Georg Ebers
Ein Wort
Georg Ebers

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Achtes Kapitel

Die Gäule des Vogtes waren nicht schneller aus dem Kloster vor das Stadttor gelangt als Ulrich.

Sobald der Schmied durch sein Klopfen aus der Ruhe gestört war und seine Stimme erkannt hatte, wußte er, worum es sich handle, und hörte seinen Bekenntnissen schweigend zu, während er selbst eilig und doch besonnen seine verborgene Habe ausgrub, einen Sack mit dem Nötigen füllte, seinen handlichsten Hammer in den Gürtel steckte und Wasser über das glimmende Feuer goß. Darauf schloß er die Tür und sandte Ulrich zum Hangemarx, mit dem er schon manches verabredet hatte, denn der Gaukelkaspar, der durch seine Töchter mehr erfuhr als ein anderer, war gestern zu ihm gekommen, um ihm zu erzählen, daß etwas gegen den Juden im Werk sei.

Adam fand ihn noch wach bei der Arbeit. Er war vorbereitet auf das, was ihn bedrohte, und bereit, die Flucht zu ergreifen. Kein Wort der Klage, keine unruhige Bewegung verriet die tiefe Seelenpein des Verfolgten, und dem Meister wurde es weich ums Herz, als er vernahm, wie der Doktor sein Weib und das Kind aus dem Schlaf rief.

Das angstvolle Stöhnen der tief entsetzten Stummen und das laute Weinen Ruths und neugieriges Fragen wurde bald überschrien von dem lauten Jammergeheul der alten Rahel, welche tiefer und mit noch mehr Tüchern vermummt als sonst in das Wohnzimmer stürzte und dort in einer fremden Sprache klagend und schmähend alles zusammenraffte, was ihr zur Hand war. Sie hatte eine große Kiste hinter sich hergeschleppt und warf nun Leuchter, Krüge und selbst das Schachspiel und die alte Puppe Ruths mit dem zerbrochenen Kopf in dieselbe.

Als die dritte Stunde nach Mitternacht anbrach, war der Doktor zum Aufbruch bereit.

Vor der Türe hielt der Kohlenschlitten des Hangemarx mit seinem Rößlein.

Dies war ein seltsames Tier, nicht größer als ein Kalb, so mager wie eine Ziege und dabei hier wollig, dort kahl wie ein haarender Pudel.

Der Schmied half der Stummen in den Schlitten, der Doktor setzte ihr Ruth auf den Schoß, Ulrich vertröstete das Kind, das ihn mancherlei fragte, auf später, die Alte aber wollte sich nicht von der Kiste trennen und war nur schwer in das Fuhrwerk zu bringen.

»Du weißt, über die Berge in das Rheintal – gleichviel wohin,« flüsterte Costa dem Wilddieb zu.

Der Hangemarx trieb sein Pferdchen an und entgegnete, indem er sich nicht an den Israeliten wandte, der ihn angeredet hatte, sondern an den Schmied, von dem er glaubte, daß er ihn besser verstehen werde als der Bücherwurm Costa: »Die Schlucht hinan ohne Umweg, das geht nicht. Des Grafen Rüden spüren uns aus, wenn man sie uns nachhetzt. Erst auf die Landstraß', und beim Lautenhof lenken wir ein. Morgen ist Markttag. Da kommen die Leut' schon früh aus den Dörfern und betreten den Schnee, und die Hunde verlieren die Spur. Wollt' es nur schneien!«

Vor der Schmiede streckte der Doktor dem Meister die Hand hin und sagte:

»Bis hierher, Freund.«

»Wir gehen mit Euch, wenn es Euch recht ist.«

»Bedenket,« hob der andere mahnend an, aber der Schmied unterbrach ihn und sagte:

»Ich hab' alles bedacht; hin ist hin. Bub, nimm dem Doktor den Sack von der Schulter!«

Von nun an wurde lange Zeit nichts gesprochen.

Die Nacht war kalt und hell.

