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Sechstes Buch.
Die Wittwe und die Ehefrau.


Zwölftes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 54 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 12):

Negli occhi porta la mia donna Amore;
Per che si fa gentil ciò ch'ella mira:
Ov'ella passa, ogni uom ver lei si gira,
E cui saluta fa tremar lo core.
Sicchè, bassando il viso, tutto smore,
E d'ogni suo difetto allor sospira:
Fuggon dinanzi a lei Superbia ed Ira:
Aiutatemi, donne, a farle onore.
Ogni dolcezza, ogni pensiero umile
Nasee nel core a chi parlar la sente;
Ond' è beato chi prima la vide.
Quel ch'ella par quand' un poco sorride,
Non si può dicer, nè tener a mente,
Si è nuovo miracolo gentile.

Dante: La Vita Nuova.


An jenem köstlichen Morgen, wo die Heuschober in Stone Court die Luft mit ihrem Dufte erfüllten, – ohne Ansehen der Person, als ob Raffles ein des lieblichsten Weihrauchs würdiger Gast gewesen wäre – hatte Dorothea das Herrenhaus in Lowick wieder bezogen. Nach drei Monaten war der Aufenthalt in Freshitt ihr etwas drückend geworden. Beständig dazusitzen wie ein Modell zu einem Bilde der heil. Catharina und mit verzückten Blicken Celia's Baby anzuschauen, war eine Beschäftigung, mit der sich doch nicht gut ein großer Theil des Tages ausfüllen ließ, während die beharrliche Nichtberücksichtigung dieses wichtigen Säuglings von Seiten einer kinderlosen Schwester unfehlbar sehr übel aufgenommen worden wäre. Dorothea hätte, wenn es nöthig gewesen wäre, das Baby freudig eine Meile weit getragen und würde das Kind um dieser Anstrengung willen nur desto mehr geliebt haben; aber für eine Tante, die ihren kleinen, Neffen nicht als Buddha anbetet und nichts für ihn thun kann, als ihn bewundern, wird sein Thun und Lassen leicht monoton und erschöpft sich das Interesse an seiner Betrachtung.

Für eine solche Möglichkeit hatte Celia durchaus keinen Sinn; sie fand vielmehr, daß Dorothea's kinderloses Wittwenthum ganz allerliebst grade in die Zeit der Geburt des kleinen Arthur, – Baby hieß so nach Herrn Brooke –, gefallen sei.

»Dodo ist gerade die Person, die sich nichts daraus macht, irgend etwas Eigenes zu haben – Kinder oder sonst etwas!« sagte Celia zu ihrem Gatten. »Und wenn sie auch ein Baby gehabt hätte, so reizend wie Arthur hätte es doch nie sein können. Nicht wahr James?«

»Wenn es Casaubon ähnlich gesehen hätte, gewiß nicht,« erwiderte Sir James, der sich wohl bewußt war, daß er die an ihn gestellte Frage einigermaßen indirekt beantworte und mit seiner Herzensmeinung über die Vollkommenheiten seines Erstgebornen zurückhalte.

»Nein, denke doch nur! Es war wirklich eine Gnade,« sagte Celia, »und ich finde es sehr angenehm für Dodo, Wittwe zu sein. Sie kann ja unser Baby gerade so lieb haben, als wäre es ihr eigenes, und sich ihr eigenes in Gedanken so viel ausmalen, wie sie Lust hat.«

»Es ist Schade, daß sie nicht eine Königin geworden ist,« sagte der ergebene Sir James.

»Aber was sollten wir dann gewesen sein? Wir hätten dann doch auch etwas anderes, als wir jetzt sind, sein müssen,« bemerkte Celia, die den ihr zugemutheten Flug der Phantasie zu anstrengend fand. »Mir gefällt sie besser so.«

Als sie daher Dorothea mit Vorbereitungen zu ihrer definitiven Rückkehr nach Lowick beschäftigt fand, zog Celia die Augbrauen unzufrieden in die Höhe und schoß in ihrer ruhig phlegmatischen Weise einen ihrer kleinen wie eine Nadelspitze treffenden sarkastischen Pfeile auf Dorothea ab.

»Was willst Du in Lowick anfangen, Dodo? Du sagst ja selbst, daß dort nichts für Dich zu thun ist. Die Leute sind ja da Alle so sauber und behäbig, daß es Dich ganz melancholisch macht. Und hier konntest Du doch mit Herrn Garth ganz Tipton bis in die häßlichsten Winkel durchwandern und hast Dich dabei so glücklich gefühlt. Und nun, wo Onkel verreist ist, könnt Ihr, Du und Herr Garth, Alles machen, wie es Euch gefällt, und James thut doch gewiß Alles, was Du von ihm verlangst.«

»Ich werde oft herkommen und um so besser beobachten können, wie Baby sich entwickelt,« erwiderte Dorothea.

