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Neuntes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 51 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 9):

Party is Nature too, and you shall see
By force of Logic how they both agree:
The Many in the One, the One in Many;
All is not Some, nor Some the same as Any:
Genus holds species, both are great or small;
One genus highest, one not high at all;
Each species has its differentia too,
This is not That, and He was never You,
Though this and that are AYES, and you and he
Are like as one to one, or three to three.


Noch war kein Geschwätz über Casaubon's Testament zu Ladislaw gedrungen; die Luft war erfüllt von der Auflösung des Parlaments und den bevorstehenden Wahlen, wie auf den alten Kirmessen und Märkten, wenn sie von dem verworrenen Geschrei der ihre Schaustellungen anpreisenden Künstler wiederhallten, von kleineren Geräuschen keine Notiz genommen wurde. Die famose ›trockene Wahl‹ stand bevor, bei welcher die tiefe Erregung der Gefühle des Volks an dem niedrigen Stand des Fluthmessers der Getränke bemessen werden konnte.

Will war um diese Zeit einer der vielbeschäftigtsten Menschen, und obgleich Dorothea's Wittwenthum ihm fortwährend im Kopfe lag, war er doch so weit davon entfernt zu wünschen, sich über diesen Gegenstand zu unterhalten, daß er, als Lydgate ihn aufsuchte, um ihm Mittheilungen in Betreff der Lowicker Pfründe zu machen, etwas verdrießlich antwortete:

»Warum lassen Sie mich bei der Sache nicht aus dem Spiel? Ich sehe Frau Casaubon nie und werde sie auch schwerlich zu sehen bekommen, da sie in Freshitt ist. Dahin komme ich nie. Es ist Tory-Boden, auf dem ich und der ›Pionier‹ ungefähr so gern gesehen sind wie ein Wilddieb und seine Büchse.«

Will war nämlich nur um so empfindlicher geworden, seit er bemerkt hatte, daß Herr Brooke, statt wie bisher in ihn zu dringen, öfter nach Tipton zu kommen, als ihm selbst angenehm war, es jetzt darauf anzulegen schien, daß er so selten wie möglich komme. Das war eine schlaue Concession Brooke's an Sir James' entrüstete Vorstellungen; und Will, der den leisesten Wink dieser Art verstand, schloß, daß er Dorothea's wegen von Tipton-Hof ferngehalten werden solle.

Blickten also ihre Verwandten mit argwöhnischen Augen auf ihn? Ihre Besorgnisse waren ganz überflüssig; sie irrten sich sehr, wenn sie sich einbildeten, daß er sich als ein armer Abenteurer eindrängen und den Versuch machen werde, die Gunst einer reichen Frau zu gewinnen.

Noch nie hatte Will so tief in den Abgrund geblickt, der ihn von Dorotheen trennte als jetzt, wo er am Rande desselben stand und sie an der andern Seite stehen sah. Nicht ohne zornige Erregung fing er an sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, die Gegend ganz zu verlassen; er sagte sich, daß es unmöglich für ihn sein würde, noch ferner ein Interesse für Dorothea zu erkennen zu geben, ohne sich unangenehmen Beschuldigungen – vielleicht gar von ihr selbst, deren Gemüth Andere zu vergiften suchen würden, auszusetzen.

»Wir sind für immer getrennt,« sagte sich Will. »Ich könnte ebenso gut in Rom wohnen, sie würde darum nicht weiter von mir entfernt sein.«

Aber was wir unsere Verzweiflung nennen, ist oft nur der schmerzlich leidenschaftliche Ausdruck einer Hoffnung, der es an Nahrung fehlt. Es gab Gründe genug für ihn, nicht fortzugehen – öffentliche Gründe, seinen Posten in dieser Krisis nicht aufzugeben, Herrn Brooke nicht zu verlassen in einem Augenblick, wo er für seine Wahl eingepaukt werden mußte und wo es direct und indirect so viel für die Vorbereitungen zu den Wahlen zu thun gab. Will konnte nicht wünschen, seine eigene Schachfigur in der Hitze des Gefechts im Stich zu lassen, bei welchem jeder Kandidat für die gute Sache, wenn er auch eine noch so geringe Charakterstärke und Intelligenz besaß, für die Majorität den Ausschlag geben konnte. Es war keine leichte Aufgabe, Herrn Brooke einzupauken und ihn fortwährend mit der Idee zu durchdringen, daß er sich feierlich verpflichten müsse, für die gegenwärtige Reform-Bill zu stimmen, anstatt auf seiner Unabhängigkeit und seinem Rechte zu bestehen, in jedem Augenblick auf der Bahn des Fortschritts anzuhalten.

