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14. Kapitel.

Der Ballettmeister klatschte den Takt mit den Händen.

»So ist es recht! – – – Jetzt den Oberkörper neigen!«

Der zierliche Mann machte die Tanzfigur vor und wand sich wie ein Schlänglein um sich selbst. Der grauhaarige Feuerkopf begeisterte sich an seiner Komposition und riß die Schülerin mit sich weg.

Mia folgte mit Eifer den Kommandos. Mit vollendeter Grazie wiegte sie sich in den Hüften, tänzelte auf den Spitzen, sprang in Pirouetten. Der Meister hatte große Freude an ihr und man sah das Interesse für seine schöne und talentvolle Jüngerin aus den immer noch glutvollen Augen des alten Frauenkenners leuchten.

Mia probierte nun schon seit geraumer Zeit ihre neuen Nummern für das nächstjährige Engagement. Die Heirat durfte ihre Künstlerlaufbahn nicht unterbrechen. Sie hatte gleich bei ihrem ersten Auftreten einen rauschenden Erfolg gehabt, so daß die Agenten sich um sie rissen.

Werner war nicht sehr damit einverstanden, seine Frau auf den leichten Brettern des Varietées tanzen zu lassen. Aber Mia duldete in ihrer Kunst keinen Widerspruch und erklärte, sie wollte einen anständigen Beruf, der sie ernährt, nicht ausgeben. Man könnte nie wissen, was einträte. Ihre Unabhängigkeit mußte sie sich bewahren.

»Also nehmen wir noch einmal die Schritte durch – –« sagte der Ballettmeister.

Er wendete sich zum Klavierspieler:

»Bitte, Herr Kullert, nach den ersten 16 Takten ...«

Mia schwebte auf den Spitzen der Schuhe, sie wippte wie ein Schilf im Winde oder sie flog einer Libelle gleich mit ausgestreckten Armen, die Flügel vortäuschten.

»Bravo, bravo!« schrie der Ballettmeister.

Das Telephon gellte mitten in die Musik hinein.

Der Ballettmeister ergriff den Hörer des Apparates, der auf dem Klavier stand.

»Frau Assessor Kunzmann? – – – – Jawohl, die gnädige Frau ist gerade beschäftigt ... Sehr wichtig? – – Warten Sie einen Augenblick!«

Er legte den Hörer hin.

»Man will Dich sprechen, Mia.«

Der alte Ballettmeister war mit allen seinen Jüngern und Jüngerinnen auf vertrautem Fuß.

Mia unterbrach die Uebung und griff zum Hörer.

»Was? Wer ist dort? Die Portierfrau aus unserem Haus in der Pestalozzistraße? ... Was ist denn los, Frau Schulz?«

Sie hörte angestrengt zu.

Plötzlich ließ sie mit einem Schrei den Hörer auf die Gabel fallen.

»Um Gotteswillen – – Schnell, schnell, meinen Mantel!«

Der Ballettmeister und der Klavierspieler sahen sich erstaunt an. Aus Mias Gesicht, dessen liebenswürdige Heiterkeit, mit der sie noch vor einer Minute die beiden alten Künstler entzückt hatte, war jeder Tropfen Blutes gewichen. Mit verstörten Augen blickte sie um sich.

»Schnell, schnell, meinen Mantel!«

Der Ballettmeister wollte einwenden.

»Aber willst Du Dich nicht erst umziehen, Kind!«

Sie war im kurzen Ballettröckchen, das bis zu den Knien reichte, dem Uebungsrock.

Sie winkte mit der Hand ab.

»Nein, nein, es ist höchste Eile – sonst treffe ich ihn nicht mehr lebend an – – Mein Vater ...«

Weiter konnte sie nicht mehr sprechen, sie stürzte aus der Wohnung, nachdem sie in aller Eile den Pelzmantel umgeworfen.

Nach einer Viertelstunde trat sie in das Schlafzimmer ihrer Eltern.

Da lag der alte Sandhofer, still und stumm, seine Hände hatten sich in die Bettdecke gekrampft, sein Gesicht war wächsern, wie eine Totenmaske.