»Aber Du wirst nie dabei sein, wenn er gebadet wird,« erwiderte Celia, »und das ist doch gerade die schönste Stunde am Tage.«

Celia sagte das in einem fast scheltenden Tone; sie fand es sehr hartherzig von Dodo, von Baby fortzugehen, da sie doch hätte bleiben können.

»Liebe Kitty, ich will gern einmal hier schlafen, um Baby am Morgen baden zu sehen,« sagte Dorothea, »aber ich möchte jetzt allein und in meinem eigenen Hause sein. Ich möchte die Farebrother's genauer kennen lernen und mich mit dem Pfarrer darüber unterhalten, was in Middlemarch geschehen kann.«

Dorothea's angeborne Willensstärke war jetzt nicht mehr auf eine entschlossene Ergebenheit beschränkt. Sie hatte ein sehnliches Verlangen, wieder in Lowick zu sein, und war fest entschlossen, dahin zurückzukehren, ohne sich verpflichtet zu fühlen, alle ihre Gründe mitzutheilen.

Aber ihre ganze Umgebung mißbilligte diesen Schritt. Sir James, dem die Sache sehr peinlich war, proponirte, auf einige Monate mit der ganzen Familie, die heilige Arche, auch Wiege genannt, mit inbegriffen, nach Cheltenham Badeort in Gloucestershire im Südwesten Englands. – Anm.d.Hrsg. zu gehen. In jenen Tagen war es schwer für einen Mann, noch etwas zu proponiren, wenn Cheltenham verworfen wurde.

Die alte Lady Chettam, die eben von einem Besuche bei einer Tochter in London zurückgekehrt war, wünschte, daß man wenigstens an Frau Vigo schreiben und sie auffordern möge, die Stelle einer Gesellschafterin bei Frau Casaubon anzunehmen; es war undenkbar, daß Dorothea als junge Wittwe allein in Lowick wohne. Frau Vigo war Vorleserin und Sekretär bei fürstlichen Personen gewesen und so bewährt durch ihre Kenntnisse und ihren Charakter, daß selbst Dorothea nichts gegen sie einzuwenden haben konnte.

Frau Cadwallader sagte vertraulich zu Dorotheen: »Sie werden sicher verrückt werden, wenn Sie in dem Hause allein wohnen, liebes Kind. Sie werden Visionen bekommen. Wir müssen uns Alle ein bischen anstrengen, wenn wir vernünftig bleiben und die Dinge mit demselben Namen bezeichnen wollen, wie andere Leute. Für jüngere Söhne und Frauen, die kein Geld haben, ist es eine Art von Versorgung, wenn sie verrückt werden; man nimmt sich dann doch ihrer an. Aber Sie dürfen sich dem nicht aussetzen. Ich kann mir wohl denken, daß unsere gute alte Lady hier Sie ein bischen langweilt; aber stellen Sie sich doch vor, wie langweilig Sie selbst für Ihre Nebenmenschen werden würden, wenn sie immer die Königin in der Tragödie spielen und alle Dinge pathetisch nehmen wollten. Wenn Sie den ganzen Tag allein in der Bibliothek in Lowick sitzen, werden Sie sich vielleicht einbilden, über Regen und Sonnenschein zu gebieten; Sie müssen ein paar Menschen um sich haben, die Ihnen das nicht glauben würden. Das ist eine sehr gute, herabstimmende Medizin.«

»Ich habe die Dinge nie mit demselben Namen bezeichnet wie alle Menschen um mich her,« entgegnete Dorothea trotzig.

»Sie sind aber, glaube ich, jetzt dahinter gekommen, daß Sie daran Unrecht gethan haben, liebes Kind,« sagte Frau Cadwallader, »und das ist ein Beweis, daß Sie noch bei Verstande sind.«

Dorothea fühlte den Stich sehr gut, machte sich aber nichts daraus.

»Nein,« erwiderte sie, »ich denke noch immer, daß die meisten Menschen von vielen Dingen falsche Begriffe haben. Man kann gewiß so denken und doch vollkommen bei Verstande sein; denn der größere Theil der Menschen hat schon oft seine Meinungen ändern müssen.«

Frau Cadwallader sprach nicht weiter über diesen Punkt mit Dorotheen; zu ihrem Manne aber sagte sie, es wäre gut für sie, sich, sobald es schicklich sei, wieder zu verheirathen, wenn man den rechten Mann für sie finden könne.

»Die Chettam's würden es natürlich nicht wünschen. Aber ich bin überzeugt, daß nichts sie so gut in Ordnung halten würde, wie ein Mann. Wenn wir nicht so arm wären, würde ich Lord Triton einladen. Er wird noch einmal Marquis, und sie würde unstreitig eine sehr gute Marquise abgeben; sie sieht in ihren Trauerkleidern schöner aus als je.«

»Meine liebe Elinor, laß doch die arme Frau in Ruhe. Solche Veranstaltungen nützen zu nichts,« sagte der Pfarrer in seiner bequemen Weise.

»Nützen zu nichts? Wie kommen denn Partien anders zu Stande, als dadurch, daß man Männer und Frauen zusammenbringt? Und es ist eine Schande, daß gerade ihr Onkel jetzt davon gelaufen ist und Tipton-Hof zugeschlossen hat. Es müßten jetzt eine Menge von Männern zur Auswahl nach Freshitt und Tipton-Hof eingeladen werden. Lord Triton wäre grade der rechte Mann, voll von Plänen, die Menschen in seiner weichherzigen Manier glücklich zu machen. – Das wäre gerade so etwas für Frau Casaubon.«

»Laß Du Frau Casaubon für sich selbst wählen, Elinor.«

»Das ist ein rechter Unsinn, wie Ihr klugen Männer ihn so gern sprecht! Wie kann sie wählen, wenn sie keine Auswahl hat. Die Wahl einer Frau bedeutet gewöhnlich, daß sie den einzigen Mann nimmt, den sie bekommen kann. Laß es Dir von mir gesagt sein, Humphrey, wenn ihre Freunde sich keine Mühe für sie geben, so werden wir noch etwas Schlimmeres, als es die Heirath mit Casaubon war, erleben.«

»Um des Himmelswillen, Elinor, laß das Kapitel unberührt! Es ist das ein sehr wunder Punkt bei Sir James. Er würde es sehr übel nehmen, wenn Du ohne Noth mit ihm darüber zu reden anfingest.«

»Ich habe nie davon angefangen,« sagte Frau Cadwallader, »Celia hat mir gleich anfangs, ohne daß ich sie danach gefragt hätte, Alles von dem Testamente erzählt.«

»Ja ja; aber sie wollen die Sache vertuschen und, wie ich höre, geht der junge Mensch ganz von hier fort.«

Frau Cadwallader erwiderte nichts, sondern nickte nur ihrem Manne, mit einem sehr sarkastischen Ausdruck in ihren dunkeln Augen, dreimal bedeutungsvoll zu.

 

Dorothea beharrte allen Vorstellungen und Ueberredungsversuchen zum Trotz ruhig auf ihrem Vorsatz. Gegen Ende Juni waren alle Läden im Herrenhanse von Lowick wieder geöffnet, und die Morgensonne blickte ruhig in die Bibliothek und beschien die Reihen von Collectaneen, wie sie auf eine öde Wüste scheint, aus welcher riesige Steine, die stummen Denkzeichen eines vergessenen Glaubens, hervorragen, und der rosige Abendsonnenschein drang schweigend in das blaugrüne Boudoir, in welchem Dorothea sich am liebsten aufhielt.

Zuerst war sie durch alle Zimmer gegangen und hatte die achtzehn Monate ihrer Ehe befragt und hatte ihre Gedanken weiter gedacht, als wären sie eine Rede, die ihr Gatte mit anhöre. Dann weilte sie unschlüssig in der Bibliothek und fand keine Ruhe, bis sie alle die Bände voll Collectaneen in der Weise, wie Casaubon es nach ihrer Meinung gewünscht haben würde, geordnet hatte. Das Mitleid, welches in ihrem Leben mit ihm das zurückhaltende und treibende Motiv für sie gewesen war, heftete sich noch an sein Bild, selbst während sie ihm in ihren Gedanken entrüstete Vorwürfe machte und ihm erklärte, daß er ungerecht gegen sie gewesen sei.

Vielleicht wird man über etwas, was sie that, als abergläubisch lächeln. Sie schloß die ›synoptische Tabelle zum Gebrauch für Frau Casaubon‹ sorgfältig in ein Couvert und versiegelte dasselbe, nachdem sie folgendes hineingeschrieben hatte: ›Ich konnte keinen Gebrauch davon machen. Begreifst Du jetzt nicht, daß ich meine Seele der Deinigen nicht unterwerfen und nicht hoffnungslos an etwas arbeiten kann, an das ich nicht glaube? – Dorothea.‹ Dann verschloß sie das Papier in ihren Schreibtisch.

Dieses stumme Zwiegespräch war vielleicht nur umso ernster, weil es, wie Alles, was sie that und dachte, von der tiefen Sehnsucht begleitet war, die ihren Entschluß, nach Lowick zurückzukehren, zur Reife gebracht hatte. Diese tiefe Sehnsucht galt einem Wiedersehen Will Ladislaw's. Sie glaubte zwar nicht, daß ihre Begegnung zu irgend etwas Gutem führen könne; sie fühlte sich hülflos, die Hände waren ihr gebunden und es war ihr versagt, ihm sein hartes Loos zu lindern. Aber ihre Seele dürstete danach, ihn zu sehen.

