Ferdinand Emmerich
Quer durch Hawaii
Ferdinand Emmerich

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Zwei Tage später kletterten wir die dicht mit Koabäumen bewachsenen Hänge des Mauna Loa nach der Westküste hinab. Der Weg bot seiner verwitterten Gesteinsmassen wegen sehr viel Schwierigkeiten. Ein eigentlicher Pfad führte von dieser Stelle aus nicht zum Meere hinunter. Es blieb vielmehr der Geschicklichkeit jedes einzelnen von uns überlassen, sich aus dem Gewirr der mit dornigen Ranken überzogenen Einschnitte herauszuschälen.

Oberhalb des Dorfes Hookena betraten wir den Strand. Hier hat vor langer Zeit eine breite Lavamasse den Weg ins Meer gesucht, und ihre Überreste ragen noch jetzt als schroffe, finstere Klippen aus der Brandung. Im Dorfe traf Bruder Andreas zahlreiche Freunde, die uns bereitwilligst ihre Boote zur Verfügung stellten.

Der Reiz einer Bootfahrt längs der Küste ist schwer zu beschreiben. Den Fremden, der das Leben der Inseleingeborenen nicht kennt, fesselt jede Kleinigkeit. Die abwechslungsreiche landschaftliche Schönheit der »Inseln des ewigen Frühlings«, wie die Amerikaner heute die Sandwich-Inselgruppe nennen, übt aber auch auf denjenigen einen stets neuen Zauber aus, der das Leben auf dem Wasser und in den unter dichten Kokospalmen versteckten Dörfchen der Insulaner schon länger studiert hat. Mit trunkenem Blick ließ ich die eigenartigen Szenerien an meinen Augen vorüberziehen, die unsere Fahrt längs der Küste in reichem Maße spendete. Das fröhliche »Aloha«, der Freundesgruß der Kanaken, schallte aus jedem der zahlreichen Fischerboote herüber. Selten ruderte ein verbissener Eingeborener ohne Gruß vorüber. Auf dieser Seite der Hawaii-Insel herrschte weniger blindwütiger Fanatismus als drüben auf der Ostküste, wo die zweitgrößte Stadt der Sandwichgruppe, Hilo, den Sitz der amerikanischen Missionen beherbergt.

Die einbrechende Nacht fand uns an der nordwestlichen Ecke der Insel, in dem Dörfchen Mahukona. Hier fanden wir gastliche Aufnahme in einer eingeborenen Fischerfamilie, die den europäischen Besuch mit gewinnender Freundlichkeit aufnahm. Inmitten vom Meere im Laufe der Jahrtausende zernagter Klippen hat ein wackeres Völkchen seine Hütten aufgeschlagen und verbringt hier, fern vom Getriebe der Welt, ein sorgenloses, durch keinerlei Ungemach getrübtes Leben. Die geringen Bedürfnisse an Nahrung liefert das Meer, der Strand und der Wald. Da die Menschen fast den ganzen Tag in und auf dem Wasser zubringen, hat eine Kleidung für sie wenig Zweck. Ihr Geist beschäftigt sich mit den Naturereignissen, und gern hören sie die Erzählungen von einer fernen Welt, von anderen Menschen, von deren Sitten und Gebräuchen. Sie schütteln dann wohl ungläubig den Kopf und begreifen nicht, wie es irgendwo Menschen geben kann, die ihren Nächsten töten, um sich in den Besitz dessen Eigentums zu bringen. Bei ihnen hat ein jeder, was er braucht. Fehlt eine Hütte, ein Boot, ein Gebrauchsgegenstand – nun, so fertigt man diese eben an, und jeder leistet dem andern dabei werktätige Hilfe. Neid, Eifersucht, Haß sind dem Völkchen unbekannte Begriffe. Sie werden geboren, leben und sterben hochbetagt oder als Opfer des stürmischen Meeres – so vollzieht sich der Kreislauf ihres Lebens. – Ist das Völkchen zu beneiden?

