Ferdinand Emmerich
Quer durch Hawaii
Ferdinand Emmerich

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Sechstes Kapitel.

Der neue Tag öffnete uns einen Blick in neue Schönheiten, von unserer hohen Warte aus, genossen wir eine weite Übersicht über das Meer und die ferne Nordspitze der Insel Hawaii, wie kleine dunkle Käfer erschienen die zahlreichen Fischerboote. Ein großes Vollschiff, auf die Bucht von Hilo zusteuernd, glich täuschend einem mit geblähten Flügeln dahinschwebenden Schwane. Unmittelbar zu unseren Füßen aber tat sich ein Labyrinth von Felsen auf, welches von den gewaltigen Urkräften der Erde so willkürlich durcheinandergeschüttelt ist, daß man jetzt noch deutlich die kilometerweit voneinanderstehenden Bruchstellen unterscheidet, in die sie einstmals eingefügt waren. Hohe Nadeln, Kegel, spitze Zacken wechseln ab mit wallartigen Mauern. Diese von grünender Vegetation überwuchert, jene starr, trotzig und abwehrend.

»Wir befinden uns im Jaotale,« sagte Johe. »Hinter jener Wand gelangen wir an eine Stelle, an der wir wie durch einen Bogen das Meer sehen. Dort werden wir absteigen. In Nahiku finden wir gute Freunde.«

»Wo ist nun aber der Puukahaka, jener Berg, an den sich das Jaotal anschließt?« fragte ich.

»Mit dem Namen bezeichnen wir den ganzen Raum von Kipahulu bis zum Nahikuabhang. Im Puukahaka liegt das Jao,« erwiderte Bruder Andreas, indem er mir eine Beschreibung seiner Missionsstationen reichte.

Der Aufstieg auf die von Johe angedeutete Wand gestaltete sich nach Überwindung des Flusses zu einem angenehmen Spaziergange durch eine liebliche wiesenartige Mulde auf den moosbehangenen Rücken.

Dort oben sah es allerdings weniger farbenfroh aus. Man erkannte auf den ersten Blick, daß das vor uns liegende Tal ein erloschener Vulkan war. Allem Anscheine nach eine Caldera, wie alle die Vulkane auf der Hawaiigruppe. Dieser hatte jedoch einen Abfluß ins Meer gefunden, in derselben Zeit, als in seinem Innern durch eines jener unergründlichen Geheimnisse die Feuerwelle nach einer andern Seite abgezogen sein mußte.

Jetzt starrte uns das ungeheuere Becken entgegen, aus dessen Boden die geschilderten Steingebilde in bunter Unregelmäßigkeit durcheinanderwuchsen. Unserm Stande zunächst, in einigen hundert Metern Entfernung, hob sich ein grauschwarzer, mit Sand überstreuter Kegel in die Luft – die Kanaken nennen ihn die Nadel –, der auf zwei Seiten fest auf dem Kratergrunde aufsaß, dann aber nach einem finster gähnenden Abgrunde zu jäh abfiel.

»Dort hinunter liegt unser Weg,« sagte Johe, auf den grausigen Schlund deutend. »Ich werde vorausgehen ...«

»Halt, Freund!« rief ich, auf meine inzwischen zerrissenen Schuhe deutend, »mit dieser Fußbekleidung lasse ich mich auf keine alpinistischen Klettereien ein. An den Wänden kann ja kaum eine Katze hinunterlaufen, viel weniger ein Mensch.«

Der Kanake lachte.

»Folgen sie mir nur, Herr. Sie werden die Schuhe nicht einmal brauchen, so sanft ist der Weg, den ich wähle.«

Er bog einige myrtenartige Gesträuche zur Seite und sprang hinter diesen in eine Mulde. Dann reichte er mir die Hand und hieß mich ihm folgen. Ein weicher Moosteppich nahm mich auf. Von hier aus zogen sich derartige, teils mit Moos, teils mit feinem weichem Sande (letztere nur auf der Westseite) gefüllte Vertiefungen spiralförmig um einen Berg, so daß wir nach und nach einen genußreichen Blick über alle vier Himmelsrichtungen hatten. Je tiefer wir hinabstiegen, desto rauher wurde aber der Berg. Dort, wo Moos uns weichen Boden verheißen hatte, erschienen jetzt grobe Sandmassen, spitze Lavastücke. Der Hang wurde rauher. Große Zacken ragten seitlich in das Leere, wie Äste eines abgestorbenen Baumes. Die Wände traten näher zusammen, und bald konnten wir den gegenüberliegenden Berg mit dem Stock erreichen.

