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Neunzehntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 61 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 19):

»Inconsistencies,«? answered Imlac, »cannot both be right, but imputed to man they may both be true.«?

Samuel Johnson: Rasselas. (1759)


Als Bulstrode an demselben Abend von einer Geschäftsreise nach Brassing zurückkehrte, kam ihm seine gute Frau in der Vorhalle entgegen und zog ihn in sein Arbeitszimmer hinein.

»Nicolaus,« sagte sie, indem sie ihre redlichen Augen ängstlich auf ihn heftete, »da war ein so übel aussehender Mensch, der nach Dir gefragt hat, es hat mich ganz unbehaglich gemacht.«

»Was für eine Art Mensch, liebes Kind?« fragte Herr Bulstrode, dem auch ohne Antwort die schreckliche Gewißheit keinen Augenblick zweifelhaft war.

»Ein Mensch mit rothem Gesicht und großem Backenbart, ein höchst unverschämter Geselle. Er erklärte, er sei ein alter Freund von Dir, und es würde Dir leid thun, ihn verfehlt zu haben. Er wollte hier auf Dich warten, aber ich sagte ihm, er könne Dich morgen Vormittag in der Bank aufsuchen. Du glaubst nicht, wie unverschämt der Mensch war! Er starrte mich an und sagte, sein Freund Nick habe Glück mit Frauen. Ich glaube, er wäre nicht fortgegangen, wenn Blücher sich nicht zufällig von der Kette losgerissen hätte und auf den Kiesweg gelaufen wäre, denn ich war im Garten; so sagte ich: ›Sie thun besser fortzugehen, der Hund ist sehr bissig, und ich kann ihn nicht halten.‹ Kennst Du wirklich einen solchen Menschen?«

»Ich glaube, ich weiß, wer es ist, liebes Kind,« sagte Herr Bulstrode in seinem gewöhnlichen leisen Ton, »ein unglücklicher Taugenichts, den ich vor Zeiten nur zu viel unterstützt habe. Ich denke aber, er wird Dich hier nicht wieder belästigen. Er wird wahrscheinlich nach der Bank kommen – ohne Zweifel, um zu betteln.«

Weiter geschah des Gegenstandes keine Erwähnung, bis Herr Bulstrode am nächsten Tage nach Hause kam und auf sein Zimmer ging, um sich zu Tische anzukleiden. Seine Frau, die nicht sicher war, ob er nach Hause gekommen sei, sah in seinem Ankleidezimmer nach und fand ihn wie er ohne Rock und Cravatte, den einen Arm auf eine Komode gestützt, und mit abwesendem Blick den Fußboden anstarrend dasaß.

Er fuhr bei ihrem Eintritt erschreckt zusammen und blickte auf.

»Du siehst sehr schlimm aus, Nicolaus, ist Dir nicht wohl?«

»Ich habe starke Kopfschmerzen,« erwiderte Herr Bulstrode, der so oft leidend war, daß seine Frau immer bereit war, seine Niedergeschlagenheit auf diese Ursache zurückzuführen.

»Setze Dich hin und laß mich Dir den Kopf mit Essig waschen.«

Körperlich bedurfte Herr Bulstrode des Essigs nicht, aber die liebevolle Erweisung that ihm moralisch wohl. Obgleich er immer höflich war, pflegte er doch solche Dienste mit ehemännischer Kühle als eine Pflichterfüllung seiner Frau hinzunehmen. Dieses Mal aber sagte er, während sie sich über ihn hinbeugte: »Du bist sehr gütig, Harriet,« und zwar in einem Ton, der ihrem Ohr ungewohnt klang; sie konnte sich keine genaue Rechenschaft davon geben, worin diese Ungewohntheit bestand; aber ihre weibliche Sorglichkeit nahm plötzlich die Gestalt der Befürchtung an, es möchte sich eine Krankheit bei ihm vorbereiten.

»Hast Du Verdruß gehabt?« fragte sie, »war der Mann bei Dir in der Bank?«

»Jawohl, es war, wie ich vermuthet hatte. Es ist ein Mensch, der früher einmal etwas besseres hätte werden können. Jetzt aber ist er ein wüster Trunkenbold geworden.«

»Ist er jetzt ganz wieder fort?« fragte Frau Bulstrode ängstlich; aber gewisse Umstände ließen sie die Bemerkung unterdrücken: »Es war mir sehr unangenehm, ihn sich Deinen Freund nennen zu hören.«

Sie hätte in jenem Augenblick nichts sagen mögen, worin sich ihr Bewußtsein davon kundgegeben hätte, daß die früheren Verbindungen ihres Mannes nicht ganz auf gleicher Stufe mit den ihrigen gestanden hatten. Nicht als ob sie viel von jenen Verbindungen gewußt hätte. Daß ihr Mann zuerst in einer Bank angestellt gewesen sei, daß er später ein von ihm sogenanntes Stadtgeschäft unternommen und dabei noch vor seinem dreiunddreißigsten Jahre ein Vermögen erworben, daß er eine Wittwe geheirathet habe, die viel älter war als er, – eine zu einer Dissentergemeinde gehörende Frau, die auch in andern Beziehungen vermuthlich von jener unangenehmen Beschaffenheit gewesen war, die sich gewöhnlich bei einer ersten Frau herausgestellt, wenn eine zweite Frau mit ihrem leidenschaftslosen Urtheil ihr auf den Grund geht –, war ungefähr Alles, was sie noch über die Einblicke hinaus, welche sie die Erzählungen ihres Mannes in seine frühe Neigung zur Religion, seine Vorliebe für den geistlichen Stand und seine Bestrebungen im Interesse der Menschenliebe und des Missionswesens, thun ließen, zu wissen verlangt hatte.

Sie glaubte an ihn als an einen vortrefflichen Mann, dessen Frömmigkeit als die eines Laien besonders verdienstlich erschien, dessen Einfluß ihr eine ernstere Richtung gegeben hatte und dessen Theil an vergänglichen Gütern das Mittel gewesen war, ihr zu einer besseren Lebensstellung zu verhelfen.

