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XI.

Hatte er sich verhört? Er schlich näher heran und verstand nun ganz deutlich, was das Mädchen sagte:

»Du bliebst lange fort.«

»Ja, ich blieb lange«, antwortete der Mann ernst und langsam. »Aber ich konnte die Sache nicht schneller erledigen. Hattest du inzwischen Besuch?«

»Nein,« flüsterte sie, »hier war niemand.«

Der Kutscher öffnete die Tür zu seiner bescheidenen Wohnung.

»Willst du nicht eintreten?« fragte er.

Sie nickte, und die beiden verschwanden im Inneren des kleinen Hauses.

Asbjörn Krag begriff kein Wort von dieser Geschichte. War es denn möglich, daß zwischen dem jungen Mädchen und dem alten Kutscher ein intimes Verhältnis bestand? Befand sie sich in dem Glauben, daß er tatsächlich Kutscher sei, oder wußte sie, daß er der Mann mit dem Elfenbeinstock, ein Dieb und Mörder war? Oder war er gar nicht der Verbrecher, den er hinter ihm witterte? Aber wie kam es dann, daß er in Beziehung zu dem Bolzen stand, einem mehrfach bestraften Strolch und Taschendieb?

Asbjörn Krag schlich sich unter das Fenster der Kutscherwohnung. Das Rouleau war herabgelassen, aber er erkannte an den Schatten in dem erleuchteten Zimmer, daß die beiden drinnen in eifrigem Gespräch hin und her gingen.

Krag legte das Ohr an das Schlüsselloch und lauschte. Er war sich wohl bewußt, daß er damit eine niedrige Handlung beging, doch besann er sich trotzdem keinen Augenblick, es zu tun. Für ihn galt es nur, so rasch wie irgend möglich hinter dieses seltsame Geheimnis zu kommen.

Anfangs sprachen die beiden so leise, daß er ihre Worte nicht verstand. Doch ihr Gespräch wurde immer heftiger, und plötzlich hörte Krag das Mädchen sagen:

»Du mußt abreisen.«

Der Kutscher brummte etwas zurück. Darauf klagte sie:

»Du stürzt uns alle ins Unglück.«

Da schlug der Kutscher auf den Tisch und rief:

»Ich reise nicht. Es wäre mein Verhängnis, wenn ich das jetzt täte.«

»Du sagst ja aber selbst, daß die Polizei dir auf den Fersen ist.«

»Ph, die Polizei, aus der mache ich mir gar nichts.«

»Ich glaube, du tatest unrecht, dich in der Stadt aufzuhalten.«

»Das geht dich nichts an.«

»Bedenke doch, wenn die Polizei in Erfahrung gebracht hätte, wer du eigentlich bist.«

»Das ist nicht möglich,« antwortete der Kutscher mit einem merkwürdig verzweifelten Lachen, »die Polizei forscht doch nicht nach einem Toten.«

Ein Zittern schüttelte Krag. Er vernahm ein schmerzliches Schluchzen. Das war das junge Mädchen.

Plötzlich fuhr der Detektiv zusammen und schlich rasch seitwärts. Die Tür hatte sich geöffnet, und das Mädchen trat heraus.

Der Kutscher begleitete sie bis zur Schwelle. Krag stand so nahe, daß er nur den Arm auszustrecken brauchte, um den Kleiderrock des Mädchens zu fassen.

Er sah, daß sie sich die Tränen trocknete. Der Kutscher stand ungerührt neben ihr und wartete offenbar nur auf ihr Verschwinden.

»Du kennst die Signale«, sagte er mit harter Stimme.

»Ja, ich kenne sie.«

Eine Sekunde lang stand sie schweigend und sah ihn an.

»Du willst also nicht abreisen?« fragte sie noch einmal.

»Nein, ich reise nicht ab.«

Dann hob sie ihren Rock und ging über den Hof nach dem Haupthause.

Der Kutscher trat in seine Wohnung zurück und schloß die Tür mit einer heftigen Bewegung – wie man es hinter einem unwillkommenen Gast zu tun pflegt.

Krag sah die junge Dame die Stufen hinaufgehen, bald darauf wurde es hinter einigen Fenstern im Erdgeschoß hell.

Der Detektiv schlich auf den Fußspitzen zu dem Hause hin und stellte sich unter die erleuchteten Fenster. Ja, richtig, die junge Dame befand sich nun in diesem Zimmer.

