Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Von der allgemeinen Welle mitgerissen, gondelte Adolf Grünmeier von Klub zu Klub, in denen er wie so viele seiner Mitmenschen sein tägliches Glück versuchte. Man konnte nicht eigentlich sagen, daß er vom Spiel lebte, aber er lebte dennoch von dem, was ihm ein günstiges Geschick jeden Tag in den Schoß warf. Zu feige von Natur, um wie sein verstorbener Bruder sich in Spekulationen einzulassen, wagte er auch am grünen Tisch nicht, den großen Coup zu machen. Er begnügte sich mit Kleinigkeiten und war mit einem Hunderter Tagesverdienst zufrieden. Sein anderes Einkommen hing noch mehr von Zufälligkeiten ab. Seine »Branche«, die Baumwollmanufaktur, litt unter der Valuta und den anderen Drangsalierungen der politischen Konstellation. Für andere Geschäfte als für die eines sogenannten Stadtreisenden reichte seine kaufmännische Begabung nicht aus. Auch war sein Ungeschick in den Kreisen der Leute, die sich mit Hin- und Hergeschäften befaßten, bekannt. Er galt als Pechvogel, als Schlemihl, bei dem keine Affäre glatt abging.

Nur im Spielsaal hielt er eine gewisse Balance. Er hatte die Nerven des Zusehenkönnens. Er konnte stundenlang das Spiel beobachten, ohne einen Einsatz zu riskieren. Er legte sich wie ein Fuchs auf die Lauer und wartete den richtigen Coup ab. Allerdings konnte es auch ihm passieren, daß er einmal in die »Gegensträhne« kam. Dann verlor er an einem Abend den Gewinn einer ganzen Woche und am nächsten Tage bekam Frau Luise zu Haus böse Zustände. Sie mußte aus ihrem kleinen Vermögen aushelfen, wieder »aufschütten«.

So verlief das Leben Adolf Grünmeiers jetzt, nachdem er die Hoffnung aufgegeben, jemals die Million seines verstorbenen Bruders erhalten zu können. Die Verhandlungen mit Modersohn waren abgebrochen. Daran hatte Frau Luise Schuld, die über die Höhe der geforderten Provision gestolpert war.

Peinlich gestaltete sich für Adolf die ganze Lage, als sein Sohn Paul zurückkam. Für den Jungen mußte etwas geschehen. Der Herr Doktor ing. sollte standesgemäß auftreten.

Nachdem Paul auf Kosten des Roten Kreuzes noch eine Kur in den Bergen gemacht, um die angegriffene Lunge zu stärken, erschien er plötzlich im elterlichen Haus, früher als man ihn erwartete. Den Grund seiner schnellen Rückkehr nannte er nicht. Er zeigte trotz äußerlich gesunder Farbe eine krankhafte Unruhe, und erwiderte Frau Luisens Fürsorglichkeit mit zerstreutem Gleichmut.

Zwei Tage nach Frau Mimis plötzlicher Abreise hatte er ein dringendes Telegramm von ihr erhalten, in dem sie ihn anflehte, sofort nach Berlin zu kommen, um sie zu retten.

Er verstand den Inhalt nicht. Er wußte nicht, was das bedeuten sollte: »Retten Sie mich!« Er hatte nur das Gefühl, daß seinem Kameraden Gefahr drohte und er folgte dem Ruf, ohne zu fragen.

Liebte sie ihn?

In den wenigen Wochen, die sie miteinander verlebt, hatte er sich an sie gewöhnt, hatten sich ihre Seelen einander erschlossen. Aber kein Wort war gefallen, das ihnen das Geheimnis ihrer Liebe offenbart hätte.

Nun, da sie fern voneinander waren, wußten sie beide, daß sie zusammengehörten ...

Adolf Grünmeier war gleich nach dem Abendessen gegangen.

Frau Luise sagte zu ihrem Sohn, als sie mit ihm allein zurückblieb:

»Der Vater ist ein Spieler geworden – leider!«

Paul zuckte mit den Schultern.

Das alles begriff er nicht. Er kannte die Menschen nicht wieder, denen er begegnete seitdem er aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Alles war durcheinander geworfen, alles stand auf dem Kopf. Auch sein Vater, dieser nüchterne bescheidene Kaufmann, sah das Leben anders. Ein dem Sohn unwahrscheinlich dünkender Leichtsinn schien ihn ergriffen zu haben.

»Ja, ja,« meinte die Mutter, »sie spielen heute alle – – – Das Leben ist so kostspielig geworden – mit dem bißchen, was wir haben, können mir sonst nicht auskommen.«

Also billigte die Mutter diesen Lebenswandel? Was für eine Moral haben sich diese Menschen jetzt zurechtgelegt? Eine Moral der Unmoral – – – Er mußte sich in diese neue Anschauung hineinfinden.

Ob er nicht schlafen gehen wollte, fragte die Mutter, die Reise müßte ihn ermüdet haben und dann seine Gesundheit ...

Paul lachte.

Mit der Gesundheit ginge es ausgezeichnet.

»Nein, Mütterchen, habe keine Sorge um mich. Ich muß sehen, daß ich in dieser verkehrten Welt auch auf die Füße komme – – aber ich will noch heute abend jemand aufsuchen ... einen Freund.« Er errötete.

Der Gedanke an Mimi ließ ihm das Blut in die Wangen steigen.

Die Mutter betrachtete ihren großen, schlanken Jungen.

Was er für ein prächtiger Mann geworden!

Sie ging in das Schlafzimmer und kehrte nach kurzen Minuten wieder, reichte ihm ein paar Hundertmarkscheine:

»Hier, Paul, etwas Geld – – es für dich gespart – – in all den schrecklichen Monaten und Jahren, da du fern von uns gewesen.«

Paul küßte seine Mutter. Innig hielt er die zarte kleine Frau in den Armen und dankte ihr für ihre große Liebe ...

Als er eine halbe Stunde später an der Korridortür klingelte, auf der Frau Mimis Name stand, öffnete ihm ein Page in schmucker Uniform, der ihn nach seiner Mitgliedskarte fragte.

Er wolle Frau Schwarz seine Aufwartung machen, sagte Paul und gab dem Pagen seine Karte.

Auf der Diele herrschte ein betriebsamer Verkehr. Menschen kamen, Herren und Damen in eleganten Pelzen und Abendmänteln, die ihnen Diener in Eskarpins abnahmen. Man schrieb sich in ein Buch ein, das auf einem Tischchen lag und ein monokeltragender Gentleman, der den Typ des verabschiedeten Offiziers zeigte, machte die Honneurs, führte die Herrschaften in die Säle, aus denen Stimmengewirr klang.

Nach einer Weile kam der Page zurück.

»Die gnädige Frau lassen bitten – – –«

Der Page sprach leise zu dem Gentleman mit dem Monokel.

Dieser näherte sich Paul, klappte mit den Hacken zusammen, beugte unmerklich seinen Oberkörper vor und schnarrte irgendeinen Namen, von dem Paul nur das »von« verstand. Dann wies er ihm das Gästebuch, in dem Paul sich einschrieb.

Von allen diesen Zeremonien begriff Paul nichts. Er dachte, daß die Sitten inzwischen eigentümliche Formen angenommen. Augenscheinlich war er ja in eine Abendgesellschaft hineingeraten, die Frau Mimi gab. Aber früher waren für solche Abendgesellschaften so mannigfache Umstände nicht Brauch gewesen. Umstände, die den zwanglosen Verkehr immerhin hinderten.

Er hatte nicht lange Zeit über das Thema zu meditieren, denn eine seltsame Atmosphäre umfing ihn, als er in den Salon getreten war.

Eine heiße Wolke lag über den Räumen, die, wie er überblicken konnte, eine Flucht von drei bis vier Zimmern bildeten. Einem Bienenschwarm gleich, der emsig arbeitend an der Wabe hängt, standen die Menschen umher oder saßen an großen runden Tischen, gestikulierten oder starrten gespannt auf irgend etwas vor sich, liefen von einem Tisch zum andern.

Ewige Unruhe.

Und eine Art Explosionsstoff lag in der Luft, eine Hochspannung. In allen Gesichtern, die Paul wie im Fluge in sich aufnahm, zuckte diese Hochspannung, zitterten die Leidenschaften.

Paul sah durch die Nebelschwaden, die, aus Zigaretten- und Zigarrenrauch gebildet, alles umspannten, wie gierige Hände, dicke, fleischige Hände oder lange hagere Spinnenhände aus einem Holzkasten Karten zogen. Wie Männer und Frauen Geldnoten und kleine und große Täfelchen auf den Tisch warfen, sie zusammenrafften oder mit haßerfüllten oder gleichgültigen Blicken, mit gespielter Würde und zusammengekniffenen Lippen dem verlorenen Gelde nachschauten.

Paul blieb stehen.