Aber sie war auch geneigt zu glauben, daß es für Herrn Bulstrode in jedem Sinne gut gewesen sei, die Hand Harriet Vincy's zu gewinnen, Harriet Vincy's, deren Familie im Middlemarcher Lichte betrachtet untadelig war, einem Lichte, das unläugbar besser war, als irgend eines, das in Londoner Höfen und Dissenterkirchen leuchten mochte.

Der noch von keiner kirchlichen Reform berührte religiöse Geist der Provinz mißtraute London, und die brave Frau Bulstrode war überzeugt, daß, wenn auch jede wahre Religion selig mache, es doch respectabler sei, in dem Glauben der Staatskirche selig zu werden. Sie war so sehr von dem Wunsche erfüllt, es Andern gegenüber zu ignoriren, daß ihr Mann jemals zu einer Dissentergemeinde gehört habe, daß sie es vorzog diesen Umstand, selbst in der Unterhaltung mit ihm unberührt zu lassen.

Er wußte das sehr wohl, ja in einigen Beziehungen fürchtete er sich einigermaßen vor dieser in ihrem Wesen so offenen Frau, deren nachahmende Frömmigkeit nicht minder aufrichtig war, als ihre angeborne Weltlichkeit, die sich keines Moments ihres Lebens zu schämen brauchte und die er aus reiner, noch fortdauernden Neigung geheirathet hatte. Aber seine Furcht war die eines Mannes, dem daran gelegen ist, seine anerkannte Superiorität aufrecht erhalten zu sehen; der Verlust der Hochachtung seiner Frau oder irgend einer anderen Person, die ihn nicht lediglich aus Feindschaft gegen die Wahrheit haßte, würde auf ihn wie ein beginnender Tod gewirkt haben.

Als sie fragte: »Ist er jetzt ganz fort?« antwortete er, indem er sich bemühte, einen möglichst kühlen und gleichgültigen Ton anzunehmen: »O das hoffe ich sicher!«

In Wahrheit aber war Herr Bulstrode sehr weit davon entfernt, sich ruhig einer solchen Hoffnung hinzugeben.

Bei seinem Besuche in der Bank hatte Raffles deutlich gezeigt, daß seine Lust am Leuteverdrießen fast ebenso stark in ihm sei, wie jede andere seiner gierigen Leidenschaften. Er hatte ganz offen erklärt, daß er vom Wege abgelenkt und nach Middlemarch gekommen sei, um sich hier einmal umzusehen und sich zu überzeugen, ob ihm die Gegend hier anstehe. Er habe zwar einige Schulden mehr zu bezahlen gehabt, als er erwartet habe; aber die zweihundert Pfund seien noch nicht fort; eine kleine Fünfundzwanzigpfundnote würde ihm augenblicklich genügen und ihn für jetzt bestimmen, wieder fortzugehen. Was ihm besonders am Herzen gelegen habe, sei, seinen Freund Nick und Familie zu sehen und sich recht genau über das Wohlergehn eines Mannes zu unterrichten, dem er so herzlich zugethan sei. Mit der Zeit werde er vielleicht zu einem längeren Besuche zurückkehren. Dieses Mal müsse er es sich verbitten, sich ›vom Hause fortschicken zu lassen‹, wie er es ausdrückte – müsse er es sich verbitten, Middlemarch unter Bulstrode's Augen zu verlassen. Er werde vielleicht am nächsten Tage mit der Post fahren – wenn er Lust habe.

Bulstrode fühlte sich hülflos. Weder Drohen noch Schmeicheln wollte verfangen; er konnte sich auf die Dauer bei Raffles weder auf die Wirkung der Furcht noch auf ein Versprechen verlassen. Im Gegentheil, mit Schaudern mußte er sich im Innersten sagen, daß Raffles, – wenn nicht die Vorsehung ihn durch den Tod daran verhindere –, binnen Kurzem nach Middlemarch zurückkehren werde. Und diese Gewißheit war furchtbar.

Nicht als ob er die Gefahr einer gesetzlichen Strafe oder einer Verarmung zu fürchten gehabt hätte; die ihm drohende Gefahr bestand nur darin, daß er fürchten mußte, dem Urtheil seiner Mitmenschen und seiner Frau, die eine solche Entdeckung mit Trauer erfüllen würden, gewisse Thatsachen enthüllt zu sehen, deren Bekanntwerden ihn zu einem Gegenstande des Hohns und zu einer Schmach für die Religion machen würden, zu welcher er in ein so enges Verhältniß getreten war.

Die Furcht gerichtet zu werden schärft das Gedächtniß und läßt die längst entschwundene Vergangenheit, deren wir nur noch in allgemeinen Phrasen zu gedenken uns gewöhnt hatten, vor unserem inneren Auge in einem neuen unheimlichen Lichte aufsteigen. Unser Leben bildet, auch wo wir uns seiner einzelnen Momente nicht besonders erinnern, in seinem Wachsthum und seinem Verfall ein untrennbares Ganze; wenn aber ein Mensch sich zu einem Versenken in die eigene Vergangenheit gedrängt sieht, dann kann er sich der Erinnerung an seine verwerflichen Handlungen nicht mehr erwehren. Wenn das Gedächtniß gewaltsam in einen schmerzhaften Zustand versetzt wird, wie eine wiedergeöffnete Wunde, dann ist die Vergangenheit eines Menschen nicht nur eine todte Geschichte, eine verbrauchte Vorbereitung der Gegenwart, nicht ein bereueter und abgeschüttelter Irrthum, dann ist sie ein noch leise zuckender Theil unsrer selbst, der uns Fieberschauer, bittere Empfindungen und das stechende Gefühl einer verdienten Scham bereitet.

