Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Quedlinburg

Auf dem Quedlinburger Gymnasium

In Quedlinburg wehte eine andere Luft als in der märkischen Fabrikstadt Kottbus.

Wie frisch, wie gesund, wie anregend zum Fleiß und zu förderlicher Bewegung im Freien war da alles!

In der Prima ging es her, wie es sein soll.

Zu Kottbus hatten sich sämtliche Schüler von der Sekunda an »Sie« genannt, und es waren, denk' ich, höchstens ein halbes Dutzend gewesen, mit denen ich, als ich abging, Brüderschaft getrunken. In Quedlinburg duzte sich die ganze Prima, und ein schönes kameradschaftliches Verhältnis verband alle Mitglieder der Klasse. In den Stunden waren wir ernst, in den Zwischenpausen ging es dagegen heiter genug her.

Der Direktor, Professor Richter, der gelehrte Herausgeber der Fragmente der Sappho und so weiter, kam Tzschirner an Feinheit des Geistes und hinreißender Kraft des Darstellungsvermögens nicht gleich, doch folgten wir gern den Interpretationen des würdigen Mannes.

Mancher freie Tag und Nachmittag führte uns in den benachbarten herrlichen Harz. Das Beste aber war das Haus, das mich in Quedlinburg aufnahm. Es gehörte meinem Tutor, dem Professor Adalbert Schmidt, einem vortrefflichen Vierziger, der äußerlich höchst mild und nachgiebig schien, der aber, wo es darauf ankam, fest und energisch auftrat und seinen Schutzbefohlenen keinen Übergriff durchließ.

Seine Gattin war ein Muster liebenswürdiger, beinahe schüchterner Weiblichkeit. Ihre Schwägerin, die Witwe eines höheren Justizbeamten, Frau Pauline Schmidt, teilte mit ihr die Sorge um uns und ihr Eigentum, den schönen, großen Garten am Hause, und hübsche, muntere, noch nicht vollerwachsene Söhne und Töchter steigerten die Anmut des Verkehrs.

Wie erfreulich waren auch die Abende, die wir in der Familie verlebten! Da wurde vorgelesen, geplaudert, musiziert, und Frau Pauline Schmidt hörte mir gern zu, wenn es mich drängte, jemand mitzuteilen, was ich gedichtet.

Unter den Schulfreunden waren gleichfalls einige, die mir das Ohr liehen und mir die eigenen Versuche zeigten. Unter ihnen war mir der liebste Karl Hey, der Enkel des Dichters Wilhelm Hey, der das Kinderherz so gut verstand und dem die netten Verse den Ursprung verdanken, welche die Bilder in den nach dem Zeichner benannten Speckterschen Fabeln begleiten, die ja heute noch den kleinen deutschen Knaben und Mädchen so lieb sind.

Mein Freund Karl Hey war, bevor er das Rektorat in Halberstadt übernahm, Vorsteher der dortigen Gleimsammlungen und hat selbst hübsche und nützliche Schriften veröffentlicht. Auch der enthusiastische Hübotter, der Sohn des Amtmanns auf dem großen Quedlinburger Klostergute, war mir lieb. Er kannte den ganzen Lenau auswendig, deklamierte wunderschön und ist, anfänglich sehr gegen den Willen seiner angesehenen Familie, Schauspieler geworden. Unter dem Namen »Otter« wurde er als Charakterdarsteller die Zierde mancher größeren Bühne. Auch seine schöne Schwester Marie suchte eigene Wege, indem sie später große Weltreisen unternahm. In seinem elterlichen Hause, in dem des ruhigeren Becker, und auch in der Familie des kleinen, lustigen Ihlefeld fand ich freundliche Aufnahme. Der riesenstarke Lindenbein, der fleißige Brosin, der talentvolle Gosrau und der nicht minder reich begabte Schwalbe waren mir liebe Kameraden. Mein Pensionsgenosse Douglas aus Aschersleben, ein Vetter des bekannten Reichstagsabgeordneten, war ein wohlgesinnter, gut begabter junger Mann, doch leider stets bereit, mich zu überbieten, wenn mir ein dummer Streich in den Sinn kam.

