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Im Wald und auf der Heide

Auch das Rudolstädter Ländchen, in dem Keilhau liegt, hatte seine wenn auch nur kleine und unblutige Revolution gehabt. Es war den Aufständischen freilich nur um etwas zu tun gewesen, was sich nicht einmal auf das menschliche Dasein bezieht und statt der Schonung lebender Wesen ihre Verfolgung bezweckte. Was die sonst mit ihrem wackeren, wohlwollenden Fürsten durchaus zufriedenen Bürger und Bauern forderten, war nur, daß den Tieren des Waldes in ausgiebiger Weise nachgestellt werde.

Man verlangte eine willigere Freigebung der Jagd.

Das möchte wie etwas Kleines erscheinen, und doch besaß es die allerhöchste Bedeutung für beide streitenden Teile. Die weitesten Forsten des Landes waren bis dahin das Jagdrevier des Fürsten gewesen, und es hatte keine Flinte ohne seine Zustimmung abgefeuert werden dürfen. Diese Gerechtsame, diese seligen Jagdgründe preiszugeben, war eine harte Anforderung an den leidenschaftlichen Weidmann auf dem Rudolstädter

Throne, und die ländliche Bevölkerung hätte damit gewiß den guten Fürsten verschont, wenn es angegangen wäre.

Aber das Wild, von dem, ich weiß nicht mehr in welcher deutschen Kammer, ein Abgeordneter 1848 gesagt hatte, es sei doch nicht nur eine Zierde der Wälder und Fluren; denn man möge bedenken, daß aus Rehen, wenn sie nicht mehr klein wären, Hirsche würden – das Wild war im Rudolstädtischen zu einer wirklichen Landplage geworden, die die Erntehoffnungen des Landmannes zerstörte. Da es von den Förstern und den wenigen zum Jagen Befugten nur ganz ungenügend abgeschossen wurde und es anderen versagt war, ihm irgendwie nachzustellen, mußte der Bauer, um die Felder zu retten, in die die Hirsche und Rehe bei Sonnenuntergang rudelweise einbrachen, sich durch Klappern und Miasmen von ihnen fernzuhalten suchen. Ich habe das sogenannte »Franzosenöl« noch gesehen und gerochen, womit man Pfähle bestrich, damit sein wahrhaft infernaler Gestank – ich weiß nicht, aus welchen Gräßlichkeiten es zusammengebraut war – das Feld errette. – Die freundliche Zierde der Wälder war zum Gegenstande des bittersten Hasses geworden, und sobald kurz vor unserem Eintreffen in Keilhau die Jagd freigegeben worden war, machten die Bauern ihrem Ingrimme Luft, zogen mit den alten Musketen, die sie auf dem Boden versteckt gehalten hatten, oder anderen, noch primitiveren Waffen in den Wald und schossen oder schlugen nieder, was ihnen von Wild in den Weg kam.

Da wurde der Rehbraten auf Wochen billig im Rudolstädtischen, und dem Zöglinge bot sich manches unerwartete Vergnügen.

Meinem Bruder Martin war es noch vergönnt, jene grausamen Tage der Vergeltung mitzuerleben, und wo es in den Wäldern ringsum knallte, blieb es unbemerkt, wenn sich in der Dämmerzeit ein oder der andere Zögling mit der auseinandergenommenen Büchse unter dem Rocke hinausstahl, um auch einmal ein Reh zu erlegen. Jener »Lampe«, dessen ich schon erwähnte, hatte einen kleinen Stutzen mit Feuerschloß, der sich gut verstecken ließ, und ich sah ihn mit besonderer Bewunderung an, als ich hörte, es sei damit wirkliches Wild erlegt worden. Aber das gleiche ward auch von den alten Reiterpistolen, ich glaube Middendorfs, erzählt. Ihre kurzen Läufe hatten nämlich mehreren Stücken des damals so zutraulichen Rotwildes das Leben genommen.

Was im ersten Jahre unseres Aufenthalts die größeren Zöglinge als Weidmänner leisteten, erfuhren wir Kleineren nur ganz im geheimen, und den Lehrern kam es erst viel später zu Ohren. Schon im folgenden Herbste war dann das Wild so dünn gesät, daß es eines langen Wartens auf dem Anstande oder weiter Pirschgänge bedurfte, um ein Reh zum Schuß zu bekommen.