In dieser Weise wurde jetzt Bulstrode's Vergangenheit zu neuem Leben auferweckt; nur ihre Freuden schienen verloren zu sein. Nacht und Tag trat ununterbrochen, – bis auf die kurzen Stunden des Schlafes, in welchen auch nur Rückerinnerung und Gewissensangst zu einer phantastischen Gegenwart sich verwoben –, die Summe seines vergangenen Lebens hartnäckig zwischen ihn und Alles, was ihn sonst äußerlich oder innerlich bewegte, wie uns, wenn wir aus einem erleuchteten Zimmer durch das Fenster in's Freie blicken, die Gegenstände, denen wir den Rücken kehren, fortdauernd anstatt des Grases und der Bäume draußen vor Augen schweben. Da lagen die äußeren und inneren Ereignisse jenes vergangenen Lebens in einem Bilde vor ihm, und wenn er auch bei jedem einzelnen abwechselnd verweilen konnte, hafteten doch die übrigen gleichzeitig fest im Gedächtnisse.

Wieder sah er sich als den jungen Commis eines Banquiers, von angenehmem Aeußern, so geschickt im Rechnen als beredt in Worten und voll feurigen Interesses für theologische Begriffsbestimmungen; ein trotz seiner Jugend hervorragendes Mitglied einer Calvinistischen Dissentergemeinde in Highbury, das bereits die merkwürdigsten inneren Erfahrungen an sündigem Bewußtsein und göttlicher Vergebung durchgemacht hatte. Wieder hörte er sich in gemeinschaftlichen Betstunden als ›Bruder Bulstrode‹ ausgerufen, hörte er sich in religiösen Versammlungen reden, bei Andachtsübungen in Privathäusern predigen. Wieder erinnerte er sich deutlich, wie er an das Predigtamt als an einen ihm vielleicht bestimmten Beruf gedacht und wie er die Neigung gefühlt hatte, die Arbeit eines Missionärs auf sich zu nehmen.

Das war die glücklichste Zeit seines Lebens, das war der Moment, in welchem er jetzt hätte wieder erwachen und finden mögen, daß alles Uebrige ein Traum sei. Die Leute unter denen ›Bruder Bulstrode‹ sich auszeichnete, bildeten nur eine sehr geringe Zahl; aber sie standen ihm sehr nahe und bereiteten ihm durch ihre Anerkennung eine desto größere Genugthuung. Seine Gaben machten sich nur in einem sehr engen Kreise geltend; aber um so intensiver empfand er ihre Wirkung. Er glaubte ohne Mühe an dieses eigenthümliche Wirken der Gnade in ihm und an die Zeichen, daß Gott ihn zu seinem besonderen Werkzeuge erkoren habe.

Dann trat eine Veränderung in seinen Lebensverhältnissen ein. Mit dem Gefühl, einer Rangerhöhung theilhaftig zu werden, empfing er, der in einer Handels-Freischule erzogene Waisenknabe, die Einladung, Herrn Dunkirk, den reichsten Mann in der Gemeinde, auf seiner schönen Villa zu besuchen. Dort wurde er bald ein intimer Hausfreund, seiner Frömmigkeit wegen hoch geschätzt von der Frau, und von Herrn Dunkirk, der seinen Reichthum einem blühenden Geschäfte in der City und im West-End verdankte, seiner Fähigkeiten wegen ausgezeichnet. Jetzt eröffnete sich seinem Ehrgeiz eine neue Bahn, auf welcher er seine Aussichten als ›auserkorenes Werkzeug der Vorsehung‹ in der Art verwirklicht zu sehen hoffen durfte, daß er die Bethätigung ausgezeichneter religiöser Gaben mit einem blühenden Geschäfte würde vereinigen können.

Nach einiger Zeit trat ein, für die Leitung seiner Geschicke entscheidender äußerer Umstand ein; ein untergeordneter, mit der Procura betrauter Partner starb, und niemand schien dem Prinzipal so wohl geeignet, die schmerzlich empfundene Lücke auszufüllen, als sein junger Freund Bulstrode, wenn er Buchhalter und Procurist werden wolle. Er nahm das Anerbieten an. Das nach seinem Umfange wie nach seinen Erträgen gleich großartige Geschäft war das eines Pfandleihers, und nach kurzer Bekanntschaft mit demselben überzeugte sich Bulstrode, daß eine Quelle großartiger Profite in der Annahme jeder Art von Pfändern, ohne genaue Untersuchung ihres Ursprungs, bestehe. Das Haus im West-End aber war eine Filiale, wo kein kleinlicher oder schmutziger Betrieb den Gedanken an ein schmachvolles Geschäft aufkommen ließ.

Er erinnerte sich jetzt der ersten Momente seiner anfänglichen Bedenken. Er hatte sie damals allein und im Widerstreit von Argumenten durchlebt, von denen einige die Gestalt des Gebets annahmen. Das Geschäft bestand seit langer Zeit; ist es nicht etwas Anderes, ob man eine neue Branntweinschenke eröffnet, oder ob man sich zu einer Geldbelegung in einer altbestehenden entschließt? Wenn es sich um einen aus verlornen Seelen gezogenen Geschäftsgewinn handelt, wer kann die Grenze bestimmen, an welcher solche Gewinne bei menschlichen Transactionen beginnen? War dies vielleicht gerade der Weg, auf welchem Gott seinem Auserwählten die Erlösung bringen wollte?

»Du weißt,« – hatte damals der junge Bulstrode im Gebet gesprochen, wie es jetzt der ältere Bulstrode that – »Du weißt, wie frei meine Seele von diesen Dingen ist – wie ich sie alle nur als Werkzeuge betrachte, um hie und da wildes Unkraut aus Deinem Garten auszujäten.«

An Metaphern fehlte es ihm nicht, auch nicht an Präcedenzfällen und an besonderen geistlichen Erfahrungen, welche ihm schließlich die Beibehaltung seiner Stellung als einen von ihm geforderten Dienst erscheinen ließen; die Aussicht auf ein Vermögen hatte sich bereits eröffnet, und Bulstrode verschloß seine Bedenken in sein Inneres.

