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Was wir der Mutter sonst noch verdankten, und was während meiner Lebenszeit den Deutschen Neues und Großes zukam

Ich unterlasse es, mehr von dem religiösen Empfinden der Mutter und ihrem Verhältnis zu Gott zu erzählen, weil ich weiß, daß es gegen ihren Sinn handeln hieße, Fremde von den Einblicken zu unterrichten, die sie mich später in die innersten Tiefen ihrer Seele tun ließ.

Daß sie uns wie jede andere Mutter die Händchen zum Gebete faltete, versteht sich von selbst. Ich konnte nicht einschlafen, bevor sie das nicht getan und mir nicht den Nachtkuß gegeben hatte. Wie oft hab' ich auch von ihr geträumt, wenn sie, bevor sie in eine Gesellschaft ging, im schönsten Putze zu mir gekommen war, um sich über mich zu neigen und mich das Gebetchen sagen zu lassen und dann Abschied von uns zu nehmen.

Aber sie sorgte auch aufs beste für unser äußeres Leben; ja vielleicht lag in der Aufmerksamkeit, mit der sie uns früh zu guten Formen bei der Begrüßung von Fremden, bei Tisch und überall anhielt, ein kleines Zuviel.

Zu diesen Formen möchte ich auch die bequeme Handhabung der französischen Sprache zählen, die die Mutter uns früh wie im Spiel zum Geschenk machte. Zum Geschenke; denn leider läßt sich auf keinem mir bekannten deutschen Gymnasium die Fähigkeit gewinnen, geläufig Französisch zu reden, und wie viele unvergeßliche Reiseerinnerungen, wie großen Nutzen während meiner Studienzeit in Paris danke ich dieser Fertigkeit. Sie ward uns durch den Verkehr mit Bonnen zuteil, denen das Französischreden mit uns dadurch erleichtert wurde, daß die Mutter in ihrer Gegenwart stets das gleiche tat. Ich erinnere mich zwei solcher Mädchen. Sie gehörten beide der Berliner französischen Kolonie an und hießen Fräulein Durieux und Chartron. Beide waren freundlich, und wir hatten sie gern.

Der Mutter schien es so wichtig, uns mit dem Französischen früh vertraut zu machen, weil ihr, als sie, des Deutschen nur ganz ungenügend mächtig, nach Berlin gekommen war, durch ihr vollendet gutes Französisch tausend Annehmlichkeiten zuteil geworden waren. Sie erzählte uns oft, wie sehr hoch man damals in den gebildeten bürgerlichen Kreisen der heutigen Reichshauptstadt ein elegantes Französisch geschätzt hatte, und man muß wohl glauben, daß dieser Sprache für den Deutschen ein unverwüstlicher Zauber innewohnt, wenn man bedenkt, daß dies kurze Zeit nach der herrlichen Erhebung gegen die furchtbare, an empörenden Momenten überreiche französische Gewaltherrschaft immer noch der Fall gewesen war.

Freilich besitzt das Französische außer dem Wohlklang und der Vieldeutigkeit mehr feine Wendungen und ansprechende Schlagworte als die meisten anderen Sprachen. Büchmanns geflügelte Worte sind nur eine Nachbildung des französischen » l'esprit des autres«, und wie Treffendes der Sentenzenschatz und die übersehbare Menge der in den Volksmund übergegangenen bildlichen Vergleiche enthält, muß auch der Deutscheste der Deutschen, unser Bismarck, empfinden, weil er sich ihrer gerne bedient. Er ist des Französischen mit seltener Vollkommenheit mächtig, und ich bemerkte, daß, wo er Französisch ins Deutsche mengt, jenes eine Wendung besitzt, die das Mitzuteilende besser und knapper zum Ausdrucke bringt als unsere Sprache. Welches deutsche Wort veranschaulichte zum Beispiel den Begriff der keinen Zusatz duldenden Ausfüllung so gut wie das im französischen Volksmunde gebräuchliche: » Plein comme un oeuf«, das mir in seiner Heimat Wohlgefallen hatte und mir in Deutschland zuerst als ein von dem großen Kanzler gebrauchter Ausdruck wieder begegnete.

Die Sorge der Mutter für die gute Form samt dem französisch Parlieren, das Kinder so leicht zu Zierpuppen macht, konnte uns, gottlob, die natürliche Frische und Unbefangenheit nicht nehmen. Sollte aber wirklich eine Gefahr für den inneren Menschen darin liegen, auf die Haltung des Äußeren bedacht zu sein, so war es uns drei Brüdern vorbehalten, einen guten Teil unserer Knabenzeit unter Verhältnissen zu verbringen, die uns gleichsam in die Wälder zurückführten. Übrigens war es uns schon in Berlin nicht versagt gewesen, wie rechte Jungen zu toben.