Wie hätte es auch anders sein können? Wenn eine Prinzessin in den Tagen der Verzauberung ein vierfüßiges Geschöpf, von der Art wie sie in Heerden leben, wieder und wieder mit einem menschlichen Blick und flehendem Ausdruck auf sich hätte zukommen sehen, woran würde sie auf ihrer Reise gedacht, wonach würde sie ausgesehen haben, wenn Heerden an ihr vorüberzogen? Sicherlich nach dem Blick, der den ihrigen gefunden hatte und der sie wieder erkennen würde. Das Leben würde nichts besseres sein, als der Schimmer eines Kerzenlichts und das Tageslicht nur ein erbärmliches Ding, wenn das Geschehene nicht in unsern Gemüthern eine bleibende Stätte der Sehnsucht und der Beständigkeit fände.

Es war zwar wahr, daß Dorothea die Farebrother's besser kennen zu lernen und namentlich den neuen Pfarrer zu sprechen wünschte, es war aber auch ebenso wahr, daß sie, eingedenk dessen, was Lydgate ihr von Will Ladislaw und dem kleinen Fräulein Noble erzählt hatte, darauf rechnete, daß Will die Familie Farebrother in Lowick besuchen werde.

Am ersten Sonntage sah sie ihn, noch ehe sie die Kirche betrat, gerade wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, allein in dem Kirchenstuhle des Pfarrers; als sie aber eintrat, war seine Gestalt verschwunden.

So oft sie während der folgenden Wochen die Damen im Pfarrhause besuchte, hoffte sie vergebens, von ihnen ein Wort über Will zu hören, während es ihr doch schien, daß Frau Farebrother sonst von Jedermann in und außerhalb der Umgegend rede.

»Einige von Herrn Farebrother's Middlemarcher Zuhörern werden gewiß bisweilen auch nach Lowick kommen, um seine Predigten zu hören. Meinen Sie nicht auch?« fragte Dorothea mit dem Gefühl, daß es nicht schön von ihr sei, aus einem geheimen Grunde eine anscheinend ganz unverfängliche Frage zu thun.

»Wenn sie verständig sind, werden sie das thun, Frau Casaubon,« antwortete die alte Dame. »Ich sehe, daß Sie die Predigten meines Sohnes zu würdigen wissen. Sein Großvater von meiner Seite war ein vortrefflicher Geistlicher; sein Vater war Jurist, aber doch ein höchst vortrefflicher und rechtschaffener Mann, und das ist der Grund, warum wir nie reich geworden sind. Man sagt, das Glück sei ein launisches Weib. Aber bisweilen ist das Glück auch eine gute Frau und giebt denen, die es verdienen, und das ist der Fall mit Ihnen, Frau Casaubon, die Sie meinem Sohne eine Pfründe gegeben haben.«

Frau Farebrother nahm ihre Strickarbeit mit einem würdigen Ausdruck der Befriedigung über ihren kleinen oratorischen Versuch wieder auf, aber Dorothea hätte gern etwas anderes gehört.

Das arme Kind! Sie wußte nicht einmal, ob Will Ladislaw noch in Middlemarch sei, und es gab Niemanden außer Lydgate, den sie danach hätte fragen mögen. Aber eben jetzt hatte sie keine Gelegenheit, Lydgate zu sehen, wenn sie nicht nach ihm schickte oder ihn aufsuchte. Vielleicht daß Will Ladislaw von dem wunderlichen, von Casaubon gegen ihn erlassenen Bannspruch gehört hatte und es für sich und sie für besser hielt, wenn sie einander nicht wiedersähen, und vielleicht hatte sie Unrecht, eine Begegnung zu wünschen, gegen welche Andere sich aus vielen guten Gründen erklären müßten.

Aber ›Ich wünsche diese Begegnung doch‹ war der Refrain, der diesen weisen Erwägungen ebenso natürlich folgte wie ein Seufzer dem Anhalten des Athems. Und wirklich fand diese Begegnung statt, wenn auch in einer ihr ganz unerwartet, förmlichen Weise.

Eines Morgens um etwa elf Uhr saß Dorothea in ihrem Boudoir, vor einer Karte der zu dem Herrenhause gehörenden Ländereien und anderen Papieren, mit deren Hülfe sie sich selbst über ihr Einkommen und den gesammten Stand ihrer Angelegenheiten genau zu unterrichten wünschte. Sie hatte mit ihrer Arbeit noch nicht begonnen, sondern saß, die Hände in ihrem Schooße gefaltet, und blickte über die Lindenallee hinweg nach den fernen Feldern aus. Jedes Blatt athmete tiefe Ruhe im Sonnenschein, die ihr so vertraute Aussicht lag unverändert da und schien ihr wie ein Bild ihres künftigen Lebens voll antrieblosen Behagens – antrieblos, wenn ihre eigene Energie ihr keine Beweggründe zu feurigem Handeln zu bieten vermochte.

