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Die Sonne schien hell auf die kleinen Fenster der Wohnstube des Israeliten. Sie waren halb geöffnet, um der Frühlingsluft Einlaß in das Zimmer zu gewähren, aber doch leicht mit grünen Tüchern verhängt, denn Costa liebte gedämpftes Licht und war immer bedacht, seinen Wohnraum vor den Blicken der Vorübergehenden zu schützen.
Es gab hier nichts Besonderes zu sehen, denn die Wände waren weiß getüncht, und an ihnen hing nichts als ein Kranz von Lavendelblättern, deren Duft die Mutter Ruths zu atmen liebte. Die ganze Ausstattung des Raumes bildete eine Lade, mehrere Schemel, eine mit Kissen belegte Bank und ein Tisch mit zwei schlichten hölzernen Armsesseln.
Von diesen war der zweite längst zum Schauplatz der besten Stunden des Meisters Adam geworden, denn er pflegte auf ihm zu sitzen, wenn es ihm vergönnt war, mit Costa Schach zu spielen.
Diesem edlen Spiel hatte er in Nürnberg bisweilen zugeschaut; der Doktor aber verstand es aus dem Grunde, und er hatte ihn in alle Gesetze desselben eingeweiht.
In den ersten zwei Jahren war Costa dem Schüler weit überlegen geblieben, dann mußte er sich ernstlich gegen den andern wehren, und jetzt kam es nicht selten vor, daß der Schmied den Gelehrten besiegte. Dieser war freilich sehr viel schneller als jener, der, wenn die Lage sich schwieriger gestaltete, in überlanges Sinnen verfiel.
Über wenigen Brettern mögen sich wohl je verschiedenere Hände gerührt haben als über diesem, denn die eine glich dem starken dunklen Pflugstier, die andere einem leichten, feingliedrigen Zelter. Neben der Christophorusgestalt des Schmiedes wollte der mittelgroße Körper des Israeliten nur klein erscheinen. Wie grobkörnig, wie schwer von Gedanken war das große blonde Haupt des Deutschen, wie ausnehmend fein geschnitten und durchgeistigt erschien das des portugiesischen Juden.
Heute hatten die beiden Männer wieder am Schachbrett gesessen, es war aber nicht gespielt, sondern ernst, sehr ernst geredet worden. Im Verlauf des Gespräches hatte der Doktor seinen Platz verlassen und war unruhig auf und nieder gegangen. Der Schmied behauptete den seinen noch immer.
Die Gründe des Freundes hatten ihn überzeugt.
Ulrich sollte in die Klosterschule gegeben werden. – Costa war auch durch den Meister von der Gefahr unterrichtet worden, die ihm selber drohte, und tief erregt. Sie war groß, verhängnisvoll groß, und doch fiel es ihm schwer, grausam schwer, diesen Friedenswinkel zu verlassen. Der Schmied fühlte nach, was in ihm vorging, und sagte:
»Der Aufbruch kommt Euch hart an. Was hält Euch nur hier, hier auf dem Richtberg?«
»Die Ruhe, Meister, die Ruhe!« rief der andere. »Und dann,« fügte er ruhiger hinzu, »ich habe hier Grund und Boden erworben.«
»Ihr?«
»Das Grab und das Gräblein hinter der Scharfrichterei; das sind meine Güter.«
»Schwer, schwer sie zu lassen,« sagte der Schmied und senkte das Haupt. »Das alles kommt über Euch um der Güte willen, die Ihr meinem Knaben erwiesen; Ihr habt schlechten Lohn an uns erworben!«
»Lohn?« fragte der andere, und ein feines Lächeln umspielte ihm den Mund. »Ich erwarte keinen, nicht von Euch, nicht von der Schickung. Seht, Meister, ich gehöre zu einer armen Gemeinde, die bei ihrem Tun nicht ansieht, ob es hier, auch nicht, ob es dort vergolten werde. Wir lieben das Gute und stellen es hoch und üben es, soweit unsere Kraft reicht, weil es so schön ist. Was haben die Menschen denn gut genannt? Doch nur das, was die Seele ruhig erhält. Und was ist das Schlechte? Doch nur das andere, das sie mit Unruhe erfüllt. Ich sage Euch, Meister, in denen, die gut zu sein trachten, sieht es stiller aus, wenn sie auch von Haus und Hof gejagt und wie schädliche Tiere gehetzt und gequält werden, als in den mächtigen Verfolgern, die Unrecht üben. Wer andern Lohn für das Gute sucht, als den, der in dem Guten selbst liegt, der ist, der hat noch – dem wird es nicht an Täuschungen fehlen. Was mich von hinnen treibt, das seid weder Ihr noch der Ulrich, das ist der alte unheimliche Fluch, der mein Volk aufscheucht, wo es ruhen will; das ist, das ist ... Ein anderes Mal, morgen. Für heute ist es genug.«