Ein sechzig Seemeilen breiter Meeresarm trennt Hawaii von der Nachbarinsel Maui, der zweitgrößten des Archipels. Wir trafen es insofern gut, als ein frischer Südwind uns den Gebrauch des Segels erlaubte. Für so kleine Boote ist die Fahrt über den »Kanal« immerhin ein Wagestück, und wir blieben auch bald allein auf der weiten Wasserfläche. Wir begegneten gegen Mittag einem großen Bremer Segelschiff, das auf seinem Wege von San Franzisko nach Australien hier durchpassierte. Da unser Kurs den seinen kreuzte, liefen wir so dicht, als es uns möglich war, an das Schiff heran und gaben uns als Landsleute zu erkennen. Der Kapitän benutzte die Gelegenheit, uns Mitteilungen in die Heimat anzuvertrauen. Als das die Besatzung erfuhr, wollte ein jeder einen kurzen Gruß auf diese ungewöhnliche Art in die Heimat gelangen lassen. Das Schiff drehte eigens zu dem Zwecke bei, und unsere Freundlichkeit verursachte uns einen fast einstündigen Aufenthalt. Da ich aus eigener Erfahrung wußte, welche Freude ein Seemann, der monatelang von jeder Verbindung mit dem festen Lande abgeschnitten ist, empfindet, wenn sich ihm Gelegenheit zu einem Briefe nach Hause bietet, so nahm ich gern die Mühe auf mich, obwohl der nächste Briefkasten etwas sehr unbequem lag.

Mit der sinkenden Sonne erreichten wir das kleine Dörfchen Nuu, dessen Bewohner »Europens übertünchte Höflichkeit« bereits in ihr ständiges Inventar übernommen hatten. Sie empfingen uns gastfreundlich wie ihre Stammesgenossen auf der Westküste von Hawaii, aber schon bei der Abendmahlzeit merkten wir, daß die Insel oft von fremden Besuchern aufgesucht wurde. Die »Fremdenindustrie«, wie man daheim an schönen Landschaftsorten die Halsabschneiderei euphemistisch nennt, hatte hier bereits zarte Wurzeln geschlagen. Zwar wagte man sich erst schüchtern mit einer Frage nach »der gewünschten Preislage« hervor und bewertete das Essen und Nachtlager nach wenigen Pfennigen, aber der Anfang war doch gemacht.

Als wir nach eingenommenem Mahle behaglich auf dem warmen Sande am Ufer ausgestreckt lagen, konnten wir es uns nicht versagen, uns ein wenig zu rächen. Wir zogen Tabak und Zigarren hervor und bliesen behaglich den blauen Rauch in die milde Luft. Bisher hatten wir jedem, der mit uns aß oder ruhte, von dem für die Kanaken der Küste schwer zu beschaffenden, aber leidenschaftlich begehrten Kraute gern etwas abgegeben. Hier taten wir nichts dergleichen, wir übersahen das freundliche »Aloha« der Vorübergehenden und bemerkten geflissentlich den um uns herumschwärmenden Gastgeber nicht.

Lange hielt es der Kanaka aber nicht aus. Erst sandte er seine Töchter zu uns, die uns Matten brachten, damit uns der nächtliche Tau nicht schade. Dann kamen sie wieder und boten uns ein paar herrliche Ananas. Diese nahm ich an und bot ihnen dafür Geld. Mit einer gut gespielten Entrüstung, die ihre geldgierigen Blicke Lügen strafte, wiesen sie die Münze zurück und versicherten, daß sie den »lieben Freunden« die schönsten Früchte gern zum Geschenk machten.

Die Versuche, uns zur Hergabe einiger Zigarren zu bestimmen, wirkten schließlich auf unsere Lachmuskeln. Bei dem plötzlichen Ausbruch unserer Heiterkeit standen die Kanaken, die förmlich eine Kette zwischen der Hütte und unserm Liegeplatze bildeten, anfangs verblüfft, dann aber stimmten sie in unsere Fröhlichkeit ein, und bald sahen wir uns als Mittelpunkt eines malerischen Kreises, wie ihn kein Pinsel wiederzugeben vermag. – Nun wurden die Leutchen aber auch bescheiden. Mehr als eine Zigarre nahm keiner an. Diese aber wurde von jung und alt, männlichen und weiblichen Kanaken, mit einer Andacht geraucht, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.

