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V.

»Mord oder Selbstmord?« fragte der Detektiv dann.

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete der Chef. »Aber da kommt der Beamte, der bei ihr oben war. Sie können ihn selbst befragen.«

Der junge Beamte war soeben eingetreten. Er sah noch immer unruhig und nervös aus. Krag bat ihn, zu berichten, was er wisse.

»Ihrer Anordnung gemäß,« begann er, »ging ich zu ihr hinauf. Sie bewohnte hoch oben in Grünerlökken ein möbliertes Zimmer auf dem Hof im vierten Stock. Ich klingelte, und die Wirtin sagte mir, Fräulein Strand sei heute ausnahmsweise zu Hause, da sie Geburtstag habe. Und sie zeigte mir die Tür zu ihrem Zimmer. Ich klopfte, doch niemand antwortete. Ich klopfte lauter, und die Wirtin rüttelte an dem Türschloß – alles ohne Erfolg. ›Das ist doch merkwürdig‹, sagte die Wirtin. ›Sollte sie ausgegangen sein?‹ Wir guckten durch das Schlüsselloch, konnten aber nichts entdecken. Es war zu dunkel drinnen. Schließlich meinte die Wirtin, Fräulein Strand müsse fortgegangen sein, denn der Schlüssel sei nicht da. Ich wollte mich bereits entfernen, als sie mich zurückrief. Sie stand im Korridor und betrachtete ein paar Kleidungsstücke, die dort hingen.

›Hier hängen ja ihre Sachen!‹ rief sie aus. ›Sie kann doch bei dieser Kälte nicht ohne Mantel weggegangen sein.‹

›Vielleicht schläft sie fest?‹ fragte ich.

›Ja, das wäre möglich‹, antwortete die Frau.

Wir klopften und rüttelten von neuem an der Tür. Doch niemand öffnete, niemand antwortete. Da sprengte ich die Tür und trat ein.«

»Blieb die Wirtin im Korridor zurück?« fragte Krag.

»Sie stand an der Tür. Ich ging allein in das Zimmer. Dieses war von mittlerer Größe und hatte zwei Fenster. Die Rouleaus waren herabgelassen, und es war daher zunächst unmöglich, etwas zu erkennen. Ich eilte an das Fenster und zog das Rouleau auf, daß es mit einem Knall in die Höhe flog. Als ich mich dann umsah, war ich nahe daran, vor Staunen zu erstarren. In dem matten Licht, das von draußen eindrang, entdeckte ich, das eine weibliche Gestalt in dem Zimmer saß. Und da rief die Wirtin auch schon aus:

›Ach, da sitzt sie ja und schläft!‹

Das junge Mädchen saß auf einem Stuhl am Tisch, den Kopf in die Arme gelehnt. Als ich an sie herantrat, sah ich, daß sie tot war.«

»Ermordet?« fragte Krag in höchster Spannung.

»Das weiß ich nicht. Ich konnte keine Blutspur an ihren Sachen noch rings um sie entdecken. Es sah fast aus, als sei sie vom Schlage gerührt worden, wenn nicht ...«

Der Beamte unterbrach sich in seinem Bericht. Er fühlte sich offenbar ein wenig unsicher.

»Nun – bemerkten Sie also noch irgend etwas Auffälliges?« fragte der Chef.

»Ja, ich fand es auffällig, daß der Tisch so seltsam gedeckt war.«

»Inwiefern war er seltsam gedeckt?«

»Es standen Austern und Champagner darauf ...«

»Für zwei?« fragte Krag.

»Nein, er war nur für eine Person gedeckt. Aber eine ganze Flasche Champagner stand da und eine Menge Austernschalen lagen umher.«

»Offenbar hatte sie ihren Geburtstag ausgiebig feiern wollen«, meinte der Chef.