Ganz in der Nähe lag die Küchentür. Krag versuchte sie zu öffnen, sie war jedoch verschlossen. Aus einem kleinen schwarzen Lederetui, das er stets bei sich hatte, nahm er ein paar feine, blinkende Werkzeuge heraus. Es waren die besten Einbruchswerkzeuge, und Krag war ein Meister in deren Anwendung. Nach weniger als zwei Minuten gab es einen Knacks in dem Schloß, und die Tür glitt langsam auf. Er befand sich in einem kleinen Flur. Rechts war eine Tür, die offenbar zur Küche führte. Vorsichtig öffnete er sie und trat ein. Er blieb eine Weile unbeweglich in dem tiefen Dunkel stehen. Darauf zog er seine Blendlaterne aus der Tasche. Richtig, er stand in der Küche. Aber wie sollte er nun in die Wohnung der jungen Dame gelangen, ohne Lärm zu machen und die übrigen Hausbewohner zu wecken? Er schlich durch einige Türen und befand sich plötzlich zu seinem größten Staunen in dem Haupteingang einer geräumigen Halle. Hier blieb er ein Weilchen stehen, um sich zu orientieren. Nur noch ein Zimmer konnte ihn von den Räumen des jungen Mädchens trennen. Er wollte soeben wieder eine Tür öffnen, als er rasche Schritte von drinnen vernahm.

Er zog sich in einen Winkel der Halle zurück, die Tür ging auf, und die Gestalt der jungen Dame hob sich deutlich von dem matten, aus einem benachbarten Zimmer strömenden Licht ab. Sie sagte:

»Ist hier jemand? Bist du es, Hanna?«

Da sprang Krag hervor, rasch wie der Blitz, preßte mit der einen Hand ihr Handgelenk, mit der anderen ihren Mund, so daß sie nicht schreien konnte. Er fühlte, wie sie vor Entsetzen zitterte.

»Fürchten Sie nichts, Fräulein«, flüsterte er. »Seien Sie ganz ruhig. Ich tue Ihnen nichts. Aber ich muß Sie sprechen. Wenn Sie schreien, geht es Ihnen schlecht. Ich weiß, wer der Mann in der Kutscherwohnung ist.«

Damit ließ er sie los.

In furchtbarer Erregung lief sie zu dem Zimmer zurück und starrte Asbjörn Krag mit erschrockenen Blicken an.

»Wer sind Sie?« flüsterte sie.

»Das kann ich Ihnen vorläufig noch nicht sagen. Gestatten Sie übrigens, daß ich eintrete? Dann können wir besser miteinander reden.«

»Sie sind also kein Einbruchsdieb?«

»Nein, ich bin Polizist.«

Sie wurde bleich wie der Tod und lehnte sich an den Türpfosten. Aber rasch nahm sie sich zusammen und ließ Krag herein.

Sie befanden sich in einem großen Zimmer, dessen Fenster nach dem Hof und der Kutscherwohnung führten. Eine kleine elektrische Lampe strömte ein angenehmes Licht aus. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Zimmer war außerordentlich elegant und geschmackvoll eingerichtet.

»Sie sind Polizist?« flüsterte die Dame. »Wie heißen Sie?«

»Asbjörn Krag.«

Entsetzt sah sie ihn an, beherrschte sich jedoch rasch. Sie hatte sich nunmehr in ihrer Gewalt.

»Wissen Sie denn, in wessen Haus Sie hier eingedrungen sind?« fragte sie streng.

»Ja, eben erst wurde ich mir darüber klar«, erwiderte Krag. »Ich befinde mich bei Konsul X. Hoffentlich habe ich den Konsul, einen der bekanntesten Männer unserer Stadt, nicht in seiner Nachtruhe gestört.«

»Ich bin die Schwester des Konsuls«, antwortete die Dame.

Krag verbeugte sich.

»Wissen Sie,« fuhr sie fort, »daß Sie den Versuch machen, in ein Familiengeheimnis einzudringen, das Sie weder als Polizist, noch als Mensch etwas angeht?«

»Ich tat nur meine Pflicht.«

»Und was wollen Sie von mir?«

»Ich will Sie einen Augenblick sprechen.«

»Weshalb?«

»Wegen des Verbrechers dort drüben«, und er wies nach der Kutscherwohnung.

Wieder fuhr die Dame zusammen. Plötzlich trat sie an eine Lampe mit rotem Schirm und wollte sie anzünden.

»Hier ist zu wenig Licht«, flüsterte sie.

Asbjörn Krag aber hielt sie rasch zurück.

»Nein, lassen Sie das. Ich kenne die Signale auch. Zünden Sie nicht das rote Licht an, mein Fräulein.«


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