An Spielgefährten beiderlei Geschlechts fehlte es nicht, und mit ihnen sprachen und schrien wir wahrhaftig kein Französisch, sondern recht derbes Berliner Deutsch.

Auch im Winter gestattete man uns gern, uns im Freien zu ergötzen, und schönere Schneemänner als diejenigen, die uns der wackere Kürschner – immer mit dem Ordensbändchen im Knopfloche – in der Tiergartenstraße aufrichten half, verfertigten wenige Knaben.

Im Hause galt es freilich manierlich sein, und rufe ich mir im einzelnen zurück, wie es dort aussah, tritt mir recht lebhaft ins Bewußtsein, daß in Teutschland keine Jahresreihe einschneidendere Veränderungen auf allen Gebieten des Lebens eintreten sah als diejenige, die es mir zu durchleben vergönnt war.

Die Ausstattung der Zimmer unterschied sich nur wenig von der heutigen, nur waren die Möbel etwas geradliniger und steifer, die Polster weniger bequem, und was »stilvoll« war, wußte man noch nicht. An Stelle des Knöpfchens der elektrischen Leitung neben den Türen hing von dem obern Teil der Wand ein Klingelzug nieder, der gewöhnlich aus einem handbreiten Zeugstreifen bestand, der mit Stickereien bedeckt war. Zur Handhabe diente ein schwerer Griff von Glas oder Metall, dessen Gewicht ihn auch zwang, in gerader Linie herabzufallen. Die Herstellung eines Klingelzugs gehörte zu den beliebtesten weiblichen Handarbeiten, und wie oft sah ich noch die Schwestern Stickereien mit Perlen von der Größe eines Mohnkornes herstellen. Wie gut, daß die Mode diesem Augenverderb den Garaus machte!

Die erste Gasbeleuchtung der Stadt war etwa zehn Jahre vor meiner Geburt durch eine englische Gesellschaft in Berlin unternommen worden, doch wie viel Öllaternen sah ich noch brennen, und in meiner Gymnasiastenzeit wurde die Fabrikstadt Kottbus, die damals etwa zehntausend Einwohner zählte, immer noch durch solche erleuchtet. In die Häuser und Theater Berlins war in meiner Kindheit der neue Lichtspender noch nicht gedrungen. An einem der Kronleuchter der Mutter brannten Kerzen, während ein anderer aus einem mehrarmigen Bronzekörper bestand, in den man »Gasspiritus« goß. Aus den durchlöcherten Scheiben am Ende der Arme drang der Äther und bildete entzündet einen Kranz von Flammen. Das Petroleum hatte noch nicht den Weg nach Deutschland gefunden. Öllampen und Kerzen beleuchteten die Zimmer, während die Dienstboten Talglichter brannten. Auch in unserer Kinderstube benützte man solche, und während der Jahre, die ich in der Anstalt zu Keilhau verlebte, wurde nur bei Talglichtern gearbeitet. Das Putzen des Dochtes mit der Lichtschere nahm viel Zeit in Anspruch und bot uns Knaben Gelegenheit zu manchem Schabernack. So ward zum Beispiel durch scheinbares Unglück geflissentlich eine plötzliche Verdunkelung des Zimmers verursacht. Eine der köstlichsten Szenen aus dem Ehestandsdrama des Firmian und der Lenette in Jean Pauls »Siebenkäs« ist nur denen verständlich, die sich noch selbst des Talglichtes und der Putzschere bedienten.

Und wie das Licht angezündet, wie das Feuer erzeugt wurde! Von Streichhölzern wußte man noch nichts. Ich erinnere mich recht wohl der Zunderbüchse in der Küche, des Stahls, des Steines und der Schwefelfäden. Die Funken, die man durch Anschlagen erweckte, fielen in den Zunder und brachten ihn an einzelnen Stellen zum Glimmen, die dann angeblasen wurden. Bald kamen die langen plumpen Schwefelhölzer auf, die man in ein Fläschchen tauchte, das, glaube ich, mit Asbest gefüllt wurde, der mit Schwefelsäure benetzt war. Auf dem Kamin im Wohnzimmer stand freilich ein bequemes und zierliches Instrument zum Anzünden des damals so viel gebrauchten Fidibus. Es hatte dem Vater gehört, hieß das Döbereinersche Feuerzeug, war sehr hübsch gearbeitet und stand in einem Kasten von Mahagoni. Drückte man bei ihm an einer kleinen Messinghandhabe, so wurde ein Platinschwamm glühend und gestattete, den Fidibus oder die Zigarre in Brand zu setzen. Der Jenaer Professor Döbereiner hatte diese kleine Maschine nach seiner Entdeckung der Entzündbarkeit des Wasserstoffes durch Platinschwamm 1824 konstruiert, und ich wundere mich, daß sie so ganz außer Gebrauch kam, da sie sehr hübsch ausgestattet werden kann und ich kein Feuerzeug kenne, das im Zimmer bequemer, sauberer und geruchloser den Dienst verrichtet.

