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Arbeit

Nahezu zwei Monate lang war sie nach Arbeit umhergelaufen. Hier und da hatte sie etwas gefunden, was für ein paar Tage ausreichte und die äusserste Not von der Schwelle gescheucht hatte. Dann waren Tage und Wochen gekommen, in denen der Mann und das Kind – an sich selbst dachte sie schon längst nicht mehr – dem Hunger preisgegeben waren, in denen es am Notwendigsten fehlte, da sie nicht borgen oder gar betteln wollte.

Die Hände über den Knieen zusammengefaltet, herabgebeugten Hauptes sitzt sie in der kahlen Küche, die kein Herdfeuer wärmt, und grübelt. Wie waren sie nur so weit gekommen, Schritt für Schritt, immer bergab, bergab? Mühsam sucht sie in ihrem armen schweren Kopf zusammen, was sich an Gründen und Ursachen finden lassen wollte:

Die Krankheit des Mannes, die ihn nicht nur um die Anstellung gebracht, sondern alles aufgezehrt hatte, was sie in den sieben Jahren ihrer Ehe zurückgelegt hatten, das harte Eingewöhnen in die Entbehrung zuerst, in den Mangel dann! Dazu die schwere Kette die sie mitschleppten, wie einen Fluch: die Bildung von Haus her und die bessere, feinere Gewöhnung. Sie beneidete die Hökerin in dem nassen Keller unten, obgleich ihr Geschäft schlecht genug ging, dass sie die Sprache reden durfte, die ihr natürlich und ihrer armseligen Hantierung angepasst war. Instinktiv fühlte sie, dass ihre eigene höhere Bildung, ihre Manieren, ihre Sprache eine weite Kluft zwischen ihr und der Arbeit rissen, um die sie warb, wie um eine Geliebte. Man traute ihr das Handwerksmässige, die Technik einer einfachen Arbeit nicht zu. Was man keinem halb- oder ungebildeten jungen, frisch zupackenden, robusten Dinge geweigert hätte, der blassen Frau mit dem zagen Sinn, dem leisen, sanften Tonfall der Stimme, der gebildeten Sprechweise, scheute man sich es zu gewähren. Eine Stellung zu suchen, die wirkliches Wissen, gründliche Bildung verlangte, davor warnte sie ihr Gewissen.

Sie hatte gelernt, was man in besseren Mädchenschulen zu lernen pflegt, eine Basis sich angeeignet, die, wenn darauf fortgearbeitet wird, viel, wenn die Anregungen fallen gelassen werden, garnichts bedeutet.

Das war bei ihr der Fall gewesen. Der Vater war froh, als er sie für das Hauswesen wieder daheim gehabt. Er hatte es gern wenn alles um ihn her sich in einem hübschen, gefälligen Gewand darstellte. Das hatte er seit dem frühen Tode der Frau vermisst. Nun sollte es endlich wieder anders werden. Nichts mehr von Büchern und überflüssigem Lernballast. Genug wenn die Wohnung ein nettes, gemütliches Ansehen hatte, wenn der Tisch geschmackvoll hergerichtet, die Speisen appetitlich zubereitet und angerichtet waren, und das schlanke, blonde Töchterchen einfach und tadellos gekleidet, ihres Amtes als Hausfrau zwischen den ab- und zugehenden Gästen waltete. Auf diese Weise wurde, ohne dass der Vater sich darüber jemals klar gewesen wäre, weit über die Verhältnisse gelebt. Als er zwei Jahre nach der Verheiratung der Tochter starb, blieb ein kleiner Schuldenrest, den der Schwiegersohn auf sich nahm.

