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Gymnasium und die erste Universitätszeit

Von Keilhau auf das Gymnasium zu Kottbus

Der Abschied von Keilhau fiel mir schwer. Auf dem Wege nach Rudolstadt, wohin mich die mir liebsten Kameraden begleiteten, ging es indessen lustig genug her.

In Schaale kehrten wir auch ein und tranken auf eine glückliche Zukunft und vieles andere. In dem bäuerlichen Wirtshause daselbst hatten wir Größeren etlichemale mit Barops Erlaubnis einen Schmaus gehalten, der mit den Kreuzern bezahlt worden war, die durch Vergehen gegen die Tischregeln eingekommen waren. Die Tafeln, an denen wir Größeren speisten, hatten sich solche selbst vorgeschrieben; denn an der einen war nur Französisch, an der anderen nur puristisch reines Deutsch zu sprechen gestattet gewesen. Wer an jener sich der Muttersprache oder an dieser sich eines Fremdwortes bedient hatte, war mit einem Kreuzer bestraft worden.

Ich hatte an beiden gesessen und an der letzteren geholfen, für gangbare Lehnwörter entsprechende deutsche zu finden und aus Klavier Tastenkasten, aus Serviette Tellertuch, und, da wir das Stephansche »Salse« noch nicht kannten, aus Sauce Bratenbrühe zu machen.

Wie fröhlich waren diese Strafkreuzerschmäuse verlaufen, bei denen gewöhnlich Wildbraten und »rohe Kartoffelklöße«, das Leibgericht der Thüringer, das auch ich zu würdigen gelernt hatte, aufgetragen worden waren. Nach dem Schmause hatten wir etwas zechen, das heißt bei schäumendem Gerstensafte singen dürfen und dabei gewöhnlich etliche Lehrer als aufrichtig willkommene Gäste in unserer Mitte gesehen.

Das gehörte ja zu den höchsten Vorzügen Keilhaus, daß unser ganzes Leben und auch unsere Vergnügungen rein genug waren, um das Auge eines Erziehers nicht scheuen zu brauchen.

Allerdings habe ich in Ermanglung einer Zigarre ein Stück von den Rohrstöcken, die man zum Ausklopfen der Kleider verwendet, heimlich zum Rauchen benützt. Es geht. Wer es versucht, wird sich davon überzeugen. In die Pfeife stopfte ich bisweilen als Surrogat für den Tabak, den wir nur selten hatten, Nußblätter, und was wir an dem Obst und den Tauben der Bauern und der Anstalt verbrachen, das wurde schon bekannt; doch so ernstlich ich mich auch bemühe, bei der Rückschau auf jene Zeit ein Vergehen zu finden, das ich meinen erwachsenen Söhnen nicht mit freier Stirn erzählen möchte, ich entsinne mich keines.

Ein reinerer Ton hat wohl selten unter so vielen Knaben geherrscht, und das nämliche wurde mir von anderen früheren Zöglingen, wie meine lieben Freunde Kommerzienrat Julius Meißner in Leipzig, Reichstagsabgeordneter Fritz Kalle und sein Bruder Wilhelm in Wiesbaden und Biebrich, der Wiener Kaufherr Theodor Graf, der amerikanische Generalkonsul Kreismann in Berlin und auch von vielen anderen bestätigt. Und doch sind wir echte, rechte Jungen gewesen, die den Überschuß an Kraft nicht nur beim Spiel verwerteten, sondern auch bei dummen Streichen aller Art.

Ein frohes Lächeln umspielt mir noch die Lippen, wenn ich des hartgefrorenen Schneemanns gedenke, den wir, mit einem schwarzen Hute auf dem Kopf, einem jüngeren Lehrer als Gespenst ins Zimmer stellten, und der Mühe, die uns der Transport dieses Untiers verursachte, oder wenn mir unsere Streiche im Schlafzimmer in den Sinn kommen.

Fein waren sie keineswegs immer; doch welches Vergnügen, welches den ganzen Menschen erschütternde Gelächter hatten sie häufig zur Folge, und wie herzlich konnte ich lachen! Der Sechzigjährige hat es, gottlob, noch immer nicht völlig verlernt.

Es wurde gut geübt, als Herr Dr. Koppe, ein besonders schüchterner Lehrer, der im Dunkeln zu Bette zu gehen pflegte, nachdem wir ihm über die »Waschschüssel« ein Stück Zeichenpapier so straff wie ein Trommelfell gebunden hatten, Wasser darauf hingoß.

Welches Vergnügen, wenn das Talglicht des weckenden Lehrers ausging, weil wir auf den Docht des unseren am Abend vorher einige Körner Pulver gestrichen hatten.

Ich glaube, daß ich diese heiteren Dinge hier erzählte, um mir Aufschub zu gönnen; denn was nun folgte, war der Abschnitt meines Lebens, von dem ich am wenigsten gern berichte.

Rousseau sagt, daß die Erziehung des Menschen durch Kunst, Natur und Umstände bewirkt wird. Die beiden ersten Faktoren hatten damals auch auf mich Einfluß geübt, mit den letzten sollte ich erst jetzt selbständig rechnen lernen; denn bisher waren sie durch andere überwacht und meiner Persönlichkeit angepaßt worden. Das aber war nicht nur von Meistern der Pädagogik, sondern von ihren nicht minder mächtigen Miterziehern, den Kameraden, geschehen, unter denen sich kein verderbter, wirklich übel gearteter Knabe fand. Es sollte sich jetzt zeigen, welche Umstände ich in den neuen Verhältnissen finden und in welcher Weise sie sich als Erzieher an mir bewähren würden.

Wie ich von Schaale nach Rudolstadt und von da nach Hause kam, ist mir aus dem Gedächtnis geschwunden.

Auch aus der freien Zeit, die nun folgte, weiß ich nur noch wenig zu berichten.

Ich sollte nach Kottbus, damals noch eine kleine märkische Fabrikstadt, aufs Gymnasium kommen.

Die Mutter wagte es nicht, mich in Berlin zu behalten und in den schwierigen Jahren, denen ich entgegen ging, meine Beaufsichtigung in der großen Stadt zu übernehmen. Kottbus war nicht weit von Berlin entfernt, und weil sie wußte, daß es mit mir in der Wissenschaft, die Dr. Boltze, der Mathematiker, lehrte, schlecht bestellt war, hatte man ihm vor anderen Pensionsvätern in märkischen Gymnasialstädten den Vorzug gegeben.