Johe kletterte immer noch unentwegt weiter. Die muldenartigen Vertiefungen schienen eigens dazu geschaffen, den Menschen als Treppe zu dienen, in solch regelmäßiger Anordnung zogen sie sich an den Wänden entlang. Das Tageslicht nahm zusehends ab. Der Tritt wurde unsicherer. Bruder Andreas, der dicht hinter mir ging, blieb stehen.

»Wo mag Johe sein?« fragte er. »Ich höre ihn seit einiger Zeit nicht mehr.«

Ich setzte mich auf den Rand der oberen Mulde und rief seinen Namen. – Keine Antwort. Das Echo gab den Schall vielfältig zurück – von dem Kanaken aber erfolgte keine Antwort.

»Wo mag er nur sein?« fragte Andreas, besorgt den Hang hinunterspähend, »wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist.«

»Nun, abstürzen kann er hier nicht, selbst wenn er es wollte,« erwiderte ich. »Er wird dort unten irgendwo stecken und Feuer für ein Frühstück anzünden, denn wo sollte er sonst sein?«

»Das weiß ich eben nicht,« beharrte Bruder Andreas.

»Er wird schon wieder zum Vorschein kommen,« gab ich zur Antwort. »Lassen Sie uns nur weitergehen, denn hier in den feuchten Wäldern fröstelt mich.«

Wortlos folgte mir der Geistliche. Nach weiteren hundert Metern gelangten wir an die Stelle, wo die beiden Berge zusammenstießen, und nun hörte der Weg auf. Wir saßen auf dem Grunde einer Schlucht, die rings von Felswänden eingeschlossen war und nur nach einer Seite eine schmale Öffnung aufwies, durch die das Wasser in einen darunter sich anschließenden Wald absickerte. Tief unter uns erblickte man das Meer. Von Johe fanden wir keine Spur.

»Wir müssen zurück!« rief Andreas, als er neben mir stand. Gleichzeitig winkte er dem Diener, nicht weiter abzusteigen.

»Warum zurück? Wir müssen an die Küste, und die liegt dort auf einen Kilometer vor uns. Lassen Sie uns den Abstieg versuchen.«

»Aber Johe ist nicht da, und wir dürfen ihn auch nicht verlassen, falls ihm hier etwas zugestoßen ist!«

»Lieber Bruder Andreas, was soll dem geschmeidigen, riesenstarken Kerl denn zugestoßen sein? Wäre er abgestürzt, wozu er sich besondere Mühe geben müßte, dann läge er hier irgendwo. Wie Sie sehen, ist das nicht der Fall. Also kann er nur durch diesen Spalt hinuntergeklettert sein. Folgen wir ihm auf dem Wege.«

Kopfschüttelnd fügte sich der Geistliche schließlich meinen Wünschen. Er rief seinem Diener und forderte ihn auf, abzusteigen. Peho hatte den schweren Tragsack abgelegt und mühte sich nun vergebens, ihn wieder auf den Rücken zu bringen. Als Bruder Andreas ihm zu Hilfe eilen wollte, merkte er erst, wie schwierig es war, die anscheinend so bequemen Stufen wieder hinaufzusteigen. Da, wo der Tritt beim Abstieg leicht aufsetzte, mußte jetzt mit großer Mühe, auf einem Beine stehend, die obere Stufe erfaßt werden, und das Hinaufschwingen auf diese und die höhere erforderte alpinistische Schulung. Wir sahen bald ein, daß ein Wiederersteigen des mindestens 1.500 Meter hohen Berges einen ganzen Tag erforderte.

Jetzt wußten wir, daß wir durch den Spalt hinunter mußten. Peho war mittlerweile angekommen. Zum Glück barg sein Sack die Lebensmittel und Getränke, so daß wir uns vor dem zweifellos anstrengenden Abstieg noch einmal gehörig stärken konnten. Nun, wo wir die Küste vor uns sahen, brauchten Lebensmittel auch nicht gespart zu werden.