Ein junger, einäugiger Kanake bot sich uns als Führer auf den Vulkan Haleakala, den größten erloschenen Krater der Welt, an. Der Mann machte einen guten Eindruck und verstand auch genügend englisch, das er als Soldat des Königs in Honolulu erlernt hatte. Groß, von ungewöhnlicher Körperkraft und einer Gelenkigkeit, um die ihn ein Affe hätte beneiden können, mußte er für den Ausflug durch das von dieser Seite ziemlich ungangbare Gebirge von Wichtigkeit für uns sein. Seinen christlichen Namen Josef hatten die Kanaken in das ihnen mundgerechtere Johe umgewandelt, und so nannten auch wir ihn in der Folge. Der von Bruder Andreas unzertrennliche Kanake hieß Peho, aus Petrus entstanden.

Unmittelbar hinter dem Dorfe, türmten sich pfeilerartige Felsgebilde in glatten, unersteigbaren Wänden viele hundert Meter hoch in den finsteren Wald. Prächtige Schlingpflanzen hingen in kunstvoll verschlungenen Girlanden von den schlanken Akazien herab, die sich in irgendeiner Felsspalte eingenistet hatten und scheinbar in der Luft schwebten. Schön gefärbte Vögel sangen ihr melodisches Liedchen in den frischen Morgen und haschten nach den wenigen Insekten, die eben ihr nächtliches Versteck verließen, um den ersten Sonnenstrahl zu begrüßen.

Johe schritt mit einem ziemlich schweren Packen beladen rüstig in das Pfeilergewirr hinein. Die anfangs eng nebeneinanderstehenden Felsen zogen sich nach und nach auseinander und öffneten einen weiten Halbkreis, der an einen Dom erinnerte. Hoch, hoch über uns wölbte ein undurchdringliches Blättermeer die Kuppel und wehrte dem Lichte den Eingang. Von den Wänden sickerten silberne Wasserstrahlen, und nur einige in den Nischen hängende große Fledermäuse nahmen dem Raume das Gruftähnliche. Eine hehre, gewaltige Stille herrschte in dem eigenartigen Landschaftsgebilde.

Wir wagten nicht laut zu sprechen. Eine unerklärliche Scheu hielt uns ab, die heilige Stille zu unterbrechen, und selbst unser Führer gab durch Handbewegungen die einzuschlagende Richtung an.

Vor einem Kamin machte Johe Halt und deutete nach oben.

»Wie? Hier sollen wir hinauf?« fragte ich erstaunt. »Wie sollen wir das wohl machen?«

Johe lächelte. Dann entnahm er seinem Sack ein langes, feingedrehtes Seil und legte es sich in weiten Schlingen um den Hals.

»Ah, ich begreife!« rief Bruder Andreas, dem seine tiroler Jugendzeit wieder einfiel. »Wir sollen uns aufwärts stemmen. Daß ich das noch mal in Maui üben müßte, habe ich mir vor Jahren, als ich in den Dolomiten herumkletterte, auch nicht träumen lassen.«

»Ja, Sie haben es wenigstens schon geübt, aber ich wüßte wirklich nicht, wie ich mich dabei anzustellen hätte,« erwiderte ich.

»Dafür hat der Kanake ja das Seil mitgenommen. Daran hißt er Sie in die Höhe,« sagte Bruder Andreas, indem er mit Johe die Reihenfolge bestimmte, in der wir den Kamin befahren sollten. Erst Johe, dann Peho, hierauf ich und Bruder Andreas, der den Führer mit seiner Fertigkeit im Befahren von Kaminen bekannt machte, als Letzter.

Ich war nicht sehr erbaut von der für mich neuartigen Kletterei. Ich gab das auch den Leuten zu verstehen. Johe behauptete aber, daß es einen anderen Aufstieg auf das Plateau von hier aus nicht gäbe, und so mußte ich mich denn in mein Schicksal finden.

Noch während ich meine Gedanken darüber mit Bruder Andreas austauschte, schob sich der Kanake mit der Geschwindigkeit eines Affen in dem Kamin aufwärts. Die ruckartigen Bewegungen, die wir ein Stück weit mit den Augen verfolgen konnten, sahen so possierlich aus, daß wir herzhaft darüber lachten. Peho ging schon schwerfälliger an den Aufstieg. Wohl ein dutzendmal rutschte er nach den ersten zehn Metern wieder herunter, bis endlich das Seil erschien, mit dessen Hilfe er dann im eigentlichen »Kamin« verschwand.