Herr Dunkirk hatte an die Möglichkeit solcher Bedenken nie gedacht; er hatte nie begriffen, wie das Geschäft mit dem Werke der Erlösung etwas zu thun haben könne. Und in der That fand es auch Bulstrode bald möglich, zwei ganz von einander getrennte Leben neben einander zu führen; seine religiöse Thätigkeit konnte mit seinem Geschäft nicht unvereinbar sein, sobald er sich selbst durch seine eigenen Argumente überzeugt hatte, daß diese Unvereinbarkeit nicht vorhanden sei.

Jetzt, wo jene Vergangenheit ihm wieder vor die Seele trat, mußten auch dieselben Ausflüchte wieder aushelfen; ja, im Lauf der Jahre hatte sich das Gespinnst derselben verdichtet wie Massen von Spinngeweben und hatte die moralische Empfindlichkeit wie mit einem weichen Polster umgeben. In dem Maße, wie sein Egoismus durch das Alter noch verstärkt, er aber weniger genußfähig geworden war, hatte sich seine Seele mehr und mehr an dem Glauben gesättigt, daß er Alles nur um Gotteswillen und nichts um seiner Selbstwillen thue. Und doch – wenn er jene längstvergangene Zeit seiner armen Jugend noch einmal hätte leben können, würde er es vorgezogen haben, Missionär zu werden.

Aber die Verkettung der Verhältnisse, in die er sich begeben, hatte ihren Fortgang genommen.

In der schönen Villa in Highburg gab es schmerzliche Aufregung Schon vor Jahren war die einzige Tochter davongelaufen, hatte ihren Eltern Trotz geboten und war auf die Bühne gegangen, und jetzt starb auch der einzige Sohn, und kurz nachher starb Herr Dunkirk. Die Wittwe, eine einfache fromme Frau, die mit dem ganzen (in- und außerhalb des ihr seiner Natur nach nie recht bekannten, großartigen Geschäfts angelegten) großen Vermögen zurückblieb, glaubte an Bulstrode und betete ihn kindlich an, wie Frauen oft ihren Priester oder ›Menschgewordenen‹ Prediger anbeten. Es war nur natürlich, daß sie nach einiger Zeit daran dachten, sich mit einander zu verheirathen.

Aber Frau Dunkirk quälten Gewissensbisse und die Sehnsucht nach ihrer Tochter, welche schon lange als Gott und ihren Eltern verloren betrachtet war. Man wußte, daß die Tochter sich verheirathet habe, aber man hatte sie gänzlich aus dem Gesichte verloren. Jetzt, wo der Mutter auch ihr Knabe genommen war, erwachte in ihr der Gedanke an einen Enkel und in einem zwiefachen Sinne der Wunsch, ihre Tochter wieder zu gewinnen. Wenn es gelänge, sie wieder aufzufinden, so würde damit für eine natürliche Vererbung des Vermögens, vielleicht an mehrere Enkel, gesorgt sein.

Es galt daher, bevor sich Frau Dunkirk entschließen konnte, wieder zu heirathen, Versuche zur Wiederauffindung der Tochter zu machen. Bulstrode war bei dieser Aufsuchung, die durch Zeitungsannoncen und auf anderen Wegen betrieben wurde, behülflich. Aber schließlich gelangte die Mutter zu dem Glauben, daß die Tochter nicht aufzufinden sei, und verstand sich dazu, sich wieder zu verheirathen, ohne im Betreff ihres Vermögens irgend einen Vorbehalt zu machen.

Aber die Tochter war aufgefunden worden, und um diese Thatsache wußte außer Bulstrode nur ein Mann, und dieser hatte sich gegen eine Geldentschädigung verpflichtet, zu schweigen und in's Ausland zu gehen.

Das war die nackte Thatsache, welcher Bulstrode jetzt in dem scharfen Lichte, in welchem Handlungen sich dem Auge Unbetheiligter darstellen, in's Gesicht zu sehen genöthigt war.

Für ihn selbst aber zerfiel diese Thatsache nach so langer Zeit und selbst jetzt, wo die Erinnerung an dieselbe ihm sich so schmerzlich aufdrängte, in kleine aufeinanderfolgende und auseinander hervorgehende Momente, deren jeder sich seiner Zeit seinem Raisonnement als gerechtfertigt dargestellt hatte.

Bulstrode's Lebenslauf war, wie er glaubte, bis zu diesem Augenblick durch bedeutsame providentielle Fügungen geheiligt gewesen, die ihm den Weg zu zeigen geschienen hatten, auf welchem er den besten Gebrauch von einem ihm anvertrauten großen Vermögen machen und dasselbe schlechten Zwecken entziehen könne. Der Tod und andere merkwürdige Fügungen, wie das unbedingte Vertrauen einer Frau, hatten sich ihm geboten, und Bulstrode würde mit Cromwell gesagt haben: »Kennt Ihr diese Dinge bloße Thatsachen? dann mag Gott sich Eurer erbarmen!« Die Ereignisse waren vergleichsweise klein; aber ihnen allen war das Eine gemeinsam, daß sie der Erreichung seiner Zwecke günstig waren.

Es war leicht für ihn, über das, was er Andern schulde, dadurch in's Reine zu kommen, daß er zu erforschen suchte, was Gottes Absichten mit ihm seien. Konnte es den göttlichen Absichten, gemäß sein, daß ein beträchtlicher Theil dieses Vermögens in die Hände einer jungen Frau und ihres Mannes gelange, welche dem leichtfertigsten Berufe oblagen und das Vermögen vielleicht im Auslande für Tand verschleudern würden – in die Hände von Menschen, welche außerhalb der Bahn merkwürdiger providentieller Fügungen zu stehen schienen?

Bulstrode hatte nie zum Voraus zu sich gesagt: »Die Tochter soll nicht gefunden werden,« gleichwohl hielt er, als der entscheidende Augenblick kam, ihre Existenz geheim und beschwichtigte in später folgenden Momenten die Mutter durch die ihr vorgespiegelte Wahrscheinlichkeit, daß die unglückliche junge Frau wohl nicht mehr am Leben sein werde.