Von Johe fanden wir keine Spur. In der festen Überzeugung, ihn am Strande zu treffen, machten wir uns seinetwegen auch keine Gedanken.

Bruder Andreas ließ sich anseilen. Mit den Messern hieben wir eine Gasse in die grüne Wand und blickten in den unter uns üppig wuchernden Baumbestand. Der Felsen zeigte nur ganz geringe Auszackungen, so daß ein Stützpunkt an diesem nicht zu erhoffen war. Mehr Vertrauen flößten uns die Bäume ein. Es war eine Koniferenart, deren Gattung wir nicht feststellen konnten.

»Versuchen Sie den nächsten Baum zu erreichen, Andreas. Sobald Sie dort festen Fuß gefaßt haben, sende ich Ihnen Peho nach. Sie geben dann die weiteren Befehle – und nun mit Gott!«

Das Seil hing in einer einmaligen Umschlingung an einem zähen Pflanzenbündel. Das Ende hielten wir in der Hand, um beliebig damit arbeiten zu können. Mit dem Gesicht nach der Wand suchte Andreas den ersten Tritt. Er hielt. Beide Füße fanden Platz, und mit der Hand konnte er die oberen Äste des Baumes erreichen. So gesichert, veränderte er seinen Stand und strebte dem Stamme zu. Eine vorspringende, moosbewachsene Nabe führte zu einem schmalen Riß, in den sich Andreas festsetzte. Dann ließ er das Seil lockern und erreichte mit einem kurzen Sprung den Baum.

»Hallo!« schallte es herauf. »Ich habe festen Halt!«

Die Worte lösten ein helles Echo aus. Der Widerhall klang wie das Sprechen mehrerer Menschen und veranlaßte mich, erstaunt emporzuschauen, um die Redenden zu entdecken. Erst ein zweiter kurzer Ruf brachte mir die Aufklärung. –

Ich beugte mich über den Rand und fragte den Bruder nach den Aussichten für den weiteren Verlauf des Abstieges.

»Gut! Kommen Sie nur nach!« lautete die Antwort.

Peho zog das Seil herauf und legte es um seinen Gürtel. Nur widerwillig folgte er seinem Herrn auf der schwindelnden Bahn. Lange zappelten seine Beine über dem Abgrund, ehe sie Halt fanden.

Als das Seil dann wieder heraufkam, untersuchte ich erst die Büsche auf ihre Haltbarkeit hin. Ich war auf mich allein angewiesen, und mein Leben hing von dem Wurzelwerk des Strauchwerkes ab. Ganz befriedigt war ich nicht von dem Resultat meiner Untersuchung, allein ich vertraute auf den lieben Gott und mein Glück, hing das Seil über den unteren Teil des Gesträuches und knüpfte das Ende um meinen Leib. Das andere Ende ließ ich fallen, schlang meinen linken Arm in das Tau und steuerte mich langsam in die Tiefe. Bald fand ich die Stufen, erreichte auch den schmalen Riß. Dort aber versagte das Seil. Ich hielt das äußerste Ende in der Hand. Ließ ich das los, dann hing meine weitere Kletterei von einem glücklichen Zufall ab.

»Nicht loslassen!« rief plötzlich Andreas, der mein Zaudern bemerkte. »Nicht loslassen – wir können hier zu dreien nicht stehen. Der Baum trägt unser Gewicht nicht!«

»Dann steigen Sie tiefer!« gab ich zurück. »Aber bitte rasch, denn lange halte ich es hier nicht aus.«

Ich bemerkte, wie Bruder Andreas die Entfernung zum nächsten Baume abschätzte. Es mochten drei Meter sein, die für einen Sprung in solchen Verhältnissen allerdings etwas bedeuteten.

»Ich wag's!« rief er. »Ich rutsche ab!«

In demselben Augenblick fuhr er von seinem Stande abwärts und hielt nach einer Minute vor dem nächsten Halt. Anstatt eines ermunternden Anrufes kam aber ein Schreckensruf.