Die Lust an dergleichen hatte sich in der frischen Quedlinburger Luft wieder eingestellt, nachdem ich in der ernsteren Stimmung der ersten Wochen, nur auf mein Ziel bedacht, eigene Wege gegangen war.

Ich hatte mich viel reifer gefühlt als die Kameraden und ja auch wirklich weit mehr vom Leben gesehen. Aber bald erkannte ich in ihnen prächtige, wahrhaft liebenswerte Gesellen. Das wunde Herz genas schnell genug, und je wohler ich mich körperlich und geistig fühlte, desto lebhafter begann sich der Dämon wieder in mir zu regen. Es war nicht mein Verdienst, wenn man es hier unterließ, mich abermals den »tollen Ebers« zu nennen.

Mein Hund, der mit dem Vornamen »Allerdings« und mit dem Vatersnamen wegen eines seiner Kunststücke »Purzelmann« hieß, begleitete mich überallhin und erwarb sich eine gewisse Berühmtheit nicht nur wegen der Visitenkarte, die er mit mir abgab, wenn wir gemeinsam einen Freund besuchten.

Sein Herr kam leider auch an der Bode einmal mit den Behörden in Berührung; denn er hatte sich an fremdem Eigentum vergriffen.

In unseren Garten schaute nämlich die Räucherkammer eines höchst übellaunigen, belfernden Nachbars, und durch ihre schmale Fensterluke waren einige schöne Würste sichtbar. Da trieb mich eines Tages der Übermut, in der Dämmerstunde mit Hilfe einer Leiter die Luke zu erklettern, mich einer der Würste zu bemächtigen und an ihre Stelle einen Käse und drei Heringe zu hängen. Es galt nach diesem Streiche, sich die Hände tüchtig waschen, doch wurde die Mühe belohnt; denn eine wie fröhliche Überraschung bereiteten die neuen und fremdartigen Gefährten der Würste den Besuchern des Gartens, und in welchen Zorn geriet der grämliche Besitzer der Räucherkammer, dem der Streich eigentlich galt.

Doch dieser grimme Herr verstand keinen Spaß, und ungesäumt reichte er eine Klage gegen mich ein. Sie verfehlte indes ihren Zweck, da ich mit einem leichten Verweise davonkam.

Der Quedlinburger Sommer war eine schöne, zwischen Arbeit und prächtiger Erholung geteilte Zeit. Eine Pfingstreise, die ich mit heiteren Kameraden in den Harz machte und die uns auch auf den Brocken führte, den ich von Keilhau aus schon einmal erstiegen, gehört zu meinen freundlichsten Erinnerungen.

Schönere Ziele zu kleinen Ausflügen und Landpartien wie Quedlinburg bieten wenige Städte, und manche, an denen auch die Familien der Freunde mit ihren hübschen Töchtern, einige Offiziere und andere junge Leute teilnahmen, brachten oft ein Tänzchen, frohen Gesang bei Maitrank und anderen Bowlen mit sich.

Der Harz gehört sicher zu den schönsten Gebirgen Deutschlands, und es ist schwer zu sagen, welchen seiner so verschiedenartigen Teile der Vorzug gebührt. Mir hob sich das Herz am höchsten in den herrlichen Laubwäldern seines südöstlichen Teiles, des Unterharzes. Die ernstere, von Quedlinburg weiter entfernte Tannenzone der Brockengegend bietet indes gleichfalls große und fesselnde Reize.

Der Harz und Thüringer Wald sind Zwillingsgebirge. Die liebliche Thuringia möchte ich die Schwester, den strengen und ernsten Herzynischen Wald den Bruder nennen, aber in so ernste Falten er auch die hohe Stirn am Brocken zieht, so wild und mit wie tosender Wut die Bode auch auf ihrer felsigen Bahn dahinstürmt, so anmutig weiß er bei Gernrode, im Selketal und bei Blankenburg zu lächeln.

