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Sechstes Kapitel.

Das Motto zu Kapitel 48 (in dieser Übersetzung Band 3, Kapitel 6):

Surely the golden hours are turning grey
And dance no more, and vainly strive to run:
I see their white locks streaming in the wind –
Each face is haggard as it looks at me,
Slow turning in the constant clasping round
Storm-driven.


Dorothea's Trauer beim Verlassen der Kirche hatte ihren Grund hauptsächlich in der Wahrnehmung, daß Casaubon entschlossen sei, nicht mit seinem Vetter zu reden, und daß Will's Anwesenheit in der Kirche nur dazu gedient habe, die Entfremdung der beiden Männer noch stärker hervortreten zu lassen. Will's Kommen erschien ihr ganz entschuldbar, ja sie erblickte in demselben ein liebenswürdiges Entgegenkommen zu einer Versöhnung, welche sie selbst die ganze Zeit herbeigewünscht hatte. Sie hielt es für wahrscheinlich daß er wie sie geglaubt habe, seine Begegnung mit Casaubon werde dazu führen, daß sie sich die Hände reichten, woraus sich dann vielleicht die Wiederherstellung eines freundlichen Verkehrs ergeben werde.

Aber jetzt war Dorotheen diese Hoffnung ganz abgeschnitten. Will war womöglich noch strenger verbannt als zuvor; denn dieser Versuch, ihm seine Gegenwart aufzudrängen, von der Notiz zu nehmen er ablehnte, konnte Casaubon nur auf's Neue erbittert haben.

Er hatte sich an jenem Morgen nicht ganz wohl befunden und viel mehr an Athmungsbeschwerden gelitten und deshalb nicht gepredigt. Dorothea war daher nicht erstaunt darüber, daß er beim zweiten Frühstück fast gar nicht sprach, und noch weniger darüber, daß er Will Ladislaw's gar keine Erwähnung that. Sie fühlte, daß sie ihrerseits diesen Gegenstand nie wieder zur Sprache werde bringen können.

Sie pflegten die Stunden zwischen dem zweiten Frühstück und dem Mittagessen getrennt zuzubringen, Casaubon in der Bibliothek meistens schlummernd und Dorothea in ihrem Boudoir, wo sie sich gewöhnlich mit der Lectüre eines ihrer Lieblingsbücher beschäftigte. Vor ihr auf dem Tische in dem Bogenfenster lag ein kleiner Haufen von Büchern sehr verschiedener Art, von Herodot, den sie bei Casaubon in der Ursprache zu lesen angefangen hatte, bis zu ihrem alten Freunde Pascal und Keble's ›Christlichem Jahr‹ » The Christian Year« (1827) von dem englischen Geistlichen und Dichter John Keble (1792-1866) enthält je ein Gedicht zu jedem Sonn- und Feiertag des Kirchenjahres und war vermutlich der verbreitetste Gedichtband des 19.Ih. – Anm.d.Hrsg..

Aber heute öffnete sie eines dieser Bücher nach dem andern und konnte in keinem lesen. Alles erschien ihr traurig. – Die Vorzeichen vor der Geburt des Cyrus – jüdische Alterthümer –, ach nein! – fromme Lieder – die Melodien beliebter Kirchengesänge – Alles kam ihr so leer vor wie die Töne eines klanglosen Holzes; selbst die Frühlingsblumen und der Rasen, welche die von Wolken verhüllte Nachmittagssonne nur selten auf Augenblicke beschien, blickten sie fröstelnd an, selbst die Gedanken, welche sie sonst aufrecht zu erhalten pflegten, empfand sie in dem Vorgefühl künftiger langer Tage, in welchen diese Gedanken ihre einzige Gesellschaft bilden würden, als eine Last.

Es war eine andere oder vielmehr eine ihr Wesen mehr ausfüllende Art von Gesellschaft, nach welcher die arme Dorothea ein sehnsüchtiges Verlangen trug; und dieser Seelenhunger hatte sich durch den fortwährenden Zwang, welchen ihr eheliches Leben ihr auferlegte, nur noch gesteigert. Sie war unablässig bestrebt, so zu sein, wie es ihr Gatte wünschte, und konnte sich niemals an seiner Freude darüber, daß sie so war, erheben. Das, was sie liebte, was sie ohne Anstrengung zu genießen sich sehnte, schien ihr stets versagt zu sein; denn wenn es ihr von ihrem Gatten nur zugestanden und nicht von ihm getheilt wurde, so hätte er es ihr ebenso gern ganz verweigern mögen.