In dem weichen Schnee schritten die Männer geräuschlos dahin, man hörte nichts als das Knirschen der Kufen und dann und wann das leise Wimmern der Stummen oder ein lauteres Wort aus den Selbstgesprächen der Alten. Ruth war auf dem Schoße der Mutter eingeschlafen und atmete tief.

Beim Lautenhof führte ein schmaler Pfad in die Berge und tief in den Wald.

Als es steiler anstieg, halfen die Männer dem kleinen Pferde, denn der Schnee lag knietief, und es hustete oft und warf den dicken Kopf auf und nieder, als wollt' es damit buttern. Einmal, als das arme Geschöpf einen recht heftigen Anfall bekam, wies Marx auf das grüne Wolltuch am Halse der Mähre und raunte dem Schmied zu: »Zwanzig Jahre, und dabei in den Drusen.«

Das Tierchen nickte dazu langsam und schwermütig, als wollt' es sagen: »Das Leben ist hart; 's wird wohl meine letzte Schlittenfahrt sein.«

Die schwerbelasteten breiten Äste der Tannen hingen müde in den Weg, zwischen den Stämmen hervor schimmerte überall die Decke des Schnees in eintönigem Weiß, die Kuppen der dunklen Felsblöcke am Wege trugen weiße, glatte Hütlein von lockerem Schnee, der Waldbach war an den Rändern erstarrt, und nur in seiner Mitte sickerte das Wasser frostig zwischen kristallenen Flächen und spitzen Zapfen zu Tale.

Solange der Mond schien, gleißten und glitzerten schimmernde Lichter auf dem Schnee und Eise, dann aber leuchtete den Wanderern nur noch der eintönige Schein der alles bedeckenden Schneelast.

»Wollt' es nur schneien!« wiederholte der Köhler.

Je höher sie kamen, desto tiefer lag der Schnee, desto mühevoller wurde das Steigen und Waten.

Manchmal rief der Schmied um des Doktors willen ein leises »Halt!« und dann trat Costa an den Schlitten und fragte: »Wie geht es?« oder sagte: »Wir kommen schon weiter.«

Wenn ein Fuchs aus der Ferne bellte, wenn ein Wolf heulend die Stimme erhob oder eine Eule durch die Gipfel zog und mit den Schwingen den Schnee von den Ästen streifte, kreischte die Dienerin auf, aber auch die anderen schraken zusammen; nur der Marx ging ruhig und unbeirrt neben dem dicken Kopf seines Pferdchens her, denn er kannte alle Stimmen des Waldes.

Gegen Morgen wurde es kälter. Ruth erwachte und weinte, und ihr Vater fragte atemlos: »Wann werden wir rasten?«

»Hinter der Höhe; zehn Pfeilschüsse weit,« entgegnete der Köhler.

»Mut,« flüsterte der Schmied. »Stellt Euch auf den Schlitten, Doktor; wir schieben.«

Aber Costa zeigte auf das keuchende Pferdchen, schüttelte verneinend den Kopf und schleppte sich vorwärts.

Der Wilderer mußte seine Pfeile aus einem seltsamen Bogen versenden, denn Viertelstunde auf Viertelstunde verging, und der Gipfel der Höhe war immer noch nicht erstiegen. Dabei wurde es heller und heller, und der Köhler wandte den Kopf immer unruhiger bald aufwärts, bald auf die Seite. Der Himmel war bewölkt, das Licht in der Höhe grau und trüb und mit weißlichen Dünsten durchweht. Der Schnee blendete noch, aber er schimmerte und glitzerte nicht mehr und lag mit dem stumpfen Weiß der Kreide überall nah und fern.

Ulrich hielt sich neben dem Schlitten und schob. Wenn Ruth ihn stöhnen hörte, streichelte sie ihm die an den Kasten gestemmte Hand, und das tat ihm sehr wohl, und er lächelte ihr zu.

Als man wiederum, und diesmal auf dem Kamm des Berges, anhielt, bemerkte Ulrich, daß der Köhler wie eine Rüde in die Luft hinausschnupperte, und fragte: »Was gibt es, Marxle?«

Da grinste der Wilderer und entgegnete: »Schnee wird's geben, ich riech' es.«

Nun ging es talabwärts, und nach einer kurzen Wanderung sagte der Köhler: »Da drunten finden wir Unterkunft bei dem Jörg und auch warmes Feuer, ihr Weible.«

Das war ein trostreiches Wort.