Frauen, die ihre nackten Brüste zur Schau stellen, standen dichtgedrängt zwischen den geschniegelten Herren. Süße Parfüms stiegen auf, mischten sich mit dem ätzenden Geruch des kalten Tabaks, mit den Ausdünstungen der fiebernden Menschen.

Paul sah mit Staunen, daß er mitten in einer Spielergesellschaft war. Er hatte noch niemals einen Spielklub betreten.

Einen Augenblick glaubte er, daß er sich geirrt habe. Unmöglich konnte diese Gesellschaft zu Gast bei Frau Mimi sein, bei seiner lieben, guten Kameradin – – –

Frau Mimi trat in blendender Schönheit auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Herr Doktor!«

Paul war befangen.

Dies Zusammentreffen mit der Frau, deren Hilferuf ihre Liebe verraten, hatte er sich anders ausgemalt. Hatte ein gebrochenes, von schwerem Schicksal gebeugtes Menschenkind wiederzufinden geglaubt.

Diese Frau, die vor ihm stand, auf deren milchweißen Schultern das Licht der elektrischen Kerzen spielte, deren fließendes Crêpe de Chine-Gewand sich wie eine gleißende Schlange um den weichen Körper wand, schien der Triumph des Glückes selbst. Um ihre roten üppigen Lippen lag ein Lächeln, so ruhig und sieghaft, als wenn es von einem Künstler gemeißelt wäre.

Paul verlor alle Sicherheit, wurde irre an sich, an der Welt, die er kannte.

Diese neuartige Welt, in die ihn der Zufall vor wenigen Minuten gebracht, war ihm ein Rätsel, ein Mysterium mit tausend Siegeln.

Frau Mimi sah lächelnd zu ihrem Kameraden von den verschneiten einsamen Bergen auf. Sie hob ihren stolzen Kopf ein ganz klein wenig und flüsterte, so daß es kein Unberufener vernehmen konnte.

»Folgen Sie mir unauffällig – – ich habe Ihnen viel zu sagen...«

Paul war es, als ob er ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht erlebte. Oder als wenn die Intrigue eines Detektivfilms ihn einspönne.

Und er ging hinter Frau Mimi her, ihre Bewegungen beobachtend. Wie eine Königin erschien sie ihm, da sie durch die Säle schritt, von den Gästen mit stummem Gruß beachtet oder von irgendeinem Frackmenschen in chevaleresker Weise angehalten, der der Dame des Hauses durch Handkuß seine Ehrerbietung beweisen wollte.

Paul blieb im großen Saal stehen, den ein langer Spieltisch fast ganz ausfüllte. In dreifachen Reihen drängten sich die Spieler um den Tisch, warfen über die Köpfe der vor ihnen sitzenden ihre Chips auf das grüne Tableau.

Hier in diesem Saal, wo das »große Spiel« stattfand, war der Mittelpunkt des Klubs: Das Bac à deux côtés. Trotz der Ansammlung so vieler Menschen in dem verhältnismäßig nicht zu großem Raume herrschte Ruhe. Nur das eintönige Kommando des Bankhalters, das Scharren der Geldharke und das Klappern der Chips unterbrachen diese Ruhe, die eine gemachte, fast fanatisch angehaltene Ruhe darstellte, wie sie vor jeder Spannung lag. Aber diese Spannung hielt alle Spieler fortwährend in Atem. Und es traute sich keiner ein lautes Wort zu sagen, kaum zu hüsteln, als ob sie den Zickzacklauf der eklen Glücksgöttin nicht aus dem Kurs bringen wollten.

Als Paul hinter Frau Mimi in diesen Saal trat, hielt eine elegante Ausländerin die Bank. Mit kohlschwarzen Augen, deren Höhlen azurblau schimmerten, alle Laster der Welt verratend, durchbohrte sie ihre Gegenspieler, während die langen überfeinen Hände, auf denen kieselsteingroße Brillanten und Perlen im Umfang von Taubeneiern funkelten, die Kartenpäckchen mischten. Sie war eine gefürchtete Spielerin, die die Millionen ihrer Verehrer achtlos verschwendete und die Einsätze ihrer Gegenspieler ebensowenig schonte. Dazu hatte sie das Glück des Abenteurers – – –

»Nimmt jemand der Banko?« fragte sie mit ihrem harten fremdländischen Akzent im gebrochenen Deutsch, und schob den Kartenpack in die Mitte des Tableaus.

»A qui le banco?« wiederholte sie auf französisch.