»Jetzt kommt die Reihe an Sie, lieber Freund,« sagte Andreas, indem er mir lächelnd auf die Schulter klopfte. »Stemmen Sie nur den Rücken fest an die eine und die Knie an die andere Wand. Dann schieben Sie sich aufwärts ...«

»Haben Sie nicht zufällig eine gedruckte Anweisung für solche Fälle bei sich, lieber Bruder?« unterbrach ich ihn. »Sie wissen ja, wie es in den meisten Fällen geht. Das, was man gesagt bekommt, vergißt man zuerst. Übrigens sehe ich gar kein Ende in dem Kamin. Treten Sie einmal hierher, Andreas. – So! – Nun schauen Sie nach oben. Nichts wie Finsternis, wenn die Röhre dort einen Ausgang hätte, müßte man doch einen Lichtschein bemerken! Rufen Sie doch einmal hinauf!«

Der Schall der Stimme klang merkwürdig dumpf. Es hörte sich an, als ob sich die Laute am Ende eines verschlossenen Raumes brächen und an den Wänden zurückkröchen. Auch ein zweiter, noch stärkerer Ruf fand keine Antwort.

Andreas trat zurück und blickte mich sinnend an.

»Das verstehe ich nicht recht,« sagte er. »Der Kamin kann doch keine Biegung machen wie eine Blechröhre. Und wenn er oben in eine Höhle mündet, dann sollten uns die Kanaken erst recht hören ... Doch da kommt das Seil! Jetzt versuche ich nochmals eine Verständigung.«

Der Erfolg des Rufens war negativ, wie zuerst. Das Seil war in einer zuckenden Bewegung, als ob der Mann am oberen Ende zur Eile mahnte.

»Hängen Sie jetzt zwei Rucksäcke daran,« sagte ich. »Die können ja doch nicht hier bleiben, und Sie sparen sich nachher die Mühe.«

Diesmal blieb das Seil lange aus. Als es dann wieder erschien, hingen die Rucksäcke noch daran. Sie sahen arg mitgenommen aus.

»Was bedeutet denn das?« fragte Andreas, indem er die Bürde genau untersuchte.

»Sie wird für die Öffnung zu groß sein,« entgegnete ich. »Sehen Sie hier die Spuren der Reibung an den Felsen? Na, ich danke, wenn ich mich durch ein Loch zwängen muß, durch das nicht einmal die beiden Säcke schlüpfen können. Das kann heiter werden!«

Andreas band einen Sack los und gab durch Rucken an dem Seil das Zeichen zum Aufziehen. – Diesmal kam es nach etwa zehn Minuten leer hinunter.

»Nun den zweiten Sack.«

Auch der kam glatt oben an, ebenso der dritte und vierte. Als das Seil dann wieder erschien, trat Andreas zu mir und schlang mir den Strick um die Brust:

»Nur Mut, Freund, die Sache wird schon schief gehen!« rief er mit humorvollem Lachen und reichte mir die Hand.

Er hatte unbewußt wahr gesprochen. Sie ging schief, oder richtiger, sie ging gar nicht. Das Hinaufstemmen machte mir keine Schwierigkeiten. Hier kam mir meine Lehrzeit als Schiffsjunge zustatten. Ich kletterte sogar ziemlich schnell, da sich der Kamin immer mehr verengte. Nach einer Weile zeichnete sich ein kleiner runder Lichtpunkt auf einer Wand ab. Er wurde größer und größer. An einem Blick nach unten merkte ich, daß die Röhre tatsächlich eine Biegung machte. Bald hing dichte Finsternis unter mir, während das Licht von oben immer greller wurde.

Da spürte ich plötzlich einen Druck auf meinem Rücken. Die Beine wichen automatisch aus der Beuge und zeigten das Bestreben abzugleiten. Das Seil straffte sich mehr und mehr. Ich fühlte an dem Einschneiden in mein Fleisch, daß man mit großer Gewalt zog ...

