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Während Lotte und Gerhart Schmittlein so in schwermütigem seelischen Ringen den Feiertagabend verbrachten, war Lena seit den letzten, für beide Schwestern überaus trüben Jahren, zum erstenmal wieder ganz in ihrem Element.

Strehsens wohnten in Charlottenburg, nahe dem hinteren Eingang zur Flora. Schon der weite Weg mit der elektrischen Bahn machte Lena, wie alles Neue, das sich ihr bot, unbeschreibliches Vergnügen. Die festtäglich gekleideten Fahrgäste, die eleganten Fuhrwerke, die an ihr vorüberrollten, die langen Züge von Spaziergängern, die zu beiden Seiten der Chaussee sich ergingen, zu beobachten, war ein förmliches Fest für sie. Das Beste an dem langen Weg blieb aber, dass er Zeit gab, sich auszumalen, wie es bei Strehsens zugehen würde.

Sie sah sich schon die Steinstufen zu der eleganten Villa, von der Clementine und Elisabeth so häufig sprachen – in Charlottenburg konnte man sich den Luxus erlauben, nicht in einer Mietskaserne zu wohnen – hinaufsteigen, sie sah die Salons sich öffnen, sie atmete schon den aristokratischen Duft dieses vornehmen Kreises.

Als sie dann endlich vor der sogenannten Villa, einem schmutziggrauen, zweistöckigen Hause in der Wilmersdorfer Strasse stand, fiel es Lena nicht einmal auf, wie vollständig dies Haus hinter der Schilderung der Schwestern und ihren eigenen Erwartungen zurückblieb, so ganz war sie von der Aussicht kommender Freuden eingenommen.

Die meisten Gäste waren schon in den zwei engen, mit altmodischen, verschossenen Möbeln und allerhand billigem Zierrat vollgestopften Zimmern versammelt, als Lena eintrat.

Einen Augenblick lang war sie von dem Bewusstsein, zum erstenmal in eine Berliner Gesellschaft zu treten, so benommen, dass sie verlegen auf der Schwelle stehen blieb. Als sie aber fühlte, dass ihr das Blut heiss in das Gesicht schoss, trat sie rasch entschlossen auf die ihr entgegeneilenden Schwestern zu.

Nein, sie wollte hier nicht als verlegenes, ungeschicktes Landgänschen auftreten und danach behandelt werden, um keinen Preis!

Nach kurzer Begrüssung nahmen Clementine und Elisabeth die junge Kollegin bei der Hand, um sie der Mutter zuzuführen.

Die Frau Oberstleutnant, eine grosse, hagere Gestalt mit scharfen Zügen, stand in der Mitte des Zimmers, als die drei Mädchen an sie herantraten. Mit herabgezogenen Mundwinkeln lächelte sie Lena missvergnügt an. Sie hatte nicht viel Zutrauen zu dieser Freundschaft aus der Provinz. Als Lena aber eine durchaus korrekte Verbeugung machte und geläufig ein paar verbindliche Redensarten vorbrachte, war die Frau Oberstleutnant sofort entwaffnet. So viel gesellschaftliche Routine hatte sie dieser kleinen Bürgerlichen nicht zugetraut.

Wahrhaftig, wenn man näher zusah, hatte dies hübsch gewachsene Mädchen mit dem frischen Teint, den blühenden Farben und dem prächtigen schwarzen Haar bedeutend mehr Chic und Eleganz als ihre eigenen hageren, blassblonden Töchter. Aus dem misstrauisch verzogenen Lächeln wurde eine wahrhaft freundliche Begrüssung. Die Frau Oberstleutnant, die noch immer viel auf die Dehors ihres heruntergekommenen Hauses hielt, war viel zu klug, um nicht auf den ersten Blick zu sehen, dass eine Persönlichkeit wie die Lenas, der abgestandenen Geselligkeit ihres Hauses nur nützen konnte.

Sie hatte längst einzusehen gelernt, dass man in Berlin dergleichen auffrischende bürgerliche Elemente mit in den Kauf nehmen musste, wollte man auch nur einigermassen Oberwasser behalten.

.

Es hatte Mühe gekostet, die Kinder, die bei ihr im Hause lebten oder doch am meisten um sie waren, mit dieser Einsicht zu befreunden. Die Mädchen, durch die tägliche Berührung mit den unterschiedlichsten Elementen weitsichtiger gemacht, waren eher dahinter gekommen, dass die Mutter recht hatte. Bei ihrem Lieblingssohn Kurt, dem Leutnant, hatte es grösserer Anstrengungen bedurft, um den Beweis zu führen. Schliesslich, vor einigen Monaten etwa, hatte er dann aber einen gewaltigen salto mortale gemacht. Die meisten übrigen Bekanntschaften abschüttelnd, hatte er sich mit einer in Berlin sehr bekannten Persönlichkeit verbrüdert, mit dem jungen Bornstein, Chef eines der angesehensten Bankhäuser und nebenbei Gross-Grundbesitzer in der Nähe von Berlin.

Arm in Arm mit Max Bornstein betrat Kurt von Strehsen auch jetzt wieder das Zimmer. Er eilte mit dem Freunde ohne Umstände geradewegs auf die Mutter und die sie noch immer umstehenden drei Mädchen zu. Ohne sich des längeren mit einer weitschweifigen Begrüssung seiner Familie einzulassen, zu der er selbst Bornstein kaum Zeit liess, bat er, den Freund und sich der jungen Fremden vorzustellen.

Zeit zur Unterhaltung gaben Clementine und Elisabeth indes den jungen Leuten nicht mehr. Lena musste weiter, um endlich mit dem Papa bekannt zu werden.

Durch eine, mit verblassten grünen Portieren verhangene Thür zogen die Schwestern Lena in ein halbdunkles Berliner Zimmer, in dem an der einen Längswand ein kaltes Büffet aufgestellt war.

Der Herr Oberstleutnant sass an dem einzigen ziemlich breiten Fenster und stiess vernehmlich einen unwilligen Laut aus, als die Thür sich öffnete. Er trug ein schlechtsitzendes Civil und hatte die Kreuzzeitung vor sich auf den Knien, die er jetzt mit einem hörbaren Aufschlagen der Hand neben sich auf das Fensterbrett legte.

Clementine und Elisabeth liessen sich von der menschenfeindlichen Stimmung des Vaters, an die sie wohl gewöhnt sein mochten, indes nicht im geringsten einschüchtern.