Wie die Thüringer Berge, so umflicht auch die seinen ein Kranz von Sagen und historischen Erinnerungen. Schon in der nächsten Nähe von Quedlinburg prangen einige seiner allerschönsten Blüten. Wir waren mit ihnen vertraut, und bei unseren Wanderungen ins Freie gedachten wir ihrer. Sie und die Freude an der Natur, die uns so nahe umgab und mit der ich hier den alten festen Bund erneuerte, veranlaßte mehr als einen von uns zum Dichten, und es kamen da ganz andere, tiefer und wahrer empfundene Poesien zutage als in Kottbus.

Von dem Herzynischen Wald und den Denkmälern der Vorzeit her durchwehte ein poetischer Hauch unser Leben. Unter den rauschenden Buchen der nahen Forsten träumte es sich schön, und in der Schloßkirche und vor ihren alten Gräbern, in der Krypta des St. Wipertiklosters, die älteste Zeugin christlicher Kunst in dieser Gegend, berührten uns die Schauer der Vorzeit.

Das Leben des großen Städtebauers Heinrich, das ich zu Kottbus im Liede gefeiert, hier ward es mir lebendig, und wie mächtig wirkte auf junge Seelen der Besuch des alten Stiftgebäudes! Hier hatten die nächsten Verwandten großer Könige als Äbtissinnen gewaltet. Es war erst zwei Menschenalter her, seit die unglückliche Schwester Friedrichs des Großen, Anna Amalie, in dieser Stellung die Augen geschlossen hatte.

Seltsam und doch nachhaltig wirkte in dem Stift eine Leiche und ein Bild auf mich ein. Beide wurden in einem unterirdischen Raume bewahrt, der die Eigenschaft besaß, animalische Körper der Verwesung zu entziehen und sie ohne Hilfe der Balsamierung in ihrer ursprünglichen Gestalt zu erhalten. In diesem Raume nun hatte man die Leiche der Geliebten Augusts des Starken von Sachsen, die Gräfin Aurora von Königsmark, beigesetzt, die als Schönste der Schönen ihrer Zeit gefeiert worden war. Nach einer in Glanz und Herrlichkeit verbrachten Jugend hatte sie sich als Propstin in das Stift zurückgezogen, und da lag sie nun, unverwest und unverschleiert, todesstarr und vergilbt, wenngleich die Züge ungefähr die Formen bewahrt hatten, die sie im Tode besessen. Neben ihr hing ihr Bildnis, das aus der Zeit stammte, in der ein Lächeln ihres Mundes, ein Blick ihres sieghaften Auges genügt hatte, auch das kälteste Männerherz mit heißem Verlangen zu erfüllen.

Eine furchtbare Antithese!

Hier das Bild der blühenden, von Schönheitsglanz umstrahlten, liebreizenden Hülle einer von stolzem Übermut geschwellten lachenden Seele – dort diese Hülle selbst, von der Hand des Todes in ein abschreckend starres, farbloses Zerrbild verwandelt, eine Mumie ohne Balsamierung.

Auch die Kunst hatte in Quedlinburg eine Stätte. Ich denke noch gern der schönen Winterlandschaften des wackeren Malers Steuerwald, in die er die mittelalterlichen Baureste des Harzes so sinnig zu verflechten verstand.

Die Stadt lag nicht im Gebirge, sondern ihm zur Seite und hielt fortwährend das Verlangen nach den nahen Bergen lebendig.

So ist denn Quedlinburg trefflich geeignet, poetische Empfindungen in jungen Herzen zu wecken, die Seele mit Liebe zu der schönen, ehrwürdigen Heimat zu sättigen und sie doch mit dem Wunsche zu erfüllen, sich die Ferne zu eigen zu machen. Daß Klopstock hier geboren wurde, weiß jedermann, aber auch der größte Geograph aller Zeiten, Karl Ritter, dessen gewaltiger Geist die gesamte Welt überschaute, als sei sie das Gebiet seiner Heimat, erblickte hier das Licht der Welt und brachte merkwürdigerweise, ähnlich wie Klopstock in dem Thüringer Schulpforta, die Keime, die er hier aufgenommen hatte, in dem Thüringer Schnepfental zum Ergrünen. Auch der Förderer des Turnwesens, Gutsmuths, der jetzige Kultusminister Bosse und der Dichter Julius Wolff sind Quedlinburger Kinder und Schüler des dortigen Gymnasiums.

