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XII.

Das junge Mädchen erschrak von neuem.

»Sie werden mich doch wohl nicht daran hindern wollen, in meiner eigenen Wohnung Licht zu machen!« rief sie aus.

»Sie können tun, was Sie wollen, sobald ich fort bin«, antwortete Krag ruhig. »Aber solange ich hier bin, müssen Sie meine Anordnungen befolgen.«

»Und wenn ich es nicht tue?«

»So ist es um so schlimmer für Sie und für den dort drüben.«

In größter Unruhe ging sie ein paarmal durch das Zimmer.

»Was soll ich also tun?« fragte sie endlich.

»Ohne Vorbehalt auf meine Fragen antworten.«

»Verächtlicher Spion!« zischte sie, und ein tiefes Rot überzog ihre Wangen. »Wer bürgt mir dafür, daß Sie nicht ein ganz gemeiner Erpresser sind?«

»Darüber können Sie denken, wie Sie wollen«, antwortete Krag und setzte sich in einen Sessel. »Sind wir also nun einig, Fräulein?«

Sie sah ihn einen Augenblick an.

»Sie sind unerbittlich?« fragte sie.

»Ja, ich bin unerbittlich.«

Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und spielte nervös an einer Visitenkartenschale.

»Fragen Sie, und ich werde Ihnen antworten. Aber vergessen Sie nicht, daß meine Angehörigen wenige Zimmer von hier schlafen.«

»So werden Sie einsehen, daß es am vernünftigsten ist, recht leise zu sprechen.«

Sie biß sich auf die Lippen. Krag bemerkte, daß es ihr wieder schwer wurde, sich zu beherrschen.

»Sagen Sie mir zunächst; wer ist der Mann in der Kutscherwohnung drüben?« fragte er.

»Unser Kutscher.«

»Wie heißt er?«

»Ludwig Bjerke. Wie Sie sehen, bereits ein älterer Mann. Aber noch immer ein sehr tüchtiger Kutscher.«

»Wann kam er in Ihr Haus?«

»Vor drei Monaten.«

»Und vorher war er noch nie hier?«

»Nein.«

»Wie konnte ein so vertrauliches Verhältnis zwischen ihm, dem Kutscher, und Ihnen, der Schwester des Konsuls entstehen?«

»Es besteht kein vertrauliches Verhältnis zwischen uns.«

»Ich habe vorhin Ihr Gespräch belauscht.«

Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Gott, sind Sie gemein!« rief sie aus.

Krag lächelte.

»Ein Polizist darf keine Skrupeln haben«, sagte er. »Sie sehen also ein, mein Fräulein, daß Sie mir wahrheitsgetreu antworten müssen – und rasch.«

»Nun wohl, so will ich einräumen, daß ich Beziehungen zu dem Kutscher habe, von denen meine übrige Familie nichts wissen darf. Ich ... liebe nämlich seinen Sohn.«

Krag blickte erstaunt auf.

»Wirklich? Und wo befindet sich dieser junge Mann?«

»Er wohnt an einem anderen Ende der Stadt. Meine Angehörigen erlauben nicht, daß er hierher kommt.«

»Und der Kutscher, sein Vater, weiß von diesen Beziehungen?«

»Ja. Er ermöglicht unsere Zusammenkünfte und vermittelt Briefe zwischen uns.«

»Wann wollen Sie heiraten?«

»Sobald ich mündig bin, in einem Jahr.«

»Höchst interessant«, murmelte Krag. »Damit also wollen Sie Ihre Vertraulichkeit mit dem alten Manne erklären. Er ist Ihr zukünftiger Vater?«

»Ja, und weiter habe ich Ihnen nichts zu erzählen.«

»Aber das befriedigt mich nicht.«

Asbjörn Krag erhob sich. Er war merkwürdig bewegt, die Verzweiflung der jungen Dame rührte ihn. Er nahm ihre Hand und sagte:

»Liebes Fräulein, ich will Ihnen wohl. Sie sollten sich mir völlig anvertrauen, dann könnten wir vielleicht einen Weg finden, um den Mann da drüben zu retten.«

»Ich sagte Ihnen alles, was ich weiß«, erwiderte sie zitternd.

»Sie haben nicht gut lügen gelernt«, meinte Krag.

»Lügen?«

»Ja. Glauben Sie denn, ich wüßte nicht, daß alles, was Sie mir soeben erzählten, vom ersten bis zum letzten Wort erlogen ist?«

Das Mädchen fuhr zusammen, beherrschte sich jedoch rasch wieder.

»Wenn Sie alles so gut wissen, warum befragen Sie mich dann?« flüsterte sie.

»Ich weiß nicht alles

Du erhob sie sich schnell. Sie war aufs höchste erschrocken.