Die Mutter saß am Kopfende des Bettes und weinte still vor sich hin.

Ein Arzt hantierte und schrieb auf einem Zettel ein Rezept aus.

Als Mia eintrat, angstvoll sich im Zimmer umblickend, wollte die Mutter laut losschreien.

Aber der Arzt hob warnend den Finger, flüsterte:

»Stören wir den Kranken nicht – –!«

Mia sah ihn fragend an.

Der Arzt bat sie, mit ihm in das Nebenzimmer zu treten.

Dort sagte er ihr:

»Sie sind die Tochter? ... Ihr Vater hat leider einen schlimmen Schlaganfall erlitten – Es ist wenig Aussicht vorhanden, ihn am Leben zu erhalten – –«

Er zuckte mit den Schultern. Mit dem Ausdruck des berufsmäßigen Mitleids neigte er den Kopf.

»Wenn es schlimmer werden sollte, bitte mich zu rufen!«

Als er gegangen war, kam Frau Schulz, die Portiersfrau, die die ganze Zeit über aus Teilnahme sowohl wie aus Neugier in der Küche geblieben war, ins Zimmer herein, wo Mia, ganz apathisch, noch immer im geschlossenen Pelzmantel auf einem Stuhl hockte und auf die Erde starrte.

Frau Schulz wollte sie trösten und erzählte. Sie berichtete, wie sie plötzlich durch einen Menschenauslauf vor die Tür gelockt wäre. Wie man um jemand herumgestanden hätte, sie habe zuerst nicht erkennen können, wer es gewesen. Denn die Leute hätten sich gedrängt, als wenn ein Pferd gefallen wäre. Sie hätte sich aber durchgequetscht bis in die vorderste Reihe. Da lag nun ihr Mieter, der Herr Sandhofer. Mitten in dem Schneehaufen habe er gelegen, den sie erst heute Morgen zusammengeschippt. Sofort habe sie gesehen, was los war. Der Herr Sandhofer schien ein bißchen zu viel getrunken zu haben – in der letzten Zeit wäre das ja öfters vorgekommen –

Mia blickte die Frau verständnislos an.

Die Gedanken verwickelten sich zu unlösbaren Knoten in ihrem Gehirn.

Ihr Vater ein Säufer, der betrunken wie ein Vagabund nach Haus kommt?

»Er lag nun im Schnee,« fuhr Frau Schulz fort, »es war ein Jammer mit anzusehen – der arme alte Mann, wo er doch sonst so'n propperer Mensch und Beamter gewesen – – Nee, das Unglück bringt die Menschen ganz 'runter!«

Sie wollte noch weiters allgemeine Betrachtungen über Schicksalsfügungen machen, aber sie schwieg, als sie den entsetzten Ausdruck in Mias Augen sah.

»Es hat ihn der Schlag getroffen – – wenn er's man übersteht,« sagte die Schulz, nahm den Schürzenzipfel, wischte eine Träne aus dem linken Auge, womit sie ihren Beileidsbezeugungen vollauf genüge getan zu haben glaubte.

Drinnen im Schlafzimmer hörte man die Mutter laut aufschluchzen. Mia sprang vom Stuhl auf, der Pelzmantel öffnete sich und Frau Schulz sah zu ihrem großen Erstaunen das kurze Ballettröckchen darunter.

Mia stürzte ins Schlafzimmer.

Es war vorbei mit dem alten Sandhofer.

Frau Schulz stand im Türrahmen. Betrachtete neugierig die Szene. Da stand die Mutter und weinte laut und unter Stöhnen. Und die Tochter, die den Mantel abgestreift hatte, lag im Ballettkostüm über das Bett gebeugt und hielt den Kopf ihres toten Vaters in den Händen, lautlos, vor Schmerz stumm geworden.

Frau Schulz dachte, daß das alles sich ansähe, wie im Theater oder im Kino. Und sie machte sich ihre eigenen Ideen über die Zusammenhänge zwischen Wirklichkeit und Vorstellung ...


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