»Während ich in ihrem Zimmer stand, hatte ich einen Einfall«, murmelte der Beamte. »Es sah mir aus, als wären zwei Personen bei dem Souper gewesen. Und als wäre in aller Eile auf dem Tisch geräumt worden.«

»Hoffentlich ist in ihrem Zimmer alles unberührt geblieben?« fragte Krag.

»Vollkommen. Ich ordnete streng an, daß die Wirtin das Zimmer nicht betreten dürfe. Sie mußte sich während der ganzen Zeit auf der Schwelle halten. Die Tote sitzt noch immer auf ihrem Stuhl, die Flasche und die Gläser stehen unverrückt auf ihrem Platz, das Rouleau ist heruntergelassen und die Tür versiegelt.«

»Haben Sie nach dem Arzt geschickt?«

»Er wartet im Wagen unten.«

»Schön. Kommen Sie, wir müssen sofort hin.«

Unterwegs ließ sich Krag von dem Beamten noch einige Mitteilungen machen über das Haus und die Wirtin, deren sonstige Mieter und die übrigen Hausbewohner. Der Beamte hatte den Eindruck gewonnen, als nehme die Wirtin es nicht so genau mit den Leuten, denen sie ihre Zimmer überlasse. Das Haus war sehr groß – eine der gewöhnlichen Mietskasernen.

Als der Wagen davor hielt, bemerkte Krag, daß sich bereits eine Menge Neugieriger angesammelt hatte. Die Ankunft der Polizei erregte das lebhafteste Interesse. Krag ärgerte sich, daß die Sache schon in die Öffentlichkeit gedrungen war und fluchte im Inneren der Wirtin, die sofort die Geschichte allen Nachbarn zugetragen hatte. Natürlich hatte die Neuigkeit sich nun wie ein Lauffeuer durch das ganze Viertel verbreitet. Was gab es auch Interessanteres, als eine so sensationelle Geschichte, daß ein junges Mädchen unter merkwürdigen Umständen gestorben sei und die Polizei kommen werde!

Asbjörn Krag fand die Wirtin in Tränen aufgelöst, umgeben von einer ganzen Schar wimmernder Nachbarn. Rasch schickte er alle überflüssigen Leute fort und ließ das Haus schließen. Dann öffnete er die Tür zu dem Zimmer des jungen Mädchens und trat mit dem Arzt und dem Unterbeamten ein.

Das Zimmer lag in tiefer Dunkelheit. Aber einen Augenblick später warf Krags starke elektrische Blendlaterne ihre Lichtstrahlen ringsum.

Der Arzt stieß einen erstaunten Ruf aus. Im Schein des grellen Lichtes sah das Mädchen aus, als lebe sie noch und schlafe nur, den Kopf in die Arme geborgen.

Man brachte Lampen herbei, und Krag nahm nun eine genaue Untersuchung des Zimmers vor. Er hob den Kopf der Toten. Selbst der Detektiv, dieser Mann mit den eisernen Nerven, war betroffen über den Ausdruck von Angst und erstarrtem Schmerz, der aus ihrem Antlitz sprach. Ihre Augen waren offen.

Krag betrachtete ihre Pupillen und dachte: könnten diese Augen doch wiedergeben, was sie zuletzt sahen. Es muß ein fürchterlicher Anblick gewesen sein.

Man trug die Leiche auf das Sofa, und der Arzt machte sich daran, die Todesursache festzustellen.

Krag sah sich prüfend den Tisch an. Er hob die Champagnerflasche auf und schüttelte sie. Sie war leer. Da stand auch eine Schale mit verschiedenen Früchten, die offenbar unberührt waren. Eine Menge leere Austernschalen lagen auf dem Tisch verstreut, in einer großen Schüssel befanden sich noch ein paar Dutzend volle Austern. Der kleine Tisch war zierlich gedeckt; ein leuchtend weißes Tischtuch, eine Vase mit frischen Blumen. Nur ein Sektglas und ein Gedeck befand sich darauf.

