Da verbarg Pater Franziskus ein halbes Lächeln.

»Du Tor«, wies er bescheiden die übertriebene Meinung ab, »ich weiß nicht einmal, was deine Gespielin dort zwischen den beiden Binsendeckeln trägt. Was ist's?«

»Ja, das rätst du nicht«, schrie Nikolaus Beckera, plötzlich wieder in seine wilde Heftigkeit zurückfahrend, und dabei stürzte er auf das Mädchen zu und riß ihm ohne weiteres das grüne Geflecht aus den Händen. »Gib her – ein wunderlich Tier«, stammelte er atemlos und brach die Deckel auseinander. »Dergleichen gibt es sonst nicht in unserem Wasser. Und dir gehört es, Geweihter, dir allein.«

Eine ungeheure Scholle kam zum Vorschein, dunkelgrau mit roten Punkten und wohl anderthalb Fuß im Durchmaß. Der Fisch glänzte perlmutterfarbig in der Sonne. Bewundernd standen die drei um den seltenen Fang herum, und die Kinder lachten vor Freude, als der Pater mit Kennermiene den Finger spitz in den Rücken der Scholle setzte, um wohlgefällig das Fleisch des Tieres auf seine Festigkeit hin zu prüfen.

»Ein herrlich Stück«, gestand der Bruder selbstvergessen und klopfte dem Spender dankbar die Wange. Allein unvermutet hielt er inne, ein feindlicher Gedanke schien seine offene Lust zu hemmen.

»Was gibt's?« rief der Junge erschreckt.

Der Bruder maß ihn prüfend von oben bis unten.

»Hat der Vogt deinen Fang gesehen?«

Jetzt zuckte das kleine Mädchen, wie von einem Streich getroffen, zurück und sprang schutzsuchend hinter den nächsten Baumstamm. Claus Beckera aber wurde seltsam bleich. Dann begannen seine schlanken Glieder vor Zorn oder vor Scham zu zittern. Etwas Haßerfülltes, von Leidenschaft Überwältigtes brodelte aus seinen schwarzen Augen.

»Der Vogt weiß von nichts«, widersprach er hart und schob die Faust geballt von sich. »Ich hab' das Tier die ganze Nacht über zwischen den Strandsteinen versteckt.«

Kopfschüttelnd wies der Mönch das Geschenk von sich, auch entsetzte er sich heimlich darüber, wie wenig sein Zögling zu Bescheidenheit und zu geduldigem Dienst zu lenken wäre.

»Weißt du nicht«, ermahnte er heftig und hob drohend den Finger, »daß all dein Fang dem Grafen eignet? Was soll ich mit dem entwendeten Gut?«

»Essen«, schrie Claus, der noch immer zitterte und bebte. Und wie tückische Pfeile schnellten die Worte von ihm: »Der Graf hat satt. Wie kann er uns das nehmen, was wir fangen? Gehört ihm die See?«

»Wem gehört sie sonst?«

»Dem, der auf ihr segelt und Netze legt«, eiferte der Knabe ohne jedes Besinnen. Schmetternd warf er den Fisch auf den Waldboden und machte Miene, ihn mit seinen nackten Füßen zu zerstampfen.

»Claus«, rief das kleine Mädchen hinter seinem Baum um Erbarmen flehend.

Jetzt sprang auch der Bruder hinzu, bückte sich und riß den Flossenträger an sich. Dunkelrot war das weiße Gesicht des Mönches übergossen. Es blieb unentschieden, ob vor Anstrengung oder weil er den feinen Mund des Fischerssohnes in befriedigtem Triumph lächeln sah.

»Unsinniger«, zürnte er in ehrlichem Unwillen, »Gottes gedeihliche Gabe vernichten? Oh, ich sehe, ich bin zu schwach gegen den bösen Geist, der in dir wohnt. Geh mir aus den Augen und kehre so bald nicht wieder.«

Einen Augenblick blieb es still zwischen den dreien, dann wandte sich Pater Franziskus, den Fisch noch immer in den flachen Händen, und stieg mit weiten Schritten die Grasstufen in die Höhe. Bald mußte er das kaum mannshohe Pförtlein in der Mauer erreicht haben. Da geschah etwas Unerwartetes.

