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Wenn's nur nicht Frühling wär!

Draussen in einem der stillen Vororte, die das elegante Berlin wenig bevorzugt, steht abseits von dem durchschneidenden Schienengleise ein einstöckiges Haus mit schmutzig grauen Mauern. Ungepflegtes Gartenland, von Gras. Blumen und blühendem Gebüsch rings überwuchert, umgiebt es von allen Seiten. In lang aufgeschossenen Stauden steht unweit des Hauses eine ganze Rabatte Malven bei einander und verdeckt beinahe den Eingang zu einer aus morschen grünen Latten zusammengestellten Laube. Die Mitte der Laube nimmt ein in den Boden festgerammter Tisch ein. Zu beiden Seiten und an der Hinterwand ziehen sich schmale Bretter entlang. Auf dem hintersten Brette, müde gegen das morsche Sparrenwerk zurückgelehnt, sitzt eine Frau in unkleidsamem spinnwebfarbenem Gewand. Mit grossen müden Augen sieht sie zwischen den Malvenstauden durch in das im Frühlingsglanze daliegende blühende Gartenland. Dann beugt sie sich ein wenig nach vorn, um den Tisch zu erreichen und auf diesem einen schon zuvor geöffneten Brief, der in dem Schlüsselkörbchen oben auf den Schlüsseln liegt.

Sie zieht den Brief aus dem mit einer fremdländischen Marke beklebten Umschlag, liest ihn, buchstabiert an der ihr undeutlichen Unterschrift herum, legt ihn in den Korb zurück und erhebt sich dann schwerfällig und langsam.

Den grasbewachsenen Gartensteig entlang schreitet sie, das Körbchen am Arm, dem Hause zu und über die wenigen Stufen in ein geräumiges Gartenzimmer, in dem es, trotz des hellen Nachmittagslichtes draussen, merkwürdig dämmrig ist.

Mit denselben, langsamen, schwerfälligen Bewegungen, mit denen sie über den Gartensteig gegangen, schreitet die graue Frau jetzt ein paarmal durch das Zimmer und sieht sich mit misstrauischen Augen zwischen dem alten Gerümpel um. Das wenig anheimelnde, düstere Gemach stellt den Wohn- und Essraum für ihre Pensionäre und Pensionärinnen vor. Kahl, öde, verstaubt und verschlissen, wohin der Blick sich wendet. Jetzt bleibt die Graue einen Augenblick vor dem Spiegel stehen, um sich schnell wieder abzuwenden.

Etwas Kaltes ist ihr über den Rücken gelaufen. Hat sie das Bild so lange nicht gesehen, dass es ihr plötzlich wie etwas Fremdes, nie Gekanntes entgegentritt? Sie sinkt in den ihr zunächst stehenden Sessel, der schon durch die leichte Last der schlanken Frau ins Wanken gerät. Die Hände vors Gesicht geschlagen, sitzt sie lange regungslos und lässt die Gedanken ihre eigenen Wege gehen. Nicht allzuweit. Um kaum ein Jahrzehnt zurück bis in eine Zeit, zu der sie noch ein blühendes, blondes Geschöpf gewesen, das die Männerwelt huldigend umdrängt hatte. Und vor ihr hatte einer gestanden – einer – wieder läuft es ihr kalt den Rücken herab. Nein, an ihn will sie nicht denken, an ihn nicht und an die bodenlos sündhafte Thorheit nicht, mit der sie ihn zurückgewiesen, nur weil er nichts anderes besessen hatte, als seine grosse Liebe für sie und einen starken Hang zum Abenteuerlichen. Wie war sie mit dieser philisterhaften Pedanterie nur zustande gekommen? Wie hatte sie die Verleugnung ihrer warmen Empfindung ertragen? Sie fasste sich an die schmerzenden Schläfen. Heute begriff sie es nicht mehr, heute nicht. Weniger allerdings noch das andere: ihre Heirat um der Versorgung willen mit einem ungeliebten Manne! Dies andere war ihr zum Verhängnis geworden. Schritt für Schritt war es abwärts mit ihr gegangen. Nach kurzer liebe- und kinderloser Ehe war der Mann gestorben. Mit der kleinen Pension und dem geringen Vermögen, das ihr von Haus geblieben war, hatte Helene Heilmann ein Pensionat begründet. Unerfahren in allen praktischen Dingen des Lebens, war sie dabei von einem Extrem ins andere gefallen. Zuerst übertrieben moderner Luxus in all ihren Einrichtungen, dann eine Sparsamkeit, die den nahenden Verfall unklugerweise mehr als ahnen liess. Aus allen Ecken und Winkeln grinste er die Bewohner des öden Hauses an und scheuchte sie davon. Die wenigen, die noch treu geblieben waren, würden über kurz oder lang zweifellos abfallen. Es gehörte nicht viel Scharfsinn zu dieser Voraussicht. Sie war nichts anderes als ein sehr einfaches Rechenexempel. Für die Preise, die Helene Heilmann ihren Pensionären und Pensionärinnen abfordern musste, um existieren zu können, konnten diese weitaus andere Ansprüche machen. Das war so der Punkt, auf dem sie mit ihrer Lebensführung jetzt angekommen war!

