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Die Reise nach Holland zur goldenen Hochzeit

Rädergerassel und das Schmettern eines Posthorns bereiteten meiner ersten Kinderzeit ein Ende. Wir reisten, als ich vier Jahre alt war, in die Heimat der Mutter, um der goldenen Hochzeit der holländischen Großeltern beizuwohnen.

Später wurde mir erzählt, wohin der Weg uns damals führte; doch erging es mir mit dieser Reise wie mit der Wanderung durch die ersten Jahre der Kindheit. Einzelne Muscheln sind geblieben, der Faden, der sie zur Kette vereinte, riß längst in Stücke.

Wollte ich den Verlauf dieser Reise in der rechten Folge darstellen, müßte ich mich an fremde Mitteilungen halten.

Daß uns der Weg zur Feier einer goldenen Hochzeit führte, prägte sich mir freilich unauslöschlich fest ins Gedächtnis; denn wie oft hörte ich es wiederholen, und was das Wort »goldene Hochzeit« bedeutet, wurde uns sicher zur Genüge erklärt. Dagegen ist es mir wohl nur infolge späterer Mitteilungen möglich, zu berichten, daß die Mutter mit den fünf Kindern, der Erzieherin und einem Dienstmädchen in einem großen Reisewagen Platz fanden, daß die Gouvernante, die an die Stelle unserer lieben Bernhardine Kron getreten war, Fräulein Föhr hieß, und daß die goldene Hochzeit in Laeken bei Brüssel gefeiert wurde. So wenig ist mir von allem im Gedächtnis geblieben, was Erwachsenen in Belgien, Holland und am Rhein sehens- und bemerkenswert erscheint, daß ich lächeln muß, wenn ich höre, man beabsichtige, Kinder zu ihrem Vergnügen und zu ihrer Belehrung mit auf die Reise zu nehmen.

In unserem Falle wurden wir in den Wagen gesetzt, weil die Mutter uns nicht zurücklassen und den Großeltern durch unser Erscheinen Freude machen wollte. Sie tat recht daran, mir aber sind trotz der mir doch wohl angeborenen Wanderlust die Monde, die wir unterwegs und in der Fremde verbrachten, lange nicht wie ein schöner Genuß, sondern wie eine Zeit recht wenig behaglicher Unruhe erschienen. Dem Kinde ist eben das Nächste das Liebste, und was diese Reise mich lehrte, sah ich später an den eigenen und vielen anderen Kindern bestätigt. Ja, dies Gefallen und Hasten an dem Vertrauten, das sich mit Händen greifen läßt, geht so weit, daß dem Kinde bis wenigstens zum siebenten Jahre das Verständnis für die Schönheit eines herrlichen Blickes in die Ferne, für die Erhabenheit der Gletscherwelt und die Größe des unendlichen Meeres so sicher abgeht, wie es den furchtbaren Ernst und die Bedeutung der letzten Reise, des Todes, nicht zu begreifen vermag. Ich war ungerecht gegen die eigenen Kinder, als ich sie auf der Höhe des ersten Berges, den sie erstiegen hatten, lieber Blumen pflücken als das köstliche Gemälde mit bewundern sah, das sich vor den trunkenen Augen der Eltern auftat. Ich bat es ihnen ab, als ich bei jedem natürlichen Kinde das gleiche wahrnahm.

Das Kind erfaßt eben nur das einzelne Schöne: eine Blume, einen glänzenden Stein, ein menschliches Antlitz; eine Vielheit von Erscheinungen zusammenfassen lernt es erst später, und ich fand für diese Wahrnehmung eine Erklärung. Anfänglich ist das Auge des Kindes nur einer glatten Glasfläche vergleichbar. Was sie schleift, ist Erfahrung und Übung. Haben diese das Ihre getan, dann faßt es, wie die Linse im Fernrohr, auch weitere Kreise in sich zusammen. Zuletzt wird es zum Brennglas, das in der Seele des Menschen das Himmelsfeuer der Begeisterung entzündet, die dem Kinderherzen noch fremd ist.

Was mir von der Reise nach Holland nicht als Mitteilungsgut, sondern als echte eigene Erinnerung zurückblieb, ist das Einsteigen in den Reisewagen, ist ein kleiner, grün, rot und weiß gekleideter lederner Bajazzo, der mir von einer Verwandten, und die Schachtel mit Süßigkeiten, die mir von einem Freunde des mütterlichen Hauses mit auf den Weg gegeben worden war.

Von der Fahrt nach Belgien prägte sich mir nichts ins Gedächtnis als das Blasen des Postillions, ein Streit um den Platz auf dem Kutscherbock oder auf dem Bedientensitz, den das Dienstmädchen, die sehr hoch gewachsene Auguste, bei gutem Wetter mit einem von uns Kindern teilte. Deutlich steht mir ferner vor Augen, wie mich in einer Wirtsstube – ich weiß nicht mehr wo – ein Postillion auf den Tisch stellte und mich seinen lachenden Kameraden etwas auf seinem Horne »vorblasen« ließ, und wie man irgendwo den Hauptkoffer eiliger als sonst – denn es ging lauter dabei her – auf den Wagen schnallte. Diesen Koffer selbst kann ich auch noch beschreiben. Er hieß wohl wegen des Rindsleders, aus dem er bestand, die Wasche ( vache) und war kaum einen Fuß hoch, aber so groß, daß er etwa zwei Drittel des Daches unseres Reisewagens bedeckte. Da er in jedem Nachtquartier abgebunden und uns ins Schlafzimmer gebracht wurde, muß er wohl den Löwenpart der unterwegs notwendigen Sachen enthalten haben. Ich sehe auch noch Gasthäuser, die in meiner Vorstellung sämtlich einstöckig waren, mit breiten Hoftoren, vielen Wagen, Pferden und Postillionen vor dem inneren Auge. Das aber ist alles, was ich von der Hinreise weiß.

Von der Heimfahrt – ich war ein Jahr älter geworden – sind mir deutlichere Erinnerungen geblieben, vielleicht aber gehört das Hornblasen auch schon zu ihr.

Später erfuhr ich, daß wir jeden Abend in einem Wirtshause eingekehrt waren, wo die Kinder beizeiten zu Bette gebracht wurden. Obgleich wir also keine einzige Nacht durchgefahren und sogar zeitig zur Ruhe gebracht worden sind, brauchten wir von Berlin bis Brüssel nur neun Tage, was mir nicht eben lange zu sein scheint.

Von dem Empfang in der belgischen Hauptstadt, wo wir im Hause unseres Onkels Adolphe Jones, des Gatten der Tante Henriette, einer Schwester der Mutter, Aufnahme fanden, ist mir noch manche Erinnerung geblieben.

Unser freundlicher Wirt war ein Tiermaler, den ich später mit seinem Freunde Verboekhoven das Atelier teilen sah und dessen Schafherden sich einer besonderen Wertschätzung erfreuten. Damals hatte er die Werkstätte im eigenen Hause, und zwar in einem von den Wohnräumen getrennten Raume; denn es ist mir, als hörte ich noch den sich täglich unzähligemal wiederholenden Ruf des Diskants der Tante: »Adolphe!« und die unmittelbar darauf im tiefsten Baß erfolgende Antwort: »Henriette!« Dies seltsame Spiel, das uns zur Erheiterung diente, soll, wie ich später erfuhr, die Folge der an das Krankhafte streifenden Eifersucht der Tante gewesen sein. Sie mochte den leichtlebigen Gatten bisweilen auf unrechten Pfaden ertappt haben, und so fühlte sie häufig das Bedürfnis, sich zu überzeugen, ob er sich im Atelier und im Bereiche ihrer Beobachtung befand.