In Betreff Will Ladislaw's hatte von Anfang an eine Verschiedenheit der Auffassung zwischen ihnen bestanden, welche Dorothea, seit Casaubon ihre Ansichten über Will's Vermögensansprüche so entschieden zurückgewiesen, zu der Ueberzeugung gebracht hatte, daß sie Recht und ihr Gatte Unrecht habe, daß sie aber völlig hülflos sei.

An dem heutigen Nachmittag wirkte das Gefühl der Hülflosigkeit erstarrender auf Dorothea denn je; sie sehnte sich nach Wesen, die ihr theuer sein könnten und denen sie theuer sein könnte. Sie sehnte sich nach einer Arbeit, welche unmittelbar wohlthätig wirken möchte wie Sonnenschein und Regen, und jetzt war es ihr klar, daß sie mehr und mehr dazu verurtheilt war, in einem Grabe zu leben, in welchem sie von dem Apparat einer gespenstischen Arbeit umgeben war, deren Früchte nie das Tageslicht erblicken würden. Heute hatte sie an der Pforte dieses Grabes gestanden und hatte Will Ladislaw gesehen, wie er in die ferne Welt lebendiger Thätigkeit und Gemeinsamkeit zurückgetreten war – nachdem er sich zuvor noch einmal nach ihr umgesehen hatte.

Da konnten ihr die Bücher, da konnte ihr das Denken nicht helfen! Es war Sonntag und sie konnte den Wagen nicht bekommen, um zu Celien zu fahren, die seit Kurzem Mutter geworden war. Es gab heute keine Rettung vor geistiger Leere und Unzufriedenheit, und Dorothea blieb nichts übrig, als ihre trübe Stimmung zu ertragen, wie sie einen Kopfschmerz hätte ertragen müssen.

Nach Tische, um die Zeit, wo Dorothea gewöhnlich ihrem Gatten laut vorzulesen anfing, proponirte ihr Casaubon, mit ihm in die Bibliothek zu gehen, wo er, wie er sagte, Feuer und Licht habe machen lassen. Er schien wie aufgelebt und mit tiefen Gedanken beschäftigt zu sein.

In der Bibliothek bemerkte Dorothea, daß er eine Reihe seiner Collectaneen auf einem Tische neu aufgestellt hatte. Alsbald nahm er einen ihr wohlbekannten Band, welcher das Verzeichniß des Inhalts aller übrigen Bände enthielt, zur Hand und reichte ihr denselben.

»Du würdest mir einen Gefallen thun, liebes Kind,« sagte er, indem er sich niedersetzte, »wenn Du diesen Abend, statt mir etwas Anderes vorzulesen, dieses Inhaltsverzeichniß mit dem Bleistift in der Hand laut lesen und, so oft ich sage ›Streiche das an‹, mit Deinem Bleistift ein Kreuz machen wolltest. Das ist der erste Schritt zu einem Sichtungsproceß, den ich lange beabsichtigt habe, und im Fortgange dieser Arbeit werde ich im Stande sein, Dir gewisse Principien für die Auswahl anzugeben und Dich dadurch, wie ich zuversichtlich hoffe, zu einer intelligenten Theilnehmerin an der Ausführung meines Planes zu machen.«

Dieser Vorschlag war nur eines von vielen deutlichen Anzeichen seit Casaubon's denkwürdiger Conferenz mit Lydgate, daß seine ursprüngliche Abneigung, Dorothea an seinen Arbeiten Theil nehmen zu lassen, der ganz entgegengesetzten Neigung, viel Interesse und Arbeit von ihr zu beanspruchen, Platz gemacht habe.

Nachdem sie so zwei Stunden lang laut gelesen und angestrichen hatte, sagte er:

»Wir wollen, wenn es Dir recht ist, den Band und den Bleistift mit hinausnehmen und können, wenn Du heute Nacht in den Fall kommen solltest, mir wie sonst vorzulesen, die Arbeit fortsetzen. Ich hoffe die Sache langweilt Dich nicht, Dorothea?«

»Ich lese Dir immer am liebsten vor, was Du am liebsten hörst,« erwiderte Dorothea und sagte die einfache Wahrheit; denn wovor sie sich fürchtete, das war, sich beim Vorlesen oder irgend etwas anderem für ihn zu bemühen, ohne ihn dadurch froher als zuvor stimmen zu können.