Aber die Wälder boten noch andere Freuden als die des Weidwerkes. Jede Wanderung durch den Forst bereicherte unsere Kenntnis der Pflanzen- und Tierwelt, und schon sehr bald wußte ich auch die verschiedenen Steinarten zu unterscheiden. Dabei ahnten wir nicht, daß uns dies Wissen nach einer gewissen Methode beigebracht werde. Man belehrte uns gleichsam hinterrücks, und wie viel Angenehmes und Leckeres zog uns in die Hörsäle auf den bewaldeten Bergen.

Das dem Gaumen Wohlgefällige bestand vornehmlich aus den saftigen Früchten, die ihr grüner Boden uns darbot. Die Heidelbeeren mochte ich weniger gern leiden. Sie mundeten auch mir, doch machten sie so schwarze Mäuler, und hatten sich andere an ihnen erlabt, boten sie einen so garstigen Anblick. Man wollte diese Abneigung, die ich mit in die Ehe nahm, übertrieben finden, und vielleicht mit Recht, denn die Gesetze der Ästhetik haben in der Kinderstube manchmal zu schweigen.

Aber die Erdbeeren! Saftigere habe ich nie gegessen, und es gab eine mittelgroße und eine kleine Art, die an Geschmack den Ananaserdbeeren glich und deren Fleisch fest an den Kelchen saß. Wir nannten sie »Sprößlinge« (Fragaria collina), und ich gedenke ihrer mit besonderem Vergnügen. Sie waren auf bestimmten Schlägen (abgeholzten Waldstellen mit dem Fuß der gefällten Stämme) so massenhaft vorhanden, daß wir uns oft genug an ihnen sättigten und noch einen hübschen Rest in der Mütze mit nach Hause nahmen.

Bald kannten wir die besten Plätze, doch war es uns immer noch vergönnt, dann und wann einen neuen, der den anderen entgangen war, zu entdecken. In der Anstalt gab es bisweilen zu Tische eine kräftige Fleischsuppe, der Eierkuchen und Erdbeeren in Milch in großen Schüsseln folgten. Von diesem Gerichte aß jeder so viel, wie der Magen es zuließ. Überhaupt wurden wir gut und reichlich genährt. Ein Zögling, den Middendorf einmal fragte, ob er auch wisse, was Hunger sei, gab zur Antwort: »Wenn ich noch kann.«

Die Vegetation hatte es aber auch gut in dem wasserreichen Gebirgstal! Unter den Quellen war uns die des Schaalbaches am Fuße des Steigers die liebste; Wir Zöglinge kauften sie dem Bauern ab, der sie besaß, und machten sie unserem Barop zum Geschenke. denn in Verbindung mit ihr stand ein Vogelherd, dem ich manche vergnügte Abendstunde verdanke. Er durfte nur nach der Brutzeit benützt werden und bestand aus einer Reisighütte, in der sich der Finkler verbarg. Vor ihr plätscherte fließendes Wasser (die Tränke) über kleine Holzschwellen hin, auf die sich die gefiederten Waldbewohner niederließen, um vor dem Schlafengehen den Durst zu löschen. Mit einer Pfeife von Gänseknochen lockte man sie, die das Wasser ohnehin anzog, auch noch herbei, und wenn sich etliche, oft aber auch sechs und mehr, auf den Hölzern in der Tränke niedergelassen hatten, zog man in der Kutte an einem Strick, ein Schlagnetz breitete sich über das Wasser, und es galt nur noch, die Gefangenen aus den Maschen zu lösen.

Der Dirigent dieses Vergnügens hieß Merbod. Er wohnte in dem nahen Städtchen Blankenburg und war unser Friseur, betrieb aber daneben auch noch eine Vogelhandlung, eine Flickschneiderei, eine kleine Schokoladefabrik und ich weiß nicht, was noch. Er konnte die Stimmen aller Vögel nachahmen und war ein drolliger, beweglicher Tausendkünstler, den wir gern hatten.