Es kam zu rechter Zeit, denn nun begannen große Flocken die Luft zu erfüllen, und ein leiser Wind trieb sie den Wanderern ins Antlitz.

»Da!« rief Ulrich und zeigte auf das beschneite Dach einer hölzernen Hütte, die dicht vor ihnen auf einer Lichtung am Waldrande stand.

Jedes Antlitz belebte sich neu, nur Marx schüttelte bedenklich den Kopf und brummte:

»Kein Rauch, kein Gekläff; das Ding steht leer; der Jörg ist gegangen. Um Pfingsten – wie viel Jahr mag's her sein? – die Buben sind schon flößen gegangen, dazumal ist er noch hier drinnen gewest.«

Die Zeitrechnung war nicht des Köhlers Sache, und die leere Hütte, die öden, offenen Fensterhöhlen in den morschen Holzwänden, die Löcher im Dach, durch die Schnee in Menge in den einzigen Raum des verlassenen Hauses gedrungen war, deuteten an, daß hier schon seit manchem Winter kein Mensch Obdach gesucht hatte.

Die alte Rahel stieß ein neues Jammergeheul aus, wie sie in diese Herberge schaute; als aber die Männer den Schnee, so gut es gehen wollte, beseitigt und Tannenäste über die Öffnungen im Dache gelegt, als Adam ein Feuer entzündet hatte und die Säcke und Decken aus dem Schlitten an einem trockenen Orte zum Sitz für die Frauen niedergelegt worden waren, zog neuer Mut in die Herzen, und Rahel schleppte sich, ohne daß es ihr jemand geheißen, an den Herd und stellte den mit Schnee gefüllten Topf auf die Flamme.

Zwei Stunden, hatte der Marx gesagt, müsse der Nickel verschnaufen, dann könnten sie weiter und vor Nacht bei dem Schluchtmüller sein. Dort würden sie gute Leute finden, denn der Jäcklein sei mit unter den »Bauern« gewesen.

Das Schneewasser kochte, der Doktor und sein Weib ruhten, Ulrich und Ruth hielten Holz, das der Schmied gespalten, über das Feuer, um es zu trocknen; da wurde außerhalb der Hütte ein herzerschütterndes Jammergeheul laut.

Costa erhob sich schnell, die Kinder folgten ihm, und die Alte zog die oberste Kopfhülle wimmernd über das Antlitz.

Zur Seite des Schlittens lag Nickel, das Pferdchen, im Schnee und streckte die winkligen Beine weit von sich. Neben ihm kniete Marx und hielt den dicken Kopf des Rößleins im Schoß und hauchte ihm mit dem schiefen Mund in die Nüstern. Dann zeigte ihm das Pferdchen die gelben Zähne, streckte die matte, bläuliche Zunge aus, als wollt' es ihn lecken, und dann fiel das schwere Haupt auf die Seite, die Augen quollen dem sterbenden Tier aus den Höhlen, die Beine wurden ganz steif, und Nickel war diesmal wirklich tot, und der Schlitten streckte die Gabeldeichsel vergeblich in die Luft wie ein hungriges, verlassenes Vogeljunge den geöffneten Schnabel.

Nun war kein Fortkommen möglich, und da saßen die Frauen zitternd in der rauchigen Hütte und glühten am Feuer und froren, wenn der Zug sie berührte, und Ruth weinte vor Kummer über das arme Rößlein, und der Marx saß wie gebrochen auf der erstarrenden Leiche des alten Freundes und dachte an nichts und am wenigsten an den Schnee, der ihn noch weißer machte als den Müller, bei dem er am Abend zu rasten gedacht hatte; der Doktor schaute in stummer Verzweiflung auf sein sprachloses Weib, das still in sich zusammengesunken war und mit gefalteten Händen inbrünstig betete; der Schmied drückte die Hand auf die Stirn und sann und sann, aber immer vergeblich, was nun zu tun sei, bis daß der Kopf ihn schmerzte, und aus der Ferne erscholl das Geheul eines hungrigen Wolfes, und ein schwarzes Rabenpaar ließ sich auf einem weißen Aste neben dem Pferdchen nieder und schaute gierig auf den in Schnee gebetteten Leichnam. – Indessen saß der Abt in seinem lieblich durchwärmten Arbeitszimmer, das von einem leisen, angenehmen Wohlgeruch erfüllt war, und schaute bald auf die brennenden Scheite im schönen Marmorkamin, bald auf den Vogt, der ihm seltsame Kunde brachte.

Das weiße wollene Morgengewand schmiegte sich weich um die vornehme Gestalt des Prälaten. Neben ihm lagen zur Vergleichung nebeneinander zwei Handschriften seines Lieblingsbuches, die Idyllen des Theokrit, die er zu seiner Lust und, um die Übersetzung des Eoban Hesse zu übertreffen, in lateinische Verse übertrug, wenn es ihm die Geschäfte seines Amtes erlaubten.

Am Kamine stand der Vogt. Er war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem großen Kopfe und groben, wie roh aus Holz geschnittenen klugen Zügen. Er gehörte zu den gewiegtesten Rechtskennern im Lande, und seine Rede floß so glatt und wohlgesetzt von den starken Lippen, als werde jeder Gedanke in seinem findigen Kopfe schön geputzt, gespornt und gestiefelt geboren.

In der äußersten Ecke des Gemaches stand der Amtssubstitut, ein Männlein mit einem Kopf wie die Sonne und zwei Beinen, von denen jedes der Sichel des zu- oder abnehmenden Mondes glich, und wartete auf den Wink seines Herrn, denn er trug zwei übervolle Mappen mit wichtigen Papieren unter den kurzen Armen.

»Aus Portugal stammt er demnach, und er hat einen falschen Namen getragen.« Also faßte der Abt das, was er soeben vernommen, zusammen.

»Lopez heißt er, nicht Costa,« entgegnete der andere, »das beweisen diese Papiere. Die Mappe her, Gutbub! In der braunen steckt das Diplom.«

Der Vogt überreichte dem Prälaten ein Pergament, und nachdem er dasselbe durchgelesen, sagte er bestimmt:

»Der Jude ist mehr, als wir dachten. Mit solchem Lob sind sie sparsam in Coimbra. Ihr haltet die Bücher des Doktors in gutem Verwahrsam, Herr Conrad? Morgen will ich sie sehen.«

»Sie stehen zu Eurer Verfügung. Diese Papiere ...«

»Laßt, laßt.«

»Auch ohne sie sind der Gravamina mehr als genug,« sagte der Vogt. »Unser Stadtschreiber, zwar kein Studierter, aber, wie Ihr wißt, ein vielerfahrener Mann, teilt meine Ansicht.« Dann fuhr er pathetisch fort: »Nur wer das Gesetz zu fürchten hat, fälscht seinen Namen, nur wer sich schuldig fühlt, entzieht sich dem Richter.«

Ein feines Lächeln, das nicht von Bitterkeit frei war, umflog die Lippen des Abtes, denn er gedachte des peinlichen Verhörs und der Folterkammer im Rathaus und sah in dem Doktor nicht mehr nur den Juden, sondern auch den Humanisten und Studiengenossen.

Sein Blick fiel wieder auf das Diplom, und während der andere in seinen Darlegungen fortfuhr, streckte er sich länger auf dem Lehnsessel aus und sah nachdenklich zu Boden. Dann berührte er, als sei ihm eine Eingebung gekommen, die hohe Stirn leise mit den Fingerspitzen und sagte, indem er dem eifrigen Redner jäh ins Wort fiel:

»Pater Anselm ist vor fünf Jahren von Porto zu uns gekommen und hat dort alles gekannt, was Griechisch versteht. Geh er, Gutbub! Der Bibliothekarius soll kommen.«

Bald darauf erschien der Gerufene.