Die blasse Frau stand auf und rieb mechanisch die halb erstarrten Hände. Was sollte werden? Daneben, in dem einzigen Zimmer hörte sie sprechen, den Mann und das Kind. Sie reckte sich in den Hüften auf. Ihre matten Augen belebten sich wieder. Es half nichts, sie musste aufs neue hinaus, Arbeit zu suchen; sie konnte diese beiden Hilflosen nicht mit in den Schoss gelegten Händen zu Grunde gehen lassen. Auf und ab schritt sie in dem engen Raum, die Stirn vom scharfen Denken in tiefe Falten gezogen. Ehe sie da hineinging zu den beiden, um sich zum Ausgehen zu rüsten, möchte sie sich klar machen, wo sie überhaupt noch anklopfen könne. Der Kopf versagte den Dienst. Sie hatte seit Tagen von dünnem Kaffee und Schwarzbrot gelebt, den beiden da drinnen, denen sie Kartoffeln und Speck und Hering aufgetragen, einredend, dass sie auf ihren Stadtwegen sich auskömmlich ernährt habe. Sie zog ein kleines, abgegriffenes Notizbuch aus ihrem schwarzen Kleiderrock. Fast alles was sie an Angeboten aus den Blättern herausgeschrieben, war schon als erledigt gestrichen. Da waren noch zwei bis drei Posten, zu denen sie sich versuchsweise melden konnte. Im vornherein wusste sie, sie würde dort nicht angenommen werden.

Nebenan war es lebhafter geworden. Sie klinkte die Thür auf.

Der Mann bleich, eingefallen, kurzatmig, sass halb angekleidet im Bett und spielte mit dem Kinde, das in den Polstern zu seinen Füssen sass. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie. Das sollte nicht sein. Der Arzt hatte gewarnt, sie hatte gebeten. Es lag Gefahr für das Kind in der zu grossen körperlichen Nähe des Vaters, selbst wenn er, wie heut ausnahmsweise, nicht hustete. Aber dem Egoismus des Kranken war nicht beizukommen.

Rasch entschlossen liess sie all ihre Pläne fahren, und als ob sie nur zu diesem Zweck ins Zimmer geeilt sei, rief sie: »Komm Annchen, hol Dein Mäntelchen, wir wollen spazieren gehen.«

Das Kind jauchzte hell auf.

Der Mann fing zu klagen an.

»Alle beide wollt Ihr fort?«

Sie fuhr ihm leise mit der Hand über die feuchte Stirn.

»Das Kind muss an die Luft, Rudolf.«

Dann waren sie draussen im Sonnenschein. Es fehlten nur drei Wochen noch bis Weihnachten. In den Strassen der inneren Stadt wogte es von geschäftigen Menschen hin und her. Das Kind liess der Mutter keine Zeit, in die gewohnten trüben Gedanken zu verfallen. Unzähliges gab es zu fragen, und zu beantworten. An jedem Schaufenster musste sie stille stehen. In den meisten hatte der Weihnachtsmann schon sein buntes Lager aufgeschlagen.

Vor einem der grossen, modernen Warenhäuser hatte sich die Woge gestaut. Hinter fünf Riesenscheiben war je eine Sonderausstellung aufgebaut. Die Frau hatte Mühe für Annchen ein Plätzchen zu erobern. Ringsum wurden Ausrufe des Staunens und der Bewunderung laut. Eine vollständige Wohnungseinrichtung in verkleinertem Massstabe war da aufgestellt. Vier Zimmer und eine Küche, alles von modern gekleideten Puppenmännlein, Weiblein und Kindlein bewohnt. Im Esszimmer ein gedeckter Tisch, an dem es hoch herging. Annchen stand mit offenem Mündchen da. Die blasse Frau blickte sinnend auf die geschmacklose, protzige Zusammenstellung der Zimmereinrichtung, auf die bunte, karrikierte Kleidung ihrer Bewohner. Gewohnt, mit dem Kinde manches zu besprechen, das noch weit über seine Jahre ging, machte sie es halblaut auf den Ungeschmack der gesamten Zusammenstellung aufmerksam, diesen und jenen Gegenstand, als im einzelnen schön und nützlich bezeichnend, wenn auch in das Gesamtbild nicht passend. Auch wie die Mutter, der Vater, die Kinder und das Hauspersonal gekleidet sein müssten, um einem guten Hause Ehre zu machen, raunte sie Annchen zu, und dass sie wohl die Tafel einmal nach ihrem Geschmack herrichten möchte. Alte Zeiten stiegen in ihr auf, und lebhafter, als es sonst die Art der stillen Frau war, vertiefte sie sich in ihren Gegenstand. So hatte sie es nicht bemerkt, auch in der sie umgebenden Menge schwer bemerken können, dass schon längere Zeit ein Herr neben ihr stand, der ihr aufmerksam zuhörte und, so oft auch die Gruppen an den Schaufenstern wechselten, unentwegt auf seinem Platze stehen blieb.

