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IV.

Auf einer Bank lag gefesselt ein zerlumpter Mann. Krag trat näher und erkannte in ihm einen der Polizei durchaus nicht fremden Strolch und Haudegen. Das Gesicht des Gefesselten war blutüberströmt und dick angeschwollen. Haßerfüllt sah er den Detektiv an; er hatte den berühmten Polizisten offenbar sofort erkannt.

»Der Bericht!« rief Krag rasch. »Den Bericht her!«

Ein Schutzmann war noch dabei, ihn niederzuschreiben. Krag ergriff das Papier und las:

*

Nach einer an den patrouillierenden Schutzmann ergangenen Mitteilung hielt sich im Keller der Christian Kroghsgate Nr... eine Person auf, die an den letzten räuberischen Überfällen in dieser Straße beteiligt gewesen war. Der Schutzmann wandte sich daher an zwei andere Polizisten, und gemeinsam durchsuchten sie das angegebene Haus. Endlich gelang es ihnen, den Keller zu finden, in dem der Strolch sich verborgen hielt. Als sie zu ihm eindrangen, sprang er mit einem Schrei auf, und im Licht einer Taschenlaterne sahen sie, daß er das Messer gezogen hatte. Es wurde ihm entwunden, und nun entspann sich ein furchtbarer Kampf, der mit der Überwindung des Mannes endete ...

Weiter war der Schutzmann in seinem Bericht noch nicht gekommen.

Krag fragte ihn, ob er den Mann kenne, der den Strolch verraten habe.

»Nein,« antwortete der Schutzmann, »ich kenne ihn nicht. Es war ein kleiner Mann mittleren Alters.«

»War er gut gekleidet?«

»Nein, er sah ziemlich mitgenommen aus.«

Krag ging zu dem Gefesselten, stellte sich vor ihn und sagte:

»Armer Kerl. Man hat dich also verraten.«

Der Verhaftete sah Krag erstaunt an und murmelte:

»Ja, man hat mich verraten. Aber ich werde mich schon rächen.«

»Da hast du recht«, fuhr Krag fort. »Selbst unter Leuten deines Schlages muß Kameradschaft herrschen.«

Der andere lächelte.

»Du bist ein merkwürdiger Kauz«, sagte er. »Ich habe viel von dir gehört.«

Krag schmeichelte ihm wieder:

»Du gefällst mir, und ich will dir einen Weg zeigen, wie du dich rächen könntest.«

»Das weiß ich allein. Du möchtest wohl seinen Namen wissen. Den kannst du gern erfahren.«

»Das ist es nicht. Wenn du mir sagen willst, wo der große fremde Mann mit dem Elfenbeinstock sich aufhält, dann bist du gerächt.«

»Hahaha!« lachte der Verhaftete. »So bist du also bereits auf der rechten Spur. Ja, sagt man doch immer, du seist ein Satanskerl.«

»Befreien Sie ihn!« ordnete der Detektiv an.

Die Schutzleute eilten herbei und öffneten die Handfesseln.

Der Mann sprang von der Bank herab.

Er wurde in ein Vernehmungszimmer geführt.

»Wie heißt der Kamerad, der dich verraten hat?« fragte Krag ihn.

»Du kennst ihn gut«, antwortete der andere und lachte tückisch. »Wenigstens kennt er dich.«

»Du willst also seinen Namen nicht nennen?«

»Ich kann ihn ja verkaufen.«

»Und was verlangst du?«

»Meine Freiheit.«

»Das hängt davon ab, ob du an den Überfällen in der Christian Kroghsgate beteiligt warst.«

»Ja, das war ich.«

»Du hast die Männer vielleicht niedergeschlagen?«

»Das tat ich nicht, das war mein Kamerad. Ich paßte nur auf, daß niemand uns überraschte.«

»So will ich dir eine milde Behandlung versprechen, wenn du mir seinen Namen nennst.«

»Wie kann ich wissen, ob du dein Wort halten wirst?«

Der Detektiv sah ihn scharf an.

