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II.

Asbjörn Krag betrachtete die schwarz gekleidete Dame, die an dem Tisch vor ihm saß. Sie gehörte scheinbar dem besseren Mittelstande an und machte sofort einen sehr guten Eindruck auf den Detektiv. Er hielt sie für eine pensionierte Beamtenwitwe.

»Leute meiner Art,« begann sie, »leben am liebsten möglichst still und zurückgezogen. Wenn ich mich trotzdem an die Polizei wende, begreifen Sie also, daß mir etwas ganz Seltsames begegnet sein muß. Aber ich möchte doch vor allem darum bitten, daß meine Name nicht mit der Angelegenheit in Verbindung gebracht wird.«

»Vorausgesetzt, daß die Sache uns nicht dazu zwingt«, wandte Krag ein.

»Nein,« erwiderte die Dame, »meine Rolle darin ist vollkommen bedeutungslos, sowohl für die Polizei als auch für die Sache selbst. Wie ich Ihnen bereits sagte, handelt es sich um den Mann, den die Polizei sucht, jenen Mann mit dem Elfenbeinstock. Daß er gesucht wird, ersah ich aus den polizeilichen Aufrufen.«

Krag nickte und machte sich eine Notiz auf einem Papier.

»Er ist tot?« fragte er.

»Ja, ich weiß nicht, was ich glauben soll«, lautete die Antwort der Dame. »Er ist nun seit einigen Tagen fort, und zwar verschwand er auf eine sehr merkwürdige Weise.«

»War er vielleicht Ihr Mieter?«

»Ja. Wir wohnen in der Oscarsgate. Und da unsere Wohnung für unsere bescheidenen Bedürfnisse nun zu groß geworden ist, vermieten wir ein möbliertes Zimmer. Vor einigen Monaten kam Herr Brandt – so heißt er – zu uns und fragte, ob er das Zimmer bekommen könnte. Da er sehr anständig und ordentlich aussah, hatten wir kein Bedenken, es ihm zu überlassen. Er zog sofort mit seinen Sachen ein.«

»Ehe Sie fortfahren,« unterbrach sie Krag, »müssen Sie so liebenswürdig sein, mir das Signalement des Mannes zu geben.«

»Gern. Ich nehme an, daß er etwa fünfzig Jahre alt ist, vielleicht aber auch jünger. Sein Gesicht zeigte das Gepräge von schweren Leiden und Kümmernissen. Er trägt eine schwarze Perücke, hat aber einen stark angegrauten Bart. Meist trug er einen dunkelgrauen Rock mit langen Schößen, einen breitrandigen Hut und einen Stock mit langem weißem Griff, vermutlich einem Elfenbeingriff. Ein genaueres Signalement vermag ich Ihnen nicht zu geben, da ich ihn nur selten sah.«

»Er war wohl viel aus?« fragte Krag.

»Nein, im Gegenteil. Fast den ganzen Tag hielt er sich in seinem Zimmer auf. Es war, als fürchte er das Tageslicht. Sobald es dunkel wurde, verließ er das Haus und blieb gewöhnlich ein paar Stunden, zuweilen aber auch die ganze Nacht über fort. Er empfing nie Besuch und hatte ein für alle Mal die Anweisung gegeben, ihn zu verleugnen, falls jemand nach ihm fragen sollte. Er war ein sehr stiller, bescheidener Mieter, mit dem wir sehr zufrieden waren. Sein Auftreten war das eines gebildeten Mannes, der keinerlei Ansprüche an uns stellte.«

»Nahm er auch die Mahlzeiten in seinem Zimmer ein?« fragte Krag.

»Ja, stets. Unser Mädchen brachte ihm das Mittagessen und das Abendbrot. Das letztere bestand stets nur aus Brot, Butter, kaltem Fleisch und einem Glas Milch. Nun aber komme ich zu dem Merkwürdigen, in der Geschichte des Mannes.

Vor einigen Tagen – ich weiß genau, daß es der 6. März war – klingelte Brandt, abends um 8 Uhr, von seinem Zimmer aus. Wir hatten unserm Mädchen Urlaub gegeben, und ich mußte selbst zu ihm hineingehen. Er saß an seinem Tisch und schrieb. Ich fragte ihn, was er wünsche. Er wollte, wie gewöhnlich, das Mädchen bitten, ihm Milch zu holen. Als er aber hörte, daß sie nicht da sei, erklärte er, dann wolle er sie sich selbst holen, da er ohnedies hinuntergehen und sich Briefmarken besorgen müsse. Ich erbot mich, ihm den Weg abzunehmen, das lehnte er aber in seiner Bescheidenheit ab. Ich brachte ihm also eine kleine Kanne, die er mitnahm. Die Milchhandlung ist gegenüber von unserer Wohnung. Eine halbe Stunde verging, ohne daß Brandt zurückkam, und ich begann unruhig zu werden, da ich mir sagte, daß ein erwachsener Mann wohl kaum auf den Gedanken kommen werde, mit einer Blechkanne auf den Straßen umherzugehen. Brandt aber blieb fort. Er kam an jenem Abend nicht mehr zurück. Seitdem er mit der Milchkanne wegging, habe ich ihn nicht wiedergesehen. Das finde ich sehr merkwürdig. Und ich habe das bestimmte Gefühl, daß meine Mitteilungen für die Polizei von großer Bedeutung sein werden.«