»Nicht nachkommen!« schrie er mit heiserer Stimme. »Hier geht es nicht mehr weiter. Eine steile Wand ...«

Der Rest seiner Worte ging mir verloren, denn mein Strauch droben gab nach und stürzte an mir vorüber in die Tiefe. Eine Schicht feuchten Sandes überschüttete mich und hätte mich fast dem Strauch nachgesandt.

Es dauerte einige Minuten, bis wir wieder Herr der Lage wurden. Sie war die denkbar gefährlichste, denn keiner von uns konnte sich lange an der gerade eingenommenen Stelle halten – und der Rückweg war diesmal endgültig abgeschnitten, wenn wir nicht seitlich ausweichen konnten, war unser Ende nur eine Frage der Zeit. Hilfe hatten wir in dieser menschenleeren Gegend nicht zu erwarten.

So liefen Frage und Antwort, Rat und Vorschlag zwischen uns hin und her. Keiner wagte sich zu rühren, aus Furcht, den schwankenden Stand zu verlieren.

Meine Augen blieben auf der schmalen Moosnabe haften, die sich handbreit um den Berg zog. Zwar sah ich nur wenige Meter weit, aber schon glomm der Hoffnungsfunken in mir auf. – Wenn ich diesem Streifen folgte? Langsam drehte ich mich auf meinem Riß um. Ich schlang das Seil um meinen Arm und warf das lose Ende Peho zu. Er sollte es um seinen Baum schlingen – für alle Fälle! Daß ich im Sturze den Baum mitreißen würde, wußte ich. Allein die äußerste Bedrängnis ließ mir keine Wahl. Ich glaubte mich freier bewegen zu können, wenn ich das Seil irgendwo befestigt wußte, wenn der Halt auch noch so unzuverlässig war.

Alpine Klettertouren in solchen Lagen waren mir vollkommen neu. Ich mußte Andreas um seine Ratschläge ersuchen, sonst hätte ich nicht einmal gewußt, wie ich den ersten Schritt ansetzen sollte, um aus dem Riß auf das moosige Band zu gelangen.

»Ziehen Sie die Stiefel aus, Sie bleiben ja hängen!« rief er, als er bemerkte, daß meine klaffende Sohle ein ernstes Hindernis bildete.

Der Rat war leichter gegeben als befolgt. Es kostete nicht geringe Mühe, das Bein in den Bereich meiner Hand zu bringen. Ich lag festgeklebt an der Wand, und der eingeklemmte Fuß trug minutenlang die ganze Last des Körpers. Endlich polterte der Schuh den Abhang hinunter – auf Nimmerwiedersehen!

Erleichtert setzte ich nun den unbekleideten Fuß auf den nächsten Zacken und erreichte glücklich das Band mit dem Knie. Der Stützpunkt brach unter dem Gewicht aus der Wand. Nun war es mir nicht mehr so schwer, auch das andere Bein und den Körper heraufzuziehen. Ein Manöver, das ich als Seemann hundertemal geübt hatte. Zunächst flog der zweite Schuh seinem Gefährten nach. Darauf begann eine Rutschpartie seitwärts.

Nach kurzer Zeit hatte ich die Stelle erreicht, wo der Berg eine Biegung machte. Niedrige Sträucher hemmten die Fernsicht, Sie boten aber den Händen einen Halt und ermöglichten es mir, aufzustehen. Ich schob mich weiter durch das Buschwerk und bemerkte unter, neben und über mir eine dicht bewachsene, aber stark geneigte Wand, die sich ins Unabsehbare verlor. Hier war wenigstens Rettung.

Durch einen lauten Jauchzer teilte ich den in banger Sorge harrenden Kameraden die frohe Entdeckung mit. Das Echo trug den Schall meiner Stimme bis weit hinauf in die Berge. Der Ton zitterte noch nach, als ich längst nicht mehr daran dachte. Zuckend, abgebrochen, klagend rollten harte Laute über das Gestein.

Verwundert blieb ich an meinem Platze. Ich wiederholte meinen Ruf in bestimmten Tönen, Das Echo gab ihn zurück. Erst in meinen Tönen, dann in einem Heulen oder Klagen.

Was war das?

Andreas und Peho riefen wie aus einem Munde:

»Dort sind Menschen, die uns antworten!«

»Wo? Seht Ihr sie?«

Statt aller Antwort rief Andreas in der Kanakensprache um Hilfe. Gleichzeitig nannte er unsern Standort. Drei, vier Rufe drangen zu uns.