Die Wittwenhaube jener Tage bildete einen ovalen Rahmen um das Gesicht, über welchem sich noch eine Art von Krone erhob; es schien bei dieser Tracht darauf abgesehen zu sein, das Aeußerste im Aufwande von Krepp zu leisten; aber diese schwerfällig feierliche Kleidung ließ Dorothea's Gesicht mit seiner wiedergewonnenen blühenden Frische und dem lieblich offenen forschenden Ausdruck ihrer Augen nur um so jünger erscheinen.

Aus ihren Träumen wurde sie durch Tantripp gerissen, welche ihr meldete, daß Herr Ladislaw unten sei und um die Erlaubniß bitte, der gnädigen Frau seine Aufwartung zu machen, wenn es nicht zu früh sei.

»Ich will ihn empfangen,« sagte Dorothea aufstehend. »Lassen Sie ihn in den Salon führen.«

Der Salon war das ihr von allen Zimmern im Hause gleichgültigste – das Zimmer, welches sie am wenigsten an die Prüfungen ihres ehelichen Lebens erinnerte. Der Seidendamast auf den Möbeln paßte zu dem weißen, reich mit Gold verzierten Holzwerk. Da hingen zwei große Spiegel und standen Tische, auf denen nichts lag; kurz es war ein Zimmer, in welchem man keine Veranlassung hatte, einem Platze vor dem andern den Vorzug zu geben. Es lag unter dem Boudoir und hatte gleichfalls ein auf die Lindenallee hinausblickendes Bogenfenster. Als aber Pratt Will Ladislaw in den Salon führte, stand das Fenster offen und ein geflügelter Gast, der summend aus und einflog, ohne die Möbel zu respectiren, machte das Zimmer weniger förmlich und unbewohnt aussehen.

»Es freut mich, Sie wieder hier zu sehen, Herr Ladislaw,« sagte Pratt, der sich an einer Jalousie etwas zu schaffen machte.

»Ich bin nur gekommen, Lebewohl zu sagen, Pratt,« sagte Will, der selbst den Butler wissen lassen wollte, daß er zu stolz sei, um sich jetzt, wo Frau Casaubon eine reiche Wittwe war, bei ihr herumzutreiben.

»Das thut mir sehr leid, Herr Ladislaw,« erwiderte Pratt im Hinausgehen.

Natürlich wußte er, in der Eigenschaft eines Dieners, dem nichts mitgetheilt wurde, bereits die Thatsache, von welcher Ladislaw noch nichts ahnte, hatte seine Schlüsse gezogen und war mit seiner Verlobten Tantripp einverstanden gewesen, als dieselbe sagte:

»Euer Herr war so eifersüchtig wie der böse Feind und ohne allen Grund. Ich müßte die gnädige Frau nicht kennen, wenn sie sich nicht nach einem vornehmeren Mann umsehen würde, als es Herr Ladislaw ist. Frau Cadwallader's Mädchen sagt, es werde ein Lord kommen und sie heirathen, wenn das Trauerjahr vorüber sei.«

Will war einige Augenblicke mit dem Hute in der Hand im Zimmer auf- und abgegangen, als Dorothea eintrat. Ihre Begegnung war sehr verschieden von ihrer ersten Begegnung in Rom, bei welcher Will sehr verlegen und Dorothea ruhig gewesen war. Dieses Mal war er unglücklich, aber entschlossen, während sie sich in einem Zustande der Aufregung befand, den sie nicht zu verbergen vermochte. Unmittelbar ehe sie in's Zimmer trat, hatte sie gefühlt, daß diese so sehnlichst herbeigewünschte Zusammenkunft doch am Ende zu schwer für sie sein werde, und als sie Will auf sich zutreten sah überflog ihr Gesicht plötzlich eine bei ihr so seltene tiefe Röthe.

Keines von Beiden wußte, wie es geschah, aber keines von Beiden sprach. Sie reichte ihm die Hand, und dann setzten sie sich Beide einander gegenüber an's Fenster.

Will fühlte sich äußerst unbehaglich. Es schien ihm Dorotheen gar nicht ähnlich, daß die bloße Thatsache ihres Wittwenthums eine solche Veränderung in ihrer Art, ihn zu empfangen, bewirke, und er wußte von keinem andern Umstande, welcher ihr früheres Verhältniß zu einander hätte alteriren können – es wäre denn, daß, wie er es sich sofort ausmalte, ihre Verwandten mit ihren Verdächtigungen gegen ihn Dorothea's Gemüth vergiftet hätten.