Ebenso schnell wie Claus Beckera in Zorn und Wut hineingerast war, so erfaßte ihn jetzt eine verzweifelte Reue. Urplötzlich füllten sich seine funkelnden Augen mit Tränen, und unbekümmert darum, ob seine kleine Gefährtin sein Handeln begriffe, stürzte er auf die unterste Stufe nieder, wo er die Arme wild emporwarf, als könnte er so den Entweichenden zurückhalten.

»Tu das nicht, Geweihter«, schluckte er schmerzzerrissen. »Ich hab' dich lieb. Und wer soll mir die Hand auf die Stirn legen, wenn mich die Schmerzen quälen, die mich blind machen? Nein, tu das nicht. Geweihter – tu das nicht.«

Noch zitterte die Klage dieses wahrhaftigen Knabenschmerzes unter den sonnenstillen Bäumen, noch hatte sich der leicht gerührte Bruder nicht völlig gewandt, da klang in der Schwärze des Waldes ein Horn. Zugleich hörte man den Hufschlag der Rosse.

Einen Augenblick wurzelten die drei auf der grünen Lichtung fest. Dann geriet Leben in den Mönch, und während er die Scholle eilfertig auf einen Mauervorsprung zu betten suchte, segnete er Gott im stillen für die gelegene Unterbrechung. Wohltätig enthob sie ihn der begehrten Versöhnung mit dem aufgeregten Knaben.

»Sie kommen«, rief er dem verblüfften Fischer zu, der ohnehin alles, was bis dahin geschehen, längst vergessen hatte. Ungestüm war er aufgesprungen, um nun, fiebernd vor Neugier, das dicke Gehölz zu durchdringen.

»Vier – fünf – zehn Pferde«, zählte er, »sieh – sieh, Anna, Stahlpanzer und seidene Mäntel.«

»Dänische Herren«, berichtete der Bruder erregt und strich sich die weiße Kutte glatt, »reiten auf Tagfahrt nach Stralsund und nehmen zur Nacht hier Obdach.« Gespannt drängten sich die Kinder an beide Seiten ihres Freundes. Kaum konnte er sich ihrer erwehren.

»Dänen?« stammelte Claus zweifelhaft. Denn er vermochte nicht mit Sicherheit anzugeben, wo jene Völkerschaft seßhaft wäre. »Was treiben die in Stralsund?«

Doch der Mönch schüttelte ihn ab, ohne den stets regen Eifer des Wißbegierigen befriedigen zu wollen.

»Wozu brauchst du das erfahren, Claus?« weigerte er sich vorsichtig. »Was kümmern dich die Händel von Königen und Herren? Diesmal zwar handelt es sich um eine gerechte Sache«, setzte er mehr für sich hinzu, »gilt es doch, die Horde der gesetzlosen Schuimer zu vertilgen.«

Da packte ihn der Knabe heftig am Kleid. »Was sind Schuimer?« drängte er ungebärdig. »Sag es mir.«

Der Mönch erschrak. Gar zu wild brannten die dunklen Knabenaugen in die seinen. Das geheimnisvolle Wort, das im Volk für die unter der schwarzen Flagge Herumstreifenden umging, schien in der unbeherrschten Seele ein Feuer entzündet zu haben. Wieder rettete der Pater seine Verlegenheit hinter strenge Abweisung.