Es hatte Stunden gegeben, in welchen Bulstrode fühlte, daß er unrechtlich gehandelt habe; aber wie konnte er zurück? Er hielt Einkehr bei sich selbst, nannte sich verworfen, rang nach Erlösung und – wandelte weiter auf der Bahn eines auserkornen Werkzeuges. Und nach fünf Jahren kam wieder der Tod, diese Bahn zu erweitern, indem er seine Frau von ihm nahm. Er zog allmälig sein Kapital aus dem Geschäft, brachte aber nicht die Opfer, die erforderlich gewesen wären, um das Geschäft völlig aufzulösen, welches vielmehr noch dreizehn Jahre fortbestand, bis es schließlich in Verfall gerieth.

Inzwischen hatte Nicolaus Bulstrode von seinem nach Hunderttausenden zählenden Vermögen einen weisen Gebrauch gemacht und war nach provinziellen Begriffen ein Mann von solidesten Verhältnissen und bedeutender Stellung geworden; ein Banquier, ein Mann der Kirche, ein öffentlicher Wohlthäter. Außerdem war er stiller Theilnehmer an Waarengeschäften, bei welchen seine Geschicklichkeit, an dem Rohmaterial zu sparen, Verwendung fand, wie beispielsweise bei jenen Farben, welche Herrn Vincy's Seidenstoffe verdorben hatten.

Und jetzt, wo diese Respectabilität fast dreißig Jahre lang ununterbrochen vorgehalten, wo Alles, was ihr vorangegangen war, lange in seinem Bewußtsein geschlummert hatte, jetzt war diese Vergangenheit wieder vor ihm aufgestanden und hatte sein ganzes Denken wie mit dem schrecklichen Ausbruch einer neuen Empfindung, die den schwachen Menschen in seinen Grundvesten erschüttert, überfluthet.

Inzwischen hatte er aus seinen Unterhaltungen mit Raffles etwas sehr Wichtiges erfahren – etwas, das in die inneren Kämpfe seines Sehnens und Bangens bedeutsam eingriff. Da, meinte er, eröffne sich ihm ein Weg zu innerer, vielleicht auch zu materieller Befreiung.

Die innere Befreiung war ihm ein wahrhaftes Bedürfniß. Es mag gemeine Heuchler geben, welche mit Bewußtsein Ueberzeugungen und Empfindungen affectiren, um die Welt zu betrügen; zu diesen aber gehörte Bulstrode nicht. Seine Begierden waren einfach stärker gewesen als seine Ueberzeugungen, und er war allmälig dahin gelangt, die Befriedigung jener Begierden mit diesen Ueberzeugungen in Einklang zu bringen.

Wenn dies Heuchelei ist, so ist es doch ein Proceß, der sich gelegentlich in uns Allen vollzieht, gleichviel welchem Bekenntniß wir angehören und ob wir an die künftige Vollkommenheit unseres Geschlechts oder an ein nahe bevorstehendes Ende der Welt glauben; ob wir die Erde als ein, bis auf einen kleinen geretteten Ueberrest zu dem wir selber gehören, verfaulendes Nest betrachten, oder ob wir den begeisterten Glauben an die Solidarität der Menschheit haben.

Die Dienste, welche er der Sache der Religion würde leisten können, waren sein Lebelang die Richtschnur für Bulstrode's Handlungen, sie waren das Motiv gewesen, zu welchem er sich in seinen Gebeten bekannte. Wer würde von Geld und Stellung einen besseren Gebrauch machen, als er es zu thun gewillt war? Wer konnte es ihm an Selbstverachtung und heiligem Eifer für die Sache Gottes zuvor thun? Und für Bulstrode war die Sache Gottes etwas von der Rechtschaffenheit seines Lebens Verschiedenes; sie verlangte eine sorgfältige Unterscheidung der Freunde von den Feinden Gottes, welche letztere nur als Werkzeuge zu gebrauchen waren und welche womöglich von Geld und dadurch zu gewinnendem Einfluß fern zu halten ein Gott gefälliges Werk schien. So wurden auch vortheilhafte Geldanlagen in kaufmännischen Geschäften, in welchen die Gewalt des Fürsten dieser Welt sich am thätigsten erweist, durch die rechte Verwendung des Profits in den Händen eines Dieners Gottes geheiligt.

Diese Art von Raisonnement ist nicht wesentlich charakteristischer für einen evangelischen Glauben, als der Gebrauch hochtönender Phrasen zur Verdeckung kleinlicher Motive für die Menschen im Allgemeinen charakteristisch ist. Es giebt keine allgemeine Lehre, die nicht im Stande wäre, unsere Sittlichkeit aufzuzehren, wenn sie nicht durch die tief gewurzelte Gewöhnung an das Gefühl der Brüderlichkeit für unsere Nebenmenschen als Individuen in Schranken gehalten wird.

Aber jeder Mensch, der an noch etwas anderes als an seine eigenen Begierden glaubt, hat nothwendig ein Gewissen oder eine Norm, welcher er seine Handlungen mehr oder weniger anzupassen bemüht ist. Bulstrode's Norm war seine Brauchbarkeit für die Sache Gottes gewesen: »Ich bin sündig und verworfen – ein Gefäß, das nur durch den Gebrauch geweiht werden kann – gebrauche mich.« – Das war die Form gewesen, in welche er sein unwiderstehliches Verlangen danach, eine bedeutende und hervorragende Stellung zu gewinnen, gegossen hatte. Und jetzt war ein Augenblick gekommen, wo diese Form in Gefahr schien, zerbrochen und weggeworfen zu werden.

Wie, wenn die Handlungen, mit denen er sich ausgesöhnt hatte, weil sie ihn zu einem stärkeren Werkzeug des göttlichen Ruhmes gemacht hatten, zu einem Vorwande für die Spötter und zu einer Verdunklung dieses Ruhmes werden sollten? Wenn sich das als eine Fügung der Vorsehung erweisen sollte, so würde er, wie Einer, der ein unreines Opfer dargebracht, zum Tempel hinaus gejagt werden.