Der Vogelfang mit Leimruten war streng verboten, und da wir ihn selbst häßlich fanden, standen wir gern davon ab. Dagegen benützten wir bisweilen den Meisenkolben; denn die mit ihm gefangenen Tierchen schmeckten in gebratenem Zustande vortrefflich.

Der Bauer Bredernitz nahm mich auch mehrmals auf seine Krähenhütte mit. Sie bestand aus einem in den Boden vertieften, mit Zweigen und Rasenbatzen bedeckten Raume, der die Jäger aufnahm. Der Uhu, der die Krähen und anderes Raubgesindel herbeilockte, war an ein kleines Gestell befestigt, und wenn dann die Vögel oft in Mengen angeflogen kamen, um den alten Griesgram, der dabei sehr ungehalten mit den Augen zwinkerte, zu necken, schoß man sie aus Luken, die man in der Hütte angebracht hatte. Die den Tauben und Hasen gefährlichen Falken und Habichte, die Krähen und Elstern kann man so leicht dezimieren, und es ist höchst merkwürdig, mit welchem Haß die der Sonne zufliegenden Lichtfreunde den grämlichen Nachtvogel anzufallen versuchen.

Das Gewehr brauchen hatten wir auf dem fleißig benützten Turnplatze gelernt. Es wurde dabei mit äußerster Strenge auf Vorsicht gehalten, und obgleich wir, wie ich bereits bemerkte, schon als zwölfjährige Knaben aus eigenen Büchsen schossen, weiß ich mich keines einzigen Unglücks zu erinnern, das dabei vorgekommen wäre.

Einmal im Sommer gab es auch ein Schützenfest, bei dem ein großer hölzerner Adler von der Stange geschossen wurde. Wer den letzten Splitter herunterholte, wurde König. Auch mir fiel diese Ehre einmal zu, und ich durfte mir eine Königin wählen. Meine Wahl fiel auf Marie Breimann, eine hübsche, schlanke junge Braunschweigerin, deren griechisches Profil – die Nasen- und die Stirnlinie wich nur wenig voneinander ab – und seidiges blondes Haar mir besonders gut gefielen. Sie und Adelheid Barop, die Tochter des Direktors, teilten den Unterricht unserer Klasse, doch der Braunschweiger Marie neigte sich mein Herz stärker zu als der fleißigen Keilhauerin mit den schönen schwarzen Augen und den beiden anderen frischen und anmutigen, doch etwas jüngeren blonden westfälischen Mädchen, die gleichfalls zu unseren Schulkameraden gehörten.

Es gab Stunden, in denen sie meine Treue für das Berliner Annchen verhängnisvoll gefährdete, und ich erinnere mich einer ernsten Zurechtweisung wegen einiger Blumensträußchen, die in Zusammenhang mit dieser Neigung standen, und von denen eines in meinem »Tische« neben den Büchern gelegen hatte. Über das unschuldige Blumenschenken gingen die Beweise der Neigung indes nicht hinaus, und ich weiß auch nicht die geringste Ungehörigkeit, die der gemeinsame Unterricht nach sich gezogen hätte. Im Gegenteil! Adelheid Barop war ein ernstes, reichbegabtes Mädchen, von Marie Breimann galt das gleiche, und um nicht hinter ihnen zurückzustehen, gab ich mir manchmal besondere Mühe.

Übrigens spielten die Mädchen eine verschwindend kleine Rolle in unserem Leben. Sie, die weder turnen, noch schießen, noch klettern durften, galten uns nicht für recht voll, und von wirklichen Liebeleien war keine Rede. – Wir hatten so viel anderes, Besseres im Sinne. Mein Herz, das es schon früh besonders kräftig zum Weibe zog und das auch damals, wenn ich der blonden Marie in die großen blauen Augen schaute, was ich sehr gern tat, keineswegs stillschwieg, konnte doch nicht recht zu Worte kommen; denn das Turnen und unsere Spiele draußen drängten alles andere mit zu großer Gewalt in den Schatten.

Die hübsche Braunschweigerin ahnte indes doch wohl, wer mir von den Mitschülerinnen die liebste, und bis ich die Anstalt verließ, gestattete ich keiner anderen Göttin, sich neben sie zu stellen.