Ich denke gern an die ehrwürdige Harzstadt.

Mit Douglas ging ich auch zum Besuch in seine Vaterstadt Aschersleben und verlebte dort bei den Seinen schöne Tage. Wäre das schwankende Herz damals schon reif für eine große, beständige Liebe gewesen, es hätte nicht so schnell von der anmutigen Tochter des Hauses gelassen, für die es schon stürmisch genug zu schlagen begann.

Unter den vielen hübschen Mädchen, mit denen ich in Quedlinburg heiter, doch in voller Seelenruhe verkehrte, befand sich auch eins, das mich lehrte, wie wohl es für junge, geistesverwandte Menschenkinder von verschiedenem Geschlecht angeht, einander in Freundschaft mit Ausschluß jedes leidenschaftlichen Verlangens nahe zu kommen. Die Tochter des Geheimrats Weyhe, des Landrats des Ouedlinburger Kreises, war es, deren klarer und graziöser Geist mich schon bei der ersten Begegnung lebhaft angezogen hatte. Auch sie fand Gefallen an meiner lebhaften Weise und meinem geistigen Streben, und so kam es, daß wir, wo es anging, uns zueinander gesellten und austauschten, was uns innerlich bewegte. Sie war den Jahren nach kaum älter, doch unendlich viel reifer und verständiger als ich und gewann darum einen so starken Einfluß auf mich, daß ein Wort von ihr genügte, mich zurückzuhalten, wenn mein Übermut sich heftiger zu regen begann. Dafür schenkte ich ihr ein warmes, dankbares Zutrauen, und ihr das Herz zu erschließen und ihr mitzuteilen, was ich dichterisch schuf und plante, war mir ein Genuß; denn ich durfte sicher sein, von ihr verstanden zu werden.

Ich war ihr sehr gut und wundere mich, daß Eros den Bogen ruhen ließ, denn Mathilde Weyhes Äußeres war kaum weniger begehrenswert als ihr klarer Geist, ihr schlagfertiger Witz und ihr redliches, warmes Gemüt.

Wenn wir uns auch nicht wiedersahen, sind mir doch noch in allerjüngster Zeit wahrhaft herzerfreuende Zeichen des Gedenkens der glücklichen Gattin und Großmutter Frau Dr. Schreiber, der früheren Mathilde Weyhe, zuteil geworden.

Sie hatte auch die von mir gedichteten Verse bewahrt, die ich auf dem bevorstehenden Aktus zu deklamieren aufgefordert worden war. Aus dem in ihrem Besitz befindlichen Manuskript sind sie denn in der Festschrift abgedruckt worden, die im Jahre 1891 bei Gelegenheit des dreihundertundfünfzigjährigen Bestehens des ehrwürdigen Quedlinburger Gymnasiums herausgegeben wurde.

Da dies Gedicht die früheste meiner poetischen Arbeiten ist, die in Druck kam, mag es hier mitgeteilt werden. Am Schluß dieses Buches.

Ich hatte den Stoff selbst gewählt, und wenn ich es mit den anderen in jener frühen Zeit entstandenen Dichtungen und besonders auch mit dem Tragödienfragment »Panthea und Abradat« zusammenhalte, darf ich doch wohl der Überzeugung Raum geben, daß der Drang, antike Stoffe zu poetischen Zwecken zu verwerten, in meiner geistigen Natur begründet ist; denn weitaus die meisten meiner Dichtungen sind mir schon damals aus dem Leben der Alten entgegengewachsen.