Mir schien ihre Wahl vortrefflich. Wenn irgendwo, so konnte mir im Hause dieses Fachmannes der Kopf für die Disziplin geöffnet werden, die bisher sowenig von mir hatte wissen wollen wie ich von ihr.

Ich sah der scharfen Arbeit nicht ungern entgegen; im ganzen kam ich mir aber doch vor wie ein Füllen, das von den freien Weideplätzen in den Stall geführt wird.

Eine Reise zur Großmutter in Dresden und manches Vergnügen, das ich mit den Geschwistern teilen durfte, kamen mir wie mein Henkersmahl vor. Ganz verlassen sollte ich indessen auch in Kottbus nicht sein; denn die jüngste Tochter unseres liebsten Verwandten, des Herrn von Oppenfeld, lebte als Gattin eines Gutsbesitzers in der Nähe der Stadt. Der Gedanke daran wehte mir wie erfrischende Landluft entgegen.

Die Mutter begleitete mich in die neue Schulheimat, und ich kann nicht sagen, einen wie bedrückenden Eindruck der auf der flachen Ebene der Mark gelegene Fabrikort auf mich machte, den man nicht mit der heutigen frisch erblühenden Mittelstadt verwechseln darf, die von neuntausend auf dreißigtausend Einwohner heranwuchs.

Damals besaß er nichts, was einen in Berlin geborenen und in einem herrlichen Gebirgstal erwachsenen Knaben anziehen konnte.

Statt der Berge ein weiter Kranz von Tuchrahmen, statt der hohen Tannen der Thüringer Wälder Fabrikschornsteine überall, und in der Spremberger Straße, an der mein künftiges Heim lag, statt jubelnder Knaben eine Schar von Fabrikarbeitern, Männern, Frauen und Mädchen, die uns von der Arbeit entgegenkam.

Vor dem Hause des Dr. Boltze fanden wir den Mann, dessen Obhut ich anvertraut werden sollte, in einem langen grauen Schlafrocke, mit einem Samtkäppchen auf dem Kopf und der Pfeife im Munde, an seinen Lieblingen, den Georginen, mir den wenigst sympathischen Kindern der Flora, beschäftigt.

Er mochte damals kaum vierzig Jahre zählen und war ein kleiner Mann mit straffer Haltung und einem klugen Gesicht, dessen Züge auf eine eisernstrenge Sinnesart zu deuten schienen. Dazu trugen auch die starken schwarzen Augenbrauen bei, die ihm über der Nase in buschiger Fülle zusammengewachsen waren.

Er selbst versicherte, daß das Volk in Pommern von Männern mit solchen Augenbrauen glaubte, sie stünden mit dem Teufel selbst in gewisser Beziehung. Auf einer Bootfahrt von Greifswalde, wo er studiert hatte, nach der Insel Rügen war er einmal beinahe von den abergläubischen Schiffern über Bord geworfen worden, als ein wilder Sturm sie überfiel, weil sie ihm als Teufelskind die Fährnis, in der sie schwebten, zugeschrieben hatten. Doch – so erzählte er, der ein durchaus wahrhaftiger Mann war, weiter – doch die Macht, die ihm die wunderbaren Augenbrauen über andere und besonders über Leute aus dem Volk verlieh, hätte die Seeleute veranlaßt, von ihm zu lassen.

Es freute ihn auch, an einem der »gestrengen Herren« im Mai – ich glaube am Tage Pankratius – geboren worden zu sein; denn das schien ihn gleichfalls zu der stählernen Männlichkeit zu prädestinieren, die er wohl wirklich zu besitzen meinte. Doch so viele gute Eigenschaften ich ihm auch nachrühmen kann, gerade diese hatte die Natur ihm sehr entschieden versagt.

Nachdem wir aber erfahren hatten, welch lebenslustiger und nachgiebiger Gesell sich hinter dem eisernen Tyrannen, der uns aus den schwarzen Augen unter der dunkeln, dichten Haarhecke, die sie verband, bedrohlich entgegenschaute, verborgen hielt, war die Scheu gebrochen, und endlich fanden wir es ungefährlich und leicht genug, ihn zu veranlassen, ein entschiedenes »Nein« in ein nachgiebiges »Ja« zu verwandeln.

Seiner Gattin gegenüber war es ihm ebenso ergangen; denn sie führte mit unumschränkter Gewalt das Zepter im Hause, und doch war sie ein Geschöpf wie ein Hauch, von dem man bei der ersten Begegnung denken mußte, daß es vielleicht die letzte sei; denn sie war von einer an Durchsichtigkeit grenzenden Hagerkeit, und solange ich sie kannte, erschütterte ihr ein böser Husten den zarten Leib. Aber wenn zusammengewachsene Augenbrauen wirklich auf männliche Tatkraft deuten, war der Geist, der in dieser gebrechlichen Hülle lebte, mit solchen versehen.

Eine energischere und tätigere Hausfrau konnte man suchen. Mit der Feder war sie als Gehilfin des Gatten so schnell bei der Hand wie mit der Zunge. Die meisten Berichte über mich sind von ihrer Hand und vortrefflich geschrieben. Dazu schenkte sie dem Gemahl ein kräftiges, hübsches Kind nach dem andern und gönnte sich dabei, wenn sie mit einem neuen gesegnet war, nur kurze Erholung.

Ich bin der Pate des einen, und mein Mitpensionär von Löbenstein teilte mit mir diese Ehre. Die heilige Handlung wurde im Boltzeschen Hause verrichtet. Der Vater und wir sollten je einen Namen auf einen Zettel schreiben und ihn neben das Taufbecken legen. Also geschah es. Wir aber hatten den wunderlichsten, der uns in den Sinn gekommen war, zu Papier gebracht, und als der Pastor die Zettel aufhob, verlas er die Namen Gerhard und Habakuk. Ich brauche nicht zu sagen, wer den letzteren für den Täufling erwählte. Dank der Sorgfalt und Klugheit seiner wackeren Mutter und trotz seines kleinen Prophetennamens gedieh er indes vortrefflich, und ich hörte zu meiner Freude, daß er ein tüchtiger Mann und Besitzer eines Eisenwerks wurde.

Dieser Knabenstreich ist bezeichnend für den Ernst der Beziehungen, die uns verbanden. Trieben wir es nicht gar zu bunt, so hielt es Frau Boltze immer mit uns und wußte die finster zusammengezogenen Augenbrauen des Gatten schnell genug zu glätten.