Außer dem Vogelschießen gab es noch andere schöne Feste und Vergnügungen die Fülle. Ich will der vorzüglichsten, wie der Lauf des Jahres sie brachte, gedenken; denn das in Keilhau Erlebte in zeitlicher Folge zu schildern, wäre mir unmöglich.

Von den großen Spaziergängen, die wir im Frühling und Sommer unternahmen, führten die schönsten über Blankenburg zum Chrysopras am Eingang des Schwarzatales und dann durch die hohen, großartig geformten Felsengruppen, deren Fuß die klare, schnelle Schwarza rauschend und schäumend bespült, nach Schwarzburg.

Da ich als Mann nach Keilhau zurückkehrte, wollte mir manches, was mir als Kind groß vorgekommen war, viel kleiner erscheinen; der Anblick des saftgrünen Schwarzburger Wiesentales, aus dessen Sohle sich der Hügel mit dem stattlichen Schlosse erhebt, und den die bewaldeten Berge in weit dunklerem Grün umkränzen, deckte sich indes immer noch vollständig mit dem Bilde, das meine Vorstellung davon bewahrt hatte. Auch heute, nachdem ich so viel unvergeßlich Herrliches in drei Weltteilen sah, wage ich es getrost, das Schwarzburger Waldtal für eine der anmutigsten und eigenartigsten Landschaften auf Erden zu erklären. Was ihm einen so hohen Reiz verleiht, ist die abgerundete Harmonie der mannigfaltigen Formen, ist der Kontrast der Farben, der Reichtum der Vegetation, die Fülle des Wassers. Dazu tritt der Zauber der historischen Erinnerungen, der das alte Grafen- und Fürstenschloß umwebt, und die freundliche Staffage: große Rudel von prächtigen Hirschen, die sonder Scheu auf der grünsten der Wiesen, am Saum der silberhellen, schön gewundenen Schwarza äsen.

Wie scholl unser Gesang so hell von den Granitwänden des Flußtales wider, das wir durchwanderten, wie köstliche Sträuße des roten Fingerhutes ( Digitalis purpurea) ließen sich von den Felsen am Wege pflücken, und wie froh ging es her bei der Einkehr im Gasthof zum Hirsch. Schon der Wirt besaß eine gewisse Anziehungskraft auf uns Buben; denn er bot uns als dickster Mann in den Thüringer Landen eine vergnügliche Augenweide. Fama erzählte von ihm, daß er, wenn er ein Fußbad nahm, zweier Wannen bedurfte – so weit sollte sein anatomischer Mittelbau die Körpersäulen voneinander getrennt halten. Und er war nicht weniger heiter als dick, und wie behaglich wußte er mit uns Jungen zu scherzen.

Von den kürzeren Spaziergängen erwähne ich nur den häufigsten, der uns in einer kleinen Stunde auf die Blankenburg oder den Greifenstein führte, eine große, an manchen Stellen ziemlich wohlerhaltene Ruine, die Heimat des Grafen Günther von Schwarzburg, der die stolze Ehre, die deutsche Kaiserkrone zu tragen, nach wenigen Monaten mit dem Leben bezahlte. War es das Gift eines Frankfurter Arztes, war es das peinigende Gefühl der Ohnmacht, die ihn gezwungen hatte, Thron und Zepter seinem Nachfolger, dem reichen und mächtigen Luxemburger Karl IV., für schnödes Geld zu verkaufen, das den starken Mann dahinraffte? Wir hatten von dem Gifte des bösen Arztes Freidank erzählen hören und glaubten daran. Unsere Einbildungskraft machte den tapferen Streiter, der die kleinen Thüringer Herren, zu denen er selbst gehört hatte, so wacker gegen den Landgrafen geführt, zu einem großen Helden. Wie oft malte ich mir auf der Blankenburg im Schatten eines Haselnußstrauches aus, wie es hier oben ausgesehen haben müsse, als Türme und Wälle noch aufrecht standen, als die Burgfrauen noch aus der Kemenate auf den Söller traten, als die Ketten an den Zugbrücken noch klirrten, das Horn des Wächters Gäste meldete, und die Thüringer Grafen mit ihren Damen und Knappen, der Meute und dem Federspiel in den Hof einritten, um zu zechen und zu turnieren, zu tanzen und zu pirschen, um Kriegsrat zu halten und dem fahrenden Sänger zu lauschen. Und wie oft sind wir in freien Nachmittagsstunden dahin gelaufen!