»Kennst du mich?« fragte er.

»Ja. Wer von uns sollte dich nicht kennen?«

»Dann weißt du auch, daß ich stets halte, was ich verspreche.«

Der Strolch lachte.

»Du bist ein wunderlicher Kerl«, sagte er. »Du sollst den Namen erfahren. Es war ›Bolzen‹.«

Der Bolzen war einer der gefährlichsten Verbrecher Christianias und seit langem von der Polizei gesucht.

Krag klingelte und bat, den Schutzmann hereinzuschicken, an den der Verhaftete verraten worden war.

Als dieser kam, ließ Krag sich den Angeber möglichst genau von ihm beschreiben. Und nun war er seiner Sache gewiß. Es war sicher der berüchtigte »Bolzen«, der am Werk war.

Der Schutzmann ging, und Krag war wieder mit dem Verhafteten allein.

»Es ist gut«, sagte er. »Ich glaube dir. Warum hat man dich verraten?«

»Sie wollten mich los sein.«

»Sie? Es sind also mehrere?«

»Ja. Der Bolzen und dann der, den du vorhin nanntest.«

»Der Mann mit dem Elfenbeinstock?«

»Ja, so kannst du ihn nennen. Ich weiß nicht, wie er heißt.«

»Nahm er auch an den Überfällen teil?«

»Nein, dabei waren nur der Bolzen und ich. Und dann die anderen Kollegen, die die Bauern in die Straße hinunterlotsten.«

»Hast du den fremden Mann gesehen?«

»Ja, ein einziges Mal. In einem kleinen Café in Vaterland, wo wir uns zu versammeln pflegten, wenn etwas verabredet werden sollte. Ich kam da eines Abends hinein ...«

»Wie lange ist das her?« unterbrach ihn Krag.

»Vielleicht acht Tage kann es her sein.«

»Bist du sicher, daß es nicht etwas länger ist, etwa vierzehn Tage?«

»Nein, da bin ich ganz sicher.«

»Nun, so erzähle weiter. Du kamst also in das Café ...«

»Ja. Und da saß der Bolzen.«

»Hast du ihn dort zu treffen erwartet?«

»Nein, ich dachte, er hielte sich an dem Abend in einem ganz anderen Stadtteil auf. Er war auch sehr überrascht, als er mich sah.«

»War er allein?«

»Nein, er war mit ihm zusammen, dem Mann mit dem Stock.«

»So, so. Gingst du zu ihm hin?«

»Nein, der Bolzen gab mir ein Zeichen, daß ich tun sollte, als kenne ich ihn nicht. Und so setzte ich mich an einen Tisch in der Nähe.»

»Hörtest du, was sie sprachen?«

»Nein, sie flüsterten.«

»Verstandest du nicht ein einziges Wort?«

»Ja, ich verstand ein Wort, das sie immerfort wiederholten, sie sprachen gewiß von Schlägereien.«

»Was für ein Wort war das?«

»›Die Faust‹. Beide wiederholten mehrmals das Wort ›die Faust‹.«

Krags Spannung wuchs. So stieß er nun also zum zweitenmal auf dieses Wort. Noch lag die geheimnisvolle, unter dem Tischbein in Brandts Zimmer in der Oscarsgate gefundene Visitenkarte in seiner Tasche. Was hatte das Wort zu bedeuten? Dahinter mußte ein Geheimnis stecken – ein Geheimnis, das sicher direkt zu der Lösung des Rätsels führte.

»Saßen die beiden noch lange in dem Café?« fragte er.