Sie stellten ihm Lena, die er mit erzwungener Höflichkeit begrüsste, umständlich vor, richteten dann noch eine Unzahl möglichst überflüssiger Fragen an ihn, welche den alten Herrn vollends zur Verzweiflung brachten, und machten mit der wie auf glühenden Kohlen stehenden Lena erst kehrt, als die Missstimmung des alten Herrn ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Lena, der die Situation immer fataler geworden war, machte den Mädchen Vorwürfe, den alten Herrn um ihretwillen gestört zu haben. Die etwas burschikose Elisabeth lachte darüber laut auf.

»Was sein muss, muss sein in einem guten Hause. Uebrigens können Sie sich trösten, Fräulein Weiss. Papa ist immer so. Geselligkeit ist ihm verhasst. Für ihn existiert nichts als die Kreuzzeitung und die Rangliste.«

Als sie das zweite Gesellschaftszimmer wieder erreicht hatten, traten Kurt und Max Bornstein den Damen ungeduldig entgegen. Die jungen Herren hatten es beide sehr eilig, ihre vermeintlichen Unterhaltungsrechte an Fräulein Weiss geltend zu machen, da sie vorher schnöde zu kurz gekommen waren.

Leutnant Kurt, als der Sohn des Hauses, nahm die Priorität für sich in Anspruch. Als besonderen Beweis seiner Wertschätzung führte er das junge Mädchen in den beiden Zimmern umher und zeigte ihr die Familiengalerie der Strehsens an den grellfarbigen, geschmacklos tapezierten Wänden. Zuletzt führte er Lena vor die Haupt-Sehenswürdigkeit des Hauses, den eingerahmten Brief des Prinzen Friedrich Leopold, der seiner Zeit das Patengeschenk des hohen Herrn für Kurts jüngeren Bruder begleitet hatte.

»Fritz Leopold«, so erklärte Kurt dabei, »steht jetzt in Graudenz und mopst sich in der langweiligen Garnison. Kann's ihm nicht verdenken«, fügte der Leutnant mit einem bewundernden, anzüglichen Blick in Lenas lebhafte dunkle Augen hinzu. »Werden in Graudenz schwerlich so viel reizende junge Damen zu finden sein wie in Berlin.«

Lena lachte über das wohlfeile Kompliment, während Bornstein, der den beiden auf Schritt und Tritt gefolgt war, dem Leutnant einen finstern Blick zuwarf, der ungefähr zu bedeuten schien: »Was fällt dem dummen Jungen ein, hier schon wieder Süssholz zu raspeln?«

Sehr zu rechter Zeit erschien jetzt die Frau Oberstleutnant und rief ihren Sohn ab. Er sollte die Punschbowle ansetzen. Man wollte bald speisen, um nachher noch Gesellschaftsspiele vornehmen zu können.

Bornstein zog bei dieser Ankündigung ein spöttisches Gesicht, und nur die Gewissheit, den Leutnant für den Augenblick los zu sein und die allerliebste kleine Telephonistin auf ein Weilchen für sich zu haben, liess ihn von einer ironischen Bemerkung abstehen.

Zunächst versicherte er sich Lenas Tischnachbarschaft mit einem Eifer, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt für ihn gegeben hätte. Dann zogen sie sich in einen Winkel in der Nähe des bei Seite geschobenen Tannenbaumes zurück.

Bornstein machte Lena auf ihre Bitte aus der Entfernung mit dem übrigen Teil der Gesellschaft bekannt. Er zeigte ihr den jüngsten Sohn des Hauses, einen langen Lichterfelder Kadetten, der heimlich Süssigkeiten knabberte und in tödliche Verlegenheit geriet, wenn ihn jemand ansprach. Da war ferner eine Tante, eine unverheiratete Schwester der Hausfrau, die mit ihren Falkenaugen jedes Pärchen neidisch verfolgte.

Augenblicklich beobachtete sie ihre Nichte Elisabeth, die sich mit dem sehr spät erschienenen Assessor von Reibenstädt so laut über die Frauenfrage ereiferte, dass man die Schlagworte bis in den engen Winkel neben dem Weihnachtsbaum vernahm. Die letzte, Lena noch unbekannte Person war ein junges, sehr blasses, überaus einfach gekleidetes Mädchen, eine entfernte Verwandte des Oberstleutnants; wie Bornstein erklärte, das Aschenbrödel des Hauses Strehsen. Dann kam der unermüdliche Erzähler von den Gästen des Hauses auf die Gastgeber selbst zu sprechen. In halblautem, ironisierendem Flüsterton erzählte er Lena von den einzelnen Mitgliedern der Familie, in die er durch Kurt eingeführt worden war. Der Freund selbst wurde dabei am wenigsten geschont. Ein guter Kerl sei er, ja, aber ein schrecklicher Windhund, vor dem sie auf der Hut sein müsse.

Lena lachte über diese Warnung, wie über die meisten ungemein drollig hervorgebrachten Bemerkungen Bornsteins. Der aber nahm den Fall ganz ernst und erzählte ihr von haarsträubenden Dingen, die Kurti bei jungen Mädchen angerichtet habe.

»Und sind Sie so viel tugendhafter als Ihr Freund, Herr Bornstein?« fiel Lena ihm neckend ins Wort.

Er schüttelte sehr energisch den Kopf mit dem nicht allzu vollen, ins rötliche spielenden Haar.

»Mir gefällt nicht so leicht ein Mädchen«, sagte er bedeutungsvoll, Lena mit einem langen Blick ansehend, »wenn mir aber mal eins gefällt –«

»Zu Tisch, zu Tisch!« rief jetzt der scharfe Diskant Clementines.

Lena nahm, ohne sich nur im geringsten merken zu lassen, wie sehr diese Bevorzugung ihr schmeichelte, Bornsteins Arm und liess sich in das Esszimmer geleiten, aus dem der Oberstleutnant jetzt verschwunden war. Wie Elisabeth ihr zuflüsterte, hatte er sich mit der Rangliste in sein Schlafzimmer geflüchtet.

Bornstein führte Lena zu einem kleinen Tischchen, an dem das blasse Mädchen mit dem Kadetten sass. Da kaum für vier Personen Platz war, hatte Bornstein Kurt hier nicht zu fürchten. Uebrigens sass er bereits am andern Ende des Zimmers – zwischen seiner Schwester Elisabeth und dem Assessor. Es schien beinahe, als ob er auf höheren Befehl seiner Mutter zur Beobachtung auf diesen ausgesetzten Posten kommandiert worden sei.