Plötzlich fühlte ich mich derart eingeengt, daß mir fast der Atem stockte. Ich schob meine Hand unter die Einschnürung und verspürte sofort einen brennenden Schmerz.

Ich schrie um Hilfe. Der Ton kam so gepreßt heraus, daß ich selbst davor erschrak. Dabei wurde das Seil bis zum Zerreißen angespannt. Ich versuchte nun meinen Arm aufwärts zu bringen. Ich wußte, daß eine Öffnung, durch die der Kopf und ein Arm gehen, auch für den Körper groß genug ist.

Vergebens! Der Raum war so eng, daß ich den Arm nicht einmal bis in Kopfhöhe heben konnte. Und dabei zog man mich mit Riesenkräften immer höher hinauf in die Röhre.

Schon fürchtete ich zu ersticken, da erschien endlich ein Kopf vor dem Ausgang. Es war Johe. Ich wollte ihm rufen, brachte aber keinen Ton hervor. An meinem Gesichte mußte er aber gesehen haben, wie es um mich stand. Genug, er lockerte das Seil und brüllte mir ein Wort entgegen, daß ich mit »down« übersetzen wollte.

Ja – hinunter! Er hatte gut reden! Soviel ich mich auch bemühte aus der Umklammerung loszukommen, mein Eigengewicht war nicht einmal imstande, mich zu befreien.

Peho war an die Seite des Kanaken getreten. Sie schlangen das Seil um einen Baum, um mich vor einem jähen Sturze zu sichern, und berieten über die vorzunehmenden Rettungsversuche. Ich sah mit ängstlicher Spannung jeder Bewegung der Leute zu. Nun, da ich mich vor einem Sturze in die Tiefe gesichert wußte, arbeitete ich eifrig an meiner Befreiung. Ich zog mich nach Möglichkeit in die Länge, streckte und dehnte mich. Umsonst! Die Schultern saßen eingeklemmt wie in einem Schraubstock. Sie wichen und wankten nicht. Dabei spürte ich keinen Schmerz. Nur die furchtbare Pressung, die auf meinen Bronchien lag, drohte mich zu ersticken.

Auf einmal erschien ein Bein in der Öffnung über mir. Der Führer versuchte mich mit dem Fuße hinunterzudrücken. Er legte sich mit ganzer Kraft auf meine Schulter, und nun spürte ich einen rasenden Schmerz. Ich brüllte. Der Laut kam in grauenhaften Tönen aus meiner Kehle, wurde dann lauter und lauter, je mehr mein Körper nach unten auswich:

»Halt, stopp!« brüllte ich endlich hervor, als mich der rasende Schmerz auf meinen Oberarmen die gefährliche Situation vergessen ließ. Dann gab es einen Ruck, und ein schneidender Druck in der Brust rief mich zur Überlegung zurück. Ich schwebte frei an dem dünnen Seil!

Instinktiv griff ich nach dem schwankenden Halt. Mit dieser Art der Überwindung von Hindernissen war ich vertrauter. Ich griff mich Hand um Hand an dem Seil aufwärts, immer hoffend, daß ich doch noch durch die Öffnung kriechen könnte. – Ich mußte aber bald das Unmögliche einsehen.

Nun blieb mir nur noch das Zurück. Ich stemmte wieder Rücken und Knie gegen die Wände und begann langsam abwärts zu rutschen. Dabei fühlte ich, wie mir das Blut in die Ärmel lief und sich über meinen Körper ausbreitete. Zum Glück ließen die beiden Kanaken das Seil sachgemäß folgen, so daß ich stets den Halt daran hatte. Knie und Rücken mußten längst wundgescheuert sein. Sie brannten wie das höllische Feuer.

Unter mir wurde es heller. Der Kamin war zu Ende, und ich rutschte zwischen den Felsen abwärts. Bevor ich den Boden erreichte, hörte ich schon den lauten Schrei meines Gefährten. Er nahm mich unten in Empfang.