»Wahrlich, ein glänzender Tisch für eine Fabrikarbeiterin«, murmelte Krag. »Aber sie hat vermutlich auch sehr feinen Besuch gehabt.«

»Neigen Sie auch zu der Ansicht, daß das Mädchen nicht allein war?« fragte der Unterbeamte.

»Wir werden sehen, wir werden sehen«, antwortete Krag zurückhaltend. »Es war ja allerdings ihr Geburtstag. Und schauen Sie, wie sie sich geschmückt hat. Sogar eine rote Rose hat sie im Haar.«

Der Detektiv öffnete einen kleinen Schrank, der in einer Ecke stand. Hier fand er fünf Sektgläser, die alle sauber waren. Das Glas vom Tisch dazu, und wir haben das halbe Dutzend voll, dachte er. Soweit würde die Sache also stimmen. Der Schrank war auch im übrigen gut mit Glas und Porzellan versehen. Es sah aus, als habe das junge Mädchen häufig Gäste bei sich gehabt. Krag öffnete ein darin befindliches Schubfach und zog eine Menge Papiere und Briefe heraus, die er sorgsam beiseite legte. Auf einem kleinen Toilettentisch bemerkte er Seifen, Parfüms, Schminke. Krags Staunen über die reichhaltige Ausstattung der angeblichen Fabrikarbeiterin wuchs immer mehr. In einem Kästchen entdeckte er ein goldenes Armband und ein paar Ringe. Neben dem Toilettentisch stand ein Nähtisch. Hier lag neben vielem anderen eine Bibel mit dem Namen der Toten. Ein Konfirmationsgeschenk. Krag blätterte darin, denn er wußte, daß die Leute häufig Familienpapiere und dergleichen in religiöse Bücher zu legen pflegen. Und richtig, da fand er ein zusammengefaltetes Blatt, das er rasch las. Nachdenklich blickte er dann vor sich hin und las es zum zweitenmal.

»Holen Sie die Wirtin«, sagte er plötzlich.

Im nächsten Augenblick stand sie vor ihm. Sie weinte und jammerte noch immer.

»Sie sagten doch wohl, Fräulein Strand hätte heute Geburtstag, nicht wahr?« fragte der Detektiv.

»Ja,« antwortete die Frau, »sie hat es im Laufe des Vormittags mehrmals zu mir gesagt. Deshalb war sie auch aus und machte einige Einkäufe. Ich sah dann mittags, daß sie eine große Flasche im Schrank stehen hatte. Ja, die Flasche da war es«, und sie zeigte auf die Champagnerflasche.

»Erzählte sie Ihnen nicht, daß sie Besuch erwarte?«

»Ja, das sagte sie auch, sie erwarte den Besuch eines Freundes aus ihrer Kindheit, sagte sie, und deshalb wolle sie es ein bißchen nett machen.«

»Fragten Sie sie nicht, wer dieser Besuch sei?«

»Ja, aber sie wollte es mir nicht sagen.«

»Sind Sie gewiß, daß bis jetzt niemand bei ihr war?«

»Niemand kommt hier in meine Wohnung, ohne zu klingeln«, sagte die Wirtin. »Fräulein Strand war den ganzen Tag allein, das arme Kind. Kein Mensch kam, um sie zu besuchen, nicht einmal an ihrem Geburtstag.« Und wieder wurde die Frau von ihren Gefühlen übermannt und schluchzte von neuem.

Krag wandte sich an den Unterbeamten.

»Merkwürdig,« sagte er, »daß sie heute ihren Geburtstag feierte. In der Bibel hier fand ich ihren Konfirmationsschein, und auf diesem steht, daß sie am 24. Oktober geboren sei. Wir schreiben heute jedoch den 15. März.«

Er wurde von dem Arzt unterbrochen, der zu ihnen an den Tisch trat. Er war sehr ernst und sagte nur ein Wort, das die anderen erzittern machte:

»Gift!«


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