In dem Hause rührte sich nichts. Sie waren alle fortgegangen, gleich nach dem mageren Mittagmahl schon, um den wundervollen Frühlingstag irgendwo draussen zu geniessen. Aus Höflichkeit hatten sie sie aufgefordert, sie zu begleiten. Vermutlich waren sie herzensfroh gewesen, als sie abgelehnt hatte. Helene Heilmann war nicht nach Vergnügungspartien zu Sinn. Ueberdies erwartete sie heute den Herrn mit dem unleserlichen Namen, der sich für gegen Abend bei ihr angesagt hatte. Er berief sich auf die Empfehlung eines jungen Engländers, der früher einmal bei Helene Heilmann gut aufgehoben gewesen war. Sie entsann sich des kleinen schmächtigen, hypereleganten Menschen ganz gut. Hätte er die jetzige Verfassung ihres Pensionats gekannt, er würde es schwerlich empfohlen haben.

Helene sah auf die niemals richtig gehende Uhr an der Wand. Gleich sechs. Ungefähr so würde es ja wohl an der Zeit sein. Gegen sieben hatte der Fremde sich angemeldet.

Sie ging in den Gang hinaus und rief nach dem Mädchen, das hinten in der Küche herumhantierte.

»Emma!«

»Frau Doktorin.«

»Hören Sie mit Abwaschen auf. Sie müssen zu dem Zuge 6 Uhr 45 Minuten an der Bahn sein. Ist das Zimmer für den Herrn in Ordnung?«

Das Mädchen grinste. »In Ordnung schon, Frau Doktorn. Viel Vergnügen wird der Herr an dem engen muffigen Loch aber schwerlich haben.« Damit schlumpte das Mädchen weiter, halbverständliche Worte vor sich hinmurmelnd, die jedenfalls nicht für das Ohr ihrer Herrin bestimmt waren.

Frau Helene sah ihr einen Augenblick resigniert nach, dann trat sie aus dem dumpfigen Zimmer in den Garten zurück. In warmen Wellen drang der Duft von Faulbaum, Flieder und rotblühendem Dorn auf sie ein. Ein Wohlgefühl schlug ihr aus diesem Duft entgegen und legte sich ihr wie etwas Neues, wunderbar Ungekanntes oder doch lang nicht Empfundenes aufs Herz. Einen Augenblick machte sie eine Bewegung, als ob sie all diese berauschende Frühlingspracht meiden und sich wieder hinter die graugrünen Malvenstauden verkriechen wollte, dann aber besann sie sich eines anderen und schritt durch die blühende, duftende Wildnis bis hart an den niedern Staketenzaun. Die Sonne stand Helene gerade gegenüber, im Westen hinter den Kiefern, und ringsum leuchtete es von ihrem Widerschein rotgolden auf. In den kleinen blanken Wassertümpeln auf der Strasse, über der leise aufwogenden Saat der Felder und über dem blonden Haar des frischen jungen Dinges, das drüben hinter der Ligusterhecke stand und mit einem Burschen schäkerte, dem eben der erste dunkle Flaum die Lippe beschattete. Der sanfte, von tausend wunderbar geheimnisvollen Düften geschwängerte Wind, trug abgerissene Laute des Gesprächs bis zu der einsamen Frau hinüber. Sonst war es noch immer totenstill um das graue Haus. Helene Heilmann hatte sich wieder gewendet, um nach Hause zurückzugehen, als plötzlich die Zaunthür ihr im Rücken knarrte. Sie fühlte mehr noch als sie es hörte, dass jemand mit grossen leisen Schritten hinter ihr herkam, dann plötzlich innehielt und dann wieder schneller zuschritt. Sollte der Fremde schon jetzt eingetroffen sein?