Als der Doktor allein war, preßte er die Hand an die Stirn und stöhnte laut auf. Sein vergangenes Leben zog ihm an dem inneren Auge vorüber, und er fand darin neben furchtbarem Leid große und herrliche Freuden, und keine Stunde, in der ihm der Wille zum Guten erlahmt war. Hier, im stillen Frieden seines schlichten Heims, hatte er glückliche Jahre verlebt, und nun galt es wieder, den Stab ergreifen und wandern, wandern, vor Augen nichts als ein ungewisses Ziel am Ende einer langen, unwegsamen Straße. Was bisher sein Glück gewesen, erschwerte in dieser Stunde das Unglück. Weib und Kind mitschleppen durch Angst und Elend, das war schwer, unsagbar schwer, und seine Gattin, Elisabeth, konnte sie es noch einmal ertragen?
Er fand sie in dem winzigen Garten hinter dem Hause. Sie kniete vor einem Beet und jätete. Während er sie freundlich begrüßte, erhob sie sich und winkte ihm zu.
»Setzen wir uns,« sagte er und ging ihr zu der Bank vor der Hecke, die den Garten vom Walde trennte, voran. Dort wollte er ihr mitteilen, daß es wiederum gelte, den Staub von den Füßen zu schütteln.
In Portugal auf der Folterbank hatte sie die Sprache verloren. Nur wenn sie erregt war, vermochte sie einzelne Worte undeutlich zu stammeln, aber das Gehör war ihr verblieben, und ihr Gatte verstand in ihren Augen zu lesen. Ein großes Leid hatte ihr mitten in die reine, hohe Stirn eine Furche gezogen, und auch sie war gesprächig; denn wenn sie sich wohlfühlte und es still in ihr aussah, war sie kaum zu bemerken, aber wenn schmerzliche oder angstvolle Erregung sie beherrschte, zog sie sich zusammen und vertiefte sich merklich. Heute schien sie ganz verschwunden zu sein. Das blonde Haar schmiegte sich besonders schlicht und glatt an die Schläfen, und die leicht nach vorn gebeugte schlanke Gestalt glich einem jungen Baume, den der Sturm gebeugt hat und dem es an Kraft und Willen gebricht, sich aufzurichten.
»Schön!« rief sie gedämpft und nicht ohne Mühe, aber ihr heller Blick erzählte deutlich von dem Entzücken, das ihre Seele empfand, und dabei wies sie auf das Grün um sie her und den blauen Himmel ihr zu Häupten.
»Köstlich, köstlich,« entgegnete er warm. »Der Junitag spiegelt sich in deinem lieben Gesicht. Du hast gelernt, hier zufrieden zu sein?«
Elisabeth nickte lebhaft und preßte beide Hände aufs Herz. Dabei sagte ihm ihr beredter Blick, wie wohl, wie dankbar und glücklich sie sich hier fühle, und als sie auf seine zaghafte Frage, ob es ihr schwerfallen würde, diese Stätte zu verlassen und ein anderes, sichereres Heim aufzusuchen, ihm erst erstaunt, dann besorgt ins Antlitz schaute und endlich mit lebhaft abwehrenden Handbewegungen »Nicht fort« und noch einmal »Nicht fort« hervorstieß, entgegnete er besänftigend:
»Nein, nein; heute sind wir noch sicher.«
Sie kannte den Gatten und sah scharf, und eine Ahnung der nahen Gefahr überkam sie. Ihre Züge gewannen den Ausdruck ängstlicher Spannung und schwerer Besorgnis. Die Furche in der Stirn vertiefte sich, und mit dem bebenden »Was? was?« auf ihren Lippen vereinten sich dringend fragende Blicke und Gesten.