Wir gingen auch gern als Boten nach dem Städtchen Blankenburg; denn im Ratskeller gab es Bier, und unser Zeichenlehrer, der Maler Unger, lebte dort, eines jener Originale, die heute nur noch so dünn gesät sind. Er war ein talentvoller und gedankenreicher Künstler, und ich möchte wohl wissen, wohin das Kartenspiel mit zweiunddreißig Blättern kam, das er höchst sauber malte. Es war mit seinem satirischen Sinn komponiert, und jede der viermal acht verschiedenen Karten stellte etwas anderes dar. Das Ganze geißelte die Finsterlinge und Demagogenriecher.

Als wir ihn kennen lernten, sah der schöne, breitschulterige Mann mit dem mächtigen rotblonden Barte aus, wie man sich Wodan selbst vorstellen möchte. Im Sommer und Winter trug er eine Joppe von grauem Flaus, in der eine kurze Pfeife steckte, und um die Hüften einen breiten Ledergürtel, an dem eine Tasche mit dem Zeichenmaterial hing. Nach dem Urteil der Menschen fragte er nicht. Als ganz auf sich selbst gestellter Junggeselle hatte er keinen Wunsch, als »in Ruhe gelassen zu werden«; denn er versicherte, die verkommene Brut, die man »Menschheit« nennt, tief zu verachten. Dennoch erwies er sich ihren einzelnen Mitgliedern gern gefällig, und wenigstens das heranwachsende Geschlecht der seiner Hochachtung und Neigung so unwerten Sippe hatte er, der Kinderfreund, von Herzen gern, und es erwiderte seine Gefühle. Unsere Feste teilte er freilich nie; ich glaube aber nur, weil er sich dazu anders als in seinen Flausch hätte kleiden müssen, und weil er die Frauen mied, die er »die Wurzeln des ganzen Elendes« nannte. Ich erinnere mich noch, wie er einmal die Schale seines Grimmes auf die Menschheit ergossen hatte und dann auf unsere Frage, ob er den Barop mit zu der verwerflichen Brut zähle, versetzte: »Ach was, der gehört nicht dazu.«

Am liebenswürdigsten zeigte er sich, wenn er mit der großen Zahl seiner Vögel verkehrte und sie auf Kosten der verachteten Nächsten mit den zärtlichsten Schmeichelnamen beehrte. Als ich mir die Aufgabe stellte, Menschen zu schildern, ist seine Person nicht unberücksichtigt geblieben.

Es fehlte nicht an Gelegenheit, ihn zu besuchen; denn es wohnten in Blankenburg viele für die Anstalt tätige Leute, und man wußte uns also dort wohl überwacht. Es gab aber auch mancherlei von daher zu holen, und als in einer gewissen Zeit viele Scheiben zerschlagen wurden, drohte Barop, daß hinfort jeder, dem dergleichen begegnete, den verletzten Fensterflügel in eigener Person nach Blankenburg zum Glaser tragen müsse. Bald darauf wurde wirklich ein unvorsichtiger mit diesem Botengange bestraft, und wenige Tage später flog ein von mir geschleuderter Stein durch das Glas, und ich wurde gleichfalls mit dem invaliden Fensterflügel nach Blankenburg geschickt. Leider wirkte das böse Beispiel so kräftig, daß in der Folgezeit auch viele andere Scheiben »unversehens« zerbrochen wurden und Barop, dessen scharfes Auge dergleichen bald durchschaute, die Blankenburger Strafgänge aufhören ließ.

Noch zweier anderer bemerkenswerterer Wanderungen in die kleine Nachbarstadt muß ich gedenken. Einmal hatte sich mein Bruder Ludo bei Gelegenheit einer Puppentheateraufführung den Arm in schrecklicher Weise verbrannt. Es war Körners »Iriny« gegeben worden, und als Feuerwerker hatte ihn, während er die Kanonen abschoß, das Unglück getroffen, daß sein Pulvervorrat aufgeflogen war und ihm den Arm schwer verletzt hatte.