Langethal und Tzschirner hatten es mich lieben gelehrt, und die Sehnsucht, der Schillers »Götter Griechenlands« den Ursprung verdankt, erfüllte mich damals oft genug mit leidenschaftlicher Gewalt. Sie ging so weit, daß, wenn ich den Unterharz einsam durchwanderte, meine Einbildungskraft den herrlichen Laubwald mit dem bunten Göttervolk der griechischen Mythologie bevölkerte. Dann traten aus dem glatten Glanzgrau der Buchen und der rauhen Rinde der Eichenstämme schöne Dryaden, und in dem nahen Quell kühlte die Nymphe die weißschimmernden Füße. Von Fels zu Fels verfolgte der Zentaur mit dem scheckigen Pferdeleibe das fliehende Weibchen mit dem goldig wehenden Haarschmuck, und wenn in der Mittagszeit eines schönen Sommertages, in der Geisterstunde des südlichen Europas, alles um mich her ruhte und sich kein Laut vernehmen ließ wie das Huschen der Eidechse, die durch das Laub schoß, oder das Summen der Insekten, dann schaute mir aus dem schattigen Buschwerk der Kopf des Faunes mit den klugen, spitzen Ohren entgegen, und hinter den äsenden Rehen, die, aufgescheucht von meiner Nähe, in das Unterholz einbrachen, ahnte ich die pfeilfrohe Artemis mit dem leicht geschürzten Gefolge.

Das alles hatte der blinde Schüler Wolfs, unser Langethal, mich nicht nur bei der Erklärung der Ilias, sondern auch auf manchem Spaziergang schauen gelehrt; denn seinem nach innen gekehrten, der Außenwelt verschlossenen Blicke war es in den schönsten Formen und glänzendsten Farben begegnet.

Vorstellungen aus dem Leben der Alten beherrschten meine Gedankenwelt in Quedlinburg wie schon früher und noch so viel später mit ungewöhnlicher Gewalt, und wenn es den erregten Geist zu dichterischem Gestalten drängte, trat ihm ungerufen Stoff auf Stoff aus der Zeit und den Daseinskreisen entgegen, die für ihn zugleich das Schönste und Interessanteste umfaßten.

Die Wahl des zu behandelnden Gegenstandes war mir, wie gesagt, freigestellt worden, und so legte ich denn meinem Aktusgedichte die Erzählung Herodots vom Atys und Adrast zugrunde.

Die Wirkung, die ich wohl mit auf Rechnung meines Vortrages zu schreiben habe, kann nicht gering gewesen sein; denn als viele Jahre später mein Schulkamerad Brosin mir sein Buch über Schillers Vater übersandte, schrieb er, daß jene Deklamation ihm unvergeßlich geblieben sei. Er sehe mich noch vor sich »mit der hohen Stirn und den leuchtenden Augen«, und immer noch klinge ihm mein Ruf im Ohre: »Halali erschallt's im Tale.«

Zwischen das schriftliche und mündliche Examen fielen die großen Ferien, und da ich unter der Hand erfahren hatte, daß meine Arbeiten genügend ausgefallen wären, gestattete mir die Mutter, in den Schwarzwald zu reisen, wohin mich liebe Erinnerungen zogen. Aber mein Freund Hey hatte noch gar nichts von der Welt gesehen, und so wählte ich ein leichter zu erreichendes Ziel und nahm ihn mit mir an den Rhein. Das war eine köstliche Erholungsfahrt, teils zu Fuß, teils auf der Eisenbahn und dem Dampfschiff, und mit echter Jugendlust genossen wir das Schöne, das sich uns überall darbot.

Über Göttingen ging es nach Hause, und was ich dort von dem Korps Saxonia sah, für das mich mein Berliner Spielkamerad Franz Österreich durch enthusiastische Schilderungen gewonnen, erfüllte mich mit solcher Begeisterung, daß ich den Entschluß faßte, auch einmal das blauweißblaue Band zu tragen, obgleich mein Bruder Martin das rotweißrote der Bonner Hanseaten, seines Korps, jedem anderen vorzog.