»Ängstige dich nicht,« bat er innig. »Man soll sich die Gegenwart nicht verderben, weil die Zukunft bringen könnte, was uns nicht lieb ist.«
Sie hatte sich bei diesen Worten eng an ihn gedrängt und beide Hände um seinen Arm geklammert, er aber fühlte an dem schnellen Schlag ihres Herzens und erkannte an der heftigen, angstvollen Erregung in ihren Zügen, welches tiefe, unbesiegbare Grauen der Gedanke ihr einflößte, noch einmal in die Welt hinaus zu müssen und von Land zu Land, von Ort zu Ort gejagt zu werden. Alles, was sie um seinetwillen erlitten, kam ihm in den Sinn, und mit leidenschaftlicher Innigkeit faßte er ihre zitternden Hände mit den seinen zusammen, und es war ihm, als würde es ihm sehr, sehr leicht werden, mit ihr zu sterben, und gar, gar nicht möglich sein, sie wieder in die Fremde und in ein ungewisses Los hinauszustoßen; und so küßte er sie denn auf die von schrecklicher Angst weit geöffneten Augen und rief, als habe ihn keine Gefahr, sondern nur ein törichter Wunsch ins Weite gezogen: »Ja, Kind, hier ist es am besten! Lassen wir uns genügen an dem, was wir haben. Wir bleiben; wahrlich, wir bleiben.«
Da atmete sie, wie von einem lastenden Alp erlöst, tief auf, die Stirn glättete sich wieder, und es war, als singe der stumme Mund der großen, aufwärts gerichteten Augen ein aus dem tiefsten Herzensgrunde kommendes »Amen«.
Costas Seele war umdüstert und tief beunruhigt, als er wieder in das Haus und an den Schreibtisch zurücktrat. Die alte Magd, welche ihm aus Portugal gefolgt war, hatte zugleich mit ihm die Schwelle betreten und sah eine Zeitlang seinen Vorbereitungen kopfschüttelnd zu. Sie war ein kleines, verkrümmtes Judenweib, eine Greisin mit jugendlich glänzenden dunklen Augen und unruhigen Händen, die sie, wenn sie sprach, mit krampfhaft lebhaften Bewegungen vor dem eigenen Gesicht umherfliegen ließ.
In Portugal war sie alt geworden und hatte in der ungewohnten Kühle des Nordens das Reißen bekommen. Darum vermummte sie auch noch im Frühling den Kopf mit so viel bunten Tüchern, wie sie besaß. Sie hielt das Haus mit peinlicher Sauberkeit rein, verstand mit geringen Mitteln gute Speisen zu bereiten und kaufte ein, was sie in der Küche bedurfte. Und dies war nichts Kleines für sie, denn obgleich sie bereits länger als neun Jahre im Schwarzwalde lebte, hatte sie doch nur wenige deutsche Worte erlernt. Die Nachbarn hielten diese für portugiesisch und fanden, daß diese Sprache doch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Deutschen besitze; ihre Gesten verstanden sie trefflich.
Sie war dem Vater des Doktors freiwillig gefolgt, und doch konnte sie es dem Verstorbenen nicht verzeihen, daß er sie aus dem warmen Süden in dies garstige Land geführt hatte. Da sie ihren jetzigen Herrn auf den Armen getragen, nahm sie sich viel gegen ihn heraus. Was im Hause vorging, mußte sie wissen, denn sie fühlte sich als sein ältestes und darum verständigstes Mitglied, und es war wunderbar, wie fein sie trotz der vermummten Ohren zu hören verstand, wenn sie wollte.