Nun blieb Helene stehen und wendete sich um. Ein schlank gewachsener Mann in modischem Reiseanzug stand, mit dem Rücken gegen die untergehende Sonne, vor ihr. Sie selbst war von dem Frühlingsabendrot voll beschienen. Sie sah den Fremden stutzen, näher auf sie zugehen und wieder zurücktreten. Dann sagte er unsicher in reinem Deutsch, aber mit einem leichten fremdländischen Accent, ob er die Ehre habe, vor Frau Helene Heilmann zu stehen. Sie bewegte leicht zustimmend den Kopf; dabei trat plötzlich etwas Fragendes in ihre Augen, und als sie die Antwort nicht gleich fand, ging ein kindlich unbeholfener Zug über ihr Gesicht, der ihr für den Augenblick etwas jugendlich Mädchenhaftes gab. Dann aber erbleichte sie, ihre Züge wurden starr und grau, und zögernd, eine Hand hervorstreckend, stammelte sie abgebrochen: »Ist es –? Sie sind es – Erich Bruns?«

Er nahm eine entgegengestreckte Hand, lächelte etwas krampfhaft und beugte sich darüber, um sie zu küssen, aber seine Lippen weilten kaum eines Hauches Länge darauf. Etwas Hartes, Rauhes schien ihm die Lippen körperlich verletzt zu haben.

Dann gingen sie nebeneinander auf dem verwachsenen Grassteig dem Hause zu. Mühsam zwang er sich zum sprechen. Jedes Wort kostete ihn eine Ueberwindung. Was sollte er ihr sagen? Nun, da es mit einem Schlage ausgelöscht war, konnte er's ihr noch nennen, das heisse Wünschen, das ihn zu ihr getrieben hatte? Durfte er ihr noch von einer lang und treu im Herzen getragenen Liebe sprechen, nun, da diese Liebe gestorben war, am ersten Wiedersehen? Nur Fassung, Fassung, dass er ihr nicht wehe that, dass er einen Grund fand, der ihr sein Kommen glaubhaft machte!

Helene hatte ihren unerwarteten Gast ins Zimmer führen wollen, ein Blick auf seine ausgesucht elegante Kleidung liess sie davon abstehen. Dieser Erich Bruns passte nicht in das schäbige Interieur ihres Pensionats. Die Beschämung, ihn hineinsehen zu lassen in die Misere ihres Daseins, glaubte sie sich wenigstens ersparen zu dürfen. So setzten sie sich auf die Bank zwischen den Fliedersträuchern längs der Hausmauer.

Noch immer wallte und wogte der Frühlingszauber über den verwilderten Garten, flutete das Abendrot über das farblose Antlitz der Frau und das goldige Lockengewirr des Mädchens draussen hinter der Ligusterhecke. Einen Augenblick war Helene aufgestanden, um zu sehen, ob Emma mit dem Gepäck gekommen war. Er hatte ihr nachgestarrt wie betäubt. Wie durch einen grauen verstaubten Schleier sah er die einst so reizende Gestalt, die vormals so schönen Züge. In dem lachenden Frühlingsbild ein grauer, unschöner Fleck! Dann kam sie zurück mit einer kleinen Erfrischung für ihn. Er dankte ihr. Kühle, verständige Worte sprachen sie miteinander, in dem heissen Bemühen, sich nicht ins Herz sehen zu lassen.

Während Erich Bruns mechanisch von seinem Leben jenseits des Oceans erzählte, grübelte er darüber, wie er von Helene loskommen könne, ohne das öde Haus erst betreten zu müssen. Der Boden brannte ihm unter den Füssen. Es that ihm unsagbar weh, sie verletzen zu müssen, aber er konnte nicht anders. Seine gesamte physische Natur bäumte sich gegen die einst Geliebte auf. Vielleicht, wenn's nicht Frühling gewesen wäre! Wenn nicht alles ringsum in schwellender Blütenfülle gestanden, wenn das Mädchen draussen an der Hecke ihren Burschen nicht mit so jungen, durstigen Lippen geküsst hätte!

Er kam sich wie ein Verbrecher vor, aber sein besseres Empfinden kam gegen die zwingenden Impulse nicht auf. Er sprang empor. Er fühlte, dass mit jeder Minute länger, die er mit diesen Empfindungen neben Helene sitzen blieb, er sich schwerer nur an ihr verging. Er hielt ihr die Hand hin, die sie fragend ergriff. Dann stammelte er etwas von einem grossen Missverständnis – von in Berlin übernachten müssen, und einer Nichte, die er ihr hatte anmelden wollen – in den nächsten Tagen – vielleicht morgen schon, würde sie von ihm hören.

Die Zaunthür knarrte. Draussen, zwischen dem Staket tauchte für einen Augenblick eine forteilende Männergestalt auf – dann war er verschwunden.

Helene sank auf die Bank zwischen den Fliederbüschen zurück. Sie legte die Hände vor die Augen. Ein Schauer schüttelte sie. Der Flieder duftete schwer und süss. Die beiden da draussen hingen noch immer Lippe auf Lippe, und über die Wangen der einsamen Frau stürzten heisse, sehnsüchtige Thränen.


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