»Das ist Johe!« sagte Peho. »Ich kenne seinen Ruf.«

Johe? An den hatte keiner von uns mehr gedacht, seitdem wir uns von ihm getrennt wußten, wir vermuteten ihn längst am Strande. Jetzt erst fiel es mir auf, daß er diesen einzigen Weg aus dem Gebirge ja nicht hatte nehmen können.

Es verging noch eine Viertelstunde, bis der Kopf des Kanaken dort sichtbar wurde, wo vorher der Strauch losgebrochen war. Als er uns in der gefährlichen Lage erblickte, schrie Johe ganz verzweifelt auf und rannte kopflos hin und her. Es bedurfte unserer ausdrücklichen Versicherung, daß wir uns vorläufig ganz geborgen fühlten, um ihn zu beruhigen. Auch dann noch schrie er in einem fort:

»Warum sind Sie mir nicht gefolgt? Warum wichen Sie vom Wege ab? Oh, das Unglück, das Unglück!«

»Nun höre endlich einmal mit dem Jammern auf!« schrie ich ihm ungeduldig hinauf. »Gibt es einen Weg hier hinunter?«

»Nein, Herr, nein! Sie müssen zurück. Die Wand, in der Sie stehen, fällt nachher glatt ab. Kommen Sie schnell, Herr!"

»Du hast gut reden, wie sollen wir denn dort hinauf gelangen? Hast du kein Seil?«

»Nein, Herr. Das Seil ist in Pehos Sack.«

»Das haben wir! Nun suche dort oben nach irgendeinem Verbindungsstück zwischen deinem Stand und uns. Wir schicken dir das Seil damit hinauf.«

Es dauerte lange, bis das gefunden war. Eine abgeschälte Rinde, einige Zweige, mit Rindenstreifen aneinandergereiht, ein Stück Holz, das Hemd und endlich Johes Beinkleid mußten herhalten, um bis zu der Höhe unserer Hände zu reichen. Dann befestigte Peho das Ende des Seiles an dem Verbindungsstück, und vier Augenpaare, vier klopfende Herzen verfolgten mit Spannung, wie das Seil sich mehr und mehr den ausgestreckten Händen unseres Befreiers näherte.

Ein Ah! der Erleichterung entrang sich unserer Brust, als Johe das Seil ergriff. Andreas, als der am meisten Gefährdete, sollte zuerst gerettet werden. Mit einer nervösen Hast knotete er das Seil, das ich ihm zuwarf, um seine Brust. Ein lauter Ruf, und das straffe Seil als Lauftau benutzend, kletterte er katzenartig den Hang hinan. Glatt ging das allerdings nicht vonstatten. Mancher Hautriß, mancher Fetzen der Kleidung, manche Beule zeugten später von der Schwierigkeit der Kletterei.

Peho, für den ich im stillen gebangt hatte, lief auf allen Vieren an der Wand hinauf. Das Bild erregte in jenem kritischen Augenblicke, wie später noch oft meine Lachlust.

Mein ohnehin zerschundener Körper kam blutend oben an. Ich fand buchstäblich keine Handbreit Fläche auf mir, die nicht irgendeine Wunde hatte. Auch meiner Kleidung gab der Aufstieg den Rest, und später sah ich noch vom Strande aus die Stelle, wo mein rechtes Hosenbein an einem Zacken über den Wipfeln flatterte.

Ruhe! Ehe wir noch in eine Erörterung der Umstände, die uns in die schwierige Lage brachten, eingingen, verlangte ich wärmendes Feuer, Wasser und Ruhe – nur eine einzige Stunde Schlaf! Während Bruder Andreas meine Wunden verband und bepflasterte, schlief ich schon ein. Die Reaktion wirkte zu mächtig in mir. Die ausgestandene Aufregung mußte austoben.

Fünfzehn Stunden traumlosen, erquickenden Schlummers gaben mir die Spannkraft zurück. Der neue Tag war bereits angebrochen, als ich erwachte. Nun hieß es den Berg wieder hinaufklimmen.