Heute hatte sie wieder gehorcht, und als ihr Herr sich anschickte, auf dem Arbeitsstuhle Platz zu nehmen und den Gänsekiel zu spitzen, sah sie sich erst um, ob sie auch ganz ohne Zeugen sei, dann aber trat sie ihm näher und sagte auf portugiesisch:
»Fangt noch nicht an, Lopez. Erst müßt Ihr mich hören.«
»Muß ich?« fragte er freundlich.
»Wenn Ihr nicht wollt, so kann ich auch gehen,« entgegnete sie gereizt. »Stillesitzen ist freilich bequemer als Laufen.«
»Was soll das?«
»Meint Ihr, die Bücher da seien die Mauern von Zion? Lüstet es Euch noch einmal, mit den Mönchen Bekanntschaft zu machen?«
»Ei, ei, Rahel, wieder gehorcht? Geh in die Küche!«
»Gleich, gleich! Aber erst will ich reden. Ihr macht Euch weis, Ihr bliebet nur hier der Frau zu Gefallen. Aber nichts da! Die Schrift dort, die hält Euch. Ich kenne das Leben, aber Ihr und die Frau, eins wie das andere, ihr seid wie die Kinder. Das Böse vergessen im Nu, und das Gute soll kommen wie Manna und Wachteln geradeswegs vom Himmel. In den Büchern seid Ihr ein Mann, und was haben sie mit Euch für ein Wesen gemacht, wie Ihr mit dem Doktorhut aus Coimbra kamt! Da sagte jeder: Der Lopez, ja der Herr Lopez. Himmlischer Vater, was ist das für ein brennendes Licht! – Und nun? Gott erbarme sich! Ihr schafft und schafft, und was bringt es Euch? Kein Ei, keinen Heller! Geht in die Niederlande zu dem Herrn Oheim. Er vergißt schon den Fluch, wenn Ihr Euch beuget. Von den Zechinen, die der Vater gerettet, wieviel werden noch bleiben?«
Hier durchschnitt der Doktor den schnellen Redefluß der Alten mit einem strengen »Genug!«, sie aber ließ sich nicht unterbrechen und fuhr mit gesteigerter Lebhaftigkeit fort:
»Genug, sagt Ihr? Ich fresse genug Verkehrtheit in mich hinein. Aber heut, die Zunge soll mir verdorren, wenn ich heut schweige! Gott, Gott, Kind, bist du denn ganz von Sinnen? Was hat man alles in den armen Kopf da gepfropft, aber freilich, das steht nicht in den Büchern, daß, wenn sie erfahren, was in Porto geschehen ist, und daß du ein getauftes Gojimkind, ein christliches Mädchen ...«
Hier erhob sich der Doktor, legte die Hand auf die Schulter der alten Dienerin und sagte mit großem, ruhigem Ernst:
»Wer davon spricht, der kann es verraten; verraten kann er's! Verstehst du mich, Rahel? Ich weiß, wie du's meinst, und sage dir darum: die Frau ist hier zufrieden, und die Gefahr liegt noch in weitem Felde. Wir bleiben. Und dann: seit Elisabeth mein ward, meiden mich die Juden als einen Verfluchten, die Christen als einen Verdammten. Jene verschließen mir die Tür, diese möchten sie mir öffnen; das Tor des Kerkers mein' ich; nur das! Hierher wird kein Portugiese kommen, aber in die Niederlande begibt sich mehr als ein Mönch und ein Jude aus Porto, und wenn mich einer von ihnen erkennt und Elisabeth bei mir findet, so wird es sich um nichts Geringeres handeln als um ihr und mein Leben. Ich bleibe hier, und du weißt nun warum und gehst in deine Küche.«
Die Alte gehorchte zögernd, der Doktor aber setzte sich nicht wieder an den Schreibtisch, sondern ging lange und schneller als sonst zwischen seinen Büchern auf und nieder.