»Schweig«, befahl er. »Was schiert sich ein Sasse, der von der Herrschaft gut gehalten wird, um die von jedem Ehrsamen gemiedene Brut der Friedlosen? Danke Gott im stillen dafür – der du ein nährend Gewerbe und einen sicheren Platz hast –, daß die Fürsten und Städtischen dem wüsten Drang ein Ende machen wollen. Merk dir, Bursche, solange das Gelichter nicht von der See fortgefegt wird, solange kannst du, wenn du ehrlich bist, unter deinem Dach nicht ruhig schlafen.«

Schon wurden die bunt geschirrten Rosse unter den Stämmen sichtbar. So blieb Pater Franziskus nur noch Zeit, die Kinder beiseitezuschieben und den wesenlos Gaffenden gutmütig zuzuflüstern:

»Schaut auf die Vordersten. Ja, die beiden. Das sind die Gesandten der Königin. Der Drost Reichshofmeister Henning von Putbus. Und der Hauptmann Konrad von Moltke. Gar stolze und mächtige Herren.«

Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte Claus Beckera nun das sich entwickelnde farbige Bild. Er merkte nicht einmal, wie er dabei krampfhaft die Hand seiner kleinen Gefährtin ergriffen hatte. So übergewaltig, so betörend wirkte auf ihn der goldige Glanz der Großen. Allmählich spann sich ein feines, unwirkliches Netz vor seine hinstarrenden Blicke, und er zuckte beinahe schmerzhaft zusammen, sobald aus dem Gewebe ein besonders greller Blitz auf ihn zuschoß. Da –

Trat aus der Pforte über den Grasstufen nicht der Abt mit seinem Prior hervor? Beides hinfällige Greise. In seinem schneeweißen Gewand, das goldene Kreuz klappernd auf den dürren Gliedern, trippelte das Männchen, achtsam auf jedem Absatz die Schleppe hebend, auf den ersten der Reiter zu, um endlich dem Reichshofmeister mit zitternder Hand einen silbernen Pokal entgegenzureichen. Auf breitem Gaul saß der Drost zurückgelehnt, die überlangen Beine gewaltig gespreizt, denn die flickenreiche Zaddeltracht beengte den hochaufgeschossenen Mann. Zwiefältig war das Staatskleid zusammengesetzt, auf der linken Seite rot, auf der rechten gelb, während Arme und Beine umgekehrt bekleidet waren. Dazu saß ihm eine ungeheure blaue Wulsthaube auf dem verkerbten Haupt, von der ihm noch eine riesige blaue Fahne fast bis an die Knie hinunterfloß. Man sah ihm an, der lange Ritt hatte ihm heiß gemacht, denn er schob luftschöpfend an dem schwarzen Ledergürtel unterhalb seiner schmalen Hüften herum, und wenn die tiefliegenden lauernden Augen nicht widersprochen hätten, so hätte man den Reichshofmeister der Königin Margaretha für einen abgedienten und eitlen Höfling halten können. Aber die Augen wohnten ihm unter graustruppigen Brauen wie der Fuchs in seinem Bau. Aufmerksam, sprungbereit. Und über die verschrumpfte Stirn flog manchmal ein erhellender Blitz. Nicht umsonst ging die Sage, diese vermorschte, im Winde schwankende Leiter hätte die Sprossen geboten, auf denen die zierlichen Füße seiner Königin bis in die kältesten Höhen der Staatskunst emporgeklettert wären. Doch die Sage fügte ihm Unrecht zu, denn er selbst hatte in dem fürstlichen Frauengemach erst die unmerklichen Windungen und herzenskühlen Methoden gelernt, die die nordische Welt jetzt in Spannung hielten.