Es war ein Beweis für die Stärke gewisser charakteristischer Eigenschaften Dorothea's, welche Alle, die mit ihr in Berührung kamen, frappirte, daß ihr Gatte, bei all' seiner Eifersucht und seinem Argwohn gegen sie doch vollkommenes Vertrauen zu der Redlichkeit ihrer Versprechungen und ihrer Kraft, sich ihrem Ideal des Rechten und Guten ganz hinzugeben, hegte. Seit Kurzem hatte er angefangen zu fühlen, daß diese Eigenschaften ein schätzbarer Besitz für ihn seien, und er wollte sich dieselben zu Nutze machen.

Der Moment des Vorlesens in der Nacht trat ein. Dorothea in ihrer jugendlichen Müdigkeit war rasch und fest eingeschlafen; sie wurde erst wieder erweckt durch eine Lichtempfindung, welche ihr im ersten Augenblick, nachdem sie einen steilen Hügel zu erklimmen geglaubt hatte, wie der plötzliche Anblick der untergehenden Sonne erschien; sie öffnete die Augen und sah, wie ihr Gatte in seinen warmen Schlafrock gehüllt sich in den Lehnstuhl vor dem Kamin setzte, in welchem noch glühende Asche lag. Er hatte zwei Kerzen in der Erwartung angezündet, daß Dorothea davon erwachen werde, mochte sie aber nicht durch directere Mittel im Schlafe stören.

»Bist Du unwohl, Edward?« fragte sie, indem sie sogleich aufstand.

»Das Liegen verursachte mir Beschwerden. Ich will hier eine Weile sitzen.«

Sie legte Holz auf die glimmenden Kohlen, warf sich einen Shawl über die Schultern und fragte:

»Wünschest Du, daß ich Dir vorlese?«

»Ich würde Dir sehr dankbar sein; wenn Du das thun wolltest, Dorothea,« erwiderte Casaubon in seiner höflichen Weise mit einer Nüance von größerer Milde. »Ich bin munter, mein Geist ist merkwürdig klar.«

»Ich fürchte nur, Du regst Dich zu sehr auf,« sagte Dorothea, der Warnungen Lydgate's eingedenk.

»Nein, ich fühle keine besondere Aufregung. Das Denken wird mir leicht.«

Dorothea wagte es nicht, auf ihren Vorstellungen zu beharren; sie las über eine Stunde in derselben Weise wie Abends zuvor, nur daß sie rascher mit den Seiten zu Ende kam. Casaubon's Geist arbeitete jetzt noch rascher, und er schien, sobald er nur ein Wort gehört hatte, das Kommende schon vorwegnehmen zu wollen, indem er sagte:

»Das ist genug – streiche das an« – oder: »Lies die nächste Kapitelüberschrift – ich lasse den zweiten Excurs über Creta fort.«

Dorothea war erstaunt über die wunderbare Raschheit, mit welcher sein Geist wie im Fluge den Boden überschaute, auf welchem er Jahre lang umhergekrochen war.

Endlich sagte er:

»Mach das Buch jetzt zu, liebes Kind. Wie wollen unsere Arbeit morgen wieder aufnehmen. Ich habe dieselbe zu lange aufgeschoben und möchte sie gern erledigt sehen. Aber Du wirst bemerkt haben, daß das Princip, auf welchem meine Auswahl beruht, darin besteht, jeder der Thesen, welche in meiner Einleitungsskizze aufgezählt sind, eine angemessene und nicht unverhältnismäßige Erklärung zu Theil werden zu lassen. Ist Dir das klar geworden, Dorothea?«

»Ja,« erwiderte Dorothea mit etwas zitternder Stimme.

Ihr war nicht gut dabei zu Muthe.

»Und jetzt,« sagte Casaubon, »denke ich noch etwas zu ruhen.«

Er legte sich wieder nieder und bat Dorothea die Kerzen auszulöschen. Als sie sich wieder niedergelegt hatte und bis an das trübe Glimmen des Kaminfeuers wieder völlige Dunkelheit im Zimmer herrschte, sagte er:

»Ehe ich einschlafe, habe ich Dich noch um etwas zu bitten, Dorothea.«

»Und das wäre?« fragte Dorothea angstvoll.

»Ich möchte Dich bitten, mir wohlüberlegter Weise zu sagen, ob Du, wenn ich sterben sollte, meine Wünsche ausführen willst – ob Du zu thun vermeiden willst, was ich vermieden sehen möchte, und Dich bestreben willst zu thun, was ich von Dir gethan wissen möchte.«

Dorothea war nicht überrascht; viele Umstände hatten sie auf die Vermuthung gebracht, daß ihr Gatte Absichten hege, welche ihr ein neues Joch auferlegen möchten. Sie antwortete nicht sogleich.

»Du lehnst es ab?« fragte Casaubon in einem etwas schärferen Tone.

»Nein, ich lehne es noch nicht ab,« erwiderte Dorothea mit klarer Stimme, indem sich das Bedürfniß nach Freiheit des Entschlusses in ihr geltend machte; »aber die Sache ist zu ernst – ich halte es nicht für recht, ein Versprechen zu geben, wenn ich nicht weiß, wozu mich dasselbe verpflichtet. Was Liebe zu thun heischt, würde ich jederzeit auch ohne Versprechen thun.«

»Aber Du möchtest Dich dabei von Deinem eigenen Urtheil leiten lassen, während ich Dich bitte, dem meinigen zu folgen, und Du schlägst mir das ab?«

»Nein, lieber Edward, nein!« sagte Dorothea, die sich von widersprechenden Gefühlen bestürmt sah, in flehendem Tone. »Aber darf ich nicht ein wenig überlegen, bevor ich Dir antworte? Ich wünsche von ganzem Herzen zu thun, was Dir angenehm ist; aber es ist mir unmöglich, mich plötzlich feierlich zu verpflichten, etwas zu thun – geschweige etwas, - von dem ich nicht weiß, worin es besteht.«

»Du hast also kein Vertrauen zu meinen Wünschen?«

»Laß mir Zeit bis morgen,« sagte Dorothea abermals in flehendem Tone.

»Bis morgen also,« erwiderte Casaubon.

Sie hörte bald, daß er schlief; für sie aber gab es keinen Schlaf mehr. Während sie sich bemühte, ruhig zu liegen, um ihn nicht zu stören, rang ihr Geist in einem Kampfe, in welchem ihre Einbildungskraft abwechselnd in entgegengesetzten Richtungen thätig war. Sie hatte keine Ahnung davon, daß die Gewalt, welche sich ihr Gatte über ihre künftigen Handlungen zu sichern wünschte, auf etwas anderes, als auf seine Arbeit Bezug haben könne. Aber es war ihr klar, daß er wünsche, sie möge sich ganz der Sichtung jener verschiedenartigen Haufen eines Materials hingeben, welches bestimmt war, die zweifelhafte Erklärung noch zweifelhafterer Principien abzugeben.

Das arme Kind hatte allen Glauben an die Zuverlässigkeit jenes ›Schlüssels‹ verloren, welcher den Ehrgeiz und die Arbeit des Lebens ihres Gatten gebildet hatte. Es war nicht zu verwundern, daß sie, trotz ihres unzulänglichen Unterrichts, in diesen Dingen ein richtigeres Urtheil hatte als er; denn sie betrachtete die Wahrscheinlichkeiten, für welche er seinen ganzen Egoismus eingesetzt hatte, mit gesundem Sinn und einer Fähigkeit unbefangenen Vergleichens. Und jetzt malte sie sich die Tage, Monate und Jahre aus, die sie damit würde zubringen müssen, etwas zu sortiren, was man als zerfallende Mumien und Fragmente einer Tradition bezeichnen könnte, welche selbst eine aus Trümmern zusammengesetzte Mosaik war, – zu sortiren als Nahrung für eine Theorie, welche (wie ein Wechselbalg) schon in der Wiege verkommen war.

Unstreitig hat ein kräftig verfolgter kräftiger Irrthum oft den Embryo der Wahrheit am Leben erhalten: die Goldmacherei bedingte eine Untersuchung von Stoffen, bereitete gleichsam den Körper der Chemie für ihre Seele vor und bahnte einem Lavoisier Antoine Laurent de Lavoisier (1743-1794), französischer Chemiker und Naturwissenschaftler; schuf viele Grundlagen der modernen Chemie. – Anm.d.Hrsg. die Wege. Aber Casaubon's Theorie der Elemente, welche den Keim aller Tradition bilden sollten, hatte wenig Aussicht, sich gegen historische Entdeckungen zu behaupten; diese Theorie schwamm auf einer Fluth zweifelhafter Conjecturen, die nicht besser begründet waren, als jene Etymologien, welche ihre Stärke aus der Aehnlichkeit des Klanges schöpften, bis es nachgewiesen wurde, daß gerade die Aehnlichkeit des Klanges sie unmöglich mache; sie beruhte auf einer Methode der Interpretation, die nichts Festeres zum Probirstein hat als eine eingehende Bestimmung der Begriffe von Gog und Magog; sie war in sich so abgerundet wie etwa ein Plan, die Sterne an einem Faden aufzureihen.

Und Dorothea hatte so oft ihre Ermüdung und Ungeduld diesem zweifelhaften Räthselrathen gegenüber, – welches ihr in diesen Dingen statt jener Gemeinsamkeit eines erhabenen, das Leben würdiger gestaltenden Wissens entgegen getreten war –, bezwingen müssen! Sie begriff jetzt sehr wohl, warum ihr Gatte sich an sie, als an die möglicherweise einzige Hoffnung, seine Arbeiten jemals eine Gestalt gewinnen zu sehen, in welcher sie der Welt übergeben werden könnten, geklammert habe. Anfänglich hatte es geschienen, daß er selbst sie über das, was er thue, nicht näher aufzuklären wünsche; aber allmälig hatte die schreckliche Gewalt der Unzulänglichkeit des menschlichen Lebens, die Aussicht auf einen plötzlichen Tod – –

Und hier wandte sich Dorothea's Mitleid von ihrer eigenen Zukunft ab zu der Vergangenheit ihres Gatten, vielmehr zu seinem gegenwärtigen harten Kampfe mit einem Loose, das aus dieser Vergangenheit erwachsen war; seiner einsamen Arbeit, seinem unter dem Drucke des Mißtrauens gegen sich selbst schwer athmenden Ehrgeiz, dem Zurückweichen des Ziels bei immer matter werdenden Gliedern und endlich dem jetzt sichtbar über seinem Haupte schwebenden Schwerte!

Und hatte sie nicht gewünscht, ihn zu heirathen, um ihm bei seiner Lebensarbeit helfen zu können? – Aber sie hatte sich unter der Arbeit etwas Größeres vorgestellt, welchem sie sich um seiner selbstwillen gern würde widmen wollen War es recht, selbst wenn sie damit sein angstvolles Sorgen beschwichtigen konnte, – ja würde es ihr auch nur möglich sein, selbst wenn sie es ihm verspräche –, nutzlos wie in einer Tretmühle zu arbeiten?

Und doch, konnte sie es ihm verweigern? Konnte sie ihm sagen:

»Ich schlage es Dir ab, dir diesen verzehrenden Hunger zu stillen?« Das hieße ihm abschlagen, für ihn nach seinem Tode zu thun, was sie fast sicher war, für ihn thun zu müssen, so lange er lebte. Wenn er, wie Lydgate es als möglich bezeichnet hatte, noch fünfzehn Jahre leben sollte, so würde sie ihr Leben sicher damit zubringen müssen, ihm zu helfen und ihm zu gehorchen.

Und doch bestand ein wesentlicher Unterschied zwischen dieser Hingebung an den Lebenden und jenem unbegrenzten Versprechen der Hingebung an den Todten. So lange er lebte, konnte er nichts von ihr verlangen, wogegen sie nicht noch immer Einwendungen erheben, ja was sie nicht würde abschlagen können. Aber, – dieser Gedanke drängte sich ihr wiederholt auf, wenn sie auch nicht daran glauben mochte –, sollte er nicht vielleicht gemeint sein, jetzt noch mehr von ihr zu begehren, als sie sich vorstellen konnte, da er verlangte, daß sie sich feierlich verpflichte, seine Wünsche auszuführen, ohne ihr genau zu sagen, worin diese Wünsche bestünden? Nein, sein Herz hing nur an seiner Arbeit. Das war das Ziel, zu dessen Erreichung sein Leben durch das ihrige verlängert werden sollte.

Und wenn sie jetzt erklären wollte: »Nein, wenn du stirbst, so will ich keine Hand mehr für Deine Arbeit rühren« – so würde sie damit, schien es ihr, sein wundes Herz zerdrücken.