Oft und lange hatte er seinem Herzen in Ergüssen der Reue Luft gemacht; heute aber sah er sich zu einer Reue getrieben, die bitterer schmeckte, und eine drohende Vorsehung drängte ihn zu einer Art von Sühne, bei der es sich nicht lediglich um einen doctrinellen Compromiß handelte. Das göttliche Gericht hatte eine andere Gestalt für ihn gewonnen; Selbsterniedrigung genügte nicht mehr, er mußte mit einer faßbareren Sühne in der Hand vor den göttlichen Richter treten.

In der That wollte Bulstrode es versuchen, mit einer solchen Sühne, soweit sie möglich war, vor seinen Gott hinzutreten: eine gewaltige Furcht hatte seinen zarten Organismus ergriffen, und das brennende Gefühl der drohenden Schande hatte neue geistliche Bedürfnisse in ihm aufgeregt. Nacht und Tag Selbst in der im Deutschen umgekehrten Reihenfolge der Wörter dieser Redewendung folgt Lehmann seinem anglizistischen Übersetzungsstil. – Anm.d.Hrsg. dachte er, während sich die wiedererweckte Vergangenheit drohend seinem Bewußtsein aufdrängte, darüber nach, durch welche Mittel er Frieden und Vertrauen wiedergewinnen und durch welche Opfer er die göttliche Zuchtruthe von sich abwenden könne.

Sein Glaube in diesen Momenten der Furcht war, daß wenn er freiwillig das Rechte thue, Gott ihn vor den Folgen seiner unrechten Handlungen bewahren werde. Denn die Religion kann sich nur verändern, wenn die Gefühle, welche sie ausmachen, sich verändern, und eine von der Furcht für die eigne Person beherrschte Religion steht nahezu auf der Stufe der Religion des Wilden.

Bulstrode hatte Raffles wirklich mit der Post nach Brassing abfahren gesehen, und das war ein vorübergehender Trost; es beseitigte den Druck einer unmittelbaren Furcht, machte aber dem innern Conflict und dem Bedürfniß nach göttlichem Schutz kein Ende.

Endlich gelangte er zu einem schweren Entschluß und schrieb einen Brief an Will Ladislaw, in welchem er denselben bat, sich Abends um neun Uhr zu einer vertraulichen Besprechung ›im Gebüsch‹ einzustellen.

Will war durch diese Aufforderung nicht besonders überrascht gewesen und hatte dabei an die Mittheilung einiger neuer Ideen in Betreff des ›Pionier‹ gedacht; als er aber in Herrn Bulstrode's Arbeitszimmer geführt wurde, erschreckte ihn der Ausdruck schmerzlicher Erschöpfung im Gesichte des Banquiers, und er war im Begriff zu fragen: »Sind Sie krank?« hielt aber diese abrupte Frage noch zurück und erkundigte sich nur nach Frau Bulstrode's Befinden, und wie sie mit dem für sie gekauften Bilde zufrieden sei.

»Ich danke Ihnen, sie ist sehr zufrieden; sie ist mit unsern Töchtern ausgegangen Ich habe Sie gebeten, sich zu mir zu bemühen, Herr Ladislaw, weil ich Ihnen eine Mittheilung von sehr vertraulicher – in der That, ich muß sagen, von geheiligt vertraulicher Natur zu machen wünsche. Ich darf wohl annehmen, daß nichts Ihren Gedanken ferner liegt, als daß es bedeutsame, der Vergangenheit angehörende Bande geben könne, welche Ihre Lebensgeschichte mit der meinigen verknüpfen.«

Will fühlte etwas einem electrischen Schlage Aehnliches. Er war bereits in einem Zustande großer Reizbarkeit und einer kaum gestillten Aufregung in Betreff der einer vergangenen Zeit angehörenden Bande, und seine Vorgefühle ließen ihn nichts Gutes ahnen. Es war ihm, als zögen wechselnde Traumbilder vor ihm vorüber, als werde die von jenem lauten aufgedunsenen Fremden eröffnete Action durch dieses bleichäugige kränkliche Stück Respectabilität, dessen leiser Ton und glatt formelle Redeweise ihm in diesem Augenblick fast ebenso antipathisch waren wie ihr kurz zuvor erlebter Gegensatz, fortgeführt.

Er wechselte die Farbe und antwortete:

»Gewiß kann mir nichts ferner liegen.«

»Sie sehen einen tiefgebeugten Mann vor, sich, Herr Ladislaw. Wenn nicht mein Gewissen mich drängte und wenn ich nicht wüßte, daß ich vor dem Richterstuhle Eines stehe, der siehet, was menschliche Augen nicht sehen, würde kein Zwang für mich bestehen, Ihnen die Eröffnung zu machen, behufs deren ich Sie ersucht habe, sich diesen Abend hierher zu bemühen. So weit menschliche Gesetze reichen, können Sie keinerlei Ansprüche an mich geltend machen.«

Bei Will erweckte diese Einleitung noch mehr Unbehaglichkeit als Erstaunen. Bulstrode hielt inne und blickte, den Kopf auf die Hand gestützt, zu Boden. Dann aber heftete er einen prüfenden Blick auf Will und fuhr fort:

»Ich höre, daß Ihre Mutter mit ihrem Mädchennamen Sara Dunkirk hieß und daß sie ihrer Familie entlief, um auf die Bühne zu gehen. Ferner daß Ihr Vater zu einer Zeit sehr krank und abgezehrt war. Darf ich fragen, ob Sie diese Angaben bestätigen können?«

»Ja, sie sind alle wahr,« erwiderte Will, betroffen durch die Reihenfolge von Fragen, von denen er hätte erwarten dürfen, daß sie den einleitenden Winken des Banquiers vorangegangen wären. Aber Bulstrode hatte sich dieses Mal von seinen Gefühlen leiten lassen; er zweifelte nicht, daß die Gelegenheit zur Sühne gekommen sei, und ein überwältigender Antrieb drängte ihn zu dem Ausdruck seiner Reue, durch welchen er die Züchtigung abzuwenden hoffte.