Von ganz anderer Art war sein Gefährte, der dicht neben ihm seinem gescheckten Schimmel wuchtig den schweißenden Hals klopfte. In einem verregneten Lederkoller hockte der Hauptmann Konrad von Moltke auf seinem abgetriebenen, sehnigen Gaul. Sein linkes, von einem grünen Strumpf umspanntes Bein hatte er lässig in die Höhe gezogen, so daß er den Arm darauf stützen konnte. Und auf diesem ruhte wieder der völlig kahle, in der Sonne glänzende Schädel, unter dem eine krumme Geiernase rauflustig und hochmütig in die Welt stach. Die eiserne Sturmhaube, die den beinernen Totenkopf wohl allzusehr drücken mochte, hing ihm schaukelnd vom Sattel, und die rot verschwollenen Augenlider blieben hartnäckig geschlossen, vielleicht vor Müdigkeit, vielleicht aus Abneigung gegen das Mönchsgesindel, dem seine Herrin so auffallende Bevorzugung erwies. Man munkelte da allerlei. Der verkniffene Mund des Dänen jedoch redete laut von Geiz und Beutesucht.

»Er sieht aus wie der Seeadler, wenn man ihm die Federn ausgerupft hat«, dachte Claus Becker« staunend, ohne den gierigen Blick von dem Knochenmann abwenden zu können.

Inzwischen hatte sich die hinfällige Kinderfigur des Abtes auf den Zehen aufgerichtet. Ängstlich vor dem scharrenden Braunen ausweichend, reichte er dem Reichshofmeister seinen Becher dar. Das Männchen, dem ein paar einzelne graue Locken verloren um die Stirn flatterten, machte unverkennbar den Eindruck, als ob er sich hinter seinen Pergamentrollen wohler fühle als bei dieser ungewohnten Staatshandlung.

»Herr Henning von Putbus«, lispelte er ohne Mark und kaum hörbar, »Reichshofmeister und Drost der großmächtigen – – –«

Hier klatschte der Knochenmann seinem Gaul höchst wuchtig gegen den Hals und kniff seine Lider immer unbegreiflicher zusammen.

Der Abt verwirrte sich.

»Der Herr führte Euch zum Segen an die deutsche Küste«, stotterte er verlegen und begann mit dem Becher hin und her zu zittern. »Er führte Euch an die Küste – ja – und möge die Tagfahrt zu Stralsund Euren Wünschen entsprechen.«

Höflich streckte der Hagere seine Beine noch steifer von sich, ergriff den Becher und verneigte sich so geschmeidig, wie man von dem vertrockneten Gerüst in dem Geckengewand kaum erwarten konnte. »Da der redliche Abscheu Eures Ordens gegen die Vergewaltiger der See bekannt ist«, sprach er ziemlich unbeteiligt, »so werden Eure Gebete mit uns sein. Ich weiß – ich weiß.« Er führte den Pokal oberflächlich und ohne zu nippen an seinen Mund. Sein Nachbar jedoch, der Hauptmann von Moltke, riß ihm ungeduldig den Pokal, bevor er noch dazu aufgefordert wurde, aus der Hand, tat einen tiefen Blick hinein und stürzte das Getränk gierig hinunter. Der Kriegsmann mochte durstig sein. Allein unvermutet hielt er inne, und während er böse die verschwollenen Augen aufriß, goß er gereizt den Rest auf die Erde.

»Gemischt«, knurrte er, und seine Stimme klang, wie wenn man Scherben gegeneinander reibt. »Himmel und Hölle – ich – –«

In diesem Augenblick schlug erneutes Pferdegetrappel aus dem Wald heraus, der Reiter verschluckte das Weitere, hob die abschreckend dürre Hand und schwenkte sie dem neuen Ankömmling entgegen. »He, Cona«, krähte er immer in demselben bitteren, menschenverachtenden Ton, »meiner Seel! Ihr standet gut im Futter, seit wir uns zuletzt begegneten. Wißt Ihr noch auf der Tagfahrt zu Wismar? Man sagt, Liebwertester, Ihr hättet über See recht einträgliche Geschäfte betrieben. Und kennt die Schliche der Schuimer aus Erfahrung.«