Auch das mündliche Examen wurde glücklich bestanden, und als Mulus kehrte ich in die Arme der Mutter zurück, die mich in Hosterwitz mit offenen Armen empfing.

So hatte denn die Schulzeit den Abschluß gefunden. Sie war bewegter verlaufen als bei den meisten anderen Knaben.

An die Keilhauer Jahre denke ich mit Dank und Freude zurück. In Kottbus waren dem jugendlichen Übermute so niedrige Schranken gesetzt worden, daß es ihm nur zu leicht gelingen mußte, sie zu überspringen; den beiden letzten dort verlebten Jahren hab' ich aber dennoch für manche Förderung zu danken.

An der leider nur kurzen Quedlinburger Zeit bedaure ich nur, daß sie sich nicht gleich an die Keilhauer schloß. Wäre ich aus Thüringen unmittelbar in das gute Gymnasium am Harze gekommen, hätte meine Entwicklung sicherlich einen ruhigeren Gang genommen. Doch wie oft erfuhr ich im späteren Leben an mir selbst und anderen, daß scheinbar ungünstige Verhältnisse, ja schmerzliches Mißgeschick die Brücke wurden, die den von ihm Heimgesuchten in das bis dahin verschlossene Reich einer höheren Glückseligkeit führte.

Der Entschluß, mich der Rechtsgelehrsamkeit zu widmen und in Göttingen das Studium zu beginnen, stand fest, und er war auch der Mutter genehm.

Aus welchem Grunde, infolge welcher Erwägungen ich die juristische den anderen Fakultäten vorzog, wäre schwer zu sagen. Innere Neigung oder ein durch prüfende Einblicke gewonnenes Interesse an der Wissenschaft, der ich mich hingeben wollte, hatte sicher nicht den Ausschlag gegeben.

Ich, der ich mir immer noch bei meinem »Weltgedicht« mit Freuden den Kopf zerbrach, damit meine hochfliegenden Spekulationen dem möglichen Hergang der Dinge bei der Entstehung des kosmischen und menschlichen Daseins in keinem Punkte widersprächen, entschied mit geringerem Nachdenken über den Beruf und das gesamte künftige geistige und äußere Leben, als ich etwa bei Gelegenheit der Wahl einer Wohnung in Tätigkeit gesetzt hätte.

Leider sah ich später viele wohlbegabte junge Leute ebenso handeln. Die Tradition der Familie oder Kaste, die Winke des Vaters, das Vorangehen eines Bruders oder Freundes veranlaßten sie, sich für einen Beruf zu entscheiden, dessen Inhalt ihnen ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch war.

In der Idealschule, wie ich sie mir denke, müßte den Schülern in der obersten Klasse in kurzer Zusammenfassung vorgeführt werden, was jeder der Hauptberufe bietet und von denen fordert, die sich ihm hinzugeben wünschen. Es müßte auch dem Leiter der Anstalt Sie dürfte nie mehr als siebzig Zöglinge umfassen. Barop nannte mir, wie ich ihm als reifer Mann wieder begegnete, diese siebzig als höchste Zahl, die es dem Erzieher gestatte, die ihm anvertrauten Knaben recht kennen zu lernen und als Individuen zu beobachten und zu behandeln. Er wollte darum auch nie mehr Zöglinge in Keilhau aufnehmen. gestattet sein, den jungen Männern, mit deren Gaben und Neigungen ihn ein langer Verkehr vertraut machte, einen die Wahl erleichternden Rat zu erteilen.

Freilich denke ich mir diesen Mann nicht nur als Lehrer, sondern zugleich auch als Erzieher, der sich wie mit den Schulleistungen so auch mit dem gesamten innern und äußern Wesen der auf die Universität zu Entlassenden vertraut machte.

Wären den Leitern der Keilhauer Anstalt die Zöglinge nicht so früh aus der Hand genommen worden, es hätte ihnen sicher gelingen können, für die meisten den rechten Beruf voraus zu bestimmen.


 << zurück weiter >>