»Ist Ihnen etwas Näheres über die Familie Ihrer Mutter bekannt?« fragte er weiter.

»Nein, sie liebte es nie, von ihrer Familie zu reden. Sie war eine sehr edle ehrenwerthe Frau,« antwortete Will fast zornig.

»Ich bin nicht gemeint Siehe oben: »Ich hatte nicht die Absicht …« – Anm.d.Hrsg., irgend etwas gegen sie zu sagen. Hat sie ihrer Mutter nie gegen Sie Erwähnung gethan?«

»Ich habe sie sagen gehört, sie glaube, ihre Mutter kenne die Gründe ihres Entlaufens nicht. Sie sprach in einem mitleidigen Ton von ihrer ›armen Mutter‹.«

»Diese Mutter wurde später meine Frau,« sagte Bulstrode und fügte dann nach einer kurzen Pause hinzu: »Sie haben einen Anspruch an mich, Herr Ladislaw, wie ich schon vorhin bemerkte, keinen rechtlichen Anspruch, aber einen, den mein Gewissen als solchen anerkennt. Ich wurde durch diese Heirath bereichert, ein Ergebniß, welches wahrscheinlich nicht – gewiß nicht in demselben Umfange stattgefunden haben würde, wenn Ihre Großmutter ihre Tochter wieder aufgefunden hätte. Wenn ich recht unterrichtet bin, so lebt diese Tochter nicht mehr.«

»Nein,« sagte Will, in welchem sich Argwohn und Widerwillen in einem solchen Maße regten, daß er, ohne recht zu wissen, was er that, seinen Hut vom Boden aufhob und aufstand. Ein innerer Impuls trieb ihn, die enthüllte verwandtschaftliche Beziehung zurückzuweisen.

»Bitte, behalten Sie Ihren Platz, Herr Ladislaw,« sagte Bulstrode in einem ängstlichen Ton. »Ohne Zweifel hat Sie die Plötzlichkeit dieser Entdeckung erschreckt, aber ich flehe Sie an, haben Sie Geduld mit einem schon durch innere Prüfungen tief gebeugten Manne.«

Will setzte sich wieder mit einem, aus Mitleid und Verachtung für diese freiwillige Selbsterniedrigung eines ältern Mannes, gemischten Gefühl.

»Ich wünsche, Herr Ladislaw, soviel an mir ist, die Entbehrungen, welche Ihre Mutter zu erleiden hatte, wieder gut zu machen. Ich weiß, daß Sie ohne Vermögen sind, und wünsche Sie in angemessener Weise mit Mitteln aus einem Vermögen zu versehen, welches wahrscheinlich schon lange Ihnen gehört haben würde, wenn Ihre Großmutter gewußt hätte, daß Ihre Mutter noch am Leben sei, und sie im Stande gewesen wäre, sie wieder aufzufinden.«

Bulstrode hielt inne. Er war sich bewußt, seinem Zuhörer gegenüber die überraschendste Gewissenhaftigkeit an den Tag zu legen und vor den Augen Gottes als reuiger Sünder zu erscheinen. Es fehlte ihm jeder Schlüssel zum Verständniß des Gemüthszustandes Ladislaw's, auf dem die nur zu verständlichen Winke Raffles' schwer lasteten und dessen angeborne Gabe rascher Combination hier nur zu reichliche Nahrung an den in Aussicht gestellten Entdeckungen fand, die er gern in das Dunkel, aus welchem sie hervorzubrechen drohten, zurückbeschworen hätte.

Will antwortete anfänglich nicht, bis Bulstrode, der bei seinen letzten Worten die Augen auf den Boden geheftet hatte, jetzt mit einem forschenden Blick aufschaute und Will's Blicken begegnete.

Da sagte dieser:

»Sie wußten doch nicht etwa um die Existenz meiner Mutter und ihren Aufenthaltsort?«

Bulstrode fuhr zusammen, seine Gesichtsmuskeln und seine Hände zuckten sichtlich. Er war durchaus nicht darauf gefaßt gewesen, sein Entgegenkommen in dieser Weise aufgenommen oder sich zu einer weitergehenden Enthüllung gedrängt zu sehen, als er selbst sie im Voraus für nothwendig erachtet hatte. Aber in diesem Augenblick wagte er es nicht, eine Lüge zu sagen, und fühlte sich plötzlich unsicher auf dem Boden, auf dem er sich bisher mit einiger Sicherheit bewegt hatte.

»Ich will nicht leugnen, daß Ihre Vermuthung richtig ist,« antwortete er mit etwas stotternder Stimme, »und ich wünsche das Geschehene an Ihnen als dem einzigen noch Ueberlebenden, welcher durch mich einen Verlust erlitten hat, wieder gutzumachen. Ich hoffe zuversichtlich, Herr Ladislaw, daß Sie auf meine Absichten eingehen werden, welche auf höhere als blos menschliche Ansprüche zurückzuführen und, wie ich bereits erwähnt habe, von jedem rechtlichen Zwange völlig unabhängig sind. Ich bin bereit, einen Theil meines Vermögens und der Aussichten meiner Familie zu opfern, indem ich mich verpflichte, Ihnen für die Dauer meines Lebens fünfhundert Pfund jährlich auszuzahlen und Ihnen nach meinem Tode ein entsprechendes Capital zu hinterlassen; ja noch mehr zu thun, wenn ein Mehreres sich zur Ausführung löblicher Zwecke für Sie als erforderlich herausstellen sollte.«

Bulstrode hatte sich bei dem Eingehen auf diese Einzelnheiten von der Erwartung leiten lassen, daß dieselben einen bedeutenden Eindruck auf Ladislaw machen und daß sonstige Empfindungen durch die dankbare Annahme des Dargebotenen absorbirt werden würden. Aber Will, der die Hände in den Taschen und mit trotzig ausgeworfenen Lippen dastand, sah so ungefügig wie möglich aus. Bulstrode's Anerbieten hatte ihn nicht im Mindesten gerührt und er sagte mit fester Stimme:

»Bevor ich auf Ihren Vorschlag irgend etwas erwidere, Herr Bulstrode, muß ich Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten. Hatten Sie mit dem Geschäft, in welchem das Vermögen, von dem Sie reden, ursprünglich erworben wurde, etwas zu thun?«

Bulstrode dachte bei sich, Raffles hat ihm davon etwas gesagt. Wie konnte er sich aber weigern, Will's Frage zu beantworten, da er ihm doch freiwillig das mitgetheilt hatte, was eben diese Frage nach sich zog?