»Um Gottes willen, Mann, wie sehen Sie aus? Was ist geschehen? Sie sind ja ganz zerschunden!«

»Bin ich auch, Bruder! Hier, helfen Sie mir schnell aus den Kleidern, ehe das Blut anklebt. – So! – Bitte, nun waschen Sie die Wunden aus und verbinden Sie mich, bevor die Insekten das Blut wittern.«

Das Verbandszeug befand sich in den Säcken, die wir hinaufgeschickt hatten. Um den zahllosen Verbrennungen auf Armen, Brust, Händen, Knien und Rücken wenigstens einen provisorischen Schutz zu geben, entledigte sich Bruder Andreas seines Leinenhemdes, das er zufällig heute trug. Dann rannte er zu dem Kamin und kletterte rasch aufwärts.

»Ich hole die Säcke!« rief er und verschwand, noch bevor ich ihn über das Vergebliche seines Bemühens unterrichten konnte.

Der Bruder mochte etwa zehn Minuten fort sein, als plötzlich Johe aus den Felsen im Hintergrunde auftauchte. Er war ganz in Schweiß gebadet. Er fragte nach meinem Gefährten, und als er hörte, daß dieser in dem Kamin sei, kletterte er mit fiebernder Hast nach.

Ich wußte nicht, was ich von der ganzen Geschichte denken sollte und zerbrach mir vergebens den Kopf, wie der Führer plötzlich hier erscheinen konnte, wo er doch ausdrücklich das Vorhandensein eines andern Weges verneint hatte.

Er brachte bald die Aufklärung.

Den Bruder Andreas fand er im Kamin in einer ähnlichen Lage, wie ich sie erlebte. Nur saß er nicht so fest, weil er nicht durch das Seil gezogen wurde. Immerhin mußte Johe ihm aber beim Herunterklettern hilfreiche Hand leisten. Bei den nun folgenden Auseinandersetzungen stellte es sich heraus, daß zwar ein Weg auf den Rücken des Plateaus führte, daß er aber so steil und steinig sei, daß er für nackte Kanakenfüße schwer gangbar war. Der Aufstieg durch den Kamin sei näher und bequemer. Der Kanake hatte vergessen, daß wir breiter gebaut waren als seine dürren Landsleute.

Der Bequemlichkeit des Führers zuliebe hätte ich beinahe das Leben eingebüßt!

Lange gingen wir mit uns zu Rate, ob wir nicht lieber den dreißig Kilometer weiten Weg am Strande entlang bis zum Dorfe Puukahaka machen sollten, von jenem Orte aus hielten Eingeborene, die wir gestern darum befragten, den Aufstieg in den Krater durch das Jaotal für sehr leicht. Der weite Weg ließ uns indessen auf den Plan verzichten und die steinige Straße wählen – zu unserm Glück.

Von »Straße« konnte man allerdings nicht reden. Das, was sich uns als Aufstiegsmöglichkeit in den Weg stellte, als wir den Kessel verließen, bestand aus einem steilen Hang, der mit Steingeröll übersäet war. Bei unserm Erscheinen ergriffen einige Rudel verwilderter Ziegen die Flucht. Sie sausten über die Querseite der Geröllhalde mit einer Sicherheit, deren sich eine Gemse nicht hätte zu schämen brauchen. Johe forderte uns auf, eines der Tiere zu erlegen, da wir nur wenig Lebensmittel mit uns führten. Er kam jedoch mit seinen Wünschen zu spät. Die Sandwichinseln beherbergen keinen einzigen jagdbaren Vierfüßler. Um diesem Mangel abzuhelfen, haben Europäer Ziegen, Schafe und Schweine auf den einzelnen Inseln ausgesetzt, von denen besonders erstere gut gediehen. Später lernten wir auch deren Fleisch schätzen.

Der ganze Tag verging über der überaus ermüdenden Kraxelei in den scharfen Lavabrocken. Meine Wunden waren inzwischen verklebt worden, denn Johe, dem das Rutschen in dem Kamine Freude machte, hatte den Verbandskasten in unglaublich kurzer Zeit herbeigeschafft. Nichtsdestoweniger begannen die Verbrennungen an den Knien und Schienbeinen beim Aufstieg wieder zu bluten. Dadurch verzögerte sich das Fortkommen ungemein. – Abends, nach dem Essen, packte mich sogar ein leichtes Fieber mit Schüttelfrost und Zähneklappern. Eine Dosis Chinin und ein langer, erquickender Schlaf stellten mich jedoch wieder soweit her, daß ich marschieren konnte.