Es mußte eine besonders giftige Anspielung in jener Anrede liegen, denn der Reichshofmeister, der plötzlich noch fahler aussah als gewöhnlich, hob abwehrend die Rechte, schöpfte vergeblich Luft und versuchte sein Unbehagen hinter einem begrüßenden Lächeln zu verbergen. Er brachte es jedoch nur zu einem Grinsen, zumal er wahrnahm, wie der Graf von Cona, der nun in der Abendsonne dicht neben seinem jungen Sohne mitten auf der Lichtung hielt, verärgert und beschämt das feiste Vollmondgesicht verzog. Spähend blinzelte der so Wohlgenährte im Kreise umher, ob auch die Mönche den beißenden Spott verstanden hätten. Dann strich er mit der fleischigen Hand über den halblangen blauen Tappert, der ihn schlafrockartig umhüllte, und stieß endlich kurzatmig nach Art der Dicken hervor:

»Seid gegrüßt, ihr Herren. Auch du, Moltke. Immer munter. Immer gelenkig. Wollen absteigen und das Nachtmahl einnehmen, das der Herr Abt für uns gerüstet. Aus leerem Magen steigt zudem allerlei verwirrtes Zeug. Und wenn es euch wirklich Ernst gegen die Freibeuter ist, die ja manchem ein verstecktes Plätzchen gut zu bezahlen wußten – nicht wahr, nicht wahr, so ist es doch? –, dann werden wir morgen in Stralsund weitersehen. Werden sehen, wo unser Vorteil liegt. Und nun zu Tisch, liebe Herren.«

Schwerfällig und ächzend schwang er das rechte Bein vom Roß. Allein durch die weit ausladende Bewegung des unförmlichen Körpers mochte der dürre unruhige Gaul des Dänenhauptmanns gereizt werden. Mit einem schrillen Wiehern stieg das Tier kerzengerade in die Höhe. Ringsum wurde ein einziger Schrei laut. Doch ohne Zögern schlossen sich die sehnigen Beine des Kriegers um den Leib seiner Schecke zusammen. Ja, er rührte sich kaum, so fest saß er im Sattel. Zu gleicher Zeit aber sah man, wie der Knabe im weißen Kittel hochauf in den Zügeln des Schimmels hing. Die kleinen Fäuste rissen erbarmungslos am Maulbügel des Tieres.

»Laß los«, krähte der Däne ungehalten und fletschte die stockigen Zähne. Da war das Pferd schon zur Erde gebracht. Und der Helfer stand nun, keineswegs befangen, sondern die Hände stolz in die Hüften gesetzt, geschwellt von einem rauschenden Kraftgefühl, mitten in dem ihn umgaffenden Kreis. Wieder merkte er es kaum, daß seine Gefährtin auf ihn zugestürzt war, um ihm ängstlich Brust und Glieder zu befühlen.

»Unsinn«, schimpfte der Hauptmann mißfällig, »Ragazzaccio maledetto!« vervollständigte er seinen Fluch auf welsche Art, denn er hatte sich seinen ersten Kriegsruhm in den italienischen Städtekriegen erworben. Gezwungen nestelte er an seiner Ledertasche, um dem Buben ein paar Scheidemünzen zuzuwerfen, doch einer besseren Einsicht folgend, unterließ er diese Spende wieder auf halbem Wege.

»Wer ist der Bursche?« fragte statt seiner der Graf von Cona, der inzwischen auf krummen Beinen neben dem gleichfalls abgestiegenen Reichshofmeister stand. Und da er den einfachen linnenen Kittel und daneben den prächtigen Wuchs des Knaben nicht recht zusammenzureimen wußte, setzte er dringlich hinzu, denn die nahe Tafel lockte den immer Hungrigen: »Schnell, schnell, wer ist es? Gäbe einen stattlichen Knecht.«

Eine Stille entstand. Bis das Schweigen von der Stimme des Bruders Franziskus unterbrochen wurde. Einem unwiderstehlichen Trieb folgend, hatte sich der Pater vor die Kinder aufgepflanzt. Jetzt gab er besorgt die Auskunft:

»Es ist der Sohn des Fischers Claus Beckera.«

»Das ist ein lauer Hund«, stotterte der Dicke, der im ersten Augenblick seine unangenehme Überraschung nicht meistern konnte. »Sorgt schlecht für uns.« Und sein Doppelkinn unter dem Kragen des blauen Tappert weit hervorschiebend, begann er vor Verlegenheit zu poltern: »Wozu treibt sich der Sasse hier herum?«

In das Antlitz des Jungen war Hitze gestiegen, böse zerrten die dunklen Augen an dem blauen Faltenrock herum.