»Ich hoffe, Sie sehen in meinem Besuche keine Anmaßung,« sagte Will. »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, diese Gegend zu verlassen und ein neues Leben anzufangen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen.«

»Anmaßung? Gewiß nicht. Ich würde es unfreundlich von Ihnen gefunden haben, wenn Sie nicht gewünscht hätten, mich noch einmal zu sehen,« erwiderte Dorothea mit der bei ihr zur Gewohnheit gewordenen vollkommen unbefangenen Aufrichtigkeit, die sie auch jetzt, bei aller Unsicherheit und Aufgeregtheit ihres Gemüths, nicht verließ. »Gehen Sie schon in allernächster Zeit fort?«

»Ich denke sehr bald nach London zu gehen, um meine juristischen Studien zu machen und Advokat zu werden, da das, wie es scheint, die nothwendige Vorbereitung für alle öffentliche Wirksamkeit ist. Es wird allmälig sehr viel politische Arbeit zu thun geben, und ich will versuchen, ob ich nicht einen Theil davon auf mich nehmen kann. Schon Andere haben es vor mir möglich gemacht, sich ohne Familie oder Geld eine ehrenvolle Stellung zu erringen.«

»Und das wird die Sache nur um so ehrenvoller für Sie machen,« sagte Dorothea feurig. »Ueberdies sind Sie ja so reich begabt. Mein Onkel hat mir erzählt, wie gut Sie öffentlich reden, so daß Jeder es bedauert, wenn Sie schließen, und wie klar Sie die Dinge darzulegen wissen. Und es liegt Ihnen am Herzen, daß Jedermann Gerechtigkeit widerfahre. Das freut mich von Herzen. Als wir in Rom waren, glaubte ich, Sie interessirten sich nur für Poesie und Kunst und die Dinge, die uns vom Glück Begünstigten das Leben schmücken. Aber jetzt weiß ich, daß Sie auch an die übrige Menschheit denken.«

Während sie sprach, hatte sich Dorothea von ihrer anfänglichen Befangenheit befreit und war wieder ganz sie selbst geworden. Sie sah Will mit einem Blick voll entzückten Vertrauens gerade in's Gesicht.

»Sie sind also damit einverstanden, daß ich auf Jahre von hier fortgehe und niemals wiederkomme, bis ich mich irgendwie in der Welt ausgezeichnet habe?« fragte Will, indem er den schwierigen Versuch machte, den höchsten Stolz mit dem dringenden Wunsch, Dorotheen einen lebhaften Gefühlsausdruck abzuringen, in Einklang zu bringen.

Sie wußte selbst nicht, wie lange es dauerte, bis sie antwortete. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt und blickte zum Fenster hinaus auf die Rosenbüsche, die ihr die Sommer all der Jahre, während welcher Will fort sein würde, in sich zu tragen schienen. Das war kein kluges Benehmen. Aber Dorothea war unfähig, über ihre Art und Weise nachzudenken; sie war nur von dem Gedanken erfüllt, sich einer traurigen Nothwendigkeit, die sie von Will trennte, zu fügen.

Seine ersten Worte im Betreff seiner Absichten für die Zukunft schienen ihr Alles klar zu machen; er wußte, wie sie annahm, Alles, was Casaubon schließlich in Betreff seiner gethan hatte, und diese Kunde hatte ihn ebenso peinlich überraschend betroffen wie sie selbst. Er hatte nie mehr als Freundschaft für sie empfunden – hatte niemals irgend einen Gedanken gehegt, welcher das, was sie als eine Beschimpfung seiner und ihrer Gefühle von Seiten ihres Gatten empfunden hatte, hätte rechtfertigen können, und diese freundschaftliche Gesinnung erfüllte ihn noch jetzt gegen sie.

Etwas, was wir einen stummen Seufzer nennen möchten, hatte sich Dorothea's Brust im Geheimen entrungen, bevor sie mit einer reinen Stimme, die bei den letzten Worten ein anscheinend nur durch die flüssige Biegsamkeit des Organs hervorgebrachtes leises Zittern vernehmen ließ, antwortete:

»Ja, es muß recht sein, daß Sie Ihren Absichten gemäß handeln. Es wird mich sehr glücklich machen zu hören, daß Sie Ihren Werth zur Anerkennung gebracht haben. Aber Sie müssen Geduld haben, es wird vielleicht lange, lange dauern.«