Wir befanden uns den nun folgenden ganzen Tag über in einem prächtigen schattigen Hochwald, in dem Akazien vorherrschten. Auch viele Sandelholzbäume und zahlreiche schöne Palmen tauchten auf. Immer sanft ansteigend erreichten wir abends noch vor Dunkelwerden einen Rand des gewaltigen Kraters. Kurz vorher sahen wir eine Quelle, die inmitten eines klaren Teiches lustig mit dem perlgrauen Sande spielte. Zu ihr kehrte ich zurück, als der Lagerplatz festgelegt war, und badete mich lange in dem weichen Wasser, das eine merkwürdig hohe Temperatur aufwies. Es war jedoch vollkommen geruch- und geschmacklos. Nur sehr warm, mindestens 35 °C. Ein Beweis, daß noch immer Glutmassen im Erdinnern von Maui tätig sind, wenn auch unter wenig hohem Druck.

Der Haleakala ist ein kegelförmiger Berg von etwa 3300 Meter Höhe, dessen Gipfel den weiten Kessel dieses größten Kraters der Welt einschließt. Der Berg selbst bedeckt mit seinem Massiv fast die ganze Hälfte der Insel Maui. Von der Ausdehnung des Kraters kann man sich einen Begriff machen, wenn man seine Ausmaße kennenlernt. Das Becken ist an der weitesten Stelle etwa zwölf Kilometer breit, bei einem Umfang von zwanzig Kilometern. Die Sohle des ehemaligen Kraters liegt achthundert Meter tiefer als sein höchster Rand. Im Innern dieses weiten Kessels wiederholt sich das Bild des Halemaumau – ein sturmbewegtes Meer, das durch einen Zauberschlag erstarrt ist. Nur zeigt der Krater des Haleakala in seinem Areal noch bizarr geformte »Inseln«, d.h. kegelförmige Erhebungen, die zwischen hundert und dreihundert Meter Höhe variieren. Deutlich sieht man die Trichter, die ehedem die Feuermasse dem gewaltigen Kessel zuführten, sowie an zwei Stellen die Durchbrüche, durch die das kochende Magma über die südliche und östliche Flanke des Berges sich ergoß.

In der Dämmerung des scheidenden Tages machte der erste Anblick dieses mächtigen Tellers auf mich den Eindruck, wie die Lichtbilder uns die Mondoberfläche darstellen. Erhöht wurde die Ähnlichkeit des Bildes noch durch die Trichter, die bereits in tiefem Schatten lagen, und die höchsten kegelförmigen Auswüchse, um deren oberen Teil noch die Lichter der untergehenden Sonne spielten. Zwei dieser riesigen Zacken werfen im Sonnenlichte einen eigenartigen Glanz zurück, der den Eingeborenen der Küste bis weit ins abendliche Meer hinein leuchtet. Diese ungewöhnliche Erscheinung verlieh dem Berge den Namen Haleakala, das heißt in der Kanakensprache »Haus der Sonne«, wie Halemaumau das »Haus des ewigen Feuers« heißt.

Johe entwarf uns, während wir auf unsern Decken um ein wärmendes Feuer lagerten, eine begeisterte Schilderung von der Schönheit dieses toten Sonnenhauses. Er erzählte uns von den Geistern, die in hellen Mondnächten hier ihre Tänze abhalten. Von den längst verschollenen Menschen, die einst von Maui aus ihren Rundgang über die ganze Erde angetreten hatten (In der Vorstellung des Erzählers bestand diese ganze Welt aus herrlichen Inselgruppen!), und die zu gewissen Zeiten wieder auf die Insel zurückkehren, um die Stätte ihrer Geburt noch einmal zu betrachten. In solchen Nächten sei es aber nicht ratsam, den Krater zu besuchen. Man müsse dann den Lockungen der Geister nachgeben, die den Vermessenen ins Meer stürzten, damit er in seiner unwirklichen Seele den Geistern in das ferne Land folgen könne. Wie man sieht, finden sich auch bei den heidnischen Kanaken Anklänge an den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele.

Vor Tagesanbruch waren wir munter. In wenigen Sprüngen erreichten wir den dunklen Rand des Kraters. Dort bot sich unsern Blicken ein eigenartiges Schauspiel.