Vier Stunden lang lag Dorothea in diesem innern Kampfe da, bis sie sich elend und fassungslos fühlte, unfähig zu einem Entschluß, und nichts zu thun vermochte, als stumm zu beten. Hülflos wie ein Kind, das allzulange geschluchzt und gesucht hat, versank sie endlich in einem späten Morgenschlaf, und als sie erwachte, war Casaubon schon aufgestanden. Tantripp sagte ihr, daß er bereits das Morgengebet verlesen und gefrühstückt habe und jetzt in der Bibliothek sei.

»Ich habe Sie noch nie so blaß gesehen, gnädige Frau,« sagte Tantripp, die Kammerfrau, die schon mit den Schwestern in Lausanne gewesen, war.

»Habe ich denn je sehr rothe Wangen gehabt, Tantripp?« fragte Dorothea mit schwachem Lächeln.

»Nun, gerade nicht sehr rothe Wangen, aber doch von einem frischen Roth wie eine ›Mädchenblüthe‹. Aber wenn Sie immerfort die Luft der Bibliothek mit ihren Lederbänden einathmen müssen, ist es kein Wunder. Ruhen Sie sich doch diesen Morgen ein wenig aus, gnädige Frau. Lassen Sie mich sagen, Sie seien unwohl und nicht im Stande, in die beklommene Bibliothek zu gehen.«

»O nein, nein, ich muß mich beeilen,« sagte Dorothea, »Herr Casaubon bedarf meiner heute ganz besonders.«

Als sie hinunterging, war sie überzeugt, daß sie ihrem Gatten versprechen werde, seine Wünsche zu erfüllen; aber dazu würde es erst später am Tage kommen, – jetzt noch nicht.

Als Dorothea in die Bibliothek trat, wandte sich Casaubon von dem Tische, auf welchen er einige Bücher gestellt hatte, um und sagte: –

»Ich habe auf Dein Kommen gewartet, liebes Kind. Ich hatte gehofft, wir würden diesen Morgen gleich an die Arbeit gehen können, aber ich fühle mich nicht ganz wohl, vermuthlich in Folge zu großer Anstrengung am gestrigen Tage. Ich will jetzt einen Gang durch den Garten machen, da das Wetter milder geworden ist.«

»Das freut mich,« sagte Dorothea, »ich fürchte, Du hast Dir diese Nacht zu viel zugemuthet.«

»Ich wäre gern über das, wovon ich zuletzt mit Dir sprach, im Reinen, Dorothea. Ich hoffe, Du kannst mir jetzt eine Antwort geben.«

»Darf ich gleich mit Dir in den Garten gehen?« fragte Dorothea, die auf diese Weise ein wenig Zeit gewann.

»Du findest mich in der nächsten halben Stunde in der Eibenbaumallee,« erwiderte Casaubon und ging dann hinaus.

Dorothea, die sich sehr angegriffen fühlte, klingelte und hieß Tantripp ihr ein Umschlagetuch und einen Hut bringen. Sie hatte einige Minuten lang still dagesessen, aber ohne den frühern Conflikt noch einmal durchzumachen; sie war einfach überzeugt, daß sie sich mit einem »Ja« in ihr Loos fügen werde; sie war zu schwach, zu erfüllt von angstvoller Besorgniß bei dem Gedanken, ihrem Gatten einen vernichtenden Schlag zu versetzen, um etwas andres thun zu können, als sich vollständig ergeben. Sie saß noch immer still und ließ sich von Tantripp den Hut aufsetzen und den Shawl umlegen, eine Passivität, die bei ihr nicht gewöhnlich war; denn sie liebte es, sich selbst zu bedienen.

»Gott segne Sie, gnädige Frau!« sagte Tantripp, welche diesen Ausbruch der Zärtlichkeit für das schöne, sanfte Wesen, für das sie nichts mehr zu thun vermochte, nachdem sie ihr das Hutband befestigt hatte, nicht zurückzudrängen vermochte.

Das war zu viel für Dorothea's aufgeregte Nerven, und sie brach in Thränen aus und warf sich schluchzend in Tantripp's Arme.

Aber bald faßte sie sich wieder, trocknete ihre Thränen und ging durch die Glasthür in den Garten.