Übrigens war es ein wahres Vergnügen, mit der Frau Doktor gut zu stehen; denn sie hatte als Tochter eines höheren Beamten eine ausgezeichnete Erziehung genossen und machte ihrer Vaterstadt Berlin durch schnellen Witz alle Ehre. Ihre Art und Weise forderte auch uns zum Scherzen heraus, und es ging darum heiter genug her in unserem Hause. Manche Stunde, die ich eigentlich der Arbeit hätte widmen sollen, verplauderte ich mit der frischen, amüsanten Frau, die alles wußte, was in der Stadt vorging, und es gern in das Licht des Komischen rückte.

Hätte Dr. Boltze seines Amtes als Tutor mit größerer Energie gewaltet, wäre es uns besser gewesen; sonst aber weiß ich ihm nichts nachzusagen als Gutes; denn er war ein liebevoller Vater und Gatte, ein ausgezeichneter Lehrer und tüchtiger Gelehrter. Die Erfindungen, die er auf mechanischem Gebiete machte, sollen, wie mir von kundiger Seite versichert wurde, für jene Zeit bedeutend und eines besseren Erfolges, als sie tatsächlich erzielten, würdig gewesen sein. Es gehörte dazu ein durch Elektrizität bewegter Wagen. Auf ihn und andere Erfindungen setzte er die größten Hoffnungen, und wie oft hat er uns an ihnen teilzunehmen gestattet und sich wie uns ausgemalt, was er beginnen, fördern, genießen und genießen lassen würde, wenn sein »Patent« ihn reich gemacht hätte.

Von diesem Ehepaar wurde die Mutter und ich freundlich empfangen, und im Gespräch mit ihm schwand der beklemmende erste Eindruck.

Die Prüfung am nächsten Morgen hätte mich beinahe weiter geführt, als ich erwartet; denn der Direktor, der mich übersetzen ließ, fand mich anfänglich reif für die Prima, doch der Prorektor Braune, der mich in der lateinischen Grammatik vornahm, erklärte, daß ich nur für die Sekunda tauge, und mit diesem Bescheid kehrte ich zur Mutter zurück.

Der Direktor hatte einen seltsamen Eindruck auf mich gemacht. Einem so unruhigen Manne wie diesem Greise war ich noch nicht begegnet. Er hatte ein kluges, wohlgeformtes Gesicht und seltsam flackernde Augen. Solange ich übersetzte, war er mit dem Buch in der Hand vor mir auf und nieder geeilt. – In seiner Rede überstürzten die Worte einander, doch ihr Inhalt war klug, vielleicht sogar geistreich gewesen. Trotzdem hatte er weder Neigung noch Zutrauen in meinem leicht empfänglichen Herzen erweckt, und wenn ich die Art und Weise dieses Mannes, die so zerfahren war wie sein in getrennten Strähnen vom Haupte abstehendes weißes Haar, mit der gelassenen Mannhaftigkeit unseres Barop oder der ehrwürdigen Liebenswürdigkeit Langethals verglich, mußte ich lächeln.

Als ich das Prüfungslokal verließ, wurde ich von Dr. Boltze einem eleganten jungen Herrn, der eben einem Jagdwagen entstiegen war und den edlen Pferden, die er selbst gelenkt hatte, die Hälse klopfte, als einem künftigen Schulkameraden vorgestellt.

Ich hatte ihn für einen nicht mehr ganz jungen Leutnant in Zivil gehalten; denn der feine dunkle Schnurrbart, der kleine Backenbart und das militärisch gekämmte Haar, das sich auf dem Scheitel schon ein wenig zu lichten begann, ließen mich das Alter des Einundzwanzigjährigen um ein Lustrum überschätzen.

Mein neuer Tutor teilte ihm einiges über mich mit, empfahl mich seiner Gunst, und nachdem er uns allein gelassen hatte, ließ sich der seltsame Schulkamerad sehr wohlwollend in ein Gespräch mit mir ein.

Als ich ihm erzählte, daß der Direktor mich anfänglich in eine höhere Klasse habe setzen wollen, versicherte er, daß er Dr. Boltze nicht begreife. Wir hätten die Sache verkehrt angefangen. Bei dem Direktor sei auch Schwierigeres durch die Damen zu erreichen.

Als er erfuhr, wie alt, oder besser wie jung ich war, zeigte er sich sehr erstaunt, da er mich wenigstens für einen Siebzehnjährigen gehalten. Das tat mir wohl, und ich war auch für mein Alter ungewöhnlich kräftig entwickelt, ja auf der Oberlippe begannen schon blonde Härchen zu keimen, und die Stimme hatte ich bereits in Keilhau gewechselt.

Nachdem mir der neue Bekannte Dinge über das Gymnasium und seine Leitung mitgeteilt hatte, die mir kaum glaublich erschienen, ging er auf die Mitschüler über, unter denen sich einige »nette Leute« befänden, mit denen er mich bekannt machen wolle, und nannte eine Reihe von großenteils adeligen Namen, deren Träger wie er gekommen waren, um hier das Abiturientenzeugnis zu erlangen, den Schlüssel, ohne den in Preußen so viele Tore verschlossen bleiben.

Schon durch ihn sollte ich erfahren, daß sich dies für denjenigen, der das Eisen zu schmieden verstand, hier zu jener Zeit leichter erreichen ließ als auf anderen Gymnasien.

»Die Weiber, die Weiber,« wiederholte er mehrmals. »Man tanzt, man schickt ein Bukett, man... Aber das werden Sie später alles erfahren. Es sind hier Dinge vorgekommen, Dinge...«

Und nun weihte er mich in Ungeheuerlichkeiten ein, denen ich später als Augenzeuge beiwohnen sollte, von denen ich aber damals nicht wußte, ob sie mir ergötzlich oder ganz anders vorkommen sollten.

Ich behielt natürlich meine Bedenken für mich und stimmte mit ein, wenn er lachte; aber es wurde mir dennoch bänglich ums Herz. Konnte ich mich diesen Kameraden entziehen, wenn sie sich zu mir, dem so viel Jüngeren, herabließen? Und ich war doch hierher gekommen, um fleißig zu sein, die Universität bald zu erreichen und der Mutter Freude zu machen.

