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Um Mitternacht

Eine sengende Glut brütete seit Tagen über der Grossstadt. Schlaff sassen und lagen die Menschen umher. Nur die allernotwendigste Arbeit wurde geleistet und auch die nur halb und unvollkommen. Wer es irgend einrichten konnte, machte die Nacht zum Tag und schlief während der unheimlich brütenden Mittagshitze, die das Blut beinahe sieden machte, im verdunkelten Raum.

Arbeit und Genuss wurden gleichermassen in die Stunden um und nach Mitternacht verlegt. Da wimmelte es in den hellerleuchteten Strassen und halbdunkeln Parks, in den Cafés und Biergärten von elegant gekleideten Frauen und Mädchen der ganzen und halben Welt, von der männlichen jeunesse dorée, dem Offizier in Zivil, dem Gigerl und Stutzer, von Fremden, die die Grossstadt auf der Durchreise nach den Bädern oder ins Gebirge passierten, von einheimischen Philistern, die die Glut des Tages aus ihren Gewohnheiten riss und auch sie einmal im Jahr wenigstens die Nacht zum Tag machen liess.

Auf den Bauten flammten die Gasolinbehälter in rötlicher Glut auf, strahlten hell die elektrischen Glühlampen in ihrem weissen, mondscheinähnlichen Licht. Rüstig wurde die Nacht durchgearbeitet. Auf den Strassen türmten sich Sand- und Steinberge, hinter denen es unheimlich wie von Fackellicht aufflackerte. Die Gas- und Rohrleger waren bei der Arbeit, und dort in der breiten Verkehrsstrasse, die den Westen mit dem Osten in schnurgerader Linie verbindet, leuchtete es in der Mitte der Fahrstrasse streckenweis glutrot zwischen den hohen elektrischen Bogenlampen auf. Das Pflaster zwischen den Pferdebahnschienen wurde aufgerissen und sollte in den Nachtstunden, während der Verkehr nur schwach war, durch neues ersetzt werden.

Hacke, Haue, Schaufel und Brechstange waren in Bewegung. Eine Schar von Staub und Schweiss geschwärzter Männer arbeitete mit entblösster Brust rastlos daran, das wertlos gewordene Gestein in Stücke zu zerschlagen.

Eine Pause trat nur ein, wenn, je weiter die Nacht vorschritt, in immer längeren Zwischenräumen ein Pferdebahnwagen langsam und vorsichtig über die gelockerten Schienen fuhr. Vollbesetzt waren die zumeist offenen Wagen mit Nachtschwärmern, die aus den Zentren der Stadt nach dem Westen hinausfuhren, um nun endlich in den halbwegs ausgekühlten Räumen des Parkviertels die Nachtruhe zu finden.

Zu Haufen oder in Reih und Glied standen die Arbeiter, tiefaufatmend während der kurzen Arbeitspause, den rinnenden Schweiss mit dem staubbedeckten Handrücken von der Stirn wischend, so dass lange, graue Striemen wie Runzeln haften blieben.

Die älteren unter den Leuten blickten stumpf und gleichgiltig auf die leicht und elegant gekleideten Menschen, die da plaudernd und lachend, zuweilen auch schon im Halbschlaf dahinfuhren, vom Genuss zur bequemen Ruhe. Unter der Jugend aber gärte es hier und da. Aus manchem Auge traf die da drinnen ein tückischer, neidischer Blick; manche Faust ballte sich in der Tasche, und von Lippen, die kaum der erste Bartflaum deckte, kam ein gehässiges, drohendes Wort, das in dem Gepolter des Wagens auf den lockeren Schienen unterging.

Einer der grössten und stärksten der Arbeiter, ein Mann Anfang der dreissiger, seiner Körperlänge wegen der lange Wilm genannt, hatte während der ersten Arbeitsnächte gedankenlos vor sich hingebrütet, wenn ein durchfahrender Wagen die Arbeit für Augenblicke stocken machte.

Er hatte anderes im Kopf als fremde Menschen, die ihn nichts angingen und nach denen er nichts fragte. Er sah kaum, was um ihn her vorging, und hielt nur mit der Arbeit seiner Hacke inne, weil die andern es thaten. Was er sah bei der Arbeit oder während der kurzen Stunden der Musse, im Wachen und während seines unruhigen Schlummers, war immer dasselbe: war ein Weib – sein Weib! Sein schönes, blondes, feingliedriges Weib mit den hellen Augen und der lustigen Stimme, sein Weib, das ihn verlassen hatte, in einer Winternacht, die gerade so schneidend kalt gewesen, wie diese Julinacht glühend war, das davongegangen war mit einem jener feinen, gewissenlosen Herrchen, die skrupellos nach dem greifen, was ihnen gefällt, und es wieder beiseite werfen, sobald sie ausgekostet haben, was sie gereizt. Solch einer ja, wie der, der in dem näherkommenden, schaukelnden Wagen auf der vordersten Bank dicht hinter dem Kutscher sass. Gestriegelt und parfümiert und nach der neusten Mode gekleidet, mit aufgedrehtem Bart und steifem, hochstehendem Kragen; und solch einer hatte seine Lena ...!