Einen Augenblick schien niemand dazusein, der Mut hatte, gegen die Bankhalterin zu spielen.

»Wieviel ist die Bank?« fragte Modersohn. der in der Nähe von Fran Mimi stehen geblieben war und mit ihr ein paar Worte gesprochen hatte, unter denen sie sichtlich zusammengefahren war. So wenigstens schien es Paul, der die kurze Szene aufgefangen und den herrischen Ton des großen starken Mannes an sein Ohr schlagen hörte.

»60 000 Mark, Monsieur Modersohn – En voulez-vous?«

Modersohn war an den Tisch getreten. Man hatte ihm sofort Platz gemacht. Einem so kapitalskräftigen Spieler wie Herrn Modersohn begegnete man mit gewisser Bevorzugung.

Modersohn griff nach dem Packen, um »abzuheben«.

»Banco Solo! – – Nein, meine Herrschaften, es tut mir leid, ich nehme keinen Einsatz mit!« sagte er energisch, als die Ponte, die Mitspieler, Chips auf das Tableau schieben wollten.

Er war in großer Erregung heute. Er konnte das Glück nicht zwingen. Den ganzen Tag hatte er Mißschläge. Heute früh war ihm mitgeteilt worden, daß man Niederhuber mit seinen Benzinwaggons geklappt hätte – die hundert Mille von Mimi waren zum Teufel. Wenn der bayerische Stiesel nicht dicht hielte, ginge es ihm selbst womöglich noch an den Kragen... Und dann im Spiel das ausgemachteste Pech. Am Nachmittag war er im Sportklub mit fast 70 000 Mark in die »Brenne« gekommen. Hier hatte er bereits zwei Banken verzogen und gegen die kleine schwarze Kanaille, die ihm jetzt mit ihren Mühlrädern von Augen wie eine Viper ihr Opfer anglotzte, schon ein großes Banko verloren.

»Hol's der Geier«, murmelte er vor sich hin. Er würde das Glück zwingen, diese Dirne. Wie er alle Weiber zwänge, ihm zu Willen zu sein – –

»Ick gäbbe«, sagte die Französin und schob nachlässig mit der linken Hand die heruntergerutschte Taille auf die Schulter, um das zu stark in die Öffentlichkeit getretene Dekolleté wieder zu bedecken.

Langsam nahm Modersohn erst die Karten von Seite 1, dankte. Dann bat er um eine Karte für Seite 2. Die Karte war ein Bild. Die Französin deckte auf: sie hatte ein Bild und eine Drei. Dann zog sie aus dem Schlitten eine Karte: Sechs.

»Neuf«, sagte sie.

Modersohn warf seine Karten hin. Er hatte verloren. Zahlte mit einer Geste, die nichts von seiner inneren Wut verriet, und trat vom Tisch zurück.

Die übermäßig rot geschminkten Lippen der kleinen Französin kräuselten sich zu einem Lächeln, aber im nächsten Augenblick kommandierte sie mit ruhigem Anstand:

»Messieurs et Mesdames, ick bitten, Ihr Spiel zu macken – – –«

Und sie schob die Karten mit ihren nervösen langen Händen den Spielern zu.

Auf der rechten Seite von ihr hatte den Platz 7 ein provinzmäßig gekleideter Herr inne, der sich im Gästebuch als Fabrikant Merker aus Chemnitz eingeschrieben. Er spielte mit kleinem Einsatz, aber mit Glück. Gleich nachdem Modersohn das Banko verloren hatte, stand Herr Merker von seinem Sitz auf und ging in das Speisezimmer. Detektiv Kimbell dachte bei einem Glase Whisky seine Affäre besser durcharbeiten zu können, als in der heißen Luft des Spielsaales. Und im übrigen hatte er ja die Spesen reichlich gewonnen – – –

Frau Mimi war gebannt von dem waghalsigen Spiele Modersohns stehengeblieben. Jetzt, da die Spannung gelöst und Modersohn in den vorderen Raum gegangen, wo sie ihn mit dem Klubkassierer sprechen sah, winkte sie Paul, ihr schnell zu folgen. Wie weggefegt war das eingefrorene Lächeln, der hoheitsvolle und zugleich süße Ausdruck ihres Gesichts: ein armes, aufgescheuchtes, zu Tode geängstigtes Wesen blickte ihn mitleidflehend an.

Hinter einer Tapetentür verschwanden die beiden, von niemand bemerkt.


 << zurück weiter >>