Er antwortete:

»Ja.«

»Und war dieses Geschäft, oder war es das nicht? ein höchst schimpfliches? – ja eines, das, wenn sein Betrieb bekannt geworden wäre, die bei demselben Interessirten als Genossen von Dieben und entlassenen Sträflingen würde haben erscheinen lassen?«

Will's Ton hatte etwas schneidend bitteres, er fühlte sich gedrungen, seine Frage so nackt wie möglich zu stellen.

Eine nicht zu bannende Zornesröthe überflog Bulstrode's Gesicht. Er hatte sich auf eine Scene der Selbsterniedrigung vorbereitet, aber mächtiger als alle reuigen Gefühle und selbst als die Furcht regte sich jetzt in ihm sein Stolz und seine Gewöhnung an eine überlegene Stellung, als dieser junge Mensch, dem er sich als Wohlthäter hatte erweisen wollen, sich ihm gegenüber als Richter gerirte.

»Das Geschäft hatte schon lange bestanden, bevor ich einen Antheil an demselben erhielt, Herr Ladislaw; auch steht es Ihnen nicht zu, in dieser Weise zu inquiriren,« antwortete er, ohne die Stimme zu erheben, aber rasch und in einem trotzig herausfordernden Ton.

»Allerdings steht mir das zu,« sagte Will, indem er mit dem Hut in der Hand wieder aufsprang. »Ich habe das unbestreitbarste Recht, Ihnen solche Fragen zu thun, wenn ich mich darüber entscheiden soll, ob ich etwas mit Ihnen zu thun haben und Ihr Geld annehmen will. Mir liegt meine fleckenlose Ehre am Herzen, und es ist mir wichtig, daß meine Geburt und meine Familie von keinem Makel behaftet erscheinen. Und nun finde ich, daß ohne meine Schuld ein solcher Makel vorhanden ist. Meine Mutter empfand das schmerzlich und versuchte es, sich so rein davon zu halten wie möglich, und das will ich auch. Sie sollen Ihr übelerworbenes Geld behalten. Wenn ich eigenes Vermögen besäße, so würde ich es gern Jedem hingeben, der mir die Unwahrheit dessen, was Sie mir mitgetheilt haben, beweisen könnte. Ich bin Ihnen dankbar dafür, daß Sie das Geld, bis jetzt, wo ich mich der Annahme desselben weigern kann, behalten haben. Jeder, der darauf Anspruch macht, ein Gentleman zu sein, sollte selbst dafür sorgen, daß er sich so nennen darf. Guten Abend, Herr Bulstrode.«

Bulstrode wollte erwidern; aber mit entschlossener Raschheit hatte Will im Augenblick das Zimmer verlassen und schon im nächsten schloß sich die Hausthür hinter ihm. Das Gefühl der Empörung über diesen ihm angeerbten Makel, von dem ihm die Kunde aufgedrängt war, hatte zu ausschließlich von ihm Besitz genommen, als daß er jetzt darüber hätte nachdenken können, ob er nicht zu hart gegen Bulstrode gewesen sei – zu anmaßend unbarmherzig gegen einen sechszigjährigen Mann, der wieder gut machen wollte, was, die Zeit nicht mehr gut zu machen gestattete.

Kein Dritter, der dem Gespräch zwischen Bulstrode und Will zugehört hätte, würde den Ungestüm, mit welchem sich Will's Widerwille geltend machte, oder die Bitterkeit seiner Worte ganz haben begreifen können. Aber niemand außer ihm selbst wußte auch, wie Alles, was das Gefühl seiner eigenen Würde berührte, sich ihm sofort unter dem Gesichtspunkt seines Verhältnisses zu Dorotheen und der ihm von Casaubon widerfahrenen Behandlung darstellte. Und an dem Andrang von Impulsen, die ihn das Anerbieten Bulstrode's hatten zurückweisen lassen, hatte auch das Gefühl seinen Antheil, daß es ihm unmöglich gewesen sein würde, Dorotheen jemals zu sagen, daß er dieses Anerbieten angenommen habe.

Bei Bulstrode trat, als Will fortgegangen war, eine heftige Reaction ein, und er weinte wie ein Weib. Es war das erste Mal, daß ihm irgend ein höher als Raffles stehender Mensch mit offenem Hohn begegnet war, und dieser Hohn, der auf sein Gemüth fortwirkte wie Gift auf den Körper, ertödtete in ihm alle Empfänglichkeit für Trostgründe.

Aber auch den erleichternden Thränen mußte er bald Einhalt thun. Seine Frau und Töchter kamen aus einer Versammlung, in welcher sie den Vortrag eines aus dem Orient zurückgekehrten Missionärs mit angehört hatten, nach Hause zurück und konnten es nicht genug bedauern, daß Papa nicht aus erster Hand die interessanten Dinge vernommen habe, welche sie ihm nun zu wiederholen versuchten.

Den einzigen Trost fand Bulstrode noch in dem Gedanken, daß er doch wenigstens mit großer Wahrscheinlichkeit darauf rechnen könne, daß Will Ladislaw über das diesen Abend Vorgefallene nichts verlauten lassen werde.



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