»Nun erkläre mir, Johe, warum du uns gestern morgen durchgebrannt bist?« fragte ich den Kanaken, als wir die letzten eßbaren Reste in unsern Säcken zu einem Frühstück zusammengekratzt hatten.

»Ich bin nicht fortgelaufen, Herr. Sie sind mir nicht gefolgt, sondern in einer andern Richtung abgestiegen. Ich hatte einen gewaltigen Schrecken bekommen, als ich Sie plötzlich nicht mehr fand. Bei der Ähnlichkeit der Stufen mußte ich auch lange suchen, bis ich den Eindruck Ihrer Schuhe fand. Sie gingen, anstatt dem Moos zu folgen, in den Sandstufen weiter. Das war verkehrt!«

Nun war das Rätsel gelöst! Der Aufstieg bereitete mir ungeheure Qualen. Meine Strümpfe bestanden aus einer Kette von Löchern, die, je mehr wir in die scharfe Lava kamen, desto mehr aus dem Zusammenhang fielen. Bald mußte ich barfuß durch den unter den heißen Sonnenstrahlen glühend wirkenden Sand marschieren, so daß die einzig unversehrten Gliedmaßen, die Füße, in kurzer Zeit mit Brandblasen überzogen waren. Erst das kühlende Moos brachte Linderung.

Nach einstündiger Steigung erreichten wir die kritische Stelle, an der sich unsere Pfade gestern trennten. Die Gleichartigkeit des Geländes machte einen Irrtum verzeihlich. Diesmal blieb Johe unmittelbar vor uns, selbst dann, als wir nach einer Stunde eine herrliche Wiese erreichten, die sich durch einzelne konische Lavaspitzen hindurchschlängelte und uns an den Bach führte, dessen Lauf wir, wie Johe behauptete, im Berginnern entstehen sahen.

Hier gelang es mir, einige Vögel zu erlegen. Nach längerer Pause lieferten sie uns das erste warme Mittagessen.

»Heute abend schlafen wir in den Hütten meiner Freunde,« bemerkte Johe, als er seinen Vogel bis auf die Knochen vertilgt hatte.

Ich mußte laut auflachen.

»Glaubst du denn, dass ich mich in diesem Bruchteil eines Anzuges unter den Dorfbewohnern sehen lasse? Das kannst du nicht gut verlangen.«

»Ja, warum denn nicht?« fragte er erstaunt. »Die Leute wären froh, wenn sie solche Kleider besäßen!«

»Das mag sein,« erwiderte ich. »Die Landessitte verlangt hierzulande keine Bekleidung. Wir Europäer denken leider anders darüber, verschaffe mir von irgendwoher einen Rock, Beinkleid und Fußbekleidung, dazu einen Hut, dann gehe ich mit, sonst bleibe ich hier!«

Lächelnd fragte er:

»Wie lange?«

Allerdings war die Frage nicht unberechtigt. Woher sollte ich auf der Insel Maui Kleider bekommen? Die nächste Stadt, in der es Läden gab, war Hilo auf Hawaii, und die war Tagereisen entfernt.

Bruder Andreas wußte Rat.

»In Keanahae ist eine Mission mit drei Brüdern. Dort finden sich vielleicht entbehrliche Kleider. Wie weit liegt das Dorf von hier entfernt, Johe?«

»Wenn Sie hier gegen Sonnenaufgang den Berg besteigen, sehen Sie es zu Ihren Füßen.«

»Dann wird Peho hinuntergehen und die Sachen holen. Ich gebe ihm einen Brief an den Pater mit.«

»Peho findet den Weg nicht, Herr. Ich werde gehen,« sagte Johe. »Vor Sonnenuntergang kann ich zurückkehren, wenn mich der Pater gleich wieder fortgehen läßt.«

Wir vertrieben uns die Zeit mit Sammeln von für mich wichtigen Dingen und Insekten, während Jeho herrliche Fische aus dem Wasser zog. Bruder Andreas skizzierte die romantische Umgebung und verfaßte in unsern Tagebüchern die Notizen über die Denkwürdigkeiten der letzten Tage. So verging der Tag in stillem, friedlichem Tun. Kein Mensch störte uns in unserer paradiesischen Einsamkeit. Kaum ein Tier ließ sich blicken. Abwechselnd wachten wir abends an einem hellen Feuer, um dem Kanaken, falls er in der Nacht zurückkäme, unsere Lagerstätte anzuzeigen. Wir gewahrten indessen sein Kommen nicht. Als wir jedoch die Augen aufschlugen, saß Johe mit einem Missionsbruder an unserm Feuer und kochte Kaffee. Neben ihnen stand ein Korb mit allerhand guten Dingen. Die gewünschten Kleidungsstücke lagen auf dem Rasen ausgebreitet zum Trocknen. Johe hatte sie auf Wunsch des Missionars gewaschen.