»Ich wollte, jedes Buch in der Bibliothek würde in eine Katacombe für Euren Herrn eingemauert,« sagte Tantripp zu dem Butler Pratt, als sie ihm im Frühstückszimmer begegnete. Sie war wie wir wissen mit in Rom gewesen und hatte die dortigen Alterthümer gesehen und nannte Herrn Casaubon, wenn sie mit den andern Dienstboten von ihm sprach nie anders als »Euren Herrn.«

Pratt lachte. Er hielt sehr viel von seinem Herrn, aber noch mehr von Tantripp.

Als Dorothea auf dem Kieswege des Gartens angelangt war, hielt sie sich noch eine Weile unter den nächst gelegenen Baumgruppen auf, zögernd, wie sie es schon früher einmal, wenn auch aus einem andern Grunde gethan hatte. Damals hatte sie gefürchtet, ihr Verlangen nach Gemeinsamkeit möge unwillkommen sein, – jetzt fürchtete sie sich davor, die Stelle zu betreten, wo sie, wie sie voraussah, sich zu einer Gemeinsamkeit würde verpflichten müssen, vor welcher sie zurückschreckte.

Weder das Gesetz noch die Meinung der Welt nöthigten sie dazu, sondern nur das Wesen ihres Gatten und ihr eigenes Mitleid; nur ein ideales, nicht das wirkliche Joch der Ehe. Sie übersah die ganze Situation klar genug und doch fühlte sie sich gefesselt; sie vermochte es nicht über sich zu gewinnen, die gequälte Seele, die sich flehend an die ihrige klammerte, von sich zu stoßen. Wenn das Schwäche war, so war Dorothea schwach.

Aber die halbe Stunde war nahezu vorüber, und sie durfte nicht länger zögern. Als sie die Eibenbaumallee betrat, sah sie ihren Gatten nicht; aber die Allee zog sich in Windungen hin und Dorothea ging in der Erwartung weiter, bald seiner in einen blauen Mantel (welchen er nebst einer warmen Sammetmütze an kühlen Tagen im Garten zu tragen pflegte) gehüllten Gestalt, ansichtig zu werden. Es fiel ihr ein, daß er vielleicht in dem Pavillon ausruhe, zu welchem ein etwas seitwärts abliegender Weg führte.

Als sie um die Ecke bog, sah sie ihn auf seiner Bank, neben einem steinernen Tische sitzen. Seine Arme ruhten auf dem Tische, und sein Kopf war, an seinen beiden Seiten von dem heraufgezogenen Mantel beschirmt, vornübergebeugt.

»Er hat sich diese Nacht zu sehr angestrengt,« dachte Dorothea bei sich, indem sie im ersten Augenblick glaubte, er schlafe und der Pavillon sei ein zu feuchter Aufenthalt zum Ausruhen. Dann aber erinnerte sie sich, daß sie ihn in letzterer Zeit, wenn sie ihm vorlas, öfter diese Stellung annehmen gesehen habe, wie wenn ihm dieselbe besonders angenehm sei, und daß er bisweilen in dieser Stellung auch beim Sprechen verharrte.

Sie trat in den Pavillon und sagte:

»Hier bin ich, Edward, ich bin bereit.«

Er nahm keine Notiz von ihr und sie dachte, er müsse fest eingeschlafen sein. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und wiederholte:

»Ich bin bereit!«

Aber erregte sich noch immer nicht, und in einer plötzlichen Anwandlung einer unklaren Angst beugte sie sich zu ihm herab, nahm ihm die Sammetmütze vom Kopf, lehnte ihre Wange an die seinige und rief in einem Tone aufgeregter Bekümmerniß:

»Wach' auf, lieber Edward, wach' auf. Höre mich. Ich bin hier, um Dir zu antworten.«

Aber diese Antwort sollte Dorothea nicht mehr geben.

 

Einige Stunden später saß Lydgate neben ihrem Bette, und sie lag in Fieberphantasien, in welchen sie laut dachte und aussprach, was in der vorigen Nacht mit ihr vorgegangen, war. Sie erkannte Lydgate und nannte ihn bei seinem Namen, schien es aber für ihre Pflicht zu halten, ihm alles zu erklären, und bat ihn wieder und wieder, er möge ihrem Gatten alles erklären.

»Sagen Sie ihm, ich werde bald zu ihm kommen. Ich bin bereit, ihm das Versprechen zu geben. Nur das Nachdenken darüber war so schrecklich, das hat mich krank gemacht. Aber nicht sehr krank. Ich werde bald wieder besser sein. Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm das.«

Aber das Ohr ihres Gatten sollte nie mehr eine menschliche Stimme vernehmen.



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