Den Gärtner sahen wir die Pfeife nie anders als mit Stahl, Stein und Schwamm anzünden. Ein Schäferjunge, der dies Verfahren täglich bei seinem Vater beobachtet und gesehen hatte, wie er auf den vielen Tabak immer nur ein ganz kleines Stückchen Schwamm legte, soll ausgerufen haben: »Wenn ich einmal Kaiser werde, rauche ich nichts als Schwamm.«

Das Schießgewehr des Gärtners hatte ein Feuerschloß, und wenn er erst Pulver, dann einen Pfropfen, dann Schrot und endlich wieder einen Pfropfen in den Lauf gestoßen hatte, mußte er Pulver auf die Pfanne schütten, das dann die Funken des an den Stahl schlagenden Steines entzündeten, wenn es nicht im Regen feucht geworden war.

Zum Schreiben bedienten wir uns ausschließlich der Gänsefedern, denn Stahlfedern wurden zwar schon bald nach meiner Geburt hergestellt, sie mögen aber noch recht unvollkommen gewesen sein und hatten jedenfalls gegen ein starkes Vorurteil zu kämpfen; denn in der ersten Schule, die wir besuchten, war uns streng verboten, uns ihrer zu bedienen. Darum spielte das Federmesser eine große Rolle am Schreibtische, und ohne die Kunst, schön Federn zu schneiden, war kein rechter Kalligraph denkbar. Ich brachte es in ihr nie zu einiger Vollendung, und wem es ebenso ging, der besaß unter den Kameraden, Lehrern oder Freunden einen, der ihm das Federschneiden abnahm. Wer es besonders gut verstand, konnte sich einen gewissen Namen im Kreise der Seinen erwerben, und mit einer von meiner sanften, geschickten Schwester Martha geschnittenen Feder – das gerade Spalten war das Schwerste – schrieb ich besser als mit jeder anderen.

Was seit 1837 bis in die Gegenwart auf dem Gebiete des Verkehrs, in dessen Zeichen sie ja stehen soll, geleistet wurde, brauche ich nicht besonders zu bemerken. Ich weiß nur noch, wie langer Zeit es bedurfte, bis ein Brief von den Brüdern der Mutter, von denen der eine als Resident auf Java und der andere als »Opperhoofd« der holländischen Maatschappy in Japan lebte, nach Berlin kam, und wie oft eine Gelegenheit in Anspruch genommen wurde – gewöhnlich die Gefälligkeit der niederländischen Gesandtschaft –, um die Schreiben oder kleine Geschenke der Mutter nach Holland zu befördern. Ein per express versandtes Schreiben war das schnellste Mittel, Nachrichten zu erhalten oder zu erteilen, doch gab es schon den Zeichentelegraphen, dessen Arme wir von der Dorotheenstraße aus sich manchmal, doch ausschließlich im Dienste des Staates, auf und nieder bewegen sahen. Als vor etlichen Jahren die Mutter in Holland erkrankt war, traf auf eine mit »dringend« bezeichnete telegraphische Erkundigung die Antwort nach achtzehn Minuten in Leipzig ein. Was hätten unsere Großeltern zu solchem Wunder gesagt?

Wie vieler Tage man bedurfte, um von Berlin aus in die Heimat der Mutter zu gelangen, sollten wir bald selbst erfahren, denn es führte noch keine Eisenbahn nach Holland.

Der wunderbaren Veränderungen, die die Zeit meines Lebens den politischen Verhältnissen in unserem deutschen Vaterlande brachte, kann ich hier nur andeutungsweise gedenken. Ich bin in dem despotisch regierten Königreich Preußen geboren, das mit Österreich und den deutschen Staaten und Ländchen in einem lockeren Bundesverhältnisse stand. Als Hüter dieser traurigen Einheit sandten die Höfe Diplomaten nach Frankfurt, die sich in ihrer sorglosen Lebensführung nur stören ließen, wenn es hier das Mißtrauen gegen andere Höfe zu schärfen, dort eine demokratische Regung zu unterdrücken galt.