Ich lernte in ihm viele Jahre später einen jovialen Künstler kennen, der in der Jugend der gestrengen Hausfrau allerdings Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben haben mag. Noch mit weißem Haar war er jeder Freude des Lebens hold, doch nahm er es ernst mit der Kunst, und ich bin ihm zu Dank verpflichtet, weil er die Freundschaft der Mutter mit dem trefflichen Tiermaler Verboekhoven und mit dem größten der neueren belgischen Künstler, Louis Gallait, und den Seinen vermittelte, in deren Gesellschaft und Heim mir später köstliche Stunden zu genießen vergönnt war.

Denke ich an den Empfang im Jonesschen Hause zurück, so sehe ich zuerst das heitere, ein wenig faunisch lächelnde Gesicht des über sechs Fuß großen Onkels und die volle Gestalt seiner seelenguten und, wenn die Eifersucht ihr keinen Streich spielte, nicht minder frohgelaunten Gattin. Es war ihr etwas besonders Herzliches und Behagliches eigen, und ich hörte erzählen, daß sie, die älteste Schwester der Mutter, in der Jugend von geradezu blendender Schönheit gewesen sei. Diese war auch auf dem berühmten Balle in Brüssel dem Marschall Wellington so entschieden ins Auge gefallen, daß er ihr, um sie an ihren Platz zurückzuführen, den Arm geboten hatte. Auch die Mutter erinnerte sich der napoleonischen Zeit, und daß sie diesen furchtbar großen Menschen bei seinem Einzüge in Rotterdam und auch Goethe gesehen hatte, schätzte ich an ihr als einen besonderen Vorzug.

Tante Henriettens Tochter war während eines Besuches bei der Mutter in Berlin dem damals noch jungen Baumeister und späteren Präsidenten der Akademie der Künste, Fritz Hitzig, begegnet und seine Gattin geworden. Sie hatte die mütterliche Schönheit geerbt, und ihre Züge wußten lange ein geradezu klassisches Ebenmaß zu bewahren. Auch auf ihre beiden Töchter und besonders auf die älteste, Eugenie, ging die Gottesgabe der großmütterlichen Schönheit über.

Von dem Atelier des Onkels weiß ich nichts mehr; wohl aber sehe ich das Zimmer deutlich vor mir, in das man uns gleich nach der Ankunft führte. Man hatte dort einen Tisch für die jungen Gäste hergerichtet und ihn mit Schreibtafeln, Heften, Federn und Büchern sowie mit einigem Spielzeug für uns Kleine versehen. Aber noch etwas anderes prägte sich mir an jenem Abend ins Gedächtnis. Man führte uns nämlich in das Schlafzimmer eines aus Indien hierher geschickten Knaben, eines Verwandten des Hauses, der Piet Blondeau hieß,. Unser Eintritt erweckte ihn, und ich sehe ihn mit greifbarer Deutlichkeit vor mir, wie er sich in den Kissen aufrichtete und uns schlaftrunken mit einer hohen weißen Zipfelmütze auf dem Kopfe entgegenstarrte. Es war der erste Junge, den ich eine solche allen Ernstes gebrauchen sah, und sein Anblick veranlaßte mich zu einem so lauten und anhaltenden Gelächter, daß die Tante verwundert fragte, was ich denn habe.

In Belgien und Holland pflegte man früher allen Kindern solche Zipfelmützen aufzusetzen, und eine verehrte Leipziger Freundin schilderte mir ihr Erstaunen, als sie in Utrecht zu den Kindern ihres Bruders, ein Zwillingspärchen, geführt wurde und beide mit diesen wunderlichen Kopfbedeckungen in der Wiege liegen sah.