Farebrother's Prophezeihung, daß man im entscheidenden Augenblick mit einem vierten Kandidaten hervortreten werde, war noch nicht in Erfüllung gegangen. Weder die ›Gesellschaft für die Wahl eines Parlamentscandidaten‹ noch irgend eine andere Macht, welche auf die Sicherung einer reformfreundlichen Majorität bedacht war, fand eine Veranlassung zur Einmischung, so lange es einen zweiten Reformcandidaten wie Herrn Brooke gab, der die Kosten seiner Wahl selbst bestreiten würde. Und der Kampf drehte sich ausschließlich um Pinkerton, das alte Tory-Mitglied, Bagster das neue Whig-Mitglied, welches bei den letzten Wahlen gewählt worden war, und Brooke, das künftige unabhängige Mitglied, das sich nur für diese besondere Gelegenheit binden würde. Herr Hawley und seine Partei waren entschlossen, Alles aufzubieten, um Pinkerton's Wahl durchzusetzen, und Herrn Brooke's Wahl konnte nur zu Stande kommen, sofern ein Theil der Abstimmenden nur für ihn allein stimmen und damit Bagster fallen lassen würde oder sofern es gelänge, die bisherigen Tom-Stimmen in Reformstimmen umzuprägen. Natürlich war dieses letztere Mittel vorzuziehen.

Aber diese Aussicht auf die Bekehrung von Stimmen bildete eine neue Gefahr der Ablenkung für Herrn Brooke; seine Annahme, daß auf schwankende Votanten auch schwankende Angaben einen verlockenden Reiz üben würden, und sein Hang, sich immer wieder an widersprechenden Argumenten, je nachdem sie in seinem Gedächtnisse auftauchten, zu stoßen, machten Ladislaw viel zu schaffen.

»Sie wissen, man muß eine gewisse Taktik in diesen Dingen beobachten,« sagte Herr Brooke; »man muß den Leuten auf halbem Wege entgegenkommen, dabei aber mit seinen Ideen etwas zurückhalten, indem man sagt: ›Nun, die Sache hat etwas für sich‹ und so dergleichen. Ich stimme Ihnen darin bei, daß dies eine besondere Gelegenheit ist, – das Land mit einem eigenen Willen, politische Vereine und was dergleichen mehr ist –, aber bisweilen treiben wir die Dinge doch auch zu sehr auf die Spitze, Ladislaw. So zum Beispiel mit diesen Hauseigenthümern von zehn Pfund: warum zehn? Irgendwo eine Grenze ziehen – ja; aber warum gerade bei zehn? Sehen Sie, das ist eine schwierige Frage, wenn man näher darauf eingeht.«

»Natürlich ist sie das,« entgegnete Will ungeduldig, »aber wenn Sie warten wollten, bis wir eine streng logische Bill bekommen, müßten Sie sich als Revolutionär geriren, und dann würde Middlemarch Sie, glaube ich, nicht wählen. Zum Laviren ist es jetzt keine Zeit.«

Herr Brooke war am Ende jeder Unterhaltung regelmäßig mit Ladislaw einverstanden, der ihm noch immer als eine Art von Burke mit einem Beisatz von Shelley erschien; aber nach einer Weile machte sich dann wieder die überlegene Weisheit seiner eigenen Methoden bei ihm geltend und er knüpfte wieder an die Anwendung derselben die schönsten Hoffnungen.

In diesem Stadium der Vorbereitungen zu den Wahlen war er in der besten Stimmung, welche ihn selbst bei großen Geldauslagen nicht verließ. Denn seine Fähigkeit, Andere zu überzeugen und zu überreden, war bisher noch auf keine schwerere Probe gestellt worden, als auf die einer kleinen Ansprache in der Eigenschaft eines Vorsitzenden bei einer Wählerversammlung, welcher den Wählern andere Redner vorzustellen hat, oder eines Dialogs mit einem Middlemarcher Wähler, aus welchem er mit der Ueberzeugung hervorging, daß er ein geborner Taktiker und daß es schade sei, daß er sich nicht früher mit dieser Art von Angelegenheiten befaßt habe.

Gleichwohl konnte er sich nicht ganz verhehlen, daß er bei einer Unterhaltung mit Herrn Mawmsey den Kürzeren gezogen habe – Herrn Mawmsey, der ein Hauptrepräsentant jener großen socialen Macht des Detailhandels und natürlich einer der fraglichsten Wähler in der Stadt war; er war für seine Person entschlossen, Reformer und Antireformer mit der gleichen Qualität von Thee und Zucker zu bedienen und sich unparteiisch mit beiden einverstanden zu erklären, und hielt wie die mittelalterlichen Stadtbürger dafür, daß die Nothwendigkeit, Parlamentsmitglieder zu wählen, eine große Last für eine Stadt sei, da, selbst wenn es nicht gefährlich wäre, allen Parteien vor der Wahl Hoffnung zu machen, doch schließlich immer die peinliche Nothwendigkeit eintreten würde, respectable Leute, die ein Conto bei ihm hatten, zu enttäuschen.

Er war gewöhnt, große Ordres von Herrn Brooke von Tipton zu erhalten, aber andererseits saßen auch in Pinkerton's Wahlcomité Viele, deren Ansichten ein nicht geringeres Gewicht von Gewürzkrämerwaaren für sich hatten. Herr Mawmsey hatte sich, in der Meinung, daß Herr Brooke als ein ›nicht allzugescheidter Mann‹ um so geneigter sein werde, einem Gewürzkrämer sein unter dem Druck der Umstände abgegebenes feindliches Votum zu verzeihen, in seinem hinter dem Laden gelegenen Wohnzimmer vertraulich gegen denselben ausgesprochen.

»Man muß die Reform aus dem Gesichtspunkte eines Familienvaters ansehen, Herr Brooke,« sagte er, indem er mit dem Kleingeld in seiner Tasche klimperte und dabei leutselig lächelte. »Wird die Reform meiner Frau etwas nützen und sie in den Stand setzen, sechs Kinder zu erziehen, wenn ich nicht mehr bin? Ich stelle die Frage nur so; denn ich weiß ja, wie die Antwort lauten muß. Nun gut, Herr Brooke. Ich frage Sie, was ich als Gatte und Vater thun soll, wenn Herren zu mir kommen und sagen: ›Thun Sie, was Sie wollen, Mawmsey; aber wenn Sie gegen uns stimmen, so werde ich meinen Bedarf an Gewürzkrämerwaaren anderswo hernehmen; wenn ich mir Zucker in meinen Thee thue, mag ich mir gern dabei sagen können, daß ich dem Lande durch die Unterstützung von Geschäftsleuten der rechten Partei einen Dienst erweise.‹ Das ist mir wörtlich von dem Stuhl aus, auf dem Sie sitzen, Herr Brooke, gesagt worden. Ich meine nicht von Ihrer ehrenwerthen Person, Herr Brooke.«

»Nein, nein, nein – das ist engherzig, wissen Sie. Bis mein Butler bei mir über Ihre Waaren Klage führt, Herr Mawmsey,« sagte Herr Brooke beschwichtigend, »bis ich höre, daß Sie schlechten Zucker, schlechte Gewürze und was dergleichen mehr ist, schicken, werde ich ihn nie zu einem andern Gewürzkrämer gehen heißen.«

»Ergebener Diener, Herr Brooke, sehr verbunden,« sagte Herr Mawmsey in dem Bewußtsein, daß der politische Horizont sich ein wenig aufkläre »Es müßte ein Vergnügen sein, für einen Herrn zu stimmen, der so ehrenwerthe Gesinnungen zu erkennen giebt.«

»Nun Sie wissen, Herr Mawmsey, Sie werden es als das Richtige erkennen, sich auf unsere Seite zu stellen. Diese Reform wird allmälig Jedermann's Interessen berühren – es ist eine durch und durch populäre Maßregel – eine Art von A. B. C., wissen Sie, das voran gehen muß, bevor das Uebrige folgen kann. Ich bin ganz mit Ihnen darin einverstanden, daß Sie die Sache aus dem Gesichtspunkte eines Familienvaters ansehen; aber nun denken Sie an die Bedeutung der öffentlichen Meinung. Wir sind Alle eine Familie, wissen Sie. – Und nun bedenken Sie so ein Votum, das kann ja das Glück eines Menschen am Cap machen – man kann gar nicht wissen, was die Wirkung eines Votums sein wird,« schloß Herr Brooke, dem zu Muthe war, als habe er sich ein bischen zu weit auf die offene See gewagt, der die Sache aber noch ganz plaisirlich fand.

Aber Herr Mawmsey antwortete im Tone entschiedener Zurückweisung:

»Bitte um Vergebung, Herr Brooke; aber darauf kann ich mich nicht einlassen. Wenn ich meine Stimme abgebe, muß ich wissen was ich thue. Ich muß mir, mit Ihrer Erlaubniß klar machen, was die Wirkung auf meine Kasse und mein Hauptbuch sein wird. Ich gebe zu, daß kein Mensch Preise voraussagen kann, und es kann Einem passiren, daß Corinthen, eine Waare, die sich nicht hält, wenn man sie eben eingekauft hat, plötzlich fallen – ich habe selbst nie recht dahinter kommen können, woran das liegt, und das ist recht demüthigend für den menschlichen Stolz. Aber was Sie da von einer Familie sagen – so giebt es doch, denk' ich, Schuldner und Gläubiger, und das werden sie nicht wegreformiren, sonst würde ich dafür stimmen, daß die Dinge bleiben, wie sie sind. Wenige Menschen haben es, persönlich gesprochen, weniger nöthig, nach Veränderungen zu schreien, als ich mit meiner Familie. Ich gehöre nicht zu denen, die nichts zu verlieren haben; ich rede von meiner Respectabilität als Bürger und Geschäftsmann und durchaus nicht von Ihrer ehrenwerthen Person und Kundschaft, welche Sie mir, wie Sie vorhin zu bemerken so gütig waren, nicht entziehen wollen, gleichviel ob ich für Sie stimme oder nicht, so lange die Waaren, die Sie von mir beziehen, gut sind.«

Nach dieser Unterhaltung ging Herr Mawmsey zu seiner Frau hinauf und rühmte sich, daß er für Brooke von Tipton doch ein bischen zu fein gewesen sei und daß er sich jetzt weniger um die Wahlen kümmern werde.

Herr Brooke seinerseits vermied es bei dieser Gelegenheit, sich gegen Ladislaw, der sich nur zu gern überredete, daß er in keiner andern Weise als durch Argumente für die Wahlen agitire und daß er dabei kein verächtlicheres Werkzeug als seine Einsicht zur Anwendung bringe, seiner Taktik zu rühmen. Herr Brooke hatte natürlich auch seine Agenten, welche die Middlemarcher Wähler aus dem Grunde kannten und es verstanden, ihre Unwissenheit für die Partei der Reformfreunde durch Mittel zu gewinnen, welche den von der Gegenpartei zur Gewinnung dieser Unwissenheit zur Anwendung gebrachten Mitteln merkwürdig ähnlich sahen.

Will schloß gegen diese Vorgänge absichtlich Augen und Ohren. In gewissen Momenten könnte das Parlament, wie alles Uebrige das zu unserm Leben gehört, bis herab zu unserer Nahrung und Kleidung, kaum seinen Fortgang nehmen, wenn unsere Einbildungskraft sich gewisse Dinge allzu lebhaft vergegenwärtigen wollte. Will sagte sich, es gebe der Leute mit schmutzigen Händen, die dazu da seien, schmutzige Arbeit zu verrichten, genug in der Welt, und er beruhigte sich dabei, daß sein Antheil an der Durchbringung des Herrn Brooke ein ganz harmloser sein würde.,

Ob es ihm je gelingen werde, in dieser Weise zur Herstellung einer Majorität für die gute Sache beizutragen, war ihm selbst sehr zweifelhaft. Er hatte für Herrn Brooke verschiedene Reden und Notizen zu Reden niedergeschrieben, hatte aber zu bemerken angefangen, daß der Geist des Herrn Brooke, wenn ihm die Last einer zusammenhängenden Gedankenreihe aufgebürdet werde, geneigt sei, diese Gedankenreihe zu durchbrechen und daß er den Faden dann nicht leicht wieder finde. Dokumente sammeln und sich des Inhalts dieser Dokumente im richtigen Augenblick erinnern, sind zwei sehr verschiedene Arten, seinem Lande zu dienen. Die einzige Art, wie Herr Brooke genöthigt werden konnte, im rechten Augenblick an die rechten Argumente zu denken war, ihn so lange mit denselben zu bearbeiten, bis sie von seinem Gehirne völlig Besitz ergriffen hatten. Aber in dieser Besitzergreifung eben lag die Schwierigkeit, da vorher schon so viele andere Dinge in dieses Gehirn aufgenommen worden waren. Herr Brooke selbst bemerkte, daß seine eigenen Ideen ihm so zu sagen im Wege ständen, wenn er rede.

Wie dem aber auch sein mochte, es mußte sich bald zeigen, mit welchem Erfolge Ladislaw Herrn Brooke eingepaukt hatte; denn noch vor dem Wahltage sollte sich Herr Brooke vor den würdigen Wählern von Middlemarch von dem Balcon des ›weißen Hirsch‹ herab vernehmen lassen, welcher sehr vortheilhaft an einer Ecke des Marktes gelegen war, so daß er einen großen freien Platz und zwei auf einander stoßende Straßen beherrschte.

Es war ein schöner Maimorgen, und Alles schien sich hoffnungsvoll anzulassen; es war Aussicht vorhanden zu einer Verständigung des Bagster'schen Wahlcomité's mit dem Brooke's, welchem letzteren Comité Herr Bulstrode als Vorsitzender, Herr Standish als ein liberaler Advokat und Fabrikanten wie Herr Plymdale und Herr Vincy eine Solidität verliehen, welche Herrn Hawley und seinen Genossen, die im ›Grünen Drachen‹ für Pinkerton saßen, beinahe das Gegengewicht hielt.

Brooke, der sich bewußt war, die Wirkung der gegen ihn gerichteten ›Trompetenstöße‹ durch die während der verflossenen sechs Monate auf seinem Gute vorgenommenen Reformen abgeschwächt zu haben und welchen, als er des Morgens in die Stadt fuhr, einige Beifallsrufe begrüßten, schlug das Herz ziemlich leicht unter seiner lederfarbenen Weste. Aber bei kritischen Gelegenheiten kommt es oft vor, daß alle Momente dem Betreffenden in eine behagliche Ferne gerückt scheinen bis auf den letzten.

»Das läßt sich ja gut an, wie?« sagte Herr Brooke, als eine immer dichtere Masse sich um den Gasthof sammelte. »Auf alle Fälle werde ich eine gute Zuhörerschaft haben. Ich liebe das – diese Art von Publikum, das aus den eigenen Nachbaren besteht, wissen Sie.«

Die Weber und Gerber von Middlemarch hatten, ungleich Herrn Mawmsey, nie an Herrn Brooke in der Eigenschaft eines Nachbarn gedacht und hatten kein innigeres Verhältniß zu ihm, als wenn er direkt von London gekommen wäre. Sie hörten jedoch ohne große Störung die Redner mit an, welche den Candidaten introducirten, wiewohl einer unter diesen, – eine politische Persönlichkeit aus Brassing, die gekommen war, um Middlemarch über seine Pflichten aufzuklären –, so ausführlich sprach, daß man nur mit Sorge daran denken konnte, was der Candidat nach diesem Vorredner noch werde sagen können.

Inzwischen wurde das Gedränge auf der Straße immer größer, und als sich die Rede des Politikers von Brassing ihrem Ende näherte, verspürte Herr Brooke eine merkliche Veränderung in seinen Empfindungen, während er noch immer mit seiner Lorgnette spielte, in vor ihm liegenden Documenten kramte und Bemerkungen mit seinem Comité austauschte, wie ein Mann, dem der Augenblick des Auftretens gleichgültig ist.

»Ich will noch ein Glas Sherry trinken, Ladislaw,« sagte er mit behaglicher Miene zu Will, der dicht hinter ihm stand und ihm sofort das vermeintliche Stärkungsmittel reichte.

Aber das Mittel war schlecht gewählt; denn Herr Brooke war ein enthaltsamer Mann und das Trinken eines zweiten Glases Sherry nicht lange nach dem ersten wirkte auf sein Nervensystem in einer Weise, die mehr geeignet war, seine geistige Energie zu lähmen als zu steigern. Habt Mitleid mit ihm! Wie viele Männer machen sich unglücklich durch schöne Reden, die sie aus rein persönlichen Gründen halten! während Herr Brooke seinem Lande zu dienen wünschte, indem er als Candidat für das Parlament auftrat – was freilich auch aus persönlichen Gründen geschehen kann, was aber, wenn es einmal unternommen ist, das Redenhalten absolut unerläßlich macht.

In Betreff des Anfangs seiner Rede war Herr Brooke durchaus nicht ängstlich; damit, war er überzeugt, würde es nicht die geringste Schwierigkeit haben; die Einleitung würde ihm so zierlich von den Lippen fließen wie ein paar Verse von Pope. Das Einschiffen war leicht, aber die Aussicht auf die offene See, auf die er vielleicht hinausschiffen würde, hatte etwas Beunruhigendes.

»Und dann die Fragen!« raunte ihm der eben aus seinem Magen aufsteigende Dämon zu, »vielleicht daß ein Wähler Fragen in Betreff der einzelnen Paragraphen der Bill an mich stellt. – Ladislaw,« fuhr er laut fort, »reichen Sie mir doch einmal das Memorandum über die einzelnen Paragraphen der Bill.«

Als Herr Brooke auf den Balcon hinaustrat, waren die Beifallsrufe völlig laut genug, um dem Geheul, dem Grunzen, dem Eselsgeschrei und andern Aeußerungen der feindlichen Partei das Gegengewicht zu halten; denn diese waren so mäßig, daß Herr Standish, der sicherlich ein alter Praktikus war, seinem Nachbarn ins Ohr flüsterte:

»Bei Gott, das sieht gefährlich aus. Hawley führt noch etwas im Schilde.«

Aber die Beifallsrufe hatten für's Erste etwas Ermunterndes, und kein Candidat hätte liebenswürdiger aussehen können als Herr Brooke, der (seine Notizen in der Brusttasche) die linke Hand auf das Geländer des Balcons legte und sich mit der rechten an seiner Lorgnette zu schaffen machte. Das Frappanteste in seiner Erscheinung war seine lederfarbene Weste, sein kurzgeschnittenes blondes Haar und sein indifferenter Gesichtsausdruck.

Er fing seine Rede ziemlich zuversichtlich an.

»Meine Herren – Wähler von Middlemarch!«

Das war so sehr die rechte Anrede, daß eine kleine Pause nach derselben ganz natürlich schien.

»Ich freue mich ungemein hier zu stehen – noch nie in meinem Leben bin ich so stolz und glücklich gewesen – nie so glücklich, wissen Sie.«

Das war eine kühne Redefigur, aber nicht gerade das richtige; denn unglücklicherweise war ihm die vorbereitete Einleitung entschlüpft – selbst Pope'sche Verse können uns wie Nebelbilder zerrinnen, wenn uns die Furcht packt und ein Glas Sherry wie Rauch in unsere Ideen eindringt.

Ladislaw, der hinter dem Redner am Fenster stand, dachte bei sich: »Jetzt ist Alles vorbei. Die einzige Chance ist, daß, wie ja das Beste nicht immer hinreicht, so vielleicht hier einmal das Herumtappen sich genügend erweist.«

Inzwischen kam Herr Brooke, da ihm alle andern Fäden, an denen er seine Rede hätte weiterspinnen können, abhanden gekommen waren, wieder auf seine Person und seine Eigenschaften zu reden – immer ein passender anmuthiger Gegenstand für einen Candidaten.

»Ich bin Ihr naher Nachbar, liebe Freunde – Sie kennen mich schon lange als Friedensrichter – ich habe mich immer ziemlich viel mit öffentlichen Fragen beschäftigt – Maschinen zum Beispiel und das Zerstören von Maschinen – Viele unter Ihnen haben etwas mit Maschinen zu thun und ich habe mich seit Kurzem mit diesen Dingen beschäftigt. Mit dem Zerstören von Maschinen geht es nicht, wissen Sie; Alles muß seinen Fortgang nehmen – Gewerbe, Fabriken, Handel, der Austausch von Waaren und was dergleichen mehr ist – seit Adam Smith muß das seinen Fortgang nehmen. Wir müssen unsere Blicke über den ganzen Erdkreis schweifen lassen: – ›Beobachtung mit weitem Blicke muß ihr Auge überall hinrichten von China bis Peru‹, wie Jemand bemerkt hat, ich glaube Johnson – ›der Wanderer‹, wissen Sie. Und das habe ich bis zu einem gewissen Punkte gethan – nicht soweit wie Peru; aber ich bin nicht immer zu Hause geblieben – ich sah, daß es damit nicht gehen würde. Ich bin im Orient gewesen, wohin einige Ihrer Middlemarcher Waaren gehen – und dann wieder in der Ostsee. In der Ostsee, wissen Sie.«

Auf dem Wege dieser Erinnerungen aus seinem Leben wäre Herr Brooke wohl von den entferntesten Meeren ohne Fährlichkeit wieder auf sich selbst zurückgekommen, wenn nicht der Feind ein teuflisches Verfahren ins Werk gesetzt hätte. In einem und demselben Augenblick war über den Häuptern der Menge, Herrn Brooke gegenüber und in einer Entfernung von etwa dreißig Schritten von ihm, ein Abbild seiner selbst, mit lederfarbener Weste, Lorgnette und indifferenter Physiognomie, auf Leinwand gemalt erschienen und hatte sich anscheinend in der Luft gleich einem Kuckucksruf ein papageienartiges, die Stimme des Polichinell nachahmendes Echo seiner Worte vernehmen lassen.

Jedermann blickte nach den offenen Fenstern der Häuser an den gegenüberliegenden Ecken der hier zusammenlaufenden Straßen; aber dieselben waren entweder leer oder mit lachenden Zuhörern besetzt; das harmloseste Echo hat etwas koboldartig Höhnendes, wenn es die Worte eines ernsthaft und im Zusammenhange Redenden begleitet, das hier ertönende Echo war aber nichts weniger als harmlos, wenn es den Worten nicht mit der Genauigkeit eines natürlichen Echos folgte, so lag in der Wahl der Worte, die–es nachahmte, eine besondere Bosheit.

Als das Echo rief: »Die Ostsee, wissen Sie,« wurde das Lachen, welches durch die Reihen der Zuhörer ging, zu einem allgemeinen Geschrei, und dieses Lachen würde, wenn nicht die Rücksichten auf die Partei und die große öffentliche Angelegenheit, welche die Verwickelung der Verhältnisse mit ›Brooke von Tipton‹ identificirt hatte, hier ermäßigend gewirkt hätten, vielleicht sein eigenes Comité ergriffen haben.

Herr Bulstrode fragte in einem Ton des Vorwurfs, wo denn die neue Polizei sei; aber eine Stimme ließ sich doch nicht gut arretiren, und ein Angriff auf das Abbild des Candidaten würde von sehr zweifelhaftem Werthe für die Partei desselben gewesen sein, da ein solcher Angriff doch gar zu leicht den muthmaßlichen Absichten Hawley's und seiner Partei, die Figur zu bewerfen, entsprochen hätte.

Herr Brooke selbst war vorerst nicht in der Lage, etwas anderes gewahr zu werden, als daß ihm seine Ideen sämmtlich abhanden gekommen waren; es sauste ihm sogar ein wenig vor den Ohren, und er war unter allen Versammelten der Einzige, der das Echo noch nicht deutlich vernommen und sein eigenes Abbild noch nicht genau gesehen hatte. Es giebt wenige Dinge, welche das Wahrnehmungvermögen mehr paralysiren als nervöse Angst, wenn wir reden sollen und nicht recht wissen, was. Herr Brooke hörte das Lachen; aber theils war er auf einige Versuche der Tories, Störungen zu bereiten, gefaßt gewesen, theils regte ihn in diesem Augenblick das kitzelnde und stachelnde Gefühl, daß seine Einleitung im Begriff stehe, sich wieder einzustellen, um ihn von der Ostsee abzuholen, noch ganz besonders auf.

»Das erinnert mich,« fuhr er fort, indem er die eine Hand mit behaglicher Miene in die Rocktasche steckte –»wenn es eines Präcedenzfalles bedurfte, wissen Sie – aber es bedarf nie eines Präcedenzfalles für die gute Sache – aber da ist z. B. Chatham, ich kann nicht sagen, daß ich Chatham unterstützt haben würde oder Pitt, den jüngern Pitt – er war kein Mann von Ideen, und wir brauchen Ideen, wissen Sie.«

»Hol' der Henker Ihre Ideen! Wir brauchen die Bill!« rief eine laute rauhe Stimme aus der unten stehenden Menge.

Sofort wiederholte der unsichtbare Polichinell, der bisher den Worten des Herrn Brooke gefolgt war: »Hol' der Henker Ihre Ideen! Wir brauchen die Bill!«

Dieses Mal erschallte ein noch lauteres Gelächter, und zum ersten Mal vernahm Herr Brooke, der in diesem Augenblicke selbst schwieg, deutlich das höhnende Echo. Aber dasselbe schien ja den Ruf, der ihn unterbrochen hatte, lächerlich machen zu wollen und hatte in diesem Lichte betrachtet etwas Ermuthigendes; er erwiderte daher mit selbstgefälliger Freundlichkeit:

»In Ihrer Bemerkung liegt etwas Wahres, lieber Freund, und wozu anders sind wir hier zusammengekommen, als um uns gegen einander auszusprechen – Freiheit der Meinungen, Freiheit der Presse, Freiheit – und was dergleichen mehr ist? Die Bill, wissen Sie – Sie sollen die Bill haben, –«

Nach diesen Worten machte Herr Brooke eine kleine Pause, um seine Lorgnette auf die Nase zu stecken und sein Notizblatt mit dem Bewußtsein aus der Brusttasche zu ziehen, praktisch zu Werke zu gehen und jetzt auf Einzelheiten kommen zu können.

Der unsichtbare Polichinell ließ sich wieder vernehmen: »Sie sollen die Pille haben, Herr Brooke: für gelieferte Wahlumtriebe und einen Sitz außerhalb des Parlaments fünftausend Pfund, sieben Shillings und vier Pence.«

Dieses Mal wurde Herr Brooke, inmitten des schallenden Gelächters ganz roth, ließ seine Lorgnette fallen und sah, als er verwirrt um sich blickte, sein Abbild, welches jetzt näher an ihn herangerückt war. Im nächsten Augenblick sah er dasselbe schmerzlich mit Eigelb bespritzt. Ihm schwoll die Galle ein wenig und mit erhobener Stimme sagte er:

»Narrenspossen, schlechte Späße, das Zeugniß der Wahrheit lächerlich machen – das ist Alles ganz gut,« – in diesem Augenblicke platzte ein Ei sehr unliebsam auf Herrn Brooke's Schulter, während das Echo rief: »Das ist Alles ganz gut.« Dann kam ein Hagel von Eiern, mit denen zwar hauptsächlich nach dem Abbilde gezielt wurde, die aber gelegentlich, wie zufällig, das Original trafen.

Ein Strom von neu Hinzugekommnen drängte sich durch die Menge; das Flöten, Heulen, Brüllen und Pfeifen verursachte nur einen um so größern Tumult, als die ursprünglich Versammelten in dem Bemühen, die Herandrängenden abzuhalten, ihr Geschrei verdoppelten. Keine menschliche Stimme würde stark genug gewesen sein, den Tumult zu übertönen, und Herr Brooke, der sich mit dem Inhalt der auf ihn gefallenen Eier unangenehm beschmiert sah, hielt nicht länger Stand.

Die Niederlage würde etwas weniger Kränkendes gehabt haben, wenn sie das Ergebniß eines weniger knabenhaften Treibens gewesen wäre: ein ernsthafter Angriff, von welchem der Zeitungsreporter ›versichern kann, daß derselbe die Rippen des gelehrten Herrn gefährdet habe‹, oder mit aller Achtung bezeugen kann, ›daß die Sohlen der Stiefel des gedachten Herrn über dem Geländer sichtbar gewesen seien‹, ist vielleicht seiner Natur nach tröstlicher.

Herr Brooke trat wieder in das Versammlungszimmer des Comité und sagte in möglichst gleichgültigem Tone:

»Das ist ein bischen zu arg, wissen Sie. Ich würde mir allmälig bei dem Volke Gehör verschafft haben – aber sie haben mir keine Zeit gelassen. Nach und nach würde ich auf die Bill gekommen sein, wissen Sie,« fügte er mit einem Seitenblicke auf Ladislaw hinzu: »Indessen am Wahltage wird schon Alles in Ordnung kommen.«

Das Comité aber war keineswegs der Ansicht, daß Alles in Ordnung kommen werde; im Gegentheil, die Mitglieder desselben sahen ziemlich verdrießlich aus, und der Politiker aus Brassing schrieb geschäftig, als ob er über neuen Plänen brüte.

»Es war Bowyer,« sagte Herr Standish ausweichend. »Ich weiß es so gewiß, als ob er sich vorher hätte ankündigen lassen. Er ist ein famoser Bauchredner und hat seine Sache bei Gott ausgezeichnet gemacht. Hawley hat ihn kürzlich zu Tisch gehabt; der Bowyer ist ein talentvoller Kerl.«

»Sie haben ihn aber nie gegen mich erwähnt Standish, wissen Sie, sonst hätte ich ihn zu Tisch eingeladen,« sagte der arme Herr Brooke, der in letzter Zeit sehr viele Einladungen zum Besten seines Landes hatte ergehen lassen.

»Es giebt keinen jämmerlicheren Wicht in Middlemarch als Bowyer,« sagte Ladislaw entrüstet, »aber es scheint, daß die jämmerlichen Wichte immer den Ausschlag geben sollen.«

 

Will war ganz außer sich vor Verdruß sowohl über sich selbst als über seinen ›Chef‹, und er ging mit dem, wenn auch nicht ganz festen, Entschluß, den ›Pionier‹ mitsammt Brooke auf einmal abzuschütteln, auf sein Zimmer und schloß sich ein.

Warum sollte er bleiben? Wenn die unüberschreitbare Kluft zwischen ihm und Dorothea sich jemals schließen sollte, so war das viel eher denkbar, wenn er fortging und sich eine ganz neue Stellung schaffte, als wenn er hier blieb und als Brooke's Handlanger allmälig in verdiente Mißachtung gerieth.

Dann träumte er in der Weise der Jugend von den Wundern, die er würde verrichten können – in fünf Jahren vielleicht. – Als politischer Schriftsteller, als politischer Redner, würde er sich jetzt, wo das öffentliche Leben im Begriff stand, sich naturgemäßer zu entwickeln und in weitere Kreise einzudringen, besser geltend machen können und sich in einer solchen Thätigkeit vielleicht so auszeichnen, daß es nicht mehr scheinen könnte, als bitte er Dorothea, zu ihm herabzusteigen.

Fünf Jahre – wenn er sich nur Gewißheit darüber verschaffen könnte, daß sie sich aus ihm mehr als aus einem Andern mache; wenn er sie nur wissen lassen könnte, daß er sich von ihr fern halten wolle, bis er ihr, ohne sich zu demüthigen, seine Liebe gestehen könne – dann könnte er mit leichtem Herzen davon gehen und eine Carriere beginnen, deren glücklicher Erfolg der Vorstellungsweise eines fünfundzwanzigjährigen Menschen, in welcher das Talent den Ruhm und der Ruhm alle andern entzückenden Dinge mit sich führt, so gut wie gesichert scheinen mußte.

Er war gewandt im Reden und Schreiben; er vermochte, wenn er wollte, jeden Gegenstand zu beherrschen, und er war entschlossen, sich immer auf die Seite der Vernunft und der Gerechtigkeit zu stellen und für diese mit allem Eifer zu wirken. Warum sollte er nicht eines Tages über die Schultern der Massen mit dem Bewußtsein hervorragen, daß er sich diese Auszeichnung wohl erworben habe?

Ja, er wollte Middlemarch verlassen, nach London gehen und sich durch das ›Studium der Rechte‹ in den Stand setzen, ein berühmter Mann zu werden.

Aber nicht sofort; nicht eher, bis eine Art von Verständigung zwischen ihm und Dorotheen stattgefunden haben würde. Er konnte sich nicht beruhigt fühlen, bis sie wissen werde, weshalb er, selbst wenn er der Mann wäre, den sie heirathen möchte, sie nicht heirathen würde. Er fand daher, daß er noch einstweilen auf seinem Posten ausharren und Herrn Brooke noch ein wenig länger ertragen müsse.

Er fand aber bald Grund zu argwöhnen, daß Herr Brooke ihm in dem Wunsche, ihre Verbindung abzubrechen, zuvorgekommen sei. Deputationen von außen und Stimmen von innen brachten diesen Philanthropen dazu, eine für ihn ungewöhnlich energische Maßregel zum Besten der Menschheit zu ergreifen; nämlich sich zu Gunsten eines andern Candidaten, welchem er die Ausbeutung der von ihm ins Werk gesetzten Wahlvorbereitungsmaschinerie überließ, zurückzuziehen. Er selbst nannte das eine energische Maßregel, bemerkte aber dabei, daß seine Gesundheit Aufregung weniger gut ertragen könne, als er selbst geglaubt habe.

»Ich habe von Brustbeschwerden zu leiden gehabt – es könnte zu nichts Gutem führen, wenn ich mich dem noch ferner aussetzen wollte,« sagte er zu Ladislaw, als er ihm sein Verfahren erklärte. »Ich muß bei Zeiten Halt machen. Der arme Casaubon ist mir ein warnendes Beispiel, wissen Sie. Ich habe es mich bedeutende Summen kosten lassen, aber ich habe auch einen Kanal gegraben. Es ist ein schweres Stück Arbeit – dieses Wahlagitiren, was, Ladislaw? Ich denke mir, Sie haben es satt. Indessen wir haben doch mit dem ›Pionier‹ einen Kanal gegraben – haben die Dinge in das rechte Geleise gebracht und so weiter. Ein gewöhnlicherer Mensch als Sie würde die Sache vielleicht weiter führen – ein gewöhnlicherer Mensch, wissen Sie.«

»Wünschen Sie, daß ich es aufgebe?« fragte Will, indem er rasch erröthend vom Schreibtisch aufstand und mit den Händen in den Taschen drei Schritte vortrat: »Ich bin dazu bereit, sobald Sie es wünschen.«

»Wünschen? Mein lieber Ladislaw, ich habe die höchste Meinung von Ihren Fähigkeiten, wissen Sie. Was aber den ›Pionier‹ betrifft, so habe ich darüber mit einigen Männern unserer Partei ein wenig berathen, und die haben ihre Geneigtheit erklärt, das Blatt zu übernehmen – mich einigermaßen zu entschädigen – kurz, es selbständig weiter zu führen. Und unter diesen Umständen werden Sie es vielleicht vorziehen, von der Redaction zurückzutreten – werden Sie vielleicht ein besseres Feld für Ihre Thätigkeit finden können. Diese Leute würden Ihnen vielleicht nicht die hohe Meinung entgegenbringen, mit der ich Sie immer als mein alter ego – als meine ›rechte Hand‹ betrachtet habe – obgleich ich mich immer mit dem Gedanken an eine andere Thätigkeit für Sie getragen habe. Ich denke, eine kleine Tour nach Frankreich zu machen. Aber ich will Ihnen alle möglichen Briefe schreiben, wissen Sie – an Althorpe und andere Leute der Art. Ich kenne Althorpe.«

»Ich bin Ihnen ungemein verbunden,« erwiderte Ladislaw stolz. »Da Sie aber den ›Pionier‹ aufgeben wollen, so brauche ich Sie wegen meiner fernern Schritte nicht zu bemühen. Für's Erste werde ich vielleicht hierbleiben.«

Als Brooke fortgegangen war, dachte Will bei sich:

»Die Familie hat ihn gedrängt, sich meiner zu entledigen, und er macht sich jetzt nichts daraus, wenn ich gehe. Aber ich werde bleiben, so lange es mir gefällt. Ich werde gehen, wenn es mir gut scheint, aber nicht, weil sie hier bange vor mir sind.«



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