Das preußische Volk errang erst im Jahre 1848 die Freiheiten, die anderen deutschen Staaten schon früher gewährt worden waren, und ich bin für nichts dankbarer als für die Gnade, daß es mir vergönnt war, den Traum und die Sehnsucht so vieler früheren Generationen mit vollem Bewußtsein sich verwirklichen und erfüllen und mein zerrissenes Vaterland sich zu einem großen, herrlichen, einigen Ganzen zusammenschließen zu sehen. Ich halte es für ein hohes Glück, zu den Zeitgenossen Kaiser Wilhelms I., Bismarcks und Moltkes gehört und die großen Taten als reifer Mann miterlebt und die Begeisterung, die sie hervorriefen, mit empfunden zu haben, durch die es diesen Großen vergönnt war, das deutsche Vaterland zu dem mächtigen, einigen Reiche zu machen, das es heute ist.

Mit der Reise nach Holland kommt der erste Teil meiner Kinderjahre zum Abschluß. Ohne auch nur den Versuch zu machen, mich vorzeitig zum Lernen anzuhalten, hatte die Mutter sie mich sorglos verspielen lassen. Wie auf einen schönen, durch nichts getrübten und gestörten Traum im Grünen oder in einem freundlichen Hause, wo alles mich liebte, schaue ich auf sie zurück. Die Jahre oder gar die Monate und Tage bei diesem Rückblick auseinander zu halten, wollte mir nicht mehr gelingen. Man braucht auch kein Philosoph zu sein, um bei der Beschäftigung mit der eigenen Kindheit nicht zu denken, nein, zu empfinden, daß die Zeit keine besondere Kategorie bildet. Sie ist nur der sanfte Strom, der uns freundlich dahinträgt. Was auf dieser heiteren Fahrt durch ein sonniges Eden, dessen Himmel keine Sorgenwolke verfinstert, in dem die schwanken Palmen der frisch grünenden Empfindung kein Sturm der Leidenschaft beugt und schüttelt, der rückwärts schauenden und lauschenden Seele wieder begegnet, ist keine Reihe von Tatsachen, die sich auf dem Boden einer kenntlichen Landschaft zutragen, sondern nur eine Folge von zusammenhanglosen Einzelvorstellungen: ein liebes Menschenantlitz und ein anderes und noch eins, das kleine Erlebnis eines seligen Augenblicks, dem ein zweites und drittes folgt, das dem ersten vielleicht voranging, das Bild eines treuen Hundes, eines Gemäldes an der Wand, und allem voran die Liebe und der Schoß der Mutter, der mir, dem Jüngsten, vor den anderen Geschwistern gehörte und der verheißungsvollste aller Klänge im deutschen Kinderleben, der Schall der kleinen Tischglocke, die das Kind zur Bescherung ruft.

Nur aus der Welt des Märchens und der Legende geht beim Kinde die Vorstellung von zusammenhängenden Ereignissen und Menschenschicksalen in spätere Tage über. Was ihm die Mutter und Großmutter vom Schneewittchen und der Frau Holle, vom Dornröschen und den Riesen und Zwergen, vom Aschenbrödel und dem Menschenfresser erzählte, was es vom Stalle zu Bethlehem, wo neben dem Ochsen und Eselein das Christkind in der Krippe lag, was es von den Engeln, die den Hirten auf dem Felde erschienen und das »Ehre sei Gott in der Hohe und Frieden auf Erden« sangen, und den heiligen drei Königen und ihrem Sterne hörte, der sie zu dem Christkindchen führte, das prägt sich ihm scharf ins Gedächtnis und begleitet es, auch wenn es längst aufhörte, ein Kind zu sein, durch das Leben. Wie klein ich war, als ich das erste Bild der Kronenträger mit den Purpurmänteln sah, die vor dem Säugling im Schoß der Mutter, den ein heller Lichtschein umwob, niederknieten, weiß ich nicht zu sagen, doch prägten sich seine Formen und Farben unauslöschbar fest in die Netzhaut meines inneren Auges, und ich vergaß auch nie, was es bedeutete. Etwas Besonderes dacht' ich mir dabei gewiß nicht, ja es wunderte mich kaum, Könige im Staube vor einem Kinde zu sehen, und jetzt, da ich den Ruf des Reinsten und Höchsten: »Lasset die Kindlein zu mir kommen,« und die heilige Einfalt des Kinderherzens verstehe, setzt mich das erst recht nicht mehr in Erstaunen.


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