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Anhang.

Aus Dostojewskijs Notizbüchern. Materialien zum Roman »Die Dämonen«

 

Stawrogin (Fürst). (1. Januar 1870.)

Ein Typus, der jenem Sproß des gräflichen Hauses, den Graf Tolstoj in seinem Roman »Kindheit und Jugendjahre« gezeichnet hat, vollkommen entgegengesetzt ist. Das ist einfach eine innerlich vierschrötige Gestalt, die unbewußt von ihrer eigenen typischen Kraft ganz instinktiv beunruhigt wird und schlechterdings nicht weiß, worauf diese zu verankern wäre. Solch ein ursprünglicher Mensch wird oft entweder zu einem Stenka Rasin oder zu einem Danilo Filippowitsch, oder aber er wird allmählich zu einem Sektierer und endet dann entweder bei den Geißelbrüdern oder bei den Skopzen. Diese ungewöhnliche, ursprüngliche, für sie selbst so beschwerliche Kraft sucht und verlangt irgend etwas, was ihr zum Stützpunkt und zur Leitung werden kann; sie weckt qualvolle Sehnsucht nach Ruhe und ist doch außerstande, vor der Zeit (vor der Beruhigung) mit dem Toben aufzuhören. Sie festigt sich und hält schließlich inne bei Christus, – aber das ganze Leben eines mit ihr behafteten Menschen ist Sturm und Unordnung. (Die Masse der Menschen lebt unmittelbar, ruhig und harmonisch. Kaum aber entsteht in ihr eine Bewegung, das heißt einfach ein ausgeprägter Lebensvorgang, als sie sofort diese kraftvollen Gestalten hervorrückt und in den Vordergrund stellt.) Es ist eine unermeßliche Kraft, die sich nach Ruhe sehnt, sich bis zum Schmerz aufregt und sich in der Periode des Wanderns und des Suchens mit Freude in die ungeheuerlichsten Abweichungen und Experimente stürzt, bis auf den Zeitpunkt, da sie sich in einer so starken Idee verankert, die der unmittelbaren, tierischen Kraft solcher Menschen vollkommen proportionell ist, in einer Idee, die so stark ist, daß sie imstande ist, diese Kraft endlich in feste Formen zu fügen und sie zu einer ganz sanften Ruhe zu bringen.

Stawrogin (Fürst)

Überhaupt ein ernsterer Charakter, so daß er sogar Neugier erweckt. Kommt mit Gedanken und Fragen, die ihm um so verblüffender erscheinen, weil sie überhaupt ganz neu sind. Manche halten ihn für einen Nihilisten (die Mutter zum Beispiel), und er gilt überhaupt für einen Verneiner. Nur Gr. sieht, daß er es nicht ist (aber was ist er denn?). Er glaubt, daß er ein eingebildeter Narr ist, wie viele dieser Menschen. Der Fürst lacht immer, das wirkt widerwärtig; Gr. glaubt schließlich, daß der Fürst dem Einflusse W.'s verfallen ist. Mitunter überraschen Gr. sowohl die ernsten als auch die zärtlichen Ausbrüche des Fürsten. Ein außerordentlich ernstes Gespräch. Ein sehr charakteristischer Zug ist, daß der Fürst sehr aufmerksam und unverwandt zuhört. Die Mutter empfindet vor ihm trotzdem stets eine Art Furcht. W. ordnete ihn seinem Einfluß unter (das heißt, es schien ihm dies gelungen zu sein), aber bald wurde es auch dem sorglosen W. klar, daß dies nicht der Fall ist. Übrigens versucht er den Fürsten dennoch (infolge eines Rates und einer Warnung U–ows) in eine Mordgeschichte zu verwickeln. W. ist zwar leichtsinnig und sorglos, legt aber, wenn es gerade sein muß, einen bedeutenden Verstand an den Tag: er bemerkt plötzlich, daß der Fürst trotz seiner Bemühungen mit dem Mord doch nichts zu tun haben will, daß seine ganze Berechnung falsch war, daß der Fürst ihn nur aushorcht, schweigt und beobachtet, und damit nicht genug, sogar Sch.'s Partei ergreift. So beschließt er kurzerhand, den Mord in einer andern Weise auszuführen, wobei er den Fürsten ganz umgeht. Der Verdacht richtet sich trotzdem zum Teil gegen den Fürsten; hier aber nimmt dieser plötzlich die Angelegenheit in seine Hände und enthüllt alles, was ihn betrifft.

Er wird mit einem Schlag der Herr der Situation, er besiegt den U–ow, und jener gesteht. Er geht geradewegs zu dem von seiner Mutter erzogenen Mädchen, zeigt ihm seine ