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Zweites Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 44 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 2):

I would not creep along the coast but steer
Out in mid-sea, by guidance of the stars.


Als Dorothea mit Lydgate die mit Lorbeerbäumen bepflanzten Grasplätze des neuen Hospitals umschritt und von ihm erfahren hatte; daß keine andern Symptome einer Veränderung in dem Gesundheitszustande ihres Mannes vorhanden seien als eben die ängstliche Besorgniß, die Wahrheit über sein Leiden zu erfahren, schwieg sie einige Augenblicke und fragte sich, ob sie irgend etwas gesagt oder gethan habe, was diese neue Aengstlichkeit habe hervorrufen können.

Lydgate, der sich die Gelegenheit, einen Lieblingsplan zu fördern, nicht gern entgehen ließ, faßte sich ein Herz und sagte:

»Ich weiß nicht, ob Ihre oder Herrn Casaubon's Aufmerksamkeit schon auf die Bedürfnisse unsers neuen Hospitals gelenkt worden ist. Gewisse Umstände lassen mich bei dieser Angelegenheit persönlich interessirt erscheinen; aber das ist nicht meine Schuld; das kommt daher, daß die übrigen Aerzte hier sich dem Hospital feindlich gegenüberstellen. Ich glaube, Sie interessiren sich im Allgemeinen für derartige Dinge, denn ich erinnere mich, daß, als ich zum ersten Mal vor Ihrer Verheirathung das Vergnügen hatte, Sie auf Tipton-Hof zu sehen, Sie einige Fragen in Betreff des Einflusses schlechter Wohnungen auf den Gesundheitszustand der Armen an mich richteten.«

»Allerdings,« erwiderte Dorothea, deren Gesicht sich bei diesen Worten aufheiterte. »Ich werde Ihnen wahrhaft dankbar sein, wenn Sie mir sagen wollen, wie ich dazu behülflich sein kann, die allgemeine Noth ein wenig zu lindern. Ich habe alle diese Dinge seit meiner Verheirathung ganz aus dem Gesicht verloren. Ich meine,« fügte sie, nachdem sie einen kleinen Augenblick gezaudert hatte, hinzu, »daß sich die Leute in unserm Dorfe in einem leidlich behaglichen Zustand befinden und daß mein Gemüth zu sehr in Anspruch genommen war, als daß ich meine Nachforschungen weiter hätte ausdehnen können. Aber hier, an einem Orte wie Middlemarch muß es sehr viel zu thun geben.«

«Hier ist noch Alles zu thun,« erwiderte Lydgate mit energischer Kürze, »und dieses Hospital ist eine vortreffliche Anstalt, die wir lediglich den Bemühungen und zum großen Theil dem Gelde des Herrn Bulstrode verdanken. Aber ein einzelner Mann kann nicht alles für ein solches Unternehmen thun. Natürlich sah er sich nach Hülfe um. Und jetzt haben gewisse Leute, welche das Unternehmen gern mißlingen sehen möchten, eine kleinliche und niedrige Opposition gegen dasselbe organisirt,«

»Was kann diese Leute dazu bewegen?« fragte Dorothea im Tone naiven Erstaunens.

»Zuerst und vor Allem die Unpopularität des Herrn Bulstrode. Die halbe Stadt würde es sich etwas kosten lassen, seine Pläne zu vereiteln. In dieser albernen Welt haben die meisten Leute keinen Begriff davon, daß etwas gut sein könne, wenn es nicht von ihren guten Freunden ausgeht. Ich habe Herrn Bulstrode, ehe ich hieher kam, gar nicht gekannt. Ich beurtheile ihn ganz unparteiisch, und ich sehe, daß er einige Ideen hat, – denen er auch schon Gestalt gegeben hat –, welche ich im öffentlichen Interesse verwenden kann. Wenn eine genügende Anzahl gebildeter Männer in der Ueberzeugung arbeiten wollte, daß ihre Beobachtungen zur Reform der Medizin in Theorie und Praxis beitragen könnten, so würden wir bald eine Veränderung zum Bessern eintreten sehen. Das ist mein Standpunkt. Ich bin der Ansicht, daß ich, wenn ich mich weigern wollte, mit Herrn Bulstrode zu arbeiten, einer Gelegenheit, meinen Beruf allgemein nutzbarer zu machen, aus dem Wege gehen würde.«

»Ich stimme ganz mit Ihnen überein,« sagte Dorothea, deren ganze Sympathie die von Lydgate angedeutete Situation erweckt hatte. »Aber was haben denn die Leute gegen Bulstrode? Ich weiß, daß mein Onkel mit ihm befreundet ist.«

»Die Leute mögen seine religiöse Richtung nicht,« entgegnete Lydgate, ohne ein Wort der Erklärung hinzuzufügen.

»Nur um so mehr Grund, eine solche Opposition zu verachten,« sagte Dorothea, indem sie die Middlemarcher Angelegenheit im Lichte der großen kirchlichen Verfolgungen vergangener Zeiten betrachtete.

»Um ganz gerecht zu sein, sie werfen ihm auch noch andere Dinge vor: er ist herrschsüchtig und nicht sehr umgänglich und in seinen Beziehungen zur Geschäftswelt scheint er zu Beschwerden Veranlassung zu geben, über welche ich nichts Näheres weiß. Aber was hat das Alles mit der Frage zu thun, ob es nicht eine vortreffliche Sache sein würde, hier ein Hospital zu haben, das besser wäre als irgend eines, das bisher in der Grafschaft existirt hat? Das nächste Motiv der Opposition liegt jedoch darin, daß Bulstrode die ärztliche Leitung des Hospitals in meine Hände gelegt hat. Natürlich ist mir das sehr lieb. Es giebt mir Gelegenheit, etwas Gutes zu thun, und ich bin mir bewußt, daß ich die Pflicht habe, Bulstrode's Wahl zu rechtfertigen. Meine Anstellung aber hat die Folge gehabt, daß die sämmtlichen Aerzte in Middlemarch sich gegen das neue Hospital förmlich verschworen haben und nicht nur sich weigern, selbst daran thätig zu sein, sondern die ganze Angelegenheit schlecht machen und eine thätige Theilnahme des Publikums zu verhindern suchen.«

»Wie entsetzlich kleinlich!« rief Dorothea entrüstet aus. »Ich glaube, man muß immer darauf gefaßt sein, sich seinen Weg zu erkämpfen; ohne Kampf läßt sich fast nichts erreichen. Und die Unwissenheit der Leute hier ist unglaublich groß. Ich mache auf kein weiteres Verdienst Anspruch, als daß ich mir einige Gelegenheiten zur Erlangung von Kenntnissen und Erfahrung zu Nutze gemacht habe, die nicht Jedermann zu Gebote stehen; aber es giebt keine Kränkung, die Einem schwerer verziehen würde als die, ein junger neuer Ankömmling in einer Stadt zu sein und zufällig etwas mehr zu wissen als die alten Bewohner. Und doch müßte ich ein gemeiner Achselträger sein, wollte ich mich, trotz der Ueberzeugung, eine bessere Methode der ärztlichen Behandlung einführen und gewisse Beobachtungen und Untersuchungen, welche der ärztlichen Praxis vielleicht dauernd zu Gute kommen werden, anstellen zu können, durch Rücksichten persönlichen Behagens darin irre machen lassen. Und mein Weg ist mir nur um so klarer vorgezeichnet, als ich kein Gehalt beziehe, welches meine Beharrlichkeit in einem zweideutigen Licht könnte erscheinen lassen.«

»Es freut mich, daß Sie mir das mitgetheilt haben, Herr Lydgate,« sagte Dorothea in einem herzlichen Ton. »Ich glaube gewiß, daß ich Ihr Unternehmen ein wenig werde unterstützen können. Ich habe eine bestimmte Summe zu meiner Verfügung und weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Das ist mir oft ein unbehaglicher Gedanke. Ich werde gewiß zweihundert Pfund jährlich für einen so großen Zweck wie diesen erübrigen können. Wie glücklich müssen Sie sich fühlen, Kenntnisse zu besitzen, von denen Sie überzeugt sind, daß sie Gutes stiften werden. Ich wollte, ich könnte jeden Morgen mit einem gleichen Bewußtsein erwachen. Es scheint mir immer, daß so viele Mühe in der Welt aufgewendet wird, deren Nutzen man nicht einzusehen vermag!«

Der Ton, in welchem Dorothea diese letzten Worte sprach, hatte etwas Melancholisches. Sie fügte aber alsbald heiterer hinzu: »Bitte, besuchen Sie uns in Lowick und erzählen Sie uns mehr von dieser Angelegenheit. Ich will mit Casaubon darüber sprechen. Jetzt muß ich aber rasch wieder nach Hause.«

Sie erwähnte die Sache noch an demselben Abende gegen Casaubon und sagte ihm, daß sie zweihundert Pfund jährlich unterzeichnen möchte. Ihr war die freie Verfügung über eine Summe von siebenhundert Pfund jährlich als Ersatz für ihr eigenes Vermögen bei ihrer Heirath gesichert. Casaubon beschränkte sich, ohne weitere Einwendungen zu machen, auf die beiläufige Bemerkung, daß die Summe in Rücksicht auf andere gute Zwecke vielleicht unverhältnißmäßig groß erscheine; als aber Dorothea in ihrer Unwissenheit dieses Bedenken als unbegründet zurückwies, gab er sich zufrieden. Er selbst war nicht karg und gab bereitwillig. Wenn er sich durch Geldangelegenheiten je lebhaft berührt fühlte, so war seine Triebfeder dabei eine andere, als die Liebe zu Geld und Gut.

Dorothea erzählte ihm, daß sie Lydgate gesprochen habe, und berichtete das Wesentliche ihrer Unterhaltung über das Hospital. Casaubon that keine weiteren Fragen, war aber überzeugt, daß sie habe wissen wollen, was zwischen ihm und Lydgate vorgegangen sei. »Sie weiß, daß ich es weiß,« rannte ihm seine nie ruhende innere Stimme zu; aber dieses unausgesprochene neue Wissen war nur eine neue Schranke für ihr gegenseitiges Vertrauen. Er mißtraute ihrer Neigung – und was gäbe es, das uns einsamer machte als Mißtrauen?



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