Der arme Schelm litt große Schmerzen, und ihn leiden zu sehen, tat mir so weh, daß ich den Tränen nicht wehren konnte, und obgleich es schon dunkel war und Schnee auf den Bergen lag, nach Blankenburg lief, um den alten Chirurgus zu holen.

An der Tür rief ich mehreren Kameraden zu, wohin der Weg mich führe; dann ging es hinaus in die Nacht. Es war nichts Leichtes, durch den Schnee zu waten, und der Atem ging mir manchmal aus, doch das Bild des Bruders, dem die Tränen so still über die Wangen geronnen waren, stand mir fortwährend vor Augen, und es schien mir gewiß, daß das Kommen des Chirurgs das Aufhören des Schmerzes für ihn bedeute. Es führte kein Fahrweg den Berg hinunter in das Städtchen, und der Fußpfad war verschneit. Zum Glück gestattete mir der sternenhelle Himmel, in der rechten Richtung zu bleiben, während ich ohne Weg und Steg den Berg hinab auf Blankenburg zulief. Wie oft ich dabei in den Schnee eines Grabens versank und bei kleinen Abhängen ins Rutschen geriet, weiß ich nicht mehr, doch während ich dies schreibe, fühle ich noch, wie erleichtert ich aufatmete, als ich endlich das Pflaster des Städtchens betrat. Der alte Wetzel war zu Hause, und ein Wagen brachte uns bald auf der einzigen Landstraße, die von Blankenburg nach Keilhau führte, über Rudolstadt in die Anstalt. Ich blieb straflos, ja Barop fuhr mir durch die Haare und sagte nur: »Gut, Bär, daß du wieder da bist.«

Wie schnell der Chrirurg die Schmerzen des Verbrannten linderte, weiß ich nicht mehr, wohl aber ist mir ein Gang nach Blankenburg erinnerlich, der mir um ein Haar weit schwerere zugezogen, ja beinahe das Leben gekostet hätte.

Die Familie eines Zöglings aus Hamburg hatte sich in Blankenburg ein Sommerquartier gemietet, und ich war wiederholentlich eingeladen worden, sie dort zu besuchen.

Ich zählte schon fünfzehn Jahre; das weiß ich gewiß, denn Ludo, der ein halbes Jahr vor mir nach unserer gemeinsamen Konfirmation Keilhau verlassen hatte, war nicht mehr dort.

An einem Sonntagnachmittag begab ich mich mit Barops Erlaubnis zu den Hamburgern, doch war mir ans Herz gelegt worden, spätestens um neun Ahr wieder in der Anstalt zu sein. Aber es wurde bei fröhlichem Spiel und guter Unterhaltung weit später, und weil drohende Gewitterwolken am Himmel standen, wollten die freundlichen Wirte mich über Nacht bei sich behalten. Doch das schien mir unstatthaft, und mit einem Schirme bewaffnet machte ich mich auf den Weg, den ich aufs beste kannte.

Aber das Unwetter brach bald los, und in der Nähe der Burg war es so finster, daß sich, wenn nicht der Blitz das Dunkel erhellte, die Hand vor den Augen nicht wahrnehmen ließ. Doch ich mußte nach Hause, und wenn ich mich auch wunderte, daß der Pfad, auf dem ich mich weiter tastete, aufwärts führte, meinte ich doch in der rechten Richtung vorwärts zu kommen.

Aber nein! Das Licht eines Wetterstrahles zeigte mir, daß ich auf den Weg geraten war, der auf den Greifenstein führte, und ich kehrte nun um.

Wie der Regen auf mich niederprasselte, wie das donnerte und blitzte!

Den Schirm konnte ich nicht brauchen, weil er fortwährend in den Haselnuß- und Schlehdornzweigen hängen blieb, die in den Weg hineinragten. Er diente mir nur noch zum Tasten, und wie ich ihn wieder einmal in die schwere, dichte Finsternis vorstreckte, war es mir plötzlich, als würde mir der Boden unter den Füßen fortgerissen, und als zöge das eigene Haupt mich nach unten. Mit dem Kopfe voran, ging es hinab in die unsichtbare Tiefe, doch nicht durch den leeren Raum, sondern durch ein nasses, vielhändiges Etwas, das mir ins Gesicht schlug, bis es plötzlich einen Ruck gab, der mich vom Fuß bis zum niederwärts gekehrten Scheitel erschütterte.