»Mein Vater – –«, schrie er.

Da wurde er von dem Mönch zurückgerissen. Zugleich fühlte er, wie ihm die Lippen fest verschlossen wurden.

»Er hat eine Sternscholle für die Tafel gebracht«, erklärte der Bruder ruhig und zeigte nach dem Mauervorsprung, auf dem der Riesenfisch in der Abendsonne glitzerte.

Neugierig wandte sich der Graf. Mochte es nun sein, daß ihn der Anblick des mächtigen Fanges versöhnte, oder war er sonst froh, der lästigen Begegnung überhoben zu sein, gemütlich schob er seinen Arm unter den des Reichshofmeisters und zog ihn mit sich.

»Man speist gut bei den Brüdern«, schmatzte er mit breitem Lachen. »Wer weiß, welche Überraschung unser wartet. Kommt, Herr Drost, ihr Herren kommt. Man soll den Koch nicht warten lassen.«

So zogen die Gäste, geführt von den Mönchen, durch die enge Pforte über den Grasstufen. Die Knechte leiteten die Pferde um die Mauer herum in die Ställe, und bald lag die Lichtung in Einsamkeit.

Nur ein einzelner Reiter war zurückgeblieben. Auffällig zögerte er mit dem Absitzen, lenkte seinen Rappen vielmehr spielerisch hin und her, bis der Junggraf Malte von Cona seinen Entschluß gefaßt haben mußte. Mit einem Sprung setzte sein Pferd hinter den bereits heimkehrenden Kindern her, und während die Jungmännerfaust keck und ohne Umstände in die Haarflechten des aufschreienden Mädchens griff, rief er wie zur Beruhigung mit einem zugleich harmlosen und gebieterischen Lachen, denn das Ganze sollte nach der Sitte der Zeit einen Scherz darstellen:

»Dirn, versteh Spaß, wo kommst du her?«

Die Kleine starrte ihn mit blauen Augen flehentlich an und begann vor dem vornehmen Herrn zu zittern.

»Laß ab, Herr«, stammelte auch Bruder Franziskus in aufsteigender Empörung, »es ist noch ein Kind.«

Doch der Jüngling warf dem Mönch nur einen verächtlichen Blick zu, es kümmerte den Geschorenen nichts, mit wem der Grundherr seine Belustigung auf offener Straße treiben wollte. Doch verwunderlich dünkte es den Reiter, auf welche Weise der Fischerknecht den gnädigen Scherz aufnahm. Atemlos lehnte der weiße Kittel an einer mächtigen Buche, von wo der Knabe zuvörderst ohne genaue Erkenntnis des Vorganges die bunte Pracht des Adligen in unruhiger Gier verschlang. Die überlangen Schnäbel der rosa Strümpfe, die enggepreßte rote Schecke des Wamses und darüber den kurzen gelben Kragen, der mit blitzenden Gold- und Silberstücken besetzt war. Und doch – die Faust des Burschen riß und zerrte dabei auf eine sonderliche Art an einem stämmigen Ast herum. Wollte der Lümmel etwa die schuldige Ehrfurcht vergessen? Ungläubig und geringschätzend zuckte der Junker die Achsel, dann ließ er seinen Blick von neuem hartnäckig über die feine Gestalt der Dirne laufen, die sein Anruf so völlig der Sprache beraubt hatte.