Wilm krampfte die Hände über der aufgestützten Hacke zusammen. Dann spuckte er aus. Pfui Teufel, mit solch einem parfümierten Kerl, der sie nur genoss, wie er seine Trüffel- und Gänseleberpasteten und Austern genoss, und sie dann beiseite warf wie die übriggebliebenen, ausgeschlürften Reste seiner kostbaren Mahlzeiten! Und doch hatte sie ihn geliebt, ihn, ihren Wilm, und durch drei lange, köstliche Jahre war sie die Feine, Zierliche, Appetitliche, die Wonne seines Lebens gewesen!

Der Wagen war vorüber. Sein Zorn hatte sich besänftigt. Sein Blut kochte nicht mehr. Schlaff und gleichgiltig nahm er seine Hacke wieder auf. Mechanisch fiel sein Blick auf das gegenüberliegende Haus, das eine Uhr im Giebel trug. Es war gerade Mitternacht. Der Wagen hatte ein grünes Licht getragen.

In der nächsten Nacht stellte sich Wilm um die Zeit, als der Wagen mit dem grünen Licht fällig war, dicht an die Schienen.

Vielleicht, dass der Parfümierte heut wiederkam. Es gab ja auch unter den Nachtbummlern Leute mit pünktlichen Gewohnheiten. Mitternacht war immerhin noch eine zivile Stunde. Mutmasslich führte den Parfümierten sein Weg auch gar nicht nach Haus. Vielleicht hatte er irgendwo im feinen Westen so etwas wie seine Lena, ein süsses Weibchen oder Mädchen, das er nobel ausstaffiert und einmöbliert hatte und das ihn jetzt um Mitternacht erwartete. Pfui Teufel, wie schmutzig die Welt war! Jetzt kam der Wagen. Er stolperte und holperte; einer der Kameraden musste das Pferd am Zügel führen, so uneben und aufgerissen war der Boden zwischen den Schienen heut.

Wilm hatte Musse, die Insassen zu mustern.

Wahrhaftig, da sass er wieder, der Geck mit dem hohen Kragen und dem aufgedrehten Bart, und neben ihm, ganz in weisse, luftige Stoffe gehüllt, ein blondes Weib. Wilm konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie sass, ihrem Begleiter völlig zugewendet da. Wilm beugte sich weit über, fast bis auf den Messingstab herab, der den Sitz hinter dem Kutscher abschliesst. Sie rührte sich nicht, ihn aber würgte etwas in der Kehle, und stärker perlten die Schweisstropfen ihm auf der Stirn. Da, ein Stoss des torkelnden Wagens. Das blonde Weib drängt sich ängstlich an ihren Begleiter, dann, als es gleich wieder eben geht, lacht sie auf: Lenas Lachen!

Wilm starrte dem fortrollenden Wagen nach, als ob er ihn mit seinen Blicken anhalten und zertrümmern wollte.

In der nächsten Nacht, die Giebeluhr zeigt zwölf – der Wagen mit dem grünen Licht hat eine kleine Verspätung – steht Wilm auf seinem Posten. Wenn sie heute wieder kommen, heimkehrend von einem kostbaren Nachtmahl, um – um ... Wilm kann kaum mehr schlucken so wild und unregelmässig kreist das Blut in seinen Adern ... dann wird er sehen, ob es seine Lena ist.

Jetzt – die andern treten schon von den Schienen zurück. Trotzig und breitspurig bleibt er stehen, bis der Kopf des langsam durch den aufgewühlten Boden stapfenden Pferdes ihn zur Seite drängt. Die Hacke geschultert, steht er da. Einen Augenblick legt sich etwas wie ein blutiger Nebel über seine Augen. Er reibt ihn fort mit der Rückenfläche der schmutzigen Hand. Jetzt sieht er klar.

Kein Zweifel mehr! Das Weib neben dem Gecken, das blonde Weib, ist sein Weib, seine Lena!

Rosiger und zierlicher, schöner denn je. Wilm stösst einen gurgelnden, unartikulierten Laut aus. Langsam, ganz langsam geht der Wagen. Jetzt steht er still. Das Pferd ist in ein Loch geraten, aus dem es erst allmählich den Weg wieder herausfindet. Wilm ist neben dem Wagen weitergeschritten. Er thut es nur mechanisch. Er weiss nicht mehr, was er will. Jetzt steht er still, zitternd, wie das in allen Flanken bebende Tier. Er will ihren Namen rufen, aber er bringt keinen Laut mehr über die Lippen. Nur seine Augen sprechen wild und fürchterlich. Unwissentlich stösst sein Nebenmann ihn an. Das kalte Eisen der Hacke berührt seine Stirn. Jetzt weiss er, was er will und muss. Er hebt die Hacke. Er kann nicht fehlen, nur um Armeslänge ist das Weib von ihm getrennt. Da drängt sie sich dicht an den Gecken, begehrliche Blicke mit ihm tauschend.

Ein unüberwindlicher Widerwille übermannt ihn.

»Dirne!« kreischt er auf und wirft die Hacke beiseite.

Das Pferd ist aus dem Loch heraus. Der Wagen rollt weiter auf glatten Bahnen, der Stätte der Wollust entgegen, nach der diese beiden lechzen.

Wilm spuckt im weiten Bogen aus, dem Wagen nach.

Dann nimmt er seine Hacke vom Boden, putzt sie mit dem Hemdärmel blank, als ob er einen Flecken forttilgen wollte, der beinah darauf gefallen wäre, und arbeitet rüstig fort.

 


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