»Eine halbe Stunde.«

»Und gingen sie dann zusammen hinaus?«

»Nein, der Fremde ging allein fort.«

»Sahst du sein Gesicht?«

»Er verbarg es in dem Rockkragen, den er aufgeschlagen hatte. Und das machte mich sofort argwöhnisch. Es gefiel mir nicht, daß der Bolzen etwas vorhatte, wobei ich nicht beteiligt war.«

»Was tat der Bolzen dann?«

»Er kam zu mir und nannte mich einen Ochsen, weil ich ihm beinahe alles verdorben hätte. ›Du darfst den Mann nicht kennen, der eben rausging‹, sagte er. ›Wenn du nicht sofort vergißt, daß du ihn gesehen hast, kriegst du's mit mir zu tun.‹ Und als nun auch ›der Tod‹ und ›der Teufel‹ kamen, ging ich. Als ich ein paar Straßen hinaufgegangen war, sah ich den Mann mit dem Stock vor mir. Er ging noch immer mit dem hochgeschlagenen Rockkragen.«

»Du gingst ihm natürlich nach?« fragte Asbjörn Krag interessiert.

»Ja. Ich verfolgte ihn durch ein paar Seitenstraßen und in ein Haus hinein. Aber im Torweg bekam ich einen Schlag über das eine Auge, daß ich umfiel. Und als ich wieder zur Besinnung kam, war der Kerl verschwunden. Doch ich bin ganz sicher, daß er es war, der mich geschlagen hatte.«

»Und dann hast du ihn nicht mehr gesehen?«

»Nein. Aber ich habe dem Bolzen mehrmals gesagt, daß ich gern wissen möchte, wer es ist. Und jedesmal ist er vor Ärger fast geplatzt. Heute abend nun hat er mich gebeten, in dem Keller in der Christian Kroghsgate auf ihn zu warten. Das tat ich auch. Aber ich hätte vorsichtiger sein sollen. Der Bolzen ist dann natürlich direkt zu einem Schutzmann hingegangen und hat mich angegeben, das Biest.«

Nachdem Krag diesen Bericht des Verhafteten entgegengenommen hatte, ließ er ihn abführen.

»Du wirst im Laufe des morgigen Tages von mir hören«, sagte er. »Vielleicht kann ich dich brauchen. Jedenfalls werde ich alles für dich tun, was ich vermag.«

So hatte Krag endlich den ersten Anhaltspunkt gefunden. Dennoch mußte er sich sagen, daß dieses unerwartete Glück ihn der Lösung des Rätsels noch nicht nähergeführt hatte. Im Gegenteil, die geheimnisvolle Geschichte erschien ihm nun noch mystischer und dunkler als zuvor. Immerhin war etwas gewonnen. Er hatte nun die Gewißheit, daß der Mann mit dem Elfenbeinstock, der seltsame Brandt, seine Finger im Spiel hatte.

Aber welches war seine Rolle in diesen Verbrechen? Was bezweckt er? Was bedeutete »die Faust«? Und dann dieser Elfenbeinstock. Offenbar besaß Brandt deren mehrere. Am zehnten März war er aus seiner Wohnung in der Oscarsgate verschwunden. Da hatte er den Stock vergessen, der sich nun in den Händen der Polizei befand. Doch einige Tage später hatte der verhaftete Strolch ihn in einer verrufenen Kneipe in Vaterland gesehen, und auch da hatte er einen solchen Stock in der Hand gehabt.

Asbjörn Krag holte den Stock hervor und untersuchte ihn sehr genau. Hatten die beiden Kreuze etwas zu bedeuten? Sie waren sicher vor längerer Zeit eingeschnitten worden, und zwar mit einem außerordentlich scharfen Instrument und von einer geübten Hand mit ein paar raschen Schnitten.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er klingelte.

»Sorgen Sie dafür,« sagte er zu dem eintretenden Beamten, »daß Selma Strand zu einem zweiten Verhör hier auf der Polizei vorgeführt wird.«

Und er gab ihre Adresse an und fügte hinzu, daß man sich aber auch vor einem Irrtum hüten solle.