»Was wissen Sie?«

»Unter anderem weiß ich, daß der Mann drüben nicht Kutscher ist. Er hat auch keinen Sohn, den Sie lieben. Dagegen steht er in Verbindung mit dem Abschaum Kristianias. Er ist selbst ein schwerer Verbrecher.«

Entsetzt eilte die junge Dame zur Tür und lauschte, als fürchte sie, daß jemand Krags letzte Worte gehört haben könnte.

»Es ist nicht möglich, daß er ein Verbrecher ist,« flüsterte sie, »es kann nicht möglich sein. Wessen beschuldigt man ihn denn?«

»Des Diebstahls.«

»O Gott!« rief sie aus. Doch Krag las in ihren Zügen, daß sie noch etwas anderes erwartet hatte.

»Aber auch des Mordes«, fügte er hinzu.

Sie wurde bleich wie der Tod.

»Sie haben doch ohne Zweifel gelesen, daß in diesen Tagen ein junges Mädchen ermordet wurde, nicht wahr?« fragte Krag.

»Wie ich hörte, ist es nicht ganz sicher, man vermutet, daß es ein Selbstmord gewesen sei«, wandte sie ein.

»Ich kann Ihnen bestätigen, daß es ein Mord war. Ich besitze das Signalement des Mörders.«

»Und das paßt auf den Kutscher?«

»Der Mörder ist ein älterer, etwas graugesprenkelter Mann aus gebildeten Kreisen. Er trägt einen Rock mit langem Schoß, einen breitrandigen Hut und hat einen Elfenbeinstock in der Hand.«

Bei den letzten Worten erzitterte die junge Dame wieder.

»Und dieser Mann ist der Kutscher, niemand anderes«, fuhr der Detektiv fort. »Er führt ein merkwürdiges Doppelleben. Wie Sie sich denken können, wäre es eine Kleinigkeit für mich, ihn festzunehmen. Aber es liegt mir viel daran, dem Geheimnis, das dahinter liegt, auf den Grund zu gehen. Und dazu befinde ich mich jetzt auf gutem Wege. Doch fürchte ich, daß all meine Chancen verloren gehen könnten, wenn ich ihn ohne weiteres verhaftete. Das hieße allen den Mund schließen. Außerdem fehlt es mir noch an vollgültigen Beweisen. Wie Sie sehen, mein Fräulein, bin ich vollkommen aufrichtig gegen Sie. Ich ahne den ganzen Zusammenhang, und ich werde Ihr Haus nicht verlassen, ehe ich alles erfahren habe.«

Krag setzte sich wieder in seinen Sessel, der mit der Lehne zur Tür stand.

»Soll ich nicht meine Angehörigen herbeirufen?« fragte das junge Mädchen, das wieder ihm gegenüber Platz genommen hatte.

»Die Sache betrifft ja nicht mich allein.«

»Das würde wahrscheinlich gleichzeitig eine Warnung für den Kutscher in seiner Wohnung drüben sein. Daher muß ich davon absehen.«

»So will ich Ihnen allein alles erklären. Jedoch unter einer Bedingung.«

»Und welche wäre das?«

»Daß Sie dem Manne dort drüben Gelegenheit geben, zwei Minuten mit sich allein zu sein, nachdem alles enthüllt ist.«

»Also Selbstmord«, murmelte Krag. »Ist das Geheimnis so entsetzlich?«

»Ja, so entsetzlich ist es. Es stimmt, was Sie sagen: der Kutscher und der Mann mit dem Elfenbeinstock sind ein und dieselbe Person. Wenn er mit dem Elfenbeinstock ausgeht, nennt er sich Brandt, wenn er Kutscher ist, heißt er Ludwig Bjerke. Keiner dieser beiden Namen ist sein richtiger.«

Krag hatte bemerkt, daß die Dame in den letzten Minuten ruhiger geworden war. Ja, schimmerte nicht etwas wie ein kleiner Triumph in ihren Augen?

»Aber welches ist dann sein richtiger Name?« fragte er.

»Ja, wenn Sie das wüßten, so wüßten Sie das ganze Geheimnis.«

Ihre ruhige, überlegene Antwort verblüffte Krag einen Augenblick. Plötzlich aber glaubte er in ihrem Gesicht zu lesen. Rasch wie ein Blitz sprang er von seinem Sessel empor und wandte sich zur Tür. Die Dame lachte auf und sagte höhnisch:

»Sie vergessen doch die Signale!«

In der Tür stand hoch und ernst der Mann mit dem Elfenbeinstock. Unhörbar war er eingetreten. Mit einem bösen Blick sah er Krag an. In der Hand hielt er einen Revolver.

Krag zuckte zusammen. Nun waren die Rollen vertauscht. Er begriff, daß er sich in der Gewalt dieses Mannes befand.


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