Ich falle nicht mehr; doch über mir knattert zerrissenes Zeug, und es stiegt mir durch den Sinn, daß ich an dem hochaufgekrempten Beinkleide hängen geblieben sei. In demselben Augenblicke beginne ich auch schon zu tasten, finde ich Weinblätter. Reben, Zweige, und das Harte, woran ich mich halte, sind die Stangen eines Spaliers. Nun reiße ich mit dem Fuße das umgeschlagene Tuch, das in das Ende einer schmalen Latte geraten war, vollends entzwei, bringe, was nach oben gehört, wieder in die Höhe und weiß jetzt, daß ich an einer mit Wein bekleideten Mauer hänge.

Ich meinte sie auch zu kennen, doch gereichte mir dies zu geringem Tröste; denn sie war von beträchtlicher Höhe, und ich wußte nicht, wie weit mich der Fall schon gebracht hatte. Da zeigte mir ein Blitz den Boden, und er lag nicht mehr allzutief unter mir. Das Spalier und das Laub halfen, und endlich stand ich auf dem Grunde eines Gartens.

Wie durch ein Wunder waren einige Schrammen meine ganze Verletzung; als ich aber später den Schauplatz dieses Abenteuers näher betrachtete, lief es mir kalt über den Rücken; denn die Hälfte der Höhe, von der ich in den Garten gestürzt war, hätte genügt, mir Hals und Bein zu brechen. Der vielgewandte Haarkünstler und Vogelsteller Merbod hatte mich bei dieser Inspektionswanderung begleitet, und als er mit mir in die Tiefe schaute, sprach er das geflügelte Wort, das mir später nicht selten in den Sinn kam: »Ich hab' es immer gesagt: der größte Stricke, das beste Glücke.«

Ich weiß nicht, ob ich dieses Kausalitätsverhältnis anerkennen soll, doch ging ich auch bei anderen Gelegenheiten in wunderbarer Weise, wenn auch nicht ungeschädigt, so doch verhältnismäßig glimpflich aus mancher Fährnis hervor.

Unsere Spiele waren diejenigen, welche die meisten Knaben in meinem damaligen Alter heute noch spielen, doch kamen einige dazu, die nur in einem waldigen Gebirgstale wie das Keilhauer durchgeführt werden konnten. Unter den ersteren war mir das Ballschlagen das liebste, ja ich konnte mich ihm mit Leib und Seele und mit einer an Leidenschaft grenzenden Lust ergeben. Schon unsere Indianerspiele, die uns in der Zeit beschäftigten, in der uns Coopers »Lederstrumpf« gefiel, wären ohne die Wälder unausführbar gewesen, doch brauch' ich sie nicht zu beschreiben.

Als ich schon zu den älteren Zöglingen gehörte, überraschte ich und mit mir eine Schar von Kameraden an einem heißen Nachmittag einige »Panzen«, das heißt kleinere Zöglinge, bei einem höchst merkwürdigen improvisierten Spiele; denn die Buben hatten sich mitten im dichtesten Walde völlig entkleidet und stellten das Paradies und den Sündenfall dar, wie er ihnen wohl eben in der Religionsstunde vorgeführt worden war. Bei der Austreibung der ersten Menschen Adam und der Völkermutter Eva brauchte der Cherub – es waren hier indes ihrer zwei – das »bloße hauende Schwert«, eine tüchtige Haselrute, indem sie die vorgeschriebene Wächterrolle überschritten, so kräftig, daß eine Balgerei entstand, der wir Großen eine Ende bereiteten.

So erfanden sich viele Gruppen von Zöglingen eigene Spiele, die aber, gottlob, soviel ich weiß, selten zu dergleichen Absurditäten führten. Unsere späteren homerischen Kämpfe würde jeder Erzieher mit Vergnügen angesehen haben. Fröbel hatte sie entschieden als Zeichen der schöpferischen Phantasie und als Proben des »Sichauslebens« der Knaben mit Freude begrüßt.


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