Arme Frau! Sie hatte sich so sorgfältig erkundigt, bevor sie mich hierher schickte, und welch ein gefährlicher Boden für einen zum Jüngling heranreifenden, früh entwickelten Knaben war diese Fabrikstadt, eine wie übel geleitete Anstalt das Kottbuser Gymnasium von damals, welche Elemente hatten den Weg in diese Schule gefunden!

Nein, voll schöner Ideale war ich hierher gekommen. Der beste Wille beseelte mich; doch schon der erste Tag ließ mich ahnen, wie viele Hindernisse sich hier seiner Betätigung entgegenstellen würden. Dazu begriff ich noch nicht, welche Gefahr in der Redeweise lag, deren der neue Kamerad sich bediente.

Was mir bis dahin als heilige Pflicht erschienen war, verkehrte sich in dem hübschen Munde dieses keineswegs schlecht begabten oder verderbten jungen Mannes in eine garstige, wo es geschehen konnte, zu umgehende Plage. Statt der Achtung, die uns in Keilhau unsere Erzieher abgezwungen hatten, hörte ich von dem Leiter dieser Schule im Ton der wegwerfenden Geringschätzung reden. Vieles, was mir hoch und verehrungswürdig erschienen war, sah ich belächeln, und von manchem Unerlaubten, das bis dahin noch außerhalb meiner Lebenssphäre gelegen hatte, hörte ich reden wie von einer vergnüglichen Zubehör des Daseins.

All die jungen Herren, die das Examen hierher gezogen hatte, waren Söhne guter Familien, und sie befleißigten sich sämtlich eines durchaus wohlanständigen Betragens; – aber die Rolle, die diese Schüler, und ich bald mit ihnen, in der Gesellschaft, auf den Bällen und bei allen Vergnügungen der gebildeten Kreise der Stadt spielten, in der es damals weder eine Garnison noch ein größeres Gericht gab, war eine so hervorragende, die Lebensanschauungen und Gewohnheiten, die sie mit sich brachte, widersprachen der Vorstellung, die sich jeder Verständige von einem deutschen Gymnasium macht, so vollkommen, daß die Anwesenheit dieser jungen Herren der Schule zum Nachteil gereichen mußte.

Natürlicherweise konnte das alles auf die Dauer den oberen Behörden nicht verborgen bleiben.

Der alte Direktor wurde plötzlich in den Ruhestand versetzt und einer der hervorragendsten Schulmänner an seine Stelle berufen, dem es auch schnell gelingen sollte, aus dem verkommenen Kottbuser Gymnasium eines der allertüchtigsten in Preußen zu machen.

Ich hatte das Mißgeschick, länger als zwei Jahre unter dem Regiment des ersten Direktors, und das Glück, beinahe ebenso lange unter der Leitung seines Nachfolgers Schüler dieser Anstalt zu sein.

Die Mutter war mit dem Ergebnis der Prüfung zufrieden, und am Nachmittag, der ihr folgte, fuhr sie mit mir zu den Komptendorfer Verwandten.

Mich in erreichbarer Nähe von diesen prächtigen Menschen zu wissen, mußte ihr wohltun; denn Frau von Berndt vereinte in sich die Feinheit der in der großen Stadt erwachsenen Dame mit der liebenswürdigen, von Herzen kommenden Freundlichkeit der Herrin des Dorfes.

Ihr Gatte wußte jedem das vollste Vertrauen abzugewinnen, dem er mit den überaus redlichen, klugen blauen Augen ins Antlitz schaute. Er war ein Hüne von Gestalt, dessen wohlgebauten Riesenleib ein schöner Ritterkopf mit blondem Haar und Bart krönte. Seine Hand, die ich wahre Wunder von Manneskraft verrichten sah, verstand mit seiner Künstlerschaft Klavier zu spielen, und die Derbheit, die er im Verkehr mit Bauern und gelegentlich auch mit den Gutsnachbarn zur Schau trug, wandelte sich in rücksichtsvolle Liebenswürdigkeit, wenn er mit der Gattin und anderen Damen verkehrte.

Er hatte die juristische Laufbahn verlassen, um das etwas verkommene väterliche Gut zu übernehmen, und es in kurzer Zeit in eins der am besten gehaltenen verwandelt.

Mit Leib und Seele Landwirt, freute es ihn, auch andere an seinem Gelingen teilnehmen zu lassen, und wie oft durfte ich mit ihm seine Fluren durchwandern.

Es hatte ihm wohlgefallen, daß ich, das Stadtkind, in Feld und Wald so gut Bescheid wußte, und so lud er mich schon beim ersten Besuch ein, ihn oft zu wiederholen.

Sehr befriedigt fuhren wir in die Stadt zurück. – Am folgenden Morgen nahm ich von der Mutter Abschied und war nun in der Fremde allein.

Der Schulbesuch begann.

In manchen Stücken war ich den anderen Sekundanern voraus – in anderen sie mir! Doch das kümmerte mich wenig; denn ich kam auch so fort, und der Unterricht von damals bot mir nichts Rechtes. An meinem Fleiße lag es nicht, wenn ich regelmäßig von einer Klasse in die andere versetzt wurde.

Die Schule erschien mir wie ein notwendiges Übel. Erst nach ihrem Schluß begann das rechte Leben, und der mir eigene Frohmut beherrschte mich auch hier.

Die Stadt bot mir wenig Erfreuliches; auf dem Lande aber blühte mir desto mehr voll entgegen. Nach Komptendorf ging es leider weit seltener als ich gewünscht hätte; denn zu Fuß bedurfte man zwei guter Stunden, um es zu erreichen, und ein Wagen oder Pferd war nicht immer für mich verfügbar.

Mancher Samstag führte mich aber dennoch dorthin, und das Herz ging mir auf, wenn ich das stattliche Herrenhaus betrat, das man nicht ohne Grund »das Schloß« nannte. Welchen Genuß bereitete es mir, mit der freundlichen Wirtin von daheim und anderen guten Dingen plaudern oder ihr etwas vorlesen zu dürfen. Doch ich ging auch gern in die Kinderstube, wo prächtige Mädchen und Knaben heranwuchsen, oder mit ihrem Gatten auf das Feld, oder, war die Schonzeit vorüber, mit der Flinte auf dem Rücken den Hasen und Rebhühnern nach.

Der Jäger, den der Gutsherr hielt, hieß Balzer, und er weihte mich in die Kunst des edlen Weidwerkes ein. Da hab' ich denn manches Stück Wild geschossen, und das Herz schlug mir höher, als mir der erste Fuchs zu Gesicht kam und mein Schrot ihn erlegte.

In dem gastlichen Berndtschen Hause lernte ich auch die Gutsnachbarn kennen, und mancher Einladung, sie zu besuchen, leistete ich Folge. Auch durch Mitschüler und Pensionäre wurde ich auf Güter in der Nähe der Stadt geführt, und endlich lud man mich auch zu den Bällen, die in dem Städtchen Drebkau die Herren und Damen vom Lande bisweilen vereinten.

Schon im zweiten Jahre meines Kottbuser Aufenthaltes war ich ein wenig überall, wo auf einem der Nachbargüter getanzt wurde. Auch in manches angenehme Haus in der Stadt wurde ich eingeführt, und besonders dem des Rechtsanwalts Behm verdanke ich heitere Stunden. Bei der Schwester des Herrn von Berndt, einer Majorin von Diepow, die liebe und hübsche Töchter hatte, trank ich manchmal in behaglichem Familienkreise Tee. Dazu kam das Tanzen und Reiten und die Fülle der Spaziergänge, die mich bald mit Dr. Boltze und den Mitpensionären, bald mit auserwählten Freunden und oft auch allein ins Freie führten.

Von Keilhau her war mir die Bewegung in der Natur zum Bedürfnis geworden, und ich hatte bald entdeckt, daß es sich verlohnte, von Kottbus aus eine Wanderung zu unternehmen.

Die Mark Brandenburg, in der es liegt, ist ja flach, und dazu an vielen Stellen recht sandig; aber schon bei einer früheren Gelegenheit bekannte ich, daß sie landschaftliche Reize besitzt, die mir lieb sind.

Auch in unmittelbarer Nähe von Kottbus gibt es sehr hübsche Partien an dem noch reinen und jungen Spreeflusse, in dessen unterem Laufe sich die stolzen Häuser und Paläste der großen Reichshauptstadt spiegeln. Dabei denke ich besonders an die kleinen, bescheidenen, von der Kunst unberührten, nur den Eingeweihten bekannten Waldstellen auf dem hügeligen Boden am Saume des klaren Flusses. Ich kannte sie alle, und als ich mich zum Dichten zu drängen begann, bin ich am liebsten ganz allein hinausgegangen und habe im Kiefernschatten die Muse gerufen.

Aber oft führte uns auch eine sonntägliche Wanderung, die nicht selten schon am Sonnabendnachmittag begann, weiter fort, gewöhnlich in fröhlicher Gesellschaft und etlichemal auch mit unserem gestrengen Tutor, der bei solchen Partien, vergnügter als der Jüngste, eher unserer Hütung bedurfte als wir der seinen. So habe ich das herrliche Muskau besucht, und sehr viel öfter noch den schönen Spreewald, ein kleines, von vielen Armen des Stromes und zahllosen Kanälen und Kanälchen reich bewässertes Gebiet, das still und regungslos unter üppigen Laubmassen ruht, wie ein um Mittag im Schatten dichter Baumkronen entschlummertes Kind.

Die hier an den Ufern wachsenden Erlen und Weiden, die Linden und Eichen sind von köstlicher Pracht, Vögel in Menge fliegen zwitschernd und rufend von einem Busch und Ast auf den anderen, der gesamte menschliche Verkehr aber wird wie in Venedig durch lautlos dahingleitende Nachen vermittelt.

Da rasselt kein rollendes Rad, da wiehert kein Pferd, da knallt keine Peitsche, da erschallt kein »Huist« und »Hot« hinter dem Pfluge; denn die Hand des Landmanns gräbt die Beete um, die Berlin mit Gurken, Zwiebeln und anderem Gemüse versorgen.

Von breiten Baumkronen überdacht, spiegeln sich die Häuser der Bewohner in den stillen, dunklen Wassern.

Am häufigsten führte mich, wie gesagt, der Sonntag in diese eigenartig schöne Landschaft. Da mußte man oft lange gehen oder das Wasser befahren, um den zur Kirche ladenden Klang der Glocken zu vernehmen; denn die Häuser der Bauern liegen weit auseinander und sind nur an wenigen Stellen zu Dörfern vereint. Aber gerade in der Frühe des Sonntags sind die Wasseradern und grünen Ufern mit der anmutigsten Staffage geschmückt. Die hübschen Spreewaldmädchen zeigen sich dann in der prächtig malerischen Tracht, die damals noch von all den »Hankas« – so hießen die meisten – getragen wurde. Der Teint sehr vieler war so weiß und rein wie der einer Städterin; denn der größte Teil ihres Lebens und ihrer Arbeit vollzog sich unter schützendem Schatten.

Wie in der ganzen Kottbuser Gegend, wurde auch hier die Sprache der Urbewohner dieser Provinz, das »Wendisch«, gesprochen. Im Spreewald lernte ich die Worte kennen, die »Hanne, du bist mein Liebchen« und »gib mir einen Kuß« bedeuten; später aber erfuhr ich, wie so manches Interessante dies Idiom dem Linguisten bietet.

Wer ein treues und bis ins einzelne ausgeführtes Bild von dieser merkwürdigen Landschaft kennen lernen will, an die mich auch viel in Holland und manches Hobbemasche Gemälde erinnerte, der nehme den Roman von Wilhelm Bölsche »Die Mittagsgottin« zur Hand, der zum größeren Teile dort spielt. Er enthält eine Fülle von Naturschilderungen, deren Wahrheit und Anschaulichkeit ihresgleichen suchen.

Besser noch tut er freilich, wenn er sich selbst in dies von Berlin aus so leicht und schnell zu erreichende Stück aus einer fremden, ganz für sich bestehenden Welt begibt.

Es wird ihm auch materiell nicht übel ergehen, wenn die saure Milch, die Butter und das Schwarzbrot so schmackhaft geblieben sind wie vor vierzig Jahren. Die Krebse, die nach dem Urteil von Kennern in ganz Europa nicht ihresgleichen haben sollen, und von denen ganze Wagenladungen in die vornehmen Restaurants von Paris wanderten, sind sicher nicht ausgestorben.

Bei jeder Fahrt in den Spreewald gab es des Schönen und Vergnüglichen genug, aber des stillen Aufenthaltes in meinen lauschigen Waldwinkeln am Ufer des Flusses erinnere ich mich doch noch lieber.