Der ganze weite Raum des Kessels war bis zum Rande gefüllt mit schneeweißen Nebelmassen, die unbeweglich still lagen und mit ihren oberen Flächen jeden Ausblick über die Insel hinderten.

Bald zeichneten sich die ersten hellen Streifen an den östlichen Horizont. Ein gelber Schein schoß pfeilartig in den Zenit hinauf. – Nun kam Bewegung in die weißen Massen. Ein leises Wallen lief von Ost nach West durch die Nebelflut. Ganz unmerklich erst, dann aber stärker, je mehr sich der Pfeil am Himmelsdome färbte. Der Morgenwind lief vor dem hellen Scheine des werdenden Tages her und weckte unsanft die schlafenden Berggeister. Wie große Wattebauschen ballten sich die Nebel zu Knäueln. Noch lagen sie fest in ihren Lagern, unwillig sich schüttelnd ob der Störung.

Dann schoß der erste Strahl des aufgehenden Tagesgestirns über das »Haus der Sonne«. Und jetzt erhob sich in dem Kessel ein Wogen und Wallen, ein Schieben und Drängen, daß man eine lebende Welt vor sich wähnte. Vor den gleißenden Strahlen flohen die Nebel nach allen Seiten über die Ränder. Hier stiegen lange Fetzen kerzengerade in den Äther, um nach Minuten dem Auge zu entschwinden. Andere Massen kämpften untereinander, schoben sich hin und her und stürzten kopfüber den Hang hinunter. Je höher die Sonne stieg, desto wilder wurde die Flucht der Geister.

Und als dann der gewaltige Feuerball mit seinem untern Rande auf den spiegelglatten Fluten des Weltmeeres stand, entrollte sich ein Bild vor unsern entzückten Augen, das seinesgleichen sucht. Tief unten das in goldenes Feuer getauchte Meer, zu dem der helle Strand einen prächtigen Rahmen schuf. Weit nach Norden hinaus schweift der Blick über dunkle Wälder, über grünende Wiesen und geheimnisvolle Täler. Den Süden und Westen verdunkeln noch die Schatten des Berges und lassen durch ihre blaugrauen Tinten die finsteren Bergmassen noch drohender erscheinen. Ein überwältigender Kontrast zwischen werdendem Leben und starrem Tode.

Über eine halbe Stunde währte dieser Kampf zwischen Sonne und Nachtnebel. Als das Sonnenlicht die letzten weißen Schwaden aufgesogen hatte, stiegen wir in das weite Kraterbecken hinab. Ein frischer Hauch drang uns entgegen, untermischt mit einem fauligen Geruch. Diese Ausstrahlung des vulkanischen Bodens paßte wunderbar zu dem Bilde einer Mondlandschaft, das mir vor Augen schwebte, solange ich mich in und über dem Kratergrunde befand. So muß es auf der Oberfläche unseres Trabanten aussehen. Die ringförmigen Schlundöffnungen, heute noch umkränzt von gelblichem Lavasand; die emporragenden, totenfarbenen, versteinerten Wellenberge; die an geschmolzenes Eisen erinnernden Felsengebilde; der mißfarbene Flugsand von einer ungewöhnlichen Schwere; dazu das Öde einer ausgestorbenen Landschaft – das alles paßt wunderbar in den Rahmen einer Mondphotographie ...

Stundenlange Wanderungen auf dem toten Boden brachten uns sehr hohen Genuß. Die Entstehung unseres Erdballes aus flüssigem Magma wird an dieser Stätte so treffend dargestellt, daß die ausführlichste Beschreibung gelehrter Bücher das Bild nicht so stark dem Geiste einzuprägen vermag, wenn auch – oder gerade weil die Vegetation noch nicht Zeit gehabt hat, ihre Wurzeln in die starre Sandschicht zu schlagen, so finden sich doch bereits kühne Moose und zierliche grüne Flechten auf dem verwitterten Rändern der Ostseite. Da hier viele Seevögel ihre Heimat gewählt haben, dürfte es auch nicht mehr allzulange dauern, bis der Totenstätte pflanzlicher Schmuck ersteht.


 << zurück weiter >>