»Darin haben Sie recht,« antwortete Krag, »Ihre Mitteilungen sind von außerordentlicher. Bedeutung für uns. Nun möchte ich noch einige Fragen an Sie richten: bekam dieser Herr Brandt viele Briefe?«

»Nein, gar keine. Weder Briefe noch Telegramme erhielt er je. Es fragte auch nie ein Mensch nach ihm. Dagegen schrieb er selbst sehr viele Briefe. Er trug wohl jeden Abend mindestes drei oder vier zum Postkasten.«

»Womit beschäftigte er sich?«

»Soviel ich beobachtete, hatte er keine bestimmte Tätigkeit. Entweder schrieb er Briefe, oder er ging im Zimmer auf und ab. Wir hörten oft stundenlang seine schweren Schritte. Es war gleichsam, als warte er darauf, daß die Dunkelheit kommen solle.«

»Bezahlte er pünktlich?«

»Auf die Minute. Er hatte auch stets reichlich Geldmittel.«

»Noch etwas: hatte er an jenem Abend, an dem er verschwunden ist, seinen Elfenbeinstock mit?«

»Nein, der steht noch immer in der Ecke seines Zimmers. Er pflegte sonst nie auszugehen, ohne ihn mitzunehmen. Das ist, meine ich, um so mehr ein Beweis dafür, daß er nicht die Absicht hatte, lange fortzubleiben. Außerdem hatte er ja auch die Milch mit.«

»Die Milch? Die Milchkanne meinen Sie.«

»Ja, die Milch in der Kanne. Ich erkundigte mich bei dem Milchhändler und erfuhr dort, daß er tatsächlich einen Liter Milch geholt hat. Von da aus ist es nur wenige Schritte zu einem Kurzwarenhändler, bei dem er seine Schreibwaren und auch gleichzeitig seine Briefmarken zu kaufen pflegte. Aber da war er an jenem Abend nicht mehr. Er muß also verschwunden sein, während er, die Blechkanne in der Hand, auf dem Wege von dem Milchladen nach dem Kurzwarengeschäft war. Finden Sie das nicht seltsam?«

»Allerdings. Und Sie haben die Milchkanne nicht wieder bekommen?«

»Nein, Sie ist mit ihm verschwunden. – Glauben Sie nicht auch, daß Brandt tot ist?«

»Nein,« antwortete Krag, »aufrichtig gestanden – das glaube ich nicht. Es muß ihm etwas zugestoßen sein, als er in das Geschäft gehen und Marken holen wollte.«

»Was sollte ihm wohl zugestoßen sein? Es kann sich doch niemand an ihm vergriffen haben, da er selbst keiner Fliege etwas zuleide tat!« rief die Dame aus.

Der Detektiv lächelte.

»Das herauszufinden müssen Sie schon der Polizei überlassen«, sagte er. »Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre genauen und ausführlichen Mitteilungen, die von großem Wert für uns sind. Nun müssen wir aber auch der Höhle des Verschwundenen einen Besuch abstatten. Sie haben doch nichts dagegen?«

»Nein, keineswegs. Alles ist unberührt in seinem Zimmer, von dem Stock bis auf das Papier, das er zu beschreiben pflegte.«

*

Eine Stunde später stand Krag in dem Zimmer, das Brandt auf so geheimnisvolle Weise vor wenigen Tagen verlassen hatte.

Er begann sofort eine sorgfältige Untersuchung. Auf dem Tisch fand er nur ein paar unbeschriebene Blätter und ein Paket Kuverts. Er steckte das Löschpapier, das für alle Detektive so hochwillkommene Kopierblatt, zu sich. Dann durchsuchte er die Taschen der zurückgebliebenen Kleidungsstücke des Verschwundenen. Aber was er fand, war weiter nichts als die gewöhnlichen Kleinigkeiten: ein Tabaksbeutel – gefüllt mit einem außerordentlich feinen und teuren Tabak – ein Taschenspiegel usw. Dann machte er sich an Brandts Koffer. Auch hier war nichts von Interesse. Dort in der Ecke stand der Elfenbeinstock. Es war eine ungewöhnlich schöne Arbeit. Der Stock war sehr schwer. Krag schwang ihn durch die Luft und mußte unwillkürlich denken, was für eine vorzügliche Waffe das sei – einen besseren Knüppel konnte man sich nicht vorstellen. An dem Stock befand sich im übrigen kein Merkmal weiter als zwei auf einfache Art mit einem Messer eingeschnittene Kreuze.

Was Krag besonders irritierte, war der Umstand, daß es ihm nicht gelang, auch nur auf ein einziges beschriebenes Stückchen Papier zu stoßen. Er muß ein sehr vorsichtiger Mann gewesen sein, dieser Brandt, dachte er. Er scheint all seine Papiere stets bei sich getragen zu haben.

Aber in dem Augenblick, da er das Zimmer verlassen wollte, fiel sein Blick auf etwas Weißes, das unter einem Tischbein hervorlugte. Er beugte sich hinab und zog es vor.

Es erwies sich als eine gefaltete Visitenkarte, die zwischen Fußboden und Tisch geklemmt worden war, damit dieser feststehe. Krag entfaltete die Karte. Endlich! Die Karte war beschrieben. Mit großen, dicken Buchstaben standen da nur zwei Worte:

Die Faust.

Darunter das Zeichen: zwei Kreuze, die genau denen auf dem Elfenbeinstock eingeschnittenen glichen.


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