Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI.

Er öffnete die Tür vollends und trat hinaus. Es war nun bereits so hell, daß er die Umgebung deutlich unterscheiden konnte. In der Erde unten sah er zwei tiefe Spuren und dachte sich: hier ist also Krag hinuntergesprungen. Man konnte seine Fußtapfen über den ganzen Weg bis zum Zaun verfolgen. Aber wohin hatte er dann seine Schritte gelenkt?

Er rief den Schutzmann herbei, der ihm den Bericht von Krag überbracht hatte.

»Warum ist er so plötzlich fortgegangen?« fragte er.

»Ich weiß es nicht«, antwortete dieser. »Er fluchte wütend, als er ging. Er hatte unten an der Pforte etwas entdeckt.«

»Aha! Die Pforte stand also offen.«

»Ja.«

»Und was hat er dort entdeckt?«

»Das weiß ich auch nicht. Er beugte sich zu Boden und beleuchtete ihn mit einer ganzen Schachtel Streichhölzer. Dann fuhr er empor und ging langsam um die Ecke. Aber er blickte beständig auf seine Stiefel nieder.«

»Auf seine Stiefel? Sie sind wohl närrisch. Natürlich hatte er eine Spur entdeckt, und die verfolgte er.«

Der Chef kehrte zurück in das Zimmer und murmelte vor sich hin:

»So werden wir vielleicht lange auf ihn warten können.«

Das junge Mädchen ging mit fieberhafter Unruhe im Zimmer auf und ab. Sie hatte seine letzten Worte aufgefangen und sagte mit einem merkwürdigen leisen Lächeln:

»Ja, Sie werden vielleicht zu lange warten müssen.«

Der Chef sah sie an und fühlte sich plötzlich beklommen. Sehr ernst erwiderte er ihr:

»Sollte Asbjörn Krag etwas zugestoßen sein, gleichviel was, so wird er gerächt werden.«

»Glauben Sie wirklich, daß Sie etwas zu rächen haben?« rief die Dame erregt aus. »Oder wollen Sie mit Ihrer Polizeimannschaft ein wehrloses Mädchen anfallen?«

Der Chef antwortete ihr nicht. Doch seine Unruhe um Krag wuchs mehr und mehr. Die Untätigkeit peinigte ihn. Hier stand er nun in einem wildfremden Hause mit einer Abteilung Polizisten, einem für ihn noch immer undurchdringlichen Geheimnis gegenüber und konnte nichts beginnen. Inzwischen befand sich Asbjörn Krag vielleicht irgendwo in Lebensgefahr.

Er ging in das Nebenzimmer, in dem er vorhin einen Telephonapparat bemerkt hatte und läutete auf der Polizei an.

»Etwas Neues?« fragte er die Nachtwache.

»Nichts Besonderes«, lautete die Antwort. »Wir haben einen Arrestanten bekommen.«

»Welcher Art?«

»Es ist wohl ein ganz gewöhnlicher Strolch. Er führt den Spitznamen Bolzen.«

Der Chef war nahe daran, die Fassung zu verlieren.

»Den Bolzen?« fragte er erstaunt. »Aber das ist ja der Mann, dem Krag schon seit ein paar Tagen nachjagt.«

Die Nachtwache war offenbar nicht eingeweiht, denn die ruhige Antwort lautete:

»Ja, Asbjörn Krag hat ihn selbst vor wenigen Augenblicken eingeliefert.«

»Krag?«

»Ja, Krag selbst.«

Gott sei Dank, dachte der Chef. So ist er also außer Gefahr.

»Ist er wieder gegangen?« fragte er.

»Ja, eben ging er fort.«

»War er allein?«

»Ja. Nur einen Hund hatte er noch mit.«

»Einen Hund?!«

Bei diesem Ausruf vernahm der Chef aus dem Nebenzimmer, wo sich das junge Mädchen aufhielt, einen durchdringenden Schrei.

»Wie sah der Hund aus?« fragte er am Telephon.

»Ein gelbes, großes Tier mit blutunterlaufenen Augen – ein garstiges Vieh. Krag mußte ihn an der Kette halten.«

»Sagte der Detektiv, wohin er gehen wollte?«

»Nein.«

»Schien er Eile zu haben?«

»Nein, er ging ganz ruhig die Straße hinunter.«

»Sonst nichts zu melden?«

»Nein, nichts weiter.«

Der Chef läutete ab.

Als er in das Gartenzimmer kam, sah er die Dame schluchzend auf den Tisch lehnen. Er trat zu ihr und sagte:

»Liebes Fräulein, was kann ich für Sie tun? Sie scheinen sehr unglücklich zu sein.«

Ein heftiges Weinen schüttelte ihren ganzen Körper, sie war keines Wortes mächtig.

»So ist es also geschehen«, flüsterte sie endlich.

»Was ist geschehen?«

Es war keine rechte Antwort aus ihr herauszubekommen, ihre Gedanken schienen in weiter Ferne zu weilen.