Die Begrüßung war eine überaus herzliche. Der Amtsbruder Andreas', gleichfalls ein Deutscher, aus Horb in Württemberg (der Name ist mir entfallen, ich nenne ihn Bernhard) war auf die Kunde von unserm Mißgeschick sofort in der Nacht herbeigeeilt, um hilfreiche Hand zu leisten. Er glaubte einen ernstlich Verwundeten anzutreffen, war aber sehr erfreut, als er feststellen konnte, daß die fehlenden Glieder, von denen Johe in der Kanakensprache erzählte, nur an den Kleidern fehlten. Die Sprache der Leute hat keine unterscheidenden Worte für beides.

Der Weg durch das imposante Tal zum Dorfe Keanahae bot uns noch viele wunderbare Schönheiten. Ich konnte sie leider nicht so in mich aufnehmen, wie ich es wohl gewünscht hätte, denn meine Wunden nahmen ein recht bösartiges Gesicht an. Besonders eine Schürfwunde am Knöchel sah besorgniserregend aus. Zwar hinderte sie mich nicht sonderlich am Gehen, weil die leichten Sandalen dem Fuße freien Spielraum ließen, aber die Geschwulst zog sich in die Waden und deutete auf eine beginnende Blutvergiftung. Das war wenigstens die Ansicht der beiden Missionare. Ich selbst schob die Schwellung dem Biß eines Tausendfußes zu, den ich in meiner Sammlung verwahrt trug. Dieses Tier, das einzige giftige Insekt auf den Inseln, erfreut sich unter den Eingeborenen eines sehr schlechten Rufes. Man hält seinen Biß für tödlich. Nach meiner persönlichen Überzeugung, die sich auf die Erfahrung am eigenen Leibe stützt, verursacht das Gift des Scolopenders wohl bösartige Wunden, ist aber bei Erwachsenen niemals von tödlicher Wirkung.

So humpelte ich, auf zwei Stöcke gestützt, den herrlichen Pfad dicht am Ufer des Meeres entlang. Er führte uns durch kleine Anpflanzungen aller möglichen Früchte, durch Kokoshaine und durch rauschenden Blätterwald zur Missionsstation Keanahae. Hier zwischen dem Flüstern hoher Palmen und unter dem dumpfen Donnern der ewig stürmenden Brandung fand ich nach so langer, anstrengender Reise wieder einmal ein richtiges Bett. Ich konnte meine Wunden pflegen und ruhig und sorglos dem Nahen des jungen Tages entgegensehen.

Bruder Bernhard leistete mir während der acht Tage, die ich in süßem Nichtstun am Ostabhange des Haleakala, in einem luftigen Bambushause verbringen durfte, unermüdlich Gesellschaft. Bruder Andreas war mit seinem Diener nach Nuu in Amtsgeschäften zurückgekehrt und konnte erst später auf der Mission eintreffen. Die Zeit seiner Abwesenheit wollte ich für meine wissenschaftlichen Zwecke ausnutzen. Dazu hatte ich Johe als Diener bei mir behalten. Es gingen mir Dinge im Kopfe herum, über die ich mich erst äußern wollte, wenn ich vollständig wiederhergestellt war.