Des Großvaters erinnere ich mich als eines stattlichen alten Herrn. Manchmal nahm er mich auf den Schoß und gestattete mir, ihm die weißen Haare, die ganz vereinzelt seinem durchaus kahlen Scheitel entwuchsen, auszuziehen. Sobald ich eine dieser Operationen vollendet hatte, schnellte er auf und gab sich die Miene, als beabsichtige er, mich zu verschlingen. Von ihm wie von den übrigen wurde ich Georg Krullebol, das heißt Lockenkopf, gerufen, um mich von einem gleichnamigen Vetter, den man Georg von Gent nannte, zu unterscheiden. Ich weiß ferner noch, daß wir Kinder, als wir am sechsten Dezember, am St. Nikolaustage, die Schuhe anziehen wollten, von den Geschenken, die man hineingesteckt hatte, weidlich überrascht wurden, und endlich, daß am Heiligabend der Christbaum, den man für uns in einem Zimmer des ersten Stocks angezündet hatte, eine so große Ansammlung von Neugierigen vor dem Jonesschen Hause veranlaßt hatte, daß die Fensterladen geschlossen werden mußten.

Daß der Onkel und Tanten, der Cousins und Cousinen nicht wenige zu der goldenen Hochzeitsfeier zusammengeströmt waren, erinnere ich mich wohl, wenigstens wollt' es mir immer scheinen, als wären wir damals fortwährend von einer Menge großer und kleiner Leute umgeben gewesen. Unter den Erwachsenen machte keiner einen besonderen Eindruck auf mich, wohl aber taten es zwei kleine Mädchen, von denen die eine Bessie hieß. Sie waren sehr niedlich, und Bessie, die aus England kam, war die Tochter der Tante Rosette Lavino, der Lieblingsschwester unserer Mutter. Sie ist mir nie aus den Augen geschwunden und reichte später dem Professor Karl von Noorden die Hand, der einer meiner teuersten Freunde und, nachdem man ihn als Historiker nach Leipzig berufen hatte, auch mein lieber Kollege werden sollte.

Von dem Ehrentage der Großeltern blieb mir nichts in der Vorstellung haften als ein mit Menschen erfüllter weiter Raum und die Minuten, in denen ich meine Verschen hersagte. Ich sehe mich noch in einem kurzen rosa Röckchen mit einem Rosenkranz in den blonden Locken, mit Flügeln an den Schultern, mit einem Köcher auf dem Rücken und einem Bogen in der Sand vor dem Spiegel stehen und mir selbst gar wohl gefallen, unsere Erzieherin hatte dem kleinen Amor die Ansprache gedichtet, die Mutter sie mir gut einstudiert, und so erinnere ich mich keines Augenblicks der Angst und Befangenheit, wohl aber, daß mich das reinste, hellste Vergnügen erfüllte, auch etwas leisten zu dürfen. So muß ich wohl recht froh und unbefangen vor die Zuschauer, unter denen mir ja viele bekannt waren, getreten sein; denn ich höre noch den lauten Beifall, der mich umrauschte, und sehe mich von Arm zu Arm wandern, bis ich mich den Küssen und Schmeichelworten der Großeltern, Tanten und Cousinen entwand und auf dem Schoß der Mutter Zuflucht suchte.

Von dem Jubelpaare selbst weiß ich nur noch, daß der Großvater kurze Beinkleider, sogenannte Eskarpins, und bis an die Knie reichende Strümpfe trug; von der goldenen Braut vermag ich dagegen nichts zu berichten, und doch soll sie trotz ihrer sechsundsechzig Jahre – sie hatte dem Gatten noch nicht siebenzehn Jahre alt die Hand gereicht – erstaunlich hübsch ausgesehen haben. Später ist mir das weiße, mit kleinen Buketten bestreute schwere Seidengewand mehrmals wieder begegnet, das sie bei der ersten Trauung getragen und in veränderter Form als Silberbraut wieder angelegt hatte; denn es war nach ihrem Tode der Mutter überlassen worden. Brautkleider von heute haben wohl kürzere Dauer.