Lena amüsierte sich köstlich über die Beflissenheit, mit der Herr Bornstein sie bediente. Häringssalat, Punschbowle, kalter Aufschnitt, alles kam nur so herangeflogen, kaum dass sie einen Wunsch geäussert hatte. Es war das reine Märchen vom Tischleindeckdich, das sie da erlebte. Wenn Lotte das gesehen hätte, oder lieber noch Franz Krieger, der sich einbildete, dass man gar keine Rolle in Berlin spielte, dass man höchst überflüssig, ja eigentlich nur zum Verhungern da sei, Lena hätte etwas darum gegeben.

Nachdem Bornstein sich selbst versorgt hatte, setzte er sich dicht neben Lena, mit grosser Geschicklichkeit einen verhältnismässig breiten Raum zwischen ihnen und den beiden andern schaffend. Er fragte sie nach dem und jenem, ihre Heimat und ihre Häuslichkeit betreffend. Als das Mädchen bei diesem Thema ziemlich einsilbig wurde, nahm er selbst das Amt des Erzählers wieder auf. Er sprach ihr von seinem Gut, einige Meilen südwestlich von Berlin gelegen, von dem grossen, schön eingerichteten Herrenhaus, das die Leute das »Schloss« nannten, dem prachtvollen Garten mit seinen Obst- und Blumenzüchtereien, die beinahe eine Berühmtheit in der Gegend seien, von seiner Jagd in den umliegenden Forsten, zu der er Kurt im Herbst viel draussen gehabt hatte.

»Sobald wir wieder gute Jahreszeit haben, müssen Sie mir einmal die Freude Ihres Besuches schenken.«

Als Lena ihn verwundert ansah, fügte er rasch hinzu: »Mit den Strehsens natürlich, die mir ihren Besuch schon lange zugesagt haben.«

Lena nickte in ihrer kurzen Art.

»Wenn's Urlaub giebt und Strehsens mich mitnehmen wollen, mit Vergnügen.«

Max Bornstein hatte zwar niemals daran gedacht, die Strehsens in corpore nach Dahlow einzuladen, aber um den Preis, der reizenden Kleinen mit seinem Besitz zu imponieren, konnte man am Ende, wenn's so weit war, in den sauren Apfel beissen.

Einstweilen aber hatte es bis zum Frühjahr noch gute Weile. Wer weiss, wie er bis dahin mit Lena stand und ob ihr dann selbst noch an der Gesellschaft der Strehsens gelegen sein würde. Für alle Fälle wollte er Kurt gleich nach Tisch ausdrücklich verpflichten, ihn möglichst oft mit Fräulein Weiss zusammenzubringen. Zum Dank und zur Anspornung würde er ihm einen neuen Kredit in Aussicht stellen.

Nach dem Essen wurden die im Programm vorgesehenen, von Bornstein ironisch belächelten Gesellschafts- und Pfänderspiele gespielt, bei denen Kleinigkeiten vom Weihnachtsbaum ausgelost wurden. Um elf Uhr brach die Gesellschaft auf, damit die Berliner noch gute Fahrgelegenheit fanden.

Bornstein, der während der öden Spielunterhaltung, an der er sich nicht beteiligte, wenig Gelegenheit mehr gefunden hatte, mit Lena zu sprechen, trat kurz vor dem Aufbruch an sie heran und bat um das Vergnügen, sie nach Haus begleiten zu dürfen. Lena sah mit verlegenem Bedauern zu ihm auf.

»Herr Leutnant Kurt hat sich mir schon angeboten – aber wenn Sie trotzdem« – Bornstein machte kurz kehrt. Nein, er mochte nicht teilen. Ueberdies hatte er ganz genug für heut von den Faseleien des Leutnants.

Lotte lieh während der folgenden Tage Lenas enthusiastischen Schilderungen über den Strehsenschen Gesellschaftsabend nur ein zerstreutes Ohr. Ihre Gedanken weilten unablässig bei ihrem letzten Zusammensein mit Gerhart, und wie ein schwerer, drückender Alb lag der feierliche Schwur, den er von ihr gefordert hatte, auf ihrer Seele.

Wenn sie wirklich einmal aus diesen Träumereien erwachte, war es nur, um mit erschreckten Augen in die Wirklichkeit zu starren.

Sie hatte gleich nach dem Fest die beschämende und beängstigende Entdeckung gemacht, dass, wenn sie den letzten Notgroschen nicht angreifen wollte, es unmöglich sein würde, am ersten Januar die Miete zu zahlen. So also stand es um ihr Fortkommen in Berlin.

Zunächst raffte sich Lotte wieder auf, und alles Uebrige in den Hintergrund drängend, sah sie der Gefahr klar ins Auge. Sie rechnete und überdachte, wo zu sparen und einzuschränken sei. Sie trieb alle kleinen Aussenstände eifrig ein, aber trotz des gewaltigen moralischen Aufschwungs, den sie sich gab, kam sie um keinen Schritt weiter.

Immer näher rückte der Zahlungstermin, und noch immer war die Miete nicht vollständig beisammen.

Lena, auf deren Tagegelder Lotte sich fest verlassen hatte, liess sie vollkommen im Stich. Alles, was sie zu erwarten gehabt, hatte sie sich von einer Kollegin vorschiessen lassen und bereits für allerlei Putz und Tand verausgabt, den sie für den Weihnachtsfeiertag sowohl, als auch für eine mit den Strehsens vereinbarte Sylvesterfeier unentbehrlich hielt.

So zärtlich Lotte an Lena hing, so sehr sie die jüngere Schwester bewunderte, sie konnte sich nicht verhehlen, dass Lena unerhört leichtsinnig gehandelt hatte.

Aber das Herz, die Schwester anzuklagen, ihr Vorwürfe zu machen, hatte sie doch nicht. Lena war fröhlich, glücklich und gesund, während sie selbst alle Tage matter und willenloser wurde. Mochte Lena wenigstens das Leben gemessen, sie mit ihrer grüblerischen Schwerblütigkeit würde doch niemals dazu im Stande sein.