Die Kunde von dem Verschwinden Ulrichs und der Flucht des Juden hatte sich schnell durch das Kloster verbreitet; einer sprach davon zu dem anderen im Chor, in der Schule, im Stall und in der Küche; nur dem Pater Anselm war nichts von dem allem zu Ohren gekommen, obgleich er schon vor Tagesanbruch in der Bücherei tätig gewesen war und man auch dort eifrig genug über den ärgerlichen Vorfall geredet hatte.

Man sah es dem alternden Manne an, daß er sich, außer um seine Handschriften und Drucke, um wenig kümmere, was in der Welt vorging. Sein langes, schmales Haupt schloß sich an einen dünnen Hals, der nicht aufrecht stand, sondern zwischen den Schultern wie ein Ast aus dem Stamme hervorwuchs. Sein Antlitz war grau und von Falten zerrissen wie Bimsstein, aber große, kluge Augen verliehen dem verwitterten Antlitz Reiz und Bedeutung.

Anfänglich hörte er gleichgültig der Erzählung des Abtes zu, sobald aber der Name des Juden genannt worden war und er das Diplom so schnell überlesen hatte, als ob er die Gabe besitze, sich den gesamten Inhalt von zehn Zeilen mit einem einzigen zusammenfassenden Blicke anzueignen, sagte er lebhaft:

»Der Lopez, Doktor Lopez war hier? Und das haben wir nicht gewußt und ihn nicht zu Rate gezogen! Wo ist er? Was hat man mit ihm im Sinne?«

Nachdem er erfahren, daß der Jude geflohen sei, und der Abt ihn gebeten, alles zu berichten, was er von dem Doktor wisse, sammelte er sich und begann traurig:

»Freilich, freilich; der Mann hat sich schwer vergangen. Vor dem Herrn ist er ein arger Sünder. Ihr wisset von seiner Schuld?«

»Wir wissen alles,« rief der Vogt eifrig und suchte dabei mit einem vielsagenden Blick das Auge des Prälaten. Dann fuhr er, als ob er den Schuldigen aufrichtig beklage, mit gut erheucheltem Mitleid fort: »Wie ist nur der hochgelehrte Mann zu solcher Untat gekommen?«

Dem Abt widerstand die List des weltlichen Richters, aber die Worte Anselms waren nicht mehr zurückzunehmen, und da es ihn selbst lüstete, mehr von den Lebensschicksalen des Doktors zu erfahren, forderte er den Pater auf, mitzuteilen, was er über ihn wisse.

Da schilderte der Bibliothekar in seiner kurzen, trockenen Weise und dabei mit einer Wärme, welche dem Abt fremd an ihm war, die große Gelehrsamkeit des Doktors und die Feinheit seines Geistes. Er erzählte, daß sein Vater zwar ein Jude, aber doch in seiner Art ein vornehmer, mit manch edlem Hause verbundener Mann gewesen, denn bis König Emanuel, welcher die Juden verfolgte, hätten sie in Portugal in hohem Ansehen gestanden. Es habe damals dort schwer gehalten, Jud und Christ zu unterscheiden. Bei der Vertreibung sei einigen bevorzugten Israeliten gestattet worden, zu bleiben, und unter ihnen auch dem würdigen Rodrigo, dem Vater des Doktors, der Leibarzt des Königs gewesen und von ihm hochgeschätzt worden sei. Der Lopez habe in Coimbra die höchsten Ehren erworben, aber sich nicht der Arzneiwissenschaft wie sein Vater, sondern humanistischen Studien gewidmet.