Eines Morgens, während einer Ruderpartie, fragte ich Johe:

»Sage mal, Freund, möchtest du noch einmal mit mir in die Höhlen von Kipahulu gehen?«

Der Kanake sah mich erstaunt an, sagte aber in zögerndem Tone:

»Ja, Herr, wenn Sie es befehlen.«

»Ich möchte mir die zwei Toten genauer ansehen, die wir dort oben in der blauen Blase gefunden haben. Ich wäre dir dankbar, wenn du mir helfen würdest, die Leichen ans Tageslicht zu bringen.«

Das fragende Staunen auf den Zügen des Kanaken ging bei diesen Worten in helles Entsetzen über. Er schrie fast seine Antwort heraus:

»Nie, Herr, werde ich wieder den Fuß dorthin setzen. Dort ruhen die Seelen großer Kanakenhäuptlinge neben ihren Körpern. Sie haben es selbst erlebt, Herr, daß sie uns gewarnt haben. Sie haben unsere Lichter ausgelöscht und Johe hörte ihre Stimmen...«

»Rede keinen Unsinn, Johe! Das Licht erlosch, weil ihm der Sauerstoff fehlte. Die Toten können uns nichts mehr anhaben. Für mich aber sind ihre Köpfe von großem Werte ...«

»Nein, nein, Herr!« schrie er heraus. »Redet nicht mehr davon, ich gehe nicht mit. Es ist jedes Wort vergebens!«

»Nun, dann suche ich mir einen andern Führer, wenn du dir die Goldstücke nicht verdienen willst.«

Kopfschüttelnd erwiderte der Kanake:

»Sie werden vergeblich suchen. Die Höhlen kennt keiner meiner Stammesbrüder, wenn sie aber wirklich jemand entdecken würde, so geht er nicht hinein ...«

»Warum gingst du denn hinein?«

»Oh, bei mir ist das etwas anderes. Ich war Soldat und wurde verfolgt, weil ich ... nun, das ist ja einerlei! Damals fand ich den Schlupfwinkel und verbrachte längere Zeit in den Gängen des Berges. Wenn man mich heute in Nuu gesehen hatte, war ich in einem Tage nach Kipahulu geflüchtet. Das ist zu Lande unmöglich. Einen Tag später fand man mich in Nahiku; dann wieder in Hano. So gelangte ich zu dem Rufe eines Zauberers, der mich vor weiteren Nachstellungen schützte. Nur einmal verfolgte mich noch ein Feind, mit dem ich kämpfen mußte. Ich verlor mein Auge und er sein Leben. Er liegt in dem Abgrunde, in den Sie beinahe gestürzt wären. Damals dachte ich an die Szene – sonst wäre ich nicht so unaufmerksam gewesen.«

Trotz der Erklärung des Kanaken gab ich den Plan noch nicht auf. Ich weihte sogar Bruder Bernhard ein und bat ihn, mir einen zuverlässigen Mann als Führer durch die Höhlengänge zu verschaffen. Es stellte sich aber doch heraus, daß Johe wahr gesprochen. Keiner der Kanaken wußte etwas von diesen unterirdischen Gängen. Man kannte wohl Höhlungen im Gebirge, aber ganze Verbindungen nicht.

Eines Morgens lief der Küstenschoner »Maui« in der Bucht von Keanahae ein. Es war jenes Schiff, das mich vor einigen Wochen in Keanhu ans Land gesetzt hatte. Jetzt befand es sich auf der Rückfahrt nach Honolulu auf der Insel Oahu. Der Kapitän begrüßte mich als einen alten Bekannten und lud mich dringend ein, mit ihm zu fahren. Er lief nur noch einen Hafen auf der Insel Molokai an und segelte dann ohne Aufenthalt nach Honolulu.

Da meine Arbeit auf Maui beendet war, hielt mich eigentlich nichts mehr auf der Insel. Die nächste Schiffsverbindung mit der Hauptstadt Honolulu war außerdem, wenn ich nicht in dem gut acht Tagereisen Kanoefahrt entfernten Hilo auf Hawaii den Dampfer nahm, erst in drei Monaten zu erwarten - ich sagte also ja! Zum großen Leidwesen des guten Bruder Bernhard. Ich selbst bedauerte lebhaft, den treuen Begleiter meiner Irrfahrten, den Bruder Andreas, nicht mehr begrüßen zu können. Ich hinterließ ihm einen langen Brief, auf den ich später eine ausführliche Antwort erhielt, leider sah ich den lieben Menschen nie wieder. Es war von jeher mein Schicksal, daß ich von treuen Freunden, mit denen ich Not und Gefahr, Freude und Leid teilte, auf immer verlieren mußte.


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