»Komm zu dir, Rotröckchen«, meinte er ungeduldig, obwohl er beifällig genug auf die nackten Füße des Kindes herabschaute. »Wo kommst du her? Bist du die Schwester des Sassen da?«

Noch immer hielt er das Ganze für einen ihm ziemenden Scherz und wunderte sich nur, warum das Mädchen so sehr in Zittern und Beben versank.

»Nein«, flüsterte sie und senkte das Haupt, »ich bin Anna Knuth.«

»Und meiner Mutter Schwestertochter«, sprach Claus hart dazwischen. Er hatte den Ast herabgerissen und trat nun, auf alles vorbereitet, näher. Dabei schauerten seine Glieder dennoch wie im Frost, denn die vererbte Achtung bäumte sich gegen die Gier, ein Abenteuer zu erleben. Rastlos schwankte die Zufallswaffe in seiner gekrampften Faust. Er wußte selbst nicht, wogegen er kämpfen sollte.

»Du bist nicht gefragt«, schleuderte ihm der Junggraf unwillig entgegen, wobei er herrisch die Rechte vorwarf, als wolle er die nahende, die unbegreifliche Auflehnung an ihren Platz bannen. »Gleich packst du dich von dannen, Tölpel.«

Der im weißen Kittel rührte sich nicht. Nur der Buchenast hörte auf zu zittern, ja, das Holz gewann von Minute zu Minute eine immer straffere Spannung. Eine Weile verharrten die drei Gestalten bewegungslos wie in der Tiefe eines Traumes. Selbst das Pferd stand gepreßt unter dem einfangenden Druck. Da vermochte sich der Zisterzienser in seiner Herzensangst am frühesten aus der Lähmung emporzuraffen. Kaltblütig schritt er, als wäre nichts Erhebliches geschehen, bis dicht an die Flanke des Rosses heran, um dort dem Tier kosend über den Hals zu klopfen. Mit großen Augen verfolgten die Jungen, die Aufgeregten, sein Tun.

»Ja, es sind Annerbäulkenkinder«,Vetter und Base. sprach er im weichen Dialekt der Gegend, und keine Hast, keine Unruhe verrieten in dem ebenen Antlitz, wie sehr er mit der Überlegenheit des Alters bemüht war, die aufgepeitschten Sinne der anderen zu besänftigen. »Anna Knuths Vater ist ertrunken. Man sagt, die Schuimer hätten ihn ins Meer geworfen. Da hat sich ihre Mutter nun ein Hüttlein dicht neben den Beckeras errichtet, und Mutter und Tochter nähren sich recht und redlich vom Mattenflechten. Ein mühselig Gewerbe, Herr, das die Finger zerschneidet.«

Weisend hob er den Arm der Kleinen empor, und der Graf bemerkte nun verdutzt, wie die Hand der Blonden von schwärzlichen Kerben durchfurcht war. Das lenkte seine unüberlegte Begehrlichkeit wohltätig ab. Sofort suchte er nach Art der großen Herren das Leid der Armen durch ein Almosen zu lindern.

»Warum sagtest du das nicht gleich, dummes Gör«, tadelte er wohlwollend, während er ungestüm an einer Silbermünze seines gelben Kragens herumdrehte. »Matten? Gut, da magst du die weichsten von deinem Geflecht auf unseren Hof bringen. Mein Hund soll darauf liegen. Und hier, Rotröckchen, hier hast du deinen Lohn im voraus.«

Lachend, mit einer freigebigen Gebärde schleuderte er den abgerissenen Knopf dem Mädchen vor die Füße. Und ehe die drei Zurückgebliebenen sich noch besinnen konnten, hatte der gewandte Reiter seinen Gaul zur Seite geworfen und sprengte nun um die Mauer herum dem Stalle zu.

»Eilt nach Hause«, drängte der Bruder die beiden Kinder, die bestürzt auf das sich entfernende Klingeln der silbernen und goldenen Münzen lauschten. »Geht – geht rasch, der Mann will euch nicht wohl.«


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