»Auf Broterwerb,« fuhr der Pater fort und sprach langsam und bedächtig und wiederholte den Schluß jeden Satzes, als stehe er im Begriff, zwei Handschriften zu kollationieren, »auf Broterwerb kam es da nicht an, denn Rodrigo gehörte zu den vermögendsten Männern in Porto. Sein Sohn Lopez war reich an Freunden, sehr reich, und zu ihnen zählten alle, denen die Wissenschaft wert war. Auch unter den Christen hatte er Freunde, sehr viele Freunde, Unter uns – das will sagen in unserer Bücherei – unter uns hat er auch große Achtung erworben. Ich danke ihm manchen Wink, manche Hilfe; ich meine Hilfe beim Nachweis von schwer zu erlangenden Büchern und entlegenen Stellen. Als er uns nicht mehr besuchte, vermißt' ich ihn schwer. Ich bin nicht neugierig; oder glaubt ihr, daß ich neugierig bin? Ich bin es nicht, aber ich mußte doch nach ihm fragen. Da bekam ich denn Arges zu hören, sehr Arges. Das Weib ist an allem schuld gewesen; natürlich wieder das Weib. Da war ein Kaufmann aus Flandern, der sich zu Porto niedergelassen – ein Christ. Des Doktors Vater ging bei ihm aus und ein; doch das wißt ihr wohl alles?«

»Freilich, freilich!« rief der Vogt. »Aber erzählet nur weiter!«

»Der alte Doktor Rodrigo also war Arzt im Hause des Niederländers gewesen und hatte dem Kaufmann auf dem Sterbebette die Augen geschlossen. Eine Waise war da zurückgeblieben, ein Kind, und das Kind war ein Mädchen. Es hatte keine Verwandten in Porto, nicht einen. Sie sagten – ich meine die jungen Doktoren und Magister, die sie gesehen hatten – sie sagten, daß sie den Augen wohlgefällig, sehr wohlgefällig gewesen. Aber nicht darum, sondern weil sie verwaist und verlassen war, nahm der Arzt sich des Kindes an, ich will sagen des Mädchens.«

»Und zog sie als Jüdin auf,« unterbrach ihn der Vogt mit einem forschenden Blick.

»Als Jüdin?« fragte der Pater erregt. »Wer sagt das? Er tat es mitnichten. Eine christliche Witwe erzog sie im Landhaus des Arztes, im Landhaus, nicht in der Stadt. Da hat der junge Doktor, als er aus Coimbra heimkam, sie mehr als einmal gesehen, mehr als einmal; öfter gewiß, als ihm gut war. Der Teufel mischte sich drein. Ich weiß auch, wie sie es bei der Heirat gehalten, ich weiß es. Vor einem jüdischen und zwei christlichen Zeugen gelobten sie sich einander an und wechselten Ringe, Ringe wie bei einer christlichen Hochzeit. Dabei blieb er Jude und sie eine Christin. Er dachte mit ihr in die Niederlande zu ziehen, aber einer der Zeugen verriet sie, angegeben hat er sie bei der heiligen Inquisition. Die mischte sich bald darein, natürlich, denn dort mischt sie sich in alles, und in diesem Falle war ja eine Einmischung notwendig; mehr noch – Christenpflicht war sie. Die junge Frau wurde mit ihrer Begleiterin auf der Straße ergriffen und kam in den Kerker, und auf der Folter hat sie die Sprache verloren, völlig verloren. Der alte Arzt und der Doktor wurden zeitig gewarnt, und sie hielten sich gut versteckt. Durch den Kämmerer de Sa, ihren Oheim – oder war's nur ihr Vetter? – durch den de Sa erlangte das Weib die Freiheit zurück, und dann, ich glaube dann sind sie nach Frankreich entflohen, alle drei, der Vater, der Sohn und das Weib. Aber nein, sie sollen ja hierher ...«

»Da habt Ihr's!« fiel der Vogt dem Pater ins Wort und suchte triumphierend den Blick des Prälaten. »Ein alter Praktikus ahnt die Verbrechen wie der Laubfrosch den Regen. Jetzt erst kann ich mit Sicherheit sagen: wir haben ihn, und das höchste Strafmaß ist für ihn noch zu niedrig bemessen. Es gibt eine Exekution ohnegleichen, etwas Merkwürdiges, Erfreuliches, Großes. Ihr habt mir Wichtiges eröffnet, und ich danke Euch, Pater.«

»So hättet Ihr nichts gewußt?« stammelte der Bibliothekar; und während er den Hals höher aufrichtete als sonst, schwoll ihm eine Ader mitten in der Stirn hoch auf.