Eine Zeit lang dachte Lotte darüber nach, ob sie mit Gerhart über ihre Verlegenheit sprechen sollte. Aber immer wieder verwarf sie diesen Gedanken. Sie wollte ihn nicht herabziehen in die Mühsale ihres kleinbürgerlichen Daseins. Er würde auch wenig Sinn dafür haben, und helfen konnte er ihr nicht, ohne den Beistand der Tante. Das aber wollte Lotte um keinen Preis. Die prächtige alte Dame hatte ihr schon so viel herzliche Gutthaten erwiesen, es widerstand ihr durchaus, sie direkt um eine Hilfeleistung zu bitten. Ausserdem schämte sich Lotte gerade vor Frau Wohlgebrecht ihrer Verlegenheit. Was sollte die thätige, tüchtige Frau, die so viel auf Lotte hielt, davon denken, dass sie gleich, nach dem ersten Quartal schon, ihren Verpflichtungen aus eigener Kraft nicht mehr nachkommen konnte! Es blieb nur ein einziger Ausweg, und so schwer es Lotte ankam, sie musste ihn gehen und sich blutenden Herzens entschliessen, den kargen Rest ihres kleinen Vermögens anzugreifen. Wenn es so weiter ging, was sollte daraus werden? Zum ersten Male sehnte Lotte Franz Krieger herbei. Er, mit seinem ruhig erwägenden Blick hätte ihr sicher sagen können, wie und wo sie gefehlt, wo sie anzusetzen habe, um wieder Ordnung und Gedeihen in ihre Verhältnisse zu bringen. Aber er war nicht da! Von dem Vater würde sie niemals Rat zu erwarten haben, und die Mutter, die treueste Freundin, war nicht mehr! Sie war allein, ganz allein! –

An Lena gingen Lottes Kämpfe spurlos vorüber.

Sie hatte nur noch Sinn für ihre dienstfreien Stunden, die sie zumeist mit den Strehsens verbrachte, und die Sylvesterfeier, zu der Max Bornstein sie alle in ein vornehmes Weinhaus Unter den Linden eingeladen hatte.

Mit dieser Feier hatte es seine ganz besondere Bewandtnis. Bornstein, der im allgemeinen kein sonderlicher Freund von Familienverkehr war, hatte längst alle Einladungen abgeschlagen, die ihm, wie alljährlich, zu Dutzenden zugegangen waren. Längst auch hatte er sich vorgenommen, mit Kurt Strehsen den Sylvesterball des Balletkorps zu besuchen. Nachdem er aber Lena Weiss kennen gelernt hatte, gab er dieses Vorhaben auf und machte dem Leutnant den Vorschlag, den letzten Abend des Jahres en famille zu verbringen. Das heisst, was Bornstein so en famille nannte. Er lud das Strehsensche Quartett, Mutter, Töchter und Kurt – der Oberstleutnant wurde selbstverständlich übergangen – ein, am Sylvesterabend seine Gäste zu sein, unter der Bedingung, dass Fräulein Clementine und Elisabeth ihre Kollegin Lena aufforderten, an der Feier teilzunehmen. Auf andere Gäste wurde verzichtet. Man wollte ganz unter sich sein.

Lena, die sich während der vergangenen Festwoche schon mehrere Rügen seitens der Aufsichtsdamen zugezogen hatte, war am einunddreissigsten während der Dienststunden derartig zerstreut, dass es nur ihren gutmütigen Nachbarinnen zu danken war, wenn sie, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen, durch ihre Arbeitszeit kam.

Endlich schlug die Stunde der Erlösung. Rasch, ohne auch nur auf die Strehsens zu warten, stürzte sie davon.

Lenas Staat, der Lotte so viel heisse Thränen, so viele qualvolle Stunden gekostet hatte, war schon zurechtgelegt, so dass sie nur hineinzuschlüpfen brauchte. Lena war überglücklich. Das weisse Oberhemd, das kurze, fest anschliessende schwarze Jäckchen darüber sassen wie angegossen. Nun fehlte nur noch der schwarz und weiss karrierte Shlips, und fertig war sie. Es war auch höchste Zeit, denn während Lena die Schleifenenden vor dem schmalen Spiegelchen festknüpfte, wurde draussen die Flurklingel schon gezogen.

Max Bornstein hatte um die Erlaubnis gebeten, sie um neun Uhr abholen zu dürfen.

Lotte öffnete dem eleganten, jungen, hypermodern gekleideten Mann etwas verlegen die Thür und bat ihn, inzwischen in ihrem »Atelier« Platz zu nehmen, die Schwester würde gleich kommen.

Bornstein verbeugte sich tiefer, als er sich je vor Lena verbeugt hatte, und stammelte einige unzusammenhängende Worte, während er dem schlanken blassen Mädchen in ihr Arbeitszimmer folgte. Er hatte etwas ganz anderes von der gemeinsamen Häuslichkeit einer kleinen Putzmacherin und einer Telephonistin erwartet, so eine Art Bohème, in der man es nach keiner Richtung hin sonderlich genau zu nehmen brauchte. Förmlich betroffen war er, alles anders zu finden wie er gedacht. Hier konnte er sich nicht so ohne weiteres im Negligé geben, – wenigstens vor den Augen dieses beinahe vornehmen, stillen Mädchens nicht – wie er es sonst bei dergleichen kleinen Scherzen gewohnt war. Eigentlich fatal! Bornstein liebte es nicht, besondere Umstände machen zu müssen. Wenn er das vorher gewusst hätte, würde er, einstweilen wenigstens, einen Besuch in dieser geordneten, gut bürgerlichen Häuslichkeit vermieden haben.

Endlich kam Lena. Als sie in ihrem neuen, feschen Kostüm in die schmale Thüröffnung trat, ein Lächeln auf dem frischen, rosigen Gesicht, da verschwanden Bornsteins Beklommenheit, sein Unmut im Augenblick wieder.

Wahrhaftig, das Mädel war so reizend, dass man sich schlimmsten Falles schon ein paar Unbequemlichkeiten um seinetwillen aufhalsen konnte.

Die beiden hielten sich nicht lange mit Abschiednehmen auf. Ihr schwarzes Jacket und das Pelzbarett hielt Lena schon in der Hand. Bornstein half ihr galant hinein, und dann, nachdem Lena Lotte flüchtig auf die Wange geküsst und Bornstein sich steif vor ihr verbeugt hatte, eilten sie durch die Küche die Treppe hinunter. Vom Hofe her hörte Lotte ihr fröhliches, etwas lautes Lachen.

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Diese Freundschaft Lenas wollte ihr nicht so recht gefallen, insbesondere nicht, seit sie Herrn Bornstein nun selbst gesehen hatte. Freilich, er war ein intimer Bekannter von Strehsens, folglich nach Lottes kurzsichtiger Logik ein jedes Vertrauens werter Mann. Auch hatten die Strehsens Lena ja völlig in ihren Schutz genommen, sie gehörte seit Weihnachten beinahe wie zur Familie, also trugen sie auch die Verantwortung für Lena. Trotzdem würde Lotte unter anderen Verhältnissen Lena nicht so ohne weiteres den Kavalierdiensten des Herrn Bornstein überlassen haben. Aber jetzt – nach dem, was zwischen ihr und Gerhart vorgekommen war, hatte sie auch nur das Recht zu einem Vorwurf, einem Tadel?