Jetzt zog er den Hut und bat sie in einem Tone, den sie nur selten noch zu hören bekam, um die Gefälligkeit, ihm einige Minuten zu schenken. Mit fragender Bestürzung sah sie zu ihm auf. Was konnte er von ihr wollen? Er beruhigte sie. Es sei ihm daran gelegen auf das Gespräch, das sie mit der Kleinen geführt habe, näher einzugehen. Er sei Mitbesitzer des Geschäfts. Ihre Ausführungen, die vielfach mit den seinigen übereinstimmten, hätten ihn frappiert. Sie würde ihm eine grosse Gefälligkeit erweisen, wenn sie ihm mehr darüber mitteilte.

Zögernd folgte sie ihm, Annchen an der Hand, in sein Privatkomptoir. Durch seine sachlichen Fragen, durch sein ehrliches Interesse ermunterte er die schweigsam Gewordene zu neuen Mitteilungen. Am Ende sagte er: »Ich habe meinem Bruder gegenüber, dem das Erreichte genügt, einen schweren Stand. Ich möchte gern weiter, möchte gewerblich erziehlich wirken, unser Lager im Punkt des Geschmacks über das der Konkurrenz erheben, den Bedürfnissen und der Geschmacksrichtung des gediegenen Bürgerstandes anpassen. Wir sind aus kleinen, engen Verhältnissen hervorgegangen. Das Leben hat uns nicht mehr gelehrt als die Tüchtigkeit unseres Standes; der gute Geschmack, die feinere Bildung, das am Schönen geschulte Auge gehen uns ab. Ich fühle das alles, ohne thatsächliche Abhilfe schaffen zu können. Was man so an Hilfskräften bekommt, steht nicht viel über unserem Niveau, eher darunter; aufhelfen könnte da nur jemand, der, wenn ich so sagen darf, eine gute Kinderstube gehabt hat, der gross geworden ist im täglichen Umgang mit einer geschmackvoll-behaglichen Umgebung.«

Er sah die blasse, schlichte Frau mit fragenden, beinahe bittenden Blicken an. Langsam stieg eine feine Röte in ihrem Gesicht, ein Strahl der Hoffnung in ihren Augen auf. Sollte dieser Mann ernsthaft daran denken, eine Hilfskraft dieser Art für sein Geschäft zu suchen? Sollte, was ihre Jugend halb spielend ausgefüllt, jetzt im Ernst Rettung für sie und die Ihren werden? Ein Gefühl von Schwindel erfasste sie; sie musste sich fest an die Lehne des Stuhles klammern, hinter dem sie noch immer stand.

Was er da sah, sagte ihm mehr als Worte. Der Zufall hatte ihm zugeführt, was er lange gesucht hatte. Er ging sehr vorsichtig und taktvoll vor. Trotz ihrer mehr als einfachen Kleidung hatte er auf den ersten Blick gesehen, bei dem ersten Wort gehört, dass er eine Dame vor sich habe. Er fragte sie, ob sie ihm aus ihren Bekanntenkreisen etwa jemand nennen könne, der sich für diese Frage zu interessieren vermöge. Ganz langsam kamen sie sich Schritt vor Schritt entgegen, bis zu ihrer Person. Nach einer halben Stunde war sie für das Geschäft gewonnen, mit einem Gehalt, das die kühnsten Erwartungen, die sie jemals hegte, um das drei- und vierfache überstieg. Die Arbeit, die ihr oblag, würde keine allzu schwere sein. Bei allem, was in die kunstgewerbliche Abteilung schlug, würde sie die Bestellungen und Ankäufe zu überwachen haben, die Zusammen- und Aufstellungen innerhalb des Magazins sowohl, als in den Schaufenstern, würden ihr ausschliessliches Amt sein. Eine Arbeit, vor der sich keine Dame zu scheuen brauchte, eine Arbeit, die nicht nur redlichen Gewinn, sondern zugleich Befriedigung durch sich selbst versprach.

Noch einmal wankte der Boden unter ihren Füssen, noch einmal musste ihre Hand krampfhaft die Lehne des Stuhls umklammern, dann richtete sie sich frei und hoch auf und ging mit ihrem Kinde in den Sonnenschein eines neuen Lebens hinaus.


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