 

Die Gärungszeit und die Mitschüler

Wenn auch die Ereignisse des äußeren Lebens während der Kottbuser Gymnasialzeit in meinem Gedächtnis schon lange zeitlich ineinanderschwimmen, so sehe ich doch das Leben in der Schule in eine scharf begrenzte erste und zweite Periode zerfallen.

Die letztere beginnt mit dem Eintritt des Professors Tzschirner in das Rektorat und mit der Reform des Gymnasiums.

Von seinem ersten Tage an weiß ich zu sagen, was uns in der Klasse gelehrt ward, und wie es auf mich wirkte, während mir völlig entfiel, was uns vorher in der Schule gereicht worden war.

Das will mir bemerkenswert erscheinen; denn während mir Langethals, Middendorfs und Barops Unterricht, den ich in so viel jüngeren Jahren genoß, aufs lebhafteste vor Augen schwebt, und es sich mit den Tzschirnerschen Stunden ebenso verhält, ist mir das, was ich vom fünfzehnten bis siebzehnten Lebensjahr an Wissensstoff in mich aufnahm, so ganz verloren gegangen, als hätte es ein Schwamm von der Tafel meines Gedächtnisses gewischt. Es gähnt zwischen diesen Lehrzeiten ein hohler Raum, und ich darf diesen Umstand nicht allein den Zerstreuungen zuschreiben, die mich von der Schule abzogen; denn sie dauerten auch unter Tzschirners Rektorat, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, fort. Ich möchte darum glauben, daß alles, was mir damals gereicht wurde, völlig einflußlos auf mein inneres Leben blieb.

Von den Lehrern erwähne ich gern und achtungsvoll des tüchtigen Professors Braune und widerwillig genug des Mannes, der uns französischen Unterricht erteilte. Seine Stunden boten Gelegenheit zu dem größten Unsinn; denn es ging ihm die Fähigkeit ab, sich unseres Übermutes zu erwehren. Ich habe ihn leider viel gereizt und geneckt, und am schwersten vergab er mir wohl, daß ich auf sein Gebot, mir den Schnurrbart abzunehmen, mit der einen Hälfte in die Klasse kam und ihm verhieß, die andere sollte in der nächsten Stunde entfernt sein. Er zürnte mir ernstlich und zahlte mir später den Verdruß, den ich ihm bereitet, in nicht eben großmütiger Weise mit Zins und Zinseszinsen heim.

Die anderen Lehrer waren mir wohlgesinnt, obgleich ich es an ähnlichen Knabenstreichen nicht fehlen ließ.

Die meisten beging ich außerhalb der Schule, und einer und der andere brachte mich sogar mit der hohen Hermandad in Berührung.

Wiederholentlich war ich in unerlaubt scharfer Gangart hoch zu Roß durch die Stadt gesprengt. Dann hatte ich einem geliebten Hunde in dem Boltzeschen Gärtchen hart an der Straße ein kleines hölzernes Grabmonument mit der dem Horaz entnommenen Inschrift: »Multis ille bonis flebilis occidit« Vielen Guten starb dieser zu Tränen. errichten lassen. Endlich war ein noch junger Kläffer von fraglicher Rasse, der unserem Hauswirte gehörte, am frühen Morgen von mir in eine Laterne gesetzt und dann mit dieser in die Höhe gewunden worden, so daß das Hündlein nun am hellen Tage in seinem gläsernen Käfig mitten über der Straße geschwebt hatte.

Diese Streiche, denen ich zahlreiche ähnliche beifügen könnte, hatten zur Folge, daß man mich vielfach den »tollen Ebers« nannte. Frage ich mich jetzt aber, wie ich dazu kam, Freude an solchen Torheiten zu finden, kann ich versichern, daß es mit nichten geschah, um von mir reden zu machen. Ich bin gewiß nicht ungewöhnlich eitel gewesen. Diese Dinge geschahen vielmehr infolge eines übermächtigen inneren Dranges, eines Tatendurstes, der vielleicht mit Tollheit verwandt war, aber sicherlich zunächst aus einem gewaltigen Überschuß an Lebenskraft hervorging.

Ich bin in jener Zeit der Entwicklung, wie das Volk sagt, geradezu »des Teufels« und – mag das Bild auch verbraucht sein – wilder Most gewesen, dem das Faß zu eng ist, und der alles, was ihn fesselt, zersprengen möchte. Wer einmal bald nach der Einführung der jungen gepreßten Trauben auf einem Weingut wohnte und vernahm, wie es unter ihm im Keller braust und tost, kracht und knackt, der wird das alte Bild gelten lassen.

Ja, ich war wie junger Most, und in frohen Stunden, und wenn ich etwas Rechtes – es brauchte keineswegs nur ein dummer Streich zu sein – fertig gebracht hatte, war mir zumute, als müßte ich wie eine Rakete aufwärts sausen, dem hohen Himmel entgegen. Manchmal überkam mich ganz ernstlich die Empfindung, als schwebe ich über der Erde, und Riesenarme hätte ich mir wünschen mögen, um die ganze schöne Welt an das übervolle Herz zu drücken.

Ich glaube auch, daß mir die ärgsten Torheiten nur darum so willig vergeben wurden, weil man fühlte, wie natürlich sie waren. Aus dem nämlichen Grunde kam es mir auch nie in den Sinn, sie zu bereuen oder mich zu fragen, ob es denn nicht mißlich sei, gleichsam das Privilegium für dergleichen zu besitzen; denn wenn andere es mir nachtun wollten, so scheiterten sie dabei in jeder Hinsicht.

Freilich beschützte mich ein inneres Etwas davor, wem es auch sei, mit meinen Streichen wehe zu tun. Ich könnte auch sagen ein Instinkt oder, wenn es nicht zu eitel klingt, ein gewisser Herzenstakt hätte mich davor bewahrt; denn die Folgen denkend abzuwägen, lag mir recht fern.

Ein Dämon – ich finde keine andere Bezeichnung – beging sie aus mir heraus.

Hätte ich, bevor ich den Streich beging, den Verstand befragt, er wäre ganz unterblieben. Wozu der Dämon mich auch trieb, das mußte geschehen, wenn es keinem anderen als mir selbst wehe zu tun drohte. Er drängte mich auch zu mancher Tollheit, deren ich heute noch herzlich gern gedenke, und, gottlob, zu keiner einzigen, die mir ein strenger Erzieher – vorausgesetzt, daß er es nicht verlernte, sich in das Herz der Jugend hinein zu versetzen – ernstlich zum Vorwurf machen würde.

Die meisten dieser Wagnisse und Streiche sind teils zu knabenhaft, als daß sie sich der Mitteilung lohnten, teils widersteht es mir, von Taten zu berichten, die nur der Jugend an der Jugend gefallen. Was sich an übersprudelndem Ungestüm nicht in solchen Streichen Luft machte, das drängte sich in anderer Gestalt zutage.

Ich hatte zu dichten begonnen, und welch mächtiges Gefühl mich auch immer bedrängte, es fand in Versen Ausdruck, die ich oft, wenn sie mir die Seele erleichtert hatten, auch den Kameraden zeigte, bei denen ich Teilnahme für sie erwarten durfte.

Im Boltzeschen Hause lebten mit mir auch andere Pensionäre. Einige blieben nur kurze Zeit, und von ihnen erwähne ich nur die Primaner Nicolai und Säbisch.

Dieser kam aus dem benachbarten Städtchen Spremberg und war ein wohlbegabter, frischer junger Mann, den ich gern hatte, und der mich auch mit zu den Seinen nahm. Sie bewohnten ein stattliches Haus am Spremberger Markte, worin die ansehnliche Druckerei des Vaters sich befand. Da lernte ich zum erstenmal ein wohlhäbiges deutsches Bürgerhaus vom alten Schlage kennen, und ich denke noch gern nicht nur an die hübsche Schwester des Freundes, sondern auch an die Mahlzeiten an dem großen Tische, der am oberen Teil die Familie und die Gäste, am unteren die Bediensteten des Hauses vereinte. Wie wohlanständig verhielten sich diese beim Speisen, wie bescheiden erhoben sie sich, wenn sie sich gesättigt. In patriarchalischer Würde saß der Hausherr an der Spitze der Tafel. Er wollte nicht von der alten Sitte lassen, obgleich er ein Mann war, der bei jedem Symposium der Gebildeten seinem Platze Ehre gemacht hätte.

Ein anderer, jüngerer Pensionsgenosse hieß Strücker und war der Sohn eines Gutsbesitzers, dessen große und schöne Fluren in der Nähe von Komptendorf lagen. Ich hatte den hübschen, gefälligen Knaben sehr gern, und auch er führte mich zu den Seinen.

Bei der Hochzeit seiner Schwester, der ich als Gast beiwohnen durfte, war ein großer Teil der Niederlausitzer Gutsbesitzerschaft versammelt, und stattlichere Männer und anmutigere Frauen sah ich selten beisammen. Und was konnten die Herren leisten, als das Trinken begann! Die »Itze« und »Witze« und »Ows«, die den Nürnberger Burggrafen und neuen Kurfürsten von Brandenburg das Leben so schwer gemacht hatten, zeigten sich beim Wein der ritterlichen Väter würdig. Auch mich hatte ein freundliches Schicksal schon jung mit der Fähigkeit begabt, seiner Übermacht wacker zu widerstehen.

Beim Polterabend wurde unter anderem auch ein von mir gedichteter Scherz aufgeführt, doch ging er mir ebenso verloren wie die gereimte Leichenrede, die ich dem stark enthaarten Zylinderhutungetüm eines Gastes hielt, den wir junges Volk mit Blumen gefüllt – ich meine den Hut – in ein feuchtes Grab versenkten.

Mein liebster Hausgenosse, für den ich eine warme Freundschaft empfand, war der Baron von Löbenstein, Majoratsherr einer Lausitzer Herrschaft, der, nur wenig älter als ich, mich, der ich ja auch von mittlerer Größe bin, um mehr als eines Hauptes Länge überragte. Trotz dieser erstaunlichen Größe waren seine langen Glieder harmonisch entwickelt, und zu Fuß wie zu Pferde nahm er sich bei der ruhigen Vornehmheit seiner Bewegungen gleich vortrefflich aus.

Wir waren äußerst verschiedene Naturen, und seine phlegmatische Gelassenheit, über die sich manchmal der Anflug einer leisen Schwermut breitete, muß scharf genug gegen meine nie ermüdende Lebendigkeit abgestochen haben. Auch ich hatte auf dem Keilhauer Turnplatz eine feste Haltung gewonnen, doch was mir auch begegnete, trat schnell in Beziehung zu meinem inneren Leben, nötigte mir Teilnahme ab und zwang mich, Stellung dazu zu nehmen, während Löbenstein das Leben gelassen an sich vorbeifließen ließ und nur einzelne hervorragende Erscheinungen seiner Teilnahme wert hielt. Er war zu bequem, um angestrengt fleißig zu sein, doch tat er seine Schuldigkeit, und was ihn interessierte, das erfaßte er mit Wärme. Sein ruhiges Urteil, das er knapp und oft witzig zum Ausdruck brachte, traf gewöhnlich den Nagel auf den Kopf und war fein wie seine ganze Natur. Er hielt mich von manchem dummen Streiche zurück, ich gab ihm, denk' ich, manche Anregung, und während der ganzen Zeit unseres Beisammenseins trübte sich unsere Freundschaft nicht eine Stunde. – Es fiel mir sehr schwer, mich von ihm zu trennen, und als ihm der Vater starb, empfand ich es mit ihm wie einen eigenen Schmerz.

Einmal war es uns beschieden, an einem Mitpensionär eine merkwürdige psychologische oder pathologische Erfahrung zu machen, denn es begegnete uns einer der traurigsten Fälle unausrottbarer Kleptomanie bei einem vierzehnjährigen Knaben von guter, adeliger Familie.

Dr. Boltze fragte uns eines Tages, ob wir es billigen würden, wenn er es mit einem Jungen versuchte, der einmal, weil er einem Kameraden etwas »genommen«, aus einer Anstalt verwiesen worden war. Ohne unsere Zustimmung wollte er uns keinen Hausgenossen geben, an dessen Ehre ein Makel haftete; der Junge sei bei seiner Frau, habe den besten Willen, sich zu bessern, und wir könnten ihm Bescheid sagen, nachdem wir ihn angesehen hätten.

Wir fanden nun einen bildhübschen Blondkopf mit großen blauen Augen und beschlossen »ja« zu sagen und dem unglücklichen Verirrten zu helfen, auf dem rechten Wege zu bleiben.

Aber schon nach wenigen Wochen bestahl er uns, und nachdem wir ihn im stillen auf eigene Hand gezüchtigt, vergriff er sich im Laden eines Schreibmaterialienhändlers an allerlei Waren. Doch wir hatten beschlossen, den Knaben zu bessern, und als er zum drittenmal des Diebstahls überführt worden war, stellten wir ihm abermals dringend vor, was aus ihm werden müsse, wenn er so fortfuhr, und versicherten ihm, daß ein nochmaliger Fehltritt der letzte in diesem Hause sein würde.

Unter Tränen versprach er, sich zu bessern, und seine großen blauen Augen baten uns gar rührend um Verzeihung. Als er sich aber kaum entfernt hatte, fanden wir, daß er während unserer eindringlichen Rede in eine offenstehende Kasse gegriffen hatte, in der gewisse Strafgelder aufbewahrt wurden. Die entwendeten Groschen fanden wir in seinem Bette versteckt.

Nun war unsere Geduld zu Ende. Er wurde nach Hause geschickt, und der unglückliche Vater gab ihn als Schiffsjungen auf eine Kauffahrteibarke. Ich weiß nicht, was aus ihm wurde, doch meine ich, daß wir ihn falsch und zu streng beurteilten.

Sicherlich war der furchtbare, unbezähmbare Trieb, der ihn zum Stehlen zwang, auf eine kranke Stelle des Gehirns zurückzuführen, und der Vater hätte ihn nicht der Entrüstung redlicher Seeleute preisgeben, sondern dem Irrenarzt anvertrauen sollen.

Die Mitschüler setzten sich aus sehr verschiedenen Elementen zusammen. Unter den jungen Herren, die für teure Pension bei den Lehrern des Gymnasiums wohnten, befand sich kein einziger, der regelmäßig fleißig gewesen wäre und etwas Hervorragendes geleistet hätte. Aber auch von den wenigen, deren Väter Bauern waren oder ganz geringen Ständen angehörten, stand keiner in Prima an der Spitze der Klasse. Sie waren sehr fleißig, doch entsprach der Erfolg selten der aufgewandten Mühe.

Der wohlunterrichtete, doch mit weltlichen Gütern spärlich bedachte Mittelstand lieferte dem Gymnasium das vorzüglichste Material.

Ein gesundes Etwas, das ich aus Keilhau mitgebracht hatte, war mir zu Hilfe gekommen, den nächsten Verkehr mit den jungen Herren zu vermeiden, die hierher gekommen waren, um das Examen zu machen. Gleich nach Löbenstein hatte ich vielmehr einige Kameraden am liebsten, die entschieden zu den Besten in der Prima gehörten.

Der hochbegabte Sohn des Komptendorfers Pastors, Albin, ist jung gestorben, die drei anderen aber haben es zu etwas Rechtem gebracht und sind mir nicht aus den Augen geschwunden.

Panck ist gegenwärtig der hochangesehene Superintendant und allverehrte erste Geistliche der Stadt Leipzig, und ich hatte die Freude, dort den alten Verkehr mit ihm neu anzuknüpfen; Hübler ist ein hoher preußischer Staatsbeamter und Schlieben eine Zierde der Quedlinburger Kanzel.

Auch er war der Muse hold, und wir lasen einander gern unsere dichterischen Versuche vor. Ich besitze noch ein hübsch eingebundenes Gedenkbuch, das er mir mit weißen Blättern zum Einschreiben meiner Gedichte schenkte. Als Widmung stehen auf der ersten Seite die von ihm gedichteten Verse:

 

»Wie auch der trotzende Kiesel, sowie der ertragende Pflugzahn
Schwinden im Laufe der Zeit: Dichter entgehen dem Tod.
Hurtig vertraue darum die flüchtige Muse dem Buche,
Das ein Freund dir geweiht, der dir Unsterblichkeit wünscht.
Schon im Geiste ich lese von Cotta die neuste Annonce:
Lieferungsweise erscheint Ebers im Schillerformat.«

 

Es ist ein merkwürdiges Ding um die Evolutionen der menschlichen Seele. Die Zeit, in der ich voll von sprudelndem Übermut tolle Streiche beging, und in der ich in der Schule nur für einen Lehrer mit rechtem Ernst tätig war, sah mich in später Nachtzeit oft stundenlang mit glühendem Kopfe an einem tiefsinnigen – ich nannte es »Weltgedicht« – arbeiten, in dem ich das Entstehen des kosmischen und menschlichen Lebens darzustellen versuchte. Sein Inhalt ist doch nicht so kindisch, daß ich ihn nicht mitteilen dürfte. Es soll dies aber an einer andern Stelle geschehen, da ich erst als Student in Göttingen etliche einschneidende Veränderungen vornahm, die mir als Unterprimaner kaum gelungen wären, und es mir widersteht, einer früheren Zeit als Besitz zuzuschreiben, woran eine spätere das Beste tat. –

Auch manche andere Dichtung, von dem Sonette auf die schönen Ohren einer hübschen Cousine an bis zum Anfang der Tragödie Panthea und Abradat ist damals entstanden; dem »Weltgedichte« aber schulde ich besonderen Dank; denn es hielt mich von mancher Torheit zurück und bannte mich oft wochenlang in den Abendstunden an den Schreibtisch, die viele Kameraden in der Kneipe verbrachten.

Daneben machte es den neuen Direktor auf meine poetischen Neigungen aufmerksam; denn eine stattliche Reihe von Versen aus dem Weltgedichte war auf etlichen Blättern aus Versehen in einem Schulhefte liegen geblieben. Er hatte sie gelesen und verlangte auch das übrige zu sehen. Diesen Wunsch konnte ich indessen nicht erfüllen; denn diese Strophen enthielten mancherlei, was dem Schüler strafwürdig vorkommen mußte. Ich überließ ihm darum nur einige der zahmsten Teile und sehe ihn noch, als er sie in meiner Gegenwart las, in seiner eigenartigen Weise beifällig schmunzeln. Er sagte mir auch etwas von entschiedenem Talent, und als der Aktus zur Feier des Geburtstags des damaligen Königs Friedrich Wilhelm IV. vorbereitet wurde, stellte er mir die Aufgabe, etwas Selbstgedichtetes vorzutragen. Ich nahm das gerne auf mich; denn das Dichten machte mir Freude, und waren meine Leistungen auf der Schule auch viel zu unregelmäßig, als daß ich sie gut nennen möchte, bin ich doch sicher der beste Deklamator gewesen.


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