Ein kleiner Trost war es ihr, dass Franz Krieger, an den sie jetzt fortwährend denken musste, oft genug zu Haus gesagt hatte: »Die Lena wird schon durchkommen, die weiss sich zu helfen. Die lässt sich so leicht kein X für ein U machen.« Und dann hatte er hinzugefügt: »Aber Du, Lottchen! Was soll aus Dir werden?« Der gute, brave Mensch! Lotte seufzte auf. Er würde es sich zu Herzen nehmen, er ganz gewiss, wenn er gewusst hätte, wie tief sie jetzt schon in Sorgen steckte. Aber es musste durchgekämpft werden, es musste!

Sie nahm ihre kleinen Geschäftsbücher vor und fing an zu rechnen und zu überlegen, wie sie es im nächsten Jahre praktischer und nutzbringender einrichten könnte. Auch das Haushaltungsbuch schlug sie auf. Es half nichts, so schwer es auch war, sie mussten noch einfacher leben, sich noch mehr abgehen lassen. Sie mussten leben, wie wirklich arme Leute!

Den Kopf in die Hand gestützt, sass sie und rechnete. Sie hatte viel Zeit, die ganze lange Sylvesternacht durch.

Gerhart hatte die Jahreswende mit ihr allein verleben wollen. Sie hatte sich geweigert, mit blutendem Herzen, aber sie hatte es doch fertig bekommen. Seit sie ihm jenen Schwur geleistet, fürchtete sie sich instinktiv vor dem Alleinsein mit ihm. Sie hatte ihm andere Vorschläge gemacht, aber er hatte nur sie, sie allein gewollt. Als sie unerbittlich blieb, war er in heftigem Zorn davongegangen. Wie sie von Frau Wohlgebrecht zufällig gehört, würde er Sylvester in einer freien literarischen Vereinigung feiern.

Während Lotte sich das Hirn zermarterte, was sie an Groschen und Pfennigen sich absparen könne, ging es in dem, von den Restaurationsräumen etwas abseits gelegenen Zimmer, in das Bornstein seine Gäste geladen hatte, hoch her.

Lena war die übermütigste von allen.

Sie genoss, völlig harmlos, aber in vollen, durstigen Zügen, was sich ihr bot, Stunden leichtlebigen Genusses, wie sie sie nie zu träumen gewagt. Alles entzückte und berauschte sie. Das rot ausgeschlagene, luxuriös ausgestattete Zimmer, die in Kristall und Silber blitzende Tafel, die kostbaren frischen Blumensträusse, die vor dem Gedeck jeder Dame lagen, das ausgezeichnete Souper, die köstlichen Weine, von denen sie freilich nur zu nippen wagte. Ihr ganzes Leben lang hätte sie so dasitzen mögen, selbst plaudern und dem Geplauder zuhören, den feinen Duft, aus Blumen und exquisiten Speisen gemischt, einatmen und den bethörenden Schmeicheleien zuhören, die ihr Nachbar ihr von Zeit zu Zeit ins Ohr flüsterte. Diese Schmeicheleien ernst zu nehmen, oder gar sich durch sie zu einem wärmeren Gefühl hinreissen zu lassen, daran dachte Lena nicht. Nur lustig wollte sie sein, geniessen und auskosten, was ihr so freigebig geboten ward.

Clementine und Elisabeth machten sich heute weidlich über ihre Kollegin lustig. So recht kleinbürgerliche Provinz, das Vergnügen an einem solchen Abend derartig zur Schau zu tragen!

Sie hatten zwar alle drei, Mutter und Töchter, den ganzen Tag auf das Bornstein'sche Souper hin gehungert, aber um nichts in der Welt hätten sie sich merken lassen, wie gut es ihnen schmeckte, wie behaglich es ihnen nach der häuslichen Misere in dieser luxuriösen Umgebung zu Mute war.

Die hagere Frau Oberstleutnant, die heute spitzer und verkümmerter aussah denn je, nahm Lenas und Bornsteins Benehmen ernster als ihre Töchter. Sie hatte sich zwar niemals eingebildet, dass Bornstein Absichten auf Clementine oder Elisabeth habe, aber die so grob zur Schau getragene Verehrung des Bankiers für die kleine Telephonistin, der diese, in ihren Augen wenigstens, mehr als koketten Vorschub leistete, verletzte und empörte sie doch. Ausserdem drohte dieser Fall all ihre ausgeklügelt freisinnigen, gesellschaftlichen Anschauungen jäh über den Haufen zu werfen. Das Benehmen der beiden war einfach skandalös bürgerlich. So inkorrekt hätte sich ein Mann von Adel, ein Mädchen der Aristokratie nie betragen. Was aber konnte man schliesslich erwarten von einem jungen Menschen, dessen Grossvater noch hinter dem Ladentisch eines Materialwarengeschäfts gestanden hatte, und einem Mädchen von Gott weiss welcher Abkunft, aus Gott weiss welchem märkischen oder mecklenburgischen Nest, dessen Name als Geburts- oder Sterbestätte niemals im Gothaer vermerkt gewesen war, noch mutmasslich jemals darin vermerkt sein würde!

Schliesslich aber beschloss die Frau Oberstleutnant doch gute Miene zum bösen Spiel zu machen, schon um Kurts willen, der es in keinem Fall mit Bornstein verderben durfte. Sie mochte gar nicht an die Misere denken, die wieder über sie hereinbrechen würde, wenn Bornstein eines Tages Kurt den Kredit, den er ihm so freigebig gewährte, wieder entziehen würde.

Erst lange nach Anbruch des neuen Jahres wurde die Tafelrunde in dem roten Zimmer aufgehoben.

Kurt, der unbesonnener Weise in Uniform erschienen war, hatte sich nicht mit Unrecht geweigert, in der ersten Stunde nach Mitternacht die Damen durch die Friedrichstadt zu begleiten. Rempeleien mit Zivilisten waren seine Sache nicht. Er war im Grunde viel zu aristokratisch bequem, um nicht gern jedem Anlass zu Unannehmlichkeiten oder Streit aus dem Wege zu gehen – nicht nur in der Sylvesternacht.