»Sie wissen, es handelt sich um das junge Mädchen, das in jener Nacht so erschrocken war über den Anblick des Mannes mit dem Elfenbeinstock.«

Der Beamte wußte Bescheid, denn es war derselbe, der ihr nach der Vernehmung auf der Straße gefolgt war, um sich von der Richtigkeit ihrer Wohnungsangabe zu überzeugen.

Darauf verließ auch Asbjörn Krag sein Kontor, nachdem er noch das genaue Signalement des Bolzen aufgegeben hatte. Das ging nun sofort von einem Kontor zum anderen. Und innerhalb fünf Minuten war es allen anwesenden Polizisten bekannt. Von diesem Augenblick an schauten also vierhundert Paar Augen über die ganze Stadt nach dem Verbrecher aus. Demnach dürfte einige Verschlagenheit dazu gehören, ihnen zu entschlüpfen.

Es war um die Mittagszeit, als Krag die Straße hinunterging. Mit Behagen atmete er die merkwürdige Christianiaer Luft ein, die er so liebte. In einer endlosen Reihe sah er die Gesichter der Menschen an sich vorüberziehen; viele von ihnen waren ihm bekannt. Es waren Kaufleute, Beamte, Politiker, Arbeiter, einige Damen und viele Dämchen. Zuweilen auch Physiognomien, die er von seinen polizeilichen Funktionen her kannte, das Antlitz eines Betrügers, die lauernden Augen eines Taschendiebes.

Allmählich hatte er die Oststadt erreicht. In der Christian Krohgsgate wimmelte es von schmutzigen Gassenkindern, die auf dem Fahrdamm spielten und ihm Schimpfworte nachriefen, weil er gut gekleidet war; doch er ging mitten durch den Schwarm, ohne sich um sie zu kümmern. Er fand das Haus, in dem der Strolch verhaftet worden war, untersuchte zunächst die Kellerräume und machte sich Notizen. Dann klingelte er in allen Stockwerken und stellte ein paar gleichgültige Fragen. Er entdeckte jedoch nichts Verdächtiges. Als er aber in den vierten Stock kam, fand er endlich, was er gesucht hatte. Da stand auf einem Zettel an einer der Türen: Möbliertes Zimmer zu vermieten. Krag schrieb sich den Namen auf und verließ das Haus.

Er hatte kein Hehl daraus gemacht, daß er Polizist sei. Und er überlegte. In einer Stunde wird ein ärmlich aussehender Arbeiter kommen und das möblierte Zimmer mieten. Und zwar sollte einer seiner tüchtigsten Untergebenen, ein scharfer Aufpasser, ein heller Bursche dieser Mieter sein.

So hatte die rechte Arbeit also nun begonnen, und Krag wußte bestimmt, daß sie ihn schließlich zur Lösung des Rätsels führen würde.

Er kehrte zur Polizei zurück. Auf der Treppe begegnete er einem Unterbeamten. Krag stutzte, denn es fiel ihm auf, daß der andere merklich erregt aussah.

»Was gibt's?« fragte Krag. »Ist etwas passiert?«

»Der Chef wird es Ihnen erzählen«, lautete die Antwort. »Er fragte soeben nach Ihnen. Er wollte Sie sofort sprechen. Ich bin gerade im Begriff, Sie zu suchen.«

In dem Benehmen des Mannes lag etwas, das Krag beunruhigte. Er eilte in das Kontor des Chefs. Dieser stand am Fenster und blickte hinaus. Er war sehr bleich.

»Was ist vorgefallen?« fragte Krag.

»Etwas sehr Ernstes«, antwortete der Chef. »Gut, daß Sie da sind.«

»Hat man das junge Mädchen geholt?«

»Sie meinen Selma Strand, die Fabrikarbeiterin?«

»Ja.«

»Sie ist tot.«

»Tot?«

»Man fand sie tot in ihrem Zimmer.«

Krag warf seine Handschuhe auf den Tisch.

»Hatte ich es doch im Gefühl, daß wir vor einer grausigen Tragödie stehen«, sagte er.


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