»Es muß vorbei sein,« murmelte sie, »der Hund – o, sicher ist es aus ...« Der Schmerz überwältigte sie von neuem. Plötzlich hob sie den Kopf, sah den Chef an und sagte:

»O, ich habe so fürchterlich gelitten in dieser Zeit.«

»Wollen Sie mir nicht lieber alles erzählen?« fragte er. »Sie wissen ja, es hat keinen Zweck, vor uns etwas verbergen zu wollen.«

»Ich habe nichts zu erzählen. Machen Sie mit dem Hause, was Sie wollen. Ich gehe fort.«

Sie wollte das Zimmer verlassen. Der Chef hielt sie jedoch zurück.

»Ich bedaure,« sagte er, »daß ich Ihnen hierzu keine Erlaubnis geben kann, ehe Asbjörn Krag wieder hier ist.«

Sie wies in den Garten hinunter.

»Sehen Sie,« sagte sie, »da kommt er.«

Der Chef warf einen Blick in den Garten und hätte beinahe einen lauten Freudenruf ausgestoßen. Er sah Asbjörn Krag ruhig den breiten Kiesweg heraufkommen. An der Hand hielt er einen großen gelben Hund an der Kette.

Der Detektiv schritt dem Hause zu. Die Schutzleute scharten sich lächelnd um ihn und machten Honneur. Ohne sich um diese stille Ovation zu bekümmern, ging Krag ruhig weiter. Er war sehr beliebt bei seinen Untergebenen, und alle freuten sich, ihn wohlbehalten wiederzuhaben.

Der Chef begriff, daß Krag das Geheimnis enthüllt und seine Arbeit in dieser rätselhaften Angelegenheit vollbracht hatte. Er öffnete die Tür und drückte dem Eintretenden warm die Hand.

Dieser gab den Hund frei, der, munter kläffend, auf die junge Dame zu stürzte.

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte der Chef. »Ich war bereits ein wenig besorgt um Sie.«

»Nun, seitdem wir uns zum letztenmal sprachen, befand ich mich auch zweimal in größter Lebensgefahr«, antwortete Krag.

»Zweimal?«

»Ja. Erst in diesem Zimmer hier. Und dann vor nun einer halben Stunde.«

Der Chef betrachtete ihn genauer. Und er sagte sich, daß er Asbjörn Krag noch nie so ernst gesehen hatte.

Der Detektiv trat zu der jungen Dame und begrüßte sie respektvoll.

»Es tut mir innig leid, mein Fräulein,« sagte er, »daß ich Ihnen all dieses Leid bringen mußte. Aber es ging nicht anders.«

Sie hob die tränengefüllten Augen und antwortete:

»So kann ich mir denken, daß alles vorbei ist.«

»Ja, alles ist vorbei.«

»Ist er tot?«

»Ja.«

»Dann kann ich wohl gehen«, stammelte sie.

»Sie können gehen, wohin Sie wollen. Sie bedürfen jetzt der Ruhe. Morgen stehe ich Ihnen mit allen Aufklärungen zur Verfügung.«

Das junge Mädchen rief den grauhaarigen Diener herbei, der zu ihr trat und sie stützte. Langsam schwankte sie aus dem Zimmer. Der große gelbe Hund folgte ihr, wedelte mit dem Schwanz und beleckte ihre Hand.

Es war eine rührende Szene. Der Chef hatte Mühe, seine Bewegung zu unterdrücken.

»Auch ich bin müde«, sagte Krag, indem er einen Stuhl an den Tisch zog und sich setzte. »Wenn ich nun zur Ruhe komme, werde ich viele, viele Stunden schlafen.«

»Sie haben also das Rätsel gelöst?« fragte der Chef.

»Ja.«

»Steckte eigentlich ein bemerkenswertes Geheimnis dahinter?«

»O ja. Ich erhielt Einblick in eins der seltsamsten Geheimnisse, auf die ich je gestoßen bin.«

»Aber Sie hatten wohl bereits im voraus Ihre Ahnungen?«

»Absolut nicht. Ich war selten so überrascht. Erst im allerletzten Augenblick enthüllte sich mir das Ganze.«

»Haben Sie nun auch Klarheit darüber, wer der Mörder des jungen Mädchens ist?«

»Ja.«

»Und warum sie ermordet wurde?«

»Ja.«

»Und Sie wissen, wer der Mann mit dem Elfenbeinstock ist?«

»Auch das weiß ich.«

»Und Sie kennen die Bedeutung der mystischen Kreuze auf dem Stock und der Visitenkarte: ›Die Faust?‹«

»Ja, ich kenne sie nun.«

»So berichten Sie von Anfang bis zum Ende. Ich zittere vor Spannung.«

»Sie werden alles verstehen, wenn ich Ihnen erzähle, was ich in der letzten Stunde, nachdem ich die Villa verließ, erlebt habe.

Und der Detektiv berichtete.


 << zurück weiter >>