An der Leipziger- und Friedrichstrassen-Ecke trennte man sich. Kurt bestieg mit seinen Damen den letzten Pferdebahnwagen nach dem Westen, Bornstein begleitete Lena nach Hause.

Bornstein hatte eigentlich von diesem Heimweg in Anbetracht der animierten Stimmung, in der sie sich beide befanden, mehr erwartet.

Trotzdem man, wie auf stillschweigendes Uebereinkommen, den Weg lang genug ausdehnte, gelang es Bornstein nicht, mit Lena über das Mass des Herkömmlichen hinauszukommen.

So übermütig sie sich auch den ganzen Abend mit ihm gezeigt hatte, sobald sie allein mit ihm war, zog sie, sich selbst vielleicht unbewusst, eine Grenze, über die selbst ein Bornstein sich nicht hinauswagte.

Verwünscht, wie viel von der Dame in diesen beiden Mädchen steckte! Na, nur nicht gleich den Mut verloren. Was nicht war, konnte ja am Ende werden.

Als er zum so und sovielten Male vor der Zimmerstrasse kehrt machen wollte, erklärte Lena sehr entschieden, totmüde zu sein und nach Haus zu wollen. Erst als er ganz ehrlich kummervoll noch um ein paar Minuten bat, da er morgen auf mehrere Tage von Berlin fort müsse, liess sie sich erweichen und schlenderte noch ein Weilchen neben ihm her.

»Wo müssen Sie denn hin, Herr Bornstein?« fragte sie schon halb verschlafen.

»Nach Dahlow, liebes Fräulein Lena. Ach, ich wünschte, Sie kämen mit! Es wird zum Sterben langweilig werden. Denken Sie nur, in dem grossen Haus ganz allein mit dem Inspektor! Nichts wie rechnen und wieder rechnen und bogenlange Berichte entgegennehmen und Belege einsehen und revidieren – Brr. – Wenn die Jagd nicht wäre, möchte man geradezu verrückt werden!«

Lena war bei der Erwähnung von Dahlow wieder munter geworden. Von ihrer Kindheit her, damals als der Vater noch Inspektor auf Gross-Klockow gewesen, hatte sie eine heimliche Liebe für grossen Grundbesitz, natürlich nur, wenn es darauf wie auf einem echten Herrensitz zuging. Für ihr Leben gern hätte sie Dahlow einmal gesehen; aber sie durfte Bornstein das nicht merken lassen, sonst hätte er sie gleich beim Wort genommen, und es ging doch unmöglich an, dass sie zu ihm nach Dahlow kam.

So fragte Lena hauptsächlich nach dem, was ihr das Unverfänglichste erschien und was sie doch wieder am meisten interessierte, nach seiner Blumen- und Obstzucht, von der er ihr am Weihnachtsabend bei Strehsens schon einmal flüchtig erzählt hatte. Bornstein, der selbst ein grosser Blumenfreund war und dem überdies daran lag, ihr Dahlow so verlockend wie möglich zu schildern, machte wahrhaft märchenhafte Beschreibungen von seinen Treibhäusern und Mistbeeten.

Mehlmann, sein Obergärtner, war eine Spezialität für seltene Arten von Blumen und Früchten. Er hatte auf der letzten grossen Blumen- und Obst-Ausstellung in Treptow eine der höchsten Auszeichnungen bekommen. Lenas noch kurz zuvor so verschlafene Augen wurden gross und grösser.

Blumen, und seltene dazu, waren ihre Passion. »Ich bringe Ihnen einen Strauss Orchideen mit, Fräulein Lena, wenn Sie ein bischen nett mit mir sind – aber das Beste wäre schon, Sie kämen selbst heraus.«

Bornstein sah das Mädchen mit bittender Frage an, aber sie schien ihn durchaus nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen. So fügte er, wie vor acht Tagen, nur um etliches verstärkt hinzu: »Mit Strehsens natürlich.«

»Aber ich bekomme keinen Urlaub!«

»Na, noch besser. Diese albernen Postonkels. Das fehlte gerade! Dann schwänzen Sie eben 'mal.«

»Darauf steht augenblickliche Entlassung.«

»Mein Gott, wie kann man sich in solchen Drill begeben, wenn man ein so fesches Mädel ist wie Sie, Lena. Warum sind Sie nicht auch Putzmacherin wie Ihre Schwester? Da könnten Sie den ganzen Tag thun und lassen was Sie wollten.«

Lena seufzte ganz heimlich auf. So wie Herr Bornstein jetzt sprach, hatte sie schon die ganze letzte Woche über gedacht. Der regelmässige Dienst fing an ihr schrecklich langweilig und drückend zu werden. Aber sie wollte ihrem neuen Freunde nicht Recht geben und behauptete, sich in diesem »Drill«, wie er sagte, riesig wohl zu fühlen. Sie war doch etwas – königliche Beamtin. –

»Auch was rechts«, brummte er.

So unter Scherzen und Streiten kamen sie endlich vor Lenas Hausthür an.

»Nun aber wirklich Gute Nacht!«

Er hätte ihr für sein Leben gern einen Kuss gegeben, aber sie sah ihn so merkwürdig verwundert an, als er sich zu ihr herabbeugte, dass er es vorzog, sich mit dem schmalen, rosigen Streifen zwischen Handschuh und Jacketärmel zu begnügen.

Lena wurde puterrot, aber sie freute sich doch.

»Und wann darf ich Ihnen die Orchideen bringen?«

Einen Augenblick lang sah sie ihn zögernd und schwankend an. Dann sagte sie rasch entschlossen ohne Ziererei und Koketterie: »Sonntag Abend bei uns. Von sieben ab bin ich dienstfrei.«

Bornstein war es nicht ganz zufrieden. Er fürchtete die stille Schwester mit ihrem ruhigen, vornehmen Ernst, aber dennoch sagte er freudig zu. Am Ende war es immer besser als nichts. –

*

Die gute Frau Wohlgebrecht hatte wieder einmal einen kräftigen Zorn auf Lotte.

Nach einem steifen Neujahrsbesuche hatte das Kind sich nicht mehr sehen lassen.

Irgend etwas war da wieder nicht in Ordnung. Wenn die alte Wohlgebrecht auch die Bildung nicht gepachtet hatte, ihre gesunden Augen hatte sie doch im Kopf und ein X für ein U liess sie sich noch lange nicht machen.