»Nein, Anselme!« sagte der Abt. »Aber es war Eure Pflicht, zu reden, wie es leider die meine war, Euch zu hören. Nach dem Konvikt begebet Euch wieder zu mir, ich habe mit Euch zu reden.«

Der Bibliothekar verneigte sich stumm und mit kühlem Stolz und ging, ohne den Vogt eines Blickes zu würdigen, nicht zu den Büchern zurück, sondern in seine Zelle. Dort schritt er lange auf und nieder und murmelte schmerzlich den Namen Lopez, und schlug sich auf den Mund und preßte die Faust an die Stirn und warf sich auf die Knie, um vor dem Bilde des gekreuzigten Allerbarmers für den Juden zu beten.

Sobald der Mönch das Zimmer verlassen hatte, rief der Vogt:

»Welch eine unerwartete Hilfe! Welche Reihe von Delikten liegt vor uns! Erst die kleinen. Er hat das Judenzeichen niemals getragen und sich von Christen bedienen lassen, denn die Mädchen des Kaspar waren oft in seinem Hause beim Nähen behilflich. Es wurde ein Degen in seinem Hause gefunden, und der Jude, der Waffen trägt, begibt sich, da er Selbsthilfe gebraucht, der Hilfe der Obrigkeit. Wir wissen endlich, daß Lopez sich eines falschen Namens bediente. Nun kommt das Große. Es zerfällt in vier Teile. Er hat mit Zauberworten sein Wesen getrieben, er hat eines Christen Sohn durch Irrlehren zu verderben gesucht, er hat eine Christin zur Ehe verführt, und er hat – mit dem besten höre ich auf, er hat ein Mädchen, das eine christliche Frau, ich meine sein Weib, geboren, als Jüdin erzogen.«

»Sein Kind als Jüdin erzogen? Das wißt Ihr genau?« fragte der Abt.

»Es trägt den jüdischen Namen Ruth. Was ich mir hervorzuheben erlaubte, sind lauter wohlerwiesene, gut bezeugte, todeswürdige Delikte. Ihr seid ein großer Humanist, hochwürdiger Herr, aber ich kenne auch meine Alten. Schon Kaiser Konstantius setzte Todesstrafen auf Ehen zwischen Juden und Christen. Ich weis' Euch die Stelle!«

Der Abt empfand das, was dem Juden vorgeworfen wurde, als schwere Frevel, für die es keine Vergebung gab, aber ihm war es nur um die Schuld zu tun, und es verdroß ihn, zu sehen, wie sich der Eifer des Vogts ausschließlich gegen den unglücklichen Schuldigen wandte. Darum erhob er sich und sagte mit vornehmer Kühle: »Tut denn das Eure.«

»Verlaßt Euch darauf. Morgen oder übermorgen bringen wir ihn ein, ihn und die Seinen. Der Stadtschreiber ist auch voller Eifer. Dem Kinde werden wir nichts anhaben können, doch muß es dem Juden genommen und christlich erzogen werden. Dies zu veranlassen, würde unser Recht sein, auch wenn beide Eltern Hebräer wären. Ihr kennt den Freiburger Fall. Kein Geringerer als der große Ulrich Zasius entschied, daß Judenkinder auch hinter dem Rücken des Vaters getauft werden dürfen. Am Samstag bitt' ich Euch, den Pater Anselm als Zeugen aufs Rathaus zu schicken.«

»Wohl, wohl,« antwortete der Prälat, aber er tat es mit so geringem Eifer, daß es den Beamten billig in Verwunderung setzte. »Wohl denn, fanget den Juden; aber ans Leben dürft Ihr ihm nicht. Und eins noch! Ich will den Doktor sehen und sprechen, bevor Ihr ihn foltert.«

»Übermorgen führ' ich ihn zu Euch!«

»Die Nürnberger, die Nürnberger!« entgegnete der Prälat und zuckte die Achseln.