Es ist mir oft merkwürdig erschienen, daß ich mich des Großvaters so lebhaft, der Großmutter so wenig erinnere, Dennoch besitze ich eine feste Vorstellung ihres Aussehens, diese aber schulde ich, glaub' ich, weit mehr ihrem Porträt, das neben dem ihresd Gatten bei der Mutter hing und jetzt zu meinen kostbarsten Besitztümern gehört. Bradley, einer der hervorragendsten englischen Porträtmaler, hat diese Bildnisse gemalt, die alle Kenner, die sie haben, für Meisterwerke ersten Ranges erklären.

Der Verlauf der goldenen Hochzeit soll so würdig wie heiter gewesen sein.

In meiner Vorstellung lebt diese Festzeit als ein frischer Frühlingsmorgen fort, an dem sich nach Mittag der Himmel bewölkt und den ein schweres Gewitter beschließt.

Auch über dem mit Kränzen und Blumen geschmückten Festhause, in dem es tagelang nicht still geworden war von den frohen Begrüßungen, den heiteren Gesprächen, den Scherzen und Glückwünschen der nach langer Trennung hier wieder vereinten Geschwister und Verwandten und dem Jubel der Kinder und Enkel, hatte schwarzes Gewölk sich gesammelt. Kein lautes Wort war gestattet; wer recht leise auf den Zehen dahinschlich, wurde gelobt. Wir fühlten, daß etwas Bedrohliches, Schreckliches sich nahte. Man nannte es die Krankheit des Großvaters. So angstvoll und trüb hatten wir das sonnige Antlitz der Mutter noch nie gesehen. Sie zeigte sich uns auch nur selten, und tat sie es auf kurze Stunden, so gehörte sie uns nur halb an; denn sie pflegte den leidenden Vater.

Dann kam ein Tag, an dem eingetroffen war, was man gefürchtet. Wohin wir schauten, weinten die Frauen, und auch die Männer hatten von Tränen gerötete Augen. Bleich und betrübt sagte uns die Mutter, der gute Großvater sei gestorben. Das mußte etwas ganz Entsetzliches sein, aber ich wußte nicht, was; doch als ich auch unsere älteste Schwester Martha weinen sah, da tat sie und die Mutter mir leid, und mir und dem Bruder traten gleichfalls Tränen in die Augen.

Kinder vermögen eben den schweren Ernst des Todes nicht zu erfassen. Das ist ein Geschenk, das ihre Schutzgeister den Lieblingen gewähren, damit kein finsterer Schatten die sonnige Helle ihrer Seele verfinstere. Sie haben noch teil an den Freuden des Himmels, und ihre Gestalt geben wir den Engeln. Warum sollten sie den Weg fürchten, von dem sie so zuversichtlich glauben, daß er sie zu diesen Freuden leite!

Ich sah nur, wie heitere Gesichter sich in bekümmerte verwandelten, wie die frohen Gestalten um uns her in dunklen Trauerkleidern still und ernst einhergingen und uns kaum mehr beachteten. Auf den Tischen in der Kinderstube, an denen man unseren bunten Festputz hergestellt hatte, schnitt man auch für uns schwarze Kleider zu, und ich erinnere mich noch, wie mir mein Trauerröckchen angepaßt wurde. Ich freute mich daran, weil es doch neu war. Mit den Läppchen, die von dem Schneidertische gefallen waren, versuchte ich meinen Hampelmann aus Berlin zu bekleiden. Das Kind wählt sich ja nichts lieber zum Spiel, als was die Erwachsenen treiben. Das Lachen war uns ohnehin verboten!

Doch schon nach wenigen Tagen wehrte uns die Mutter nicht mehr, fröhlich zu sein. Von der Übersiedlung nach Scheveningen und von dem Aufenthalte daselbst weiß ich nur noch, daß die Wege im Gärtchen des kleinen Strandhauses, das wir bewohnten, mit Muscheln bestreut waren. Es spielte sich mit ihnen und den anderen, die wir an der See fanden, sehr schön. Bei den Dünen gruben wir ein großes Loch in den Sand; von dem Meere und seiner erhabenen Größe ging mir aber jede Vorstellung verloren, und als ich es in reiferen Jahren wiedersah, war es mir, als begrüßte ich zum erstenmal die ewige große Thalatta, die mir so lieb und vertraut werden sollte.

Die Großmutter ist, wie ich hörte, als lieber Gast eines ihrer Söhne, der in Haag Advokat war, kaum ein Jahr nach dem Tode des treuen Gefährten ihm schmerzlos »nachgestorben«, wie das Volk so zutreffend sagt. Von der Heimreise sind mir zwei Ereignisse lebhaft erinnerlich geblieben.

Wir fuhren mit dem Dampfschiff von Nimwegen aus die Waal und den Rhein hinauf und machten zu Ehrenbreitstein Station, um die alte Frau Mendelssohn, die Mutter unseres Vormundes, auf ihrem Gute Horchheim zu besuchen. Man hatte uns den Wagen an die Station geschickt, und auf der Hinfahrt gingen die mutigen Pferde durch und wären mit uns in den Rhein gejagt, hätte uns nicht mein Bruder Martin, der damals das elfte Jahr erreicht und neben dem Kutscher gesessen hatte, gerettet. Wie er das zustande brachte, weiß er – ich befragte ihn natürlich – selbst nicht mehr zu sagen, doch erinnert er sich so gut wie wir alle, daß er stets als unser Retter bezeichnet und seine mutige Entschlossenheit hoch gepriesen worden war. Vielleicht ist er vom Bocke aus den Pferden an den Zaum gesprungen. Die einzige, die noch nähere Auskunft zu geben vermöchte, die Mutter, ist ja leider nicht mehr.

Obgleich wir in ernster Gefahr geschwebt haben müssen, ist mir das doch nicht eigentlich ins Bewußtsein gekommen. Was Furcht heißt, blieb mir überhaupt mein Leben lang fremd. Auch in recht bedenklichen Lagen gelang es mir immer, die Ruhe zu bewahren, obgleich ich sonst keineswegs zu den Schwererregbaren gehöre. Ich kenne nur eins, wovor mir seit einer Reihe von Jahren ernstlich graut, und das ist – in Gedanken an die Kinder und Enkel – die Diphtheritis. Sie hat mir leider dazu Anlaß gegeben. Im ganzen darf ich mich wohl dieser Eigenschaft freuen, doch hat sie mich in früheren Tagen zu manchem törichten Wagnis verleitet, auf das ich jetzt nur mit Kopfschütteln zurückschaue.

Das andere Erlebnis war harmloserer Natur.

Ich hatte manchen Lachs alias Salm auf dem Tische und in der Küche gesehen und mir vorgenommen, vom Dampfschiff aus wenigstens einen zu angeln. Zu diesem Behuf band ich ein Stückchen Konfekt an einen Bindfaden und ließ ihn vom Deck des Schiffes aus in den Strom und vom Schiffe nachziehen. Die geschmacklosen Fische verschmähten indessen die süße Lockspeise, mich aber hielt die früh erwachte Jagdlust lange und ungeduldig am nämlichen Platze, was der Mutter sicher genehmer war als den Lachsen mein Köder.

Wie ich mich nun wieder einmal, wohl geschützt von dem Gitter der Brüstung und wahrscheinlich auch von der Pflichttreue der Erzieherin und der Vorsorge der älteren Geschwister, diesem erlaubten Vergnügen hingab, stieg die Mutter in die Kajüte hinunter, um etwas zu ruhen. Da ward es plötzlich laut auf dem Schiffe. Man rief und schrie, alles eilte auf das Verdeck und schaute in den Strom. Hab' auch ich einen Sturz ins Wasser vernommen und gesehen, wie man das Rettungsboot bemannte, oder nicht, ich weiß es nicht mehr; um so sicherer aber erinnere ich mich des Augenblickes, in dem die Mutter wie eine Verzweifelte aus dem Kajütenhause hervorstürzte und mich als ihr verlorenes und wiedergewonnenes Kind mit aller Zärtlichkeit ans Herz zog.

Damit fand das Drama ein fröhliches Ende, doch hatte es einen entsetzlichen Auftritt enthalten, dessen Hergang mir folgendermaßen dargestellt wurde.

Zu den Passagieren des Dampfers hatte ein geisteskranker Engländer gehört, der einer Irrenanstalt zugeführt und von einem Wächter behütet werden sollte. Während die Mutter nun ruhte, war es dem Wahnsinnigen gelungen, die Aufmerksamkeit dieses Mannes zu täuschen und in den Strom zu springen. Natürlich hatte sich an Bord sogleich ein lautes Lärmen erhoben, und der Mutter waren Rufe wie »ins Wasser gefallen«, »rettet!«, »er wird ertrinken« ans Ohr gedrungen. Da hatte sich die mütterliche Sorge sogleich dem angelnden Kinde zugewandt, und fest überzeugt, daß ich es sei, dem die angstvollen Rufe über ihr galten, war sie der Kajütentreppe entgegengeeilt. Ein Herr, der ihr, während er die Stufen hinunterging, begegnete, hatte ihr dabei zugerufen: »Beruhigen Sie sich, er wird schon gerettet!« Dies »er« konnte die Mutter natürlich nur auf ihren Knaben beziehen, den sie vielleicht nicht ganz unbesorgt verlassen hatte, und ich brauche dem Leser nicht eingehend zu beschreiben, in welchem Zustande sie das Deck betrat und was sie bewegte, als sie das Nesthäkchen auf seinem Platze fand und den den Lachsen so gefährlichen Bindfaden noch immer in der Hand halten sah.

Da es gelungen war, den unglücklichen Sohn Albions unbeschädigt auf das Schiff zurückzuschaffen, durften wir des Herganges heiter gedenken, doch vergaßen wir beide nicht dieser schweren Sorge, die erste, die ich der Mutter bereiten sollte.

Was weiter auf der Heimfahrt geschah, vergaß ich; doch wirft sich mir, wenn ich dieser ersten, für ein Kind weiten Reise und der mancherlei kleinen gedenke, die es mir so jung – gewöhnlich nach Dresden, wo die Großmutter Ebers sich niedergelassen hatte – zu machen vergönnt war, die Frage auf, ob ich ihnen die Wanderlust verdanke, die sich später so lebhaft in mir regte, oder ob ich sie als angeborenen Trieb betrachten soll. Ich möchte das letztere für das richtige halten, und es ist mir auch eine Besonderheit eigen, die mich, wenn der Aberglaube des Volkes nicht trügt, zum Reisen vorausbestimmt. Kein Geringerer als Friedrich Fröbel, der Begründer der Kindergärten, war es, der mich darauf aufmerksam machte; denn als ich ihm in der Anstalt zu Keilhau zum erstenmal begegnete, griff er mir in das Lockenhaar, bog mir den Kopf zurück, schaute mir mit den kinderfreundlichen und doch durchdringend klugen Augen ins Gesicht und sagte: »Du kommst einmal weit durch die Welt, mein Knabe, du hast weit auseinanderstehende Zähne.«

Meine beiden oberen Vorderzähne trennt allerdings ein ziemlich breiter Zwischenraum, den die Natur bildete; denn ich bin, gottlob, gegenwärtig, das heißt im sechzigsten Jahre, immer noch im Besitze fast aller anderen. Als ich Karl von Holtei in seiner Lebensbeschreibung klagen hörte, daß ihm heftige Zahnschmerzen unendlich häufig die heitere Knabenzeit getrübt hätten, wollte es mir scheinen, als sei es meinem kindlichen Froh- und Übermute zugute gekommen, daß mir weder Zahn- noch Kopfweh auch nur eine Minute lang die Daseinsfreude trübten. Die Schickung mißt indes im ganzen mit gleichem Maße und gab mir den Schmerz, den sie mir so lange vom Haupte fernhielt, an einer andern Stelle mit Zinsen zu fühlen.


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