Zunächst nahm sie ihren Gerhart ins Gebet, der auch nicht gerade in rosiger Laune herumlief und mehr Zeit in seinen modernen Klubs und Vereinigungen verbrachte, als ihr lieb war.

Viel war ja nicht aus ihm herauszubekommen. Er machte dunkle Andeutungen über die Beschränktheit der Weiber, über verrottete, unmoderne Vorurteile, über erbärmliche Rücksichten auf Brauch und Herkommen, die einem Seele und Sinne zernagten, was er aber eigentlich damit meinte, und ob sich etwas, alles, oder gar nichts von seinen dunkeln Reden auf Lottchen Weiss bezog, daraus konnte Frau Wohlgebrecht absolut nicht klug werden.

Nicht viel anders erging es ihr bei Lotte selbst, als sie an einem eisig kalten Abend um die Mitte Januar zu ihr herumkam.

Der Name Gerhart schien ihr die Lippen eher zu schliessen als zu öffnen, und doch hatte Frau Wohlgebrecht ihren Kopf darauf gesetzt, dem armen Kinde, das sie so blass und traurig fand wie nie zuvor, zu helfen. Sie versuchte es hier, sie versuchte es da, bis sie endlich auf die rechte Spur gekommen schien.

»Na und Herzchen, wie stehts denn mit dem Jahresabschluss und dem Geschäft?« Da hielt Lotte sich nicht länger, und in Thränen ausbrechend legte sie eine umfassende Beichte ab.

Frau Wohlgebrecht hörte dem langen Bericht stillschweigend zu. Das war so recht etwas für sie, trösten und helfen können. Denn getröstet musste das liebe Geschöpf werden, und geholfen werden musste ihm erst recht, das stand fest in dem goldenen Herzen der alten Frau.

Während Lotte sprach, unterbrach Frau Wohlgebrecht sie mit keinem Wort. Nur ab und zu klopfte sie dem Mädchen zärtlich auf die Schulter oder streichelte Lottes nervös verschränkte Hände, um ihre Teilnahme kund zu thun.

Erst als Lotte die heftigsten Anklagen gegen sich selbst erhob, ergriff Frau Wohlgebrecht das Wort und protestierte ganz entrüstet.

»Was reden Sie nur da, Kindchen? Glauben Sie etwa, es ginge Andern nicht so? Wenn zwei so arme, unerfahrene Dinger wie Sie und Ihre Schwester in Berlin auf anständige Weise glatt durchkommen, so ist das eine Ausnahme, aber eine grosse, sag' ich Ihnen. Was denken Sie denn, was hier alles herumläuft und Arbeit sucht? Eins schnappt sie dem andern vor der Nase weg. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das ist einmal nicht anders. Aber wer A gesagt hat, muss auch B sagen können. Nu, man Kopf hoch und am rechten Ende angefasst, damit die Verlegenheiten aufhören.«

Frau Wohlgebrecht sah sich in dem netten behaglichen Raum um.

»Wie lange haben Sie hier Kontrakt, Kindchen?«

»Bis Oktober übers Jahr?«

»Hm, ja – na das kann sich später finden.

Erst wollen wir 'mal sehen, ob sich nicht mehr verdienen lässt, ehe wir an die äusserste Grenze der Sparsamkeit gehen. Sagen Sie 'mal, wie ist denn das mit Ihrer Schwester? Die kriegt doch, so viel ich weiss, ihre 2 Mark 25 Tagegelder. Die muss doch ordentlich zuschiessen?«

Lotte war in tötlicher Verlegenheit. Um nichts in der Welt hätte sie gerade Frau Wohlgebrecht, die schon so wenig von Lena hielt, die Wahrheit gesagt. Sie stotterte etwas von grossen Ausgaben, die Lena gehabt, und dass das alles in diesem Monat anders sein würde. Und um Frau Wohlgebrecht gar nicht erst zu Gedanken oder Wort kommen zu lassen, fügte sie rasch hinzu:

»Ich glaube, es ist besser, ich gebe das selbständige Arbeiten ganz auf und sehe mich nach einer Stelle in einem Modewarengeschäft um. Ein grosses Gehalt wird man mir freilich nicht geben«, fügte sie bitter hinzu, »denn für Berliner Geschmack verstehe ich, wie es scheint, nicht genug, aber es ist doch immer was sicheres.«

Dabei warf Lotte einen so sterbenstraurigen Blick auf ihren Arbeitsschrank und ihre behagliche kleine Umgebung, als gelte es heute schon, auf Nimmerwiedersehen davon Abschied zu nehmen.

Frau Wohlgebrecht hatte den Blick aufgefangen und verstanden. Das Herz that ihr ordentlich weh dabei. Wenn man dem Kinde doch nur dies bischen armseliges Glück erhalten könnte, die ruhige Arbeit in den eigenen vier Wänden!

Frau Wohlgebrecht wusste im Voraus, dass die stille Lotte sich in einem Berliner Geschäft totunglücklich fühlen würde.

»Na, nur nichts übereilen, Lottchen. Nur keine überstürzten Entschlüsse fassen, das hat noch allemal gereut.«

Frau Wohlgebrecht stand auf.

»Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, Kind. Ich will das alles überlegen. Was haben wir heute? Mittwoch. Schön. Kommen Sie Sonnabend Abend nach Geschäftsschluss zu mir herum. Bis dahin denke ich, werde ich einen Rat für Sie wissen.« Sie küsste Lotte auf die Stirn und ohne ihren Dank abzuwarten, war sie auch schon davongegangen. –

Als Lotte am Sonnabend Abend um die verabredete Zeit zu Frau Wohlgebrecht kam, trat Gerhart ihr mit einem seltsamen Gemisch von Freude und Bestürzung entgegen.

»Denken Sie nur, Lottchen, die Tante – nein, es ist kein Unglück geschehen – wie Du gleich blass wirst – so kommen Sie doch herein, Lottchen – bitte –!«

Sie folgte ihm zögernd in das kleine gemütliche Zimmer mit dem schwarzen Rosshaarsopha. Auf dem runden Mahagonitisch brannte die Lampe und davor lagen Gerharts Schreibereien, gerade so wie sie es zum erstenmal gesehen, als sie zaghaft und fremd den halbdunklen Laden betreten hatte.

»Was ist denn mit Frau Wohlgebrecht?«

»Die Tante ist heut Nachmittag telegraphisch nach Westpreussen gerufen worden, Sie wissen ja, Lottchen, zu der Nichte, der jungen Frau, zu der sie im Frühjahr hinwollte. Da ist ein Malheur passiert, ein bischen was schief gegangen. Du brauchst nicht so entsetzte Augen zu machen, Lotte, das kommt öfter vor.