»Was meint Ihr?«

»Sie hängen keinen, bevor sie ihn haben.«

Der Vogt sah diese Worte als eine Herausforderung an, alles an die Verfolgung des Juden zu setzen, und so entgegnete er lebhaft: »Wir haben ihn, hochwürdiger Herr, wir haben ihn sicher. Sie stecken im Schnee wie in einer Falle. Die Waibel suchen die Straße ab; ich entbiete auch Eure und unsere Förster und stelle sie unter Führung des Frohlinger Grafen. Er hat die Pflicht, uns Hilfe zu leihen. Was die mit ihren Burschen und Knappen, Treibern und Rüden nicht finden, das ist halt nimmer im Walde. Euren Segen, hochwürdiger Vater, es gilt, keine Zeit zu verlieren.«

Der Abt war allein.

Sinnend schaute er auf die Kohlen im Kamin und wiederholte sich alles, was er soeben gesehen und vernommen.

Seine lebhafte Einbildungskraft zeigte ihm den bescheidenen, hochgelehrten Mann, der in stiller Abgeschiedenheit unter fleißigen humanistischen Studien lange Jahre hingebracht hatte, und dabei beschlich ihn ein leiser Neid, denn wie selten war es ihm selbst gestattet, sich störungslos und ununterbrochen der wissenschaftlichen Tätigkeit hinzugeben, in der er allein Befriedigung fand.

Er zürnte sich selbst, daß er dem des Todes schuldigen Verbrecher so wenig zu zürnen vermochte, und zieh sich der Lauheit. Dann kam ihm in den Sinn, daß der Jude aus Liebe gesündigt und daß dem, der viel geliebt habe, viel vergeben werden solle. Zuletzt wollte es ihm wie ein Geschenk erscheinen, daß es ihm bald vergönnt sein werde, den gelehrten Doktor aus Coimbra kennen zu lernen. So widerwärtig wie heute war ihm der eifrige Vogt noch niemals erschienen; und als er sich erinnerte, wie der verschlagene Mann den armen Pater Anselm in seiner Gegenwart überlistet hatte, war es ihm, als habe er selbst etwas Unwürdiges begangen. Und doch, und doch: der Jude war nicht zu retten und hatte verdient, was ihm drohte!

Ein Mönch rief ihn ab, er aber folgte ihm nicht und befahl, ihn eine Stunde allein zu lassen.

Nun nahm er ein Heft zur Hand, das er seinen Seelenspiegel nannte, und worin er »für die Beichte« mancherlei aufzuzeichnen pflegte, worüber er mit sich selbst ins reine zu kommen wünschte. Heute nun schrieb er:

»Es wäre Pflicht, einen Juden und Verbrecher zu hassen, und eifrig das zu verfolgen, was die heilige Kirche verdammt. Ich vermag es noch nicht. Wer ist der Vogt, und was Pater Anselm und dieser gelehrte Doktor! Der eine niedrig gesinnt und nur vertraut mit der kleinen Welt, die er kennt und in der er lebt, die anderen gottbegnadet, des Wissens voll, Herrscher im weiten Reich der Gedanken. Und jener überlistet diese, und sie erweisen sich als Kinder ihm gegenüber. Wie Anselm vor ihm dastand! Das betrogene Kind war der Große und der Kluge der Kleine. Was die Menschen Klugheit nennen, ist nur das Geschick für das Kleine im Leben, dem wahrhaft großen Menschen ist Einfalt eigen, denn das Kleine ist ihm zu klein, und sein Auge zählt nicht die Körner des Staubes, sondern richtet sich aufwärts und hat Teil an der Unendlichkeit, die sich vor uns ausdehnt. Jesus Christus war sanft wie ein Kind und liebte die Kinder, er war Gottes Sohn und gab sich willig in die Hände der Menschen. Der Großen Größter gehörte nicht zu den Klugen. »Selig sind die Einfältigen,« hat er gesagt. Ich verstehe dies Wort. Einfältig ist der, dessen Seele nur einmal gefaltet, glatt und rein ist wie ein Spiegel, und einfältig waren die größten Weisen und die am höchsten Gesinnten, die mir im Leben und in der Geschichte begegnet sind. Klugheit erwirbt auch das Tier, Weisheit ist die Klugheit der Hochgesinnten. Wir sollen alle dem Heiland nachfolgen, und der von uns kommt ihm am nächsten, der Weisheit mit Einfalt in sich vereint.«


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