Will konnte sich nie recht klar darüber werden, wie es kam, daß er ihr nicht zu Füßen fiel, als das ›lange, lange‹ mit seinem sanft zitternden Ton ihren Lippen entfloß. Er pflegte zu sagen, daß die schauerliche Farbe und Gestalt ihrer Trauerkleidung ihn höchst wahrscheinlich vor einer solchen Unbesonnenheit gerettet habe. Er blieb aber ruhig sitzen und sagte nur:

»Ich werde nie etwas von Ihnen hören, und Sie werden mich ganz vergessen.«

»Nein,« erwiderte Dorothea, »ich werde Sie nie vergessen. Ich habe noch niemals Jemanden, den ich einmal gekannt habe, vergessen. Mein Leben hat sich nie in einem Gedränge zerstreuender Eindrücke bewegt und wird das auch schwerlich in Zukunft thun. Und ich habe ja hier in Lowick Raum genug für Erinnerungen. Nicht wahr?«

Sie lächelte.

»O Gott!« brach Will leidenschaftlich aus, stand, seinen Hut noch in der Hand, auf und ging nach einem Marmortisch, bei welchem er sich plötzlich umwandte, um sich an denselben zu lehnen. Das Blut war ihm in's Gesicht geschossen, und er sah fast zornig aus. Es schien ihm, als wären sie zwei Wesen, die langsam, eines in des andern Angesicht, zu Marmor erstarrten, während ihre Herzen sich verstanden und ihre Blicke sehnsüchtiges Verlangen ausdrückten.

Aber das war nicht zu ändern. Nie sollte man von ihm sagen können, daß er diese Zusammenkunft, zu der er mit einem bittern Entschluß gekommen war, mit einem Bekenntniß beschlossen habe, welches man als eine Bewerbung um ihr Vermögen würde auslegen können. Ueberdies fürchtete er sich in Wahrheit auch vor der Wirkung, welche ein solches Bekenntniß auf Dorothea selbst üben konnte.

Sie sah ihm, in der Besorgniß, daß ihre Worte etwas Verletzendes enthalten haben müßten, betroffen nach. Während der ganzen Zeit aber beschäftigte sie der Gedanke, daß er wahrscheinlich des Geldes bedürfe und daß es ihr unmöglich sei, ihm zu helfen. Wenn ihr Onkel nicht verreist gewesen wäre, hätte sich vielleicht durch ihn etwas thun lassen!

Diese Präoccupation mit dem Geldmangel, welcher Will bedrücke, während sie besitze, was ihm von Rechtswegen zukomme, veranlaßte sie, als er in seinem Schweigen verharrte und die Blicke von ihr abwandte, zu sagen:

»Vielleicht hätten Sie gern das Miniaturbild, welches oben hängt, ich meine das schöne Portrait Ihrer Großmutter. Ich glaube, es wäre nicht recht von mir, es zu behalten, wenn Sie es zu besitzen wünschen sollten. Es sieht Ihnen merkwürdig ähnlich.«

»Sie sind sehr gütig.« sagte Will in gereiztem Ton. »Nein, ich trage kein Verlangen danach. Es ist nicht sehr tröstlich, sein eigenes Bild zu besitzen. Es wäre tröstlicher, wenn Andere es haben wollten.«

»Ich hatte geglaubt, es würde Ihnen angenehm sein, ihr Andenken zu pflegen – ich hatte geglaubt, –« Dorothea hielt plötzlich, als die Berührung der Geschichte der Tante Julia ihr bedrohliche Vorstellungen erweckte, einen Augenblick inne, »Sie würden das Miniaturbild als ein Familienandenken gern besitzen.«

»Was sollte ich damit, wenn ich nichts anderes habe? Ein Mann, der seine ganze Habe in seinem Koffer bei sich trägt, muß seine Andenken im Kopfe haben.«

Will sprach in den Tag hinein: er wollte nur dem ungestümen Drang seiner Gefühle Luft machen; es war doch ein wenig zu stark, daß ihm in diesem Augenblick das Portrait seiner Großmutter angeboten wurde.

Für Dorothea's Empfindung lag aber in seinen Worten etwas besonders Verletzendes. Sie stand auf und sagte mit einem Anflug von Entrüstung und Stolz in ihrem Ton:

»Sie sind von uns Beiden bei weitem der Glücklichere, Herr Ladislaw, weil Sie nichts haben.«

Will erschrak. Was sie auch gesagt haben mochte, der Ton klang wie eine Verabschiedung; er trat von dem Tisch, an den er sich gelehnt hatte, einige Schritte auf sie zu. Ihre Augen begegneten sich in einem sonderbar fragenden ernsten Blick. Etwas war zwischen sie getreten, was ihre Gemüther von einander fern hielt, und ein Jedes war auf Vermuthungen über das, was in dem andern vorgehe, angewiesen. Will hatte in der That noch nie daran gedacht, daß er einen Erbanspruch an das Vermögen Dorothea's haben könne, und es würde eines ausführlichen Berichts für ihn bedurft haben, um das, was sie augenblicklich bewegte, zu verstehen.

»Bis jetzt habe ich es noch nie als ein Unglück empfunden, nichts zu besitzen,« sagte er. »Aber Armuth kann so schlimm sein wie Aussatz, wenn sie uns von dem, woran uns am meisten gelegen ist, trennt.«

Diese Worte schnitten Dorotheen in's Herz und erweichten sie. Sie antwortete in einem kameradschaftlich traurigen Ton.

»Der Kummer kommt uns auf so mannigfachen Wegen. Vor zwei Jahren hatte ich davon noch keine Ahnung, ich meine von der unerwarteten Weise, in welcher die Sorge kommt und uns die Hände bindet und uns den Mund verschließt, wenn wir reden möchten. Ich pflegte die Frauen ein wenig zu verachten, weil sie ihrem Leben keine bestimmtere Gestalt zu geben wissen und nicht darauf bedacht sind, sich mit bessern Dingen zu beschäftigen. Ich liebte es sehr, ganz nach meinem Belieben zu handeln, aber ich habe das jetzt fast gänzlich aufgegeben,« schloß sie lächelnd.

»Ich habe es noch nicht gänzlich aufgegeben zu thun, was mir beliebt, aber es ist mir selten möglich,« sagte Will. Er stand etwa zehn Schritte von ihr entfernt, von widersprechenden Wünschen und Entschlüssen hin- und hergeworfen; es verlangte ihn nach einem unzweideutigen Beweise ihrer Liebe, und er fürchtete doch die Stellung, welche ihm ein solcher Beweis bereiten möchte. »Das Erreichen von Dingen, nach welchen wir ein inniges Verlangen tragen, kann an unerträgliche Bedingungen geknüpft sein.«

In diesem Augenblick trat Pratt ein und sagte:

»Sir James Chettam wartet in der Bibliothek.«

»Bitten Sie Sir James, sich hier herzubemühen,« antwortete Dorothea sofort.

Es war, als ob derselbe electrische Schlag sie und Will durchzuckt hätte. Sie sahen einander nicht an, aber Beider Blicke drückten stolzen Trotz aus, während sie Sir James erwarteten.

Nachdem er Dorothea die Hand gereicht hatte, verbeugte Sir James sich so leicht wie möglich gegen Ladislaw, der diese Verbeugung mit einer ebenso leichten Verneigung erwiderte und dann auf Dorothea zutretend sagte:

»Ich muß Ihnen Lebewohl sagen, Frau Casaubon, und wahrscheinlich auf lange Zeit.«

Dorothea reichte ihm die Hand und wünschte ihm herzlich Lebewohl. Das Bewußtsein, daß Sir James Will geringschätze und sich unartig gegen ihn benehme, weckte das Gefühl ihrer Würde und ihrer Entschlossenheit; in ihrem Betragen lag keine Spur von Verwirrung, und als Will das Zimmer verlassen hatte, sagte sie zu Sir James mit einem so sichern Ausdruck ruhiger Selbstbeherrschung, »Wie geht es Celien,« daß er sich genöthigt sah, seinen Verdruß ganz verbergen.

Und wozu hätte er sich auch anders benehmen sollen? In der That war Sir James der bloße Gedanke an die Möglichkeit eines Liebesverhältnisses zwischen Ladislaw und Dorotheen so unangenehm, daß er selbst nur wünschen konnte, eine Aeußerung des Mißfallens zu vermeiden, in welcher eine Anerkennung jener unangenehmen Möglichkeit gelegen haben würde. Ich zweifle aber, daß er, wenn ihn Jemand gefragt hätte, warum ihm dieser Gedanke so widerwärtig sei, im ersten Augenblick etwas Erschöpfenderes oder Präciseres zu sagen gewußt haben würde, als › der Ladislaw!‹ – bei näherm Nachdenken würde er dann aber vielleicht darauf hingewiesen haben, daß Casaubon's Codicill, indem es die Möglichkeit einer Heirath zwischen Dorotheen und Will nur unter der Bedingung einer Vermögenseinbuße zulasse, hinreichend sei, um jeden Verkehr Beider mit einander als unschicklich erscheinen zu lassen. Seine Abneigung gegen diesen Verkehr war nur um so stärker, je unfähiger er sich fühlte, etwas dagegen zu unternehmen.

Sir James ahnte nicht, welchen Einfluß er durch sein bloßes Erscheinen geübt hatte. Sein Eintritt in jenem Augenblick wirkte auf Will wie eine plötzliche Verkörperung der stärksten Gründe, die seinen Stolz zu einer widerstrebenden, ihn von Dorotheen fern haltenden Gewalt machen mußten.



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