Tante wird nun wohl für lange Zeit fortbleiben. Ich führe das Geschäft einstweilen allein. Aber willst Du Dich denn nicht endlich setzen, Lotte? Ich glaube wahrhaftig, Du fürchtest Dich schon wieder vor mir. Du kannst ganz ruhig sein – seit dem Weihnachtsabend im Deutschen Theater –«

Er sprach nicht weiter, doch in dem, was er gesprochen, hatte eine so unendliche Bitterkeit gelegen, dass Lotte die Thränen in die Augen schossen.

Sie nahm sich zusammen und setzte sich auf den Stuhl, den er ihr hingeschoben hatte, um ihm zu zeigen, dass sie ihm vertraute.

Er nahm ihr den Schulterkragen ab und das schwarze Hütchen.

»Minna ist draussen. Sie kann uns einen Thee machen, wenn Du willst.«

Lotte schüttelte den Kopf.

»Ich habe schon Abendbrot gegessen. Hat Frau Wohlgebrecht Ihnen denn gar keinen Auftrag für mich gegeben?«

Er setzte sich zu ihr.

»Einen ganzen Band voll. Gross Folio, so dick. Wir haben in diesen Tagen über alles gesprochen und sind uns über alles einig geworden. Wirklich, Lottchen, Sie können sich einbilden, nicht ich, sondern die Tante spräche jetzt mit Ihnen.«

Ohne dass sie es wollte, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

Gerhart griff nach ihrer Hand.

»So müsstest Du immer aussehen!«

Dann setzte er sich absichtlich ein wenig entfernt von ihr in die Sophaecke und zog eine ganz geschäftliche Miene auf.

»Also Lottchen, die Tante und ich sind zu dem Entschluss gekommen, Ihnen zu raten, einstweilen, wenigstens bis Ostern, die Verhältnisse zu lassen, wie sie sind. –«

»Ja aber –«

»Zu besseren Einnahmen müssen Sie es natürlich bringen. Die Tante hat Ihnen da –« er schob ihr einen mit Namen und Adressen beschriebenen Zettel über den Tisch zu – »Familien aufgeschrieben, von denen Sie zweifellos, wenn auch nicht gleich, so doch nach dem Frühjahr zu, Aufträge bekommen werden. Tante sowie ich sind der Ansicht, dass, da Sie Wohnung und Einrichtung einmal haben, nun doch noch ein Weilchen aushalten sollten –«

Sie sprach kein Wort und sah nur mit grossen traurigen Augen zu ihm hinüber.

»In einem Geschäft –« Jetzt trafen sich ihre Blicke.

Gerhart sprang auf.

»In einem Geschäft, Lottchen, siehst Du, da könnte ich Dich nicht sehen! Mit andern gewöhnlichen Elementen, ein stupides Publikum bedienen, – es würde mich wahnsinnig machen, Dich dort zu wissen. Versprich mir, dass Du es nicht thun willst, versprich es mir!«

»Wie gern, Gerhart – ich fürchte mich ja selbst so sehr davor – aber wenn – wenn es nun nicht anders geht?«

Er war vor ihr stehen geblieben und sah sie mit heissen Augen an.

»Es wird gehen, Lottchen, es muss gehen. Du hilfst mir – ich helfe Dir. Hör' einmal zu. Da liegt eine neue Arbeit. Wenn Du ein bischen gut mit mir bist, wenn ich Dich nur ab und zu sehen darf – so wie heut! – nicht anders, Lottchen, ich verlange ja gar nicht mehr von Dir, siehst Du, dann wird mir die Arbeit gelingen, das fühle ich, das weiss ich, und wird mir viel Geld bringen – das teilen wir dann, denn was mein ist, ist auch Dein, und Du, Du hast ja auch einzig das Verdienst daran, wenn es gelingt.«

Er war vor ihr niedergekniet und hatte den Kopf in ihren Schoss gelegt. Sie bebte am ganzen Leibe.

»Mein Kind, mein liebes Kleines, nimm doch Vernunft an. Wenn Du mich auch nicht ganz verstehst, das wirst Du doch begreifen, dass Du mir nötig bist, wie nichts in der Welt, und ich Dir auch, glaube mir's, Lotte, ich Dir auch, und dass wir, wie alle Menschen, ein Recht auf Glück haben!«

Er hatte sich aufgerichtet und strich ihr sanft über das heisse Gesicht.

»Was ich Dir mit der »Versunkenen Glocke« sagen wollte, hast Du nicht begriffen. Du verstehst es noch nicht, dass es höchste Seligkeit für einen Künstler ist, Brust an Brust, Seele an Seele mit einem geliebten Weibe sich auszuleben, so lange oder so kurz Liebe und Glück und Schaffenskraft währen, selbst wenn es danach in den Abgrund geht, in das Nichts. Das kannst Du heut noch nicht fassen, mein Kleines, nein?«

Lotte schüttelte kaum merklich den Kopf und sah mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit zu ihm auf.

»Aber dass jeder Mensch ein Recht auf Glück hat und dass er ein Narr ist, wenn er sich dieses Glückes nicht teilhaftig macht aus Gründen elend dummer Vorurteile, das wirst Du doch begreifen?«

»Ja, das begreif ich, Gerhart, ich sehne mich ja auch nach Glück, o so sehr, so sehr. Du glaubst nicht, wie ich leide.«

Zum erstenmal kam es über ihre Lippen, das trauliche Du, sie wusste es nicht einmal, so natürlich war es ihr. Nun, da auch die alte Frau nicht mehr für sie da war, hatte sie nichts mehr als ihn, Gerhart! Und wie sie so zu ihm aufblickte, kam er ihr plötzlich um Jahre gereift und gealtert vor, während sie sich hilflos fühlte, wie ein Kind. Und in einer plötzlichen Aufwallung von beinahe kindlicher Zärtlichkeit neigte sie sich zu ihm und legte die Arme um seinen Hals und seufzte an seiner Brust all' ihren Kummer, all' ihre schweren Sorgen aus.

Er hielt sie sanft in den Armen, und so rasch und heiss sein Blut auch ging, er rührte sich nicht.

Als sie ruhiger geworden war, küsste er sie auf die Stirn.

»Komm nun, ich will Dich nach Haus bringen, Lottchen. Es wird alles gut werden. Nur versprich mir, nichts ohne mich zu thun. –«

* * *

 


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