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Die früheste Kindheit

In der Leipziger Straße hatte der Vater die Augen geschlossen, war ich zwei Wochen später zur Welt gekommen. Ich soll ein besonders kräftiger und heiterer kleiner Mensch gewesen sein. Eine Verwandte des Vaters, Frau Mosson, eine geborene von Hochwächter, die bei meiner Geburt zugegen gewesen war und die ich darum oft scherzhaft »die erste Frau« nannte, »die mich gesehen hat«, versicherte, ich hätte schon am dritten Tage meines Lebens ganz richtig gelacht. Auch von anderen Beweisen meines früh erwachten Frohsinns wußte diese ausgezeichnete, keineswegs phantasiereiche Frau zu berichten.

So muß ich wohl glauben, daß ich – weit weniger klug als der Sohn Lessings, der sich das Leben ansah und dabei fand, daß es weise sei, ihm sogleich den Rücken zu kehren – in das Dasein hineingelacht habe, das mir unter schönen Sonnentagen so viele Schmerzensstunden bringen sollte.

Doch ich mag frühreife Kinder nicht leiden, und so nehm' ich dies Zeichen der optimistischen Torheit, von der ja auch ein guter Teil an mir haften blieb, getrost auf mich.

Der Frühling stand bei meiner Geburt vor der Tür, die Wohnung in der geräuschvollen Leipziger Straße war der Mutter verleidet, ihre Seele lechzte nach Ruhe, und schon damals waren die Grundsätze in ihr zur Reife gelangt, nach denen sie später ihre Knaben zu tüchtigen Männern heranzubilden versuchte. Vor allem lag ihr daran, den kleinen Kindern frische Luft, den größeren freie Bewegung zu schaffen. So suchte sie denn nach einer Wohnung vor dem Tor, und es gelang ihr, das Haus in der Tiergartenstraße Nr. 4, dessen ich schon gedachte, auf einige Jahre zu mieten.

Die Besitzerin, Frau Kommissionsrat Reichert, hatte wie sie vor kurzem den Gatten verloren und war entschlossen gewesen, das Wohnhaus, das sich unweit des von ihr selbst benutzten auf dem Grundstücke erhob, lieber leer stehen zu lassen, als eine kinderreiche Familie darin aufzunehmen.

Da sie selbst allein stand, In zweiter Ehe reichte sie später dem Landrat Ulrici die Hand. scheute sie sich vor dem lauten Wesen heranwachsender Knaben und Mädchen. Aber sie hatte ein warmes, freundliches Herz, und – das erzählte sie mir selbst – der Anblick der schönen jungen Frau in tiefer Trauer ließ sie schnell ihre Vorsätze vergessen. »Wenn sie zehn statt fünf Schreihälse mitgebracht hätte,« sagte sie in ihrer derben und doch liebenswürdigen Weise, »ich hätte dem Engelsgesicht das Haus nicht verweigert.«

Wir denken alle noch gern an die starke, lebhafte Frau mit dem guten runden Gesicht und den lachenden Augen. Bald kam sie der Mutter recht nahe, und meine zweite Schwester, Paula, wurde ihr besonderer Liebling, dem sie alles durchgehen ließ. Für sie trug Frau Reichert auch gewöhnlich etwas Süßes in der Tasche, das auch uns anderen mit zugute kam. Ihre Rappen waren die ersten Pferde, auf die man mich hob. Manchmal nahm sie uns auch mit in ihre Kutsche oder ließ uns in ihr spazieren fahren.

Einzelner Stellen des großen Gartens, der unser Haus umgab, erinnere ich mich sehr wohl, besonders des schattigen Laubganges, der von unserem Balkon im hohen Parterre bis an den Schafgraben führte, des Teiches, der schönen Blumenrabatten vor dem stattlichen Hause der Wirtin, und des Kartoffelfeldes, in dem ich – der Gärtner war der Jäger – das erste Rebhuhn erlegen sah. Das mag ziemlich genau an der Stelle gewesen sein, wo seit vielen Jahren in der Matthäikirche Orgeltöne erschallen und das Wort Gottes einer Gemeinde verkündet wird, deren Wohnhäuser sich zum guten Teil auf den Spielplätzen meiner Kinderzeit erheben.

Das Haus, das uns allein beherbergte, war nur einstöckig, doch hübsch und geräumig; wir bedurften aber auch eines großen Quartiers; denn außer der Mutter, den fünf Kindern und den weiblichen Dienstboten mußte es die Erzieherin und einen Mann beherbergen, der eine Mittelstellung zwischen Hausmann und Diener einnahm und, wenn einer, den Namen eines Faktotums verdiente. Er hieß Kürschner, war ein starkknochiger, untersetzter Dreißiger, der das Bündchen des Ordens, den er als Soldat bei der Belagerung von Antwerpen sich erworben hatte, stets im Knopfloche trug, und der zu unserem Schutze von der Mutter ins Haus genommen worden war; denn im Winter lag unser Heim recht einsam auf dem großen Grundstück.

Dieser Kürschner war ein grundbraver, arbeitsamer und treuer Mensch, der, was man ein »Familienstück« nennt, für uns wurde.

Von seiner Tätigkeit in der Tiergartenstraße ist mir nur noch erinnerlich, daß er am Abend nach getaner Arbeit die Flöte blies.

Wie sentimental und schmelzend die Lieder waren, mit denen er ich weiß nicht welche Herzenssehnsucht stillte, hab' ich erst als größerer Knabe erfahren, wenn ich mich mit meinem Bruder Ludo in sein Stübchen schlich, um mir von seinen Kriegstaten erzählen zu lassen.

Die Erzieherin hatte sich natürlich nur mit den älteren Geschwistern zu beschäftigen, für mich genügte einstweilen die Amme, eine Uckermärkerin, die besonders hübsch und heiter gewesen sein soll, doch – vielleicht durch den Tod – außer jeder Verbindung mit der Familie kam, während die Ammen der älteren Geschwister bis an ihr Ende an der Mutter eine hilfreiche Gönnerin besaßen.

Von Frau Großmann, die meine Schwester Martha genährt hatte, hab' ich noch zu reden; Frau Zimmer in Luckenwalde, die Amme meines Bruders Martin, erhielt jährlich zu Weihnachten eine Kiste mit Geschenken. Als diese brave Frau zur Greisin geworden war und über Schwäche klagte, ließ die Mutter sie mehrere Sommer hindurch nach Hosterwitz bei Dresden kommen und sich dort in ihrem Landhause stärken.

Was uns fünf Kinder angeht, so standen an unserer Spitze die beiden großen: jetzt als Gattin des Oberstleutnants Freiherrn Kurt von Brandenstein verstorbene Schwester Martha und mein Bruder Martin, die sieben und fünf Jahre älter waren als ich. – Diese beiden wurden natürlich anders behandelt als wir jüngeren Geschwister.

Paula war mir um drei, Ludwig oder Ludo – er ist heute noch der »Onkel Ludo« seiner Neffen und Nichten – um anderthalb Jahre voran.

Paula, Im Herbst 1895 wurde auch sie uns genommen. ein frischer, hübscher, drolliger und verwegener Übermut mit blonden, erst später gebräunten Locken, die ihr den ganzen Kopf umgaben, führte oft unsere Spiele an, Ludo, der sich später als preußischer Offizier im Kriege wacker bewährte, war ein sanftes Kind von zarter Gesundheit – man sieht es dem breitschulterigen Landmanne wahrlich nicht mehr an – und der nachgiebigste und liebenswürdigste aller Spielgefährten. Wir beide hielten aufs engste zusammen, und wie oft hat man uns für Zwillinge gehalten.

Als der Unterricht begann, sind wir selten anders als mit dem Arm des einen auf der Schulter des anderen in die Schule gegangen.

Wir teilten alles miteinander, und an meinem Geburtstage wurde ihm, an seinem mir mitbeschert.

Die erste Person Singularis des persönlichen Fürwortes hatte jeder vergessen und bediente sich nur seiner Mehrzahl, wenn er von sich selbst oder dem anderen sprach.

Erst verhältnismäßig spät lernte ich das »ich« und »mir« an die Stelle des »wir« und »uns« zu setzen.

In meiner Vorstellung war er und ich ein einziger Begriff, und ähnlich erging es auch der Mutter und den Geschwistern, bis die Streiche des Georg bedenklicher zu werden anfingen als die seines sanfteren und weniger unternehmenden » alter ego«.

Die Folge der Begebenheiten in dem stillen Landhause ist mir natürlich aus dem Gedächtnis geschwunden, und vielleicht hat sich manches, was ich hierher verlege, in der Lennéstraße ereignet, die wir später bezogen; jedenfalls aber gehören die Erinnerungen an die Zeit, die wir im Tiergarten verlebten, in dem ja auch die zweite Wohnung lag, zu den lebhaftesten und schönsten meiner Jugend.

Wie oft taucht vor meinem rückwärtsschauenden Blicke das Bild der hohen Bäume und dichten Laubgruppen unseres eigenen und des herrlichen Berliner Tiergartens auf, sehe ich zwischen ihnen muntere Kinder spielen, höre ich vor dem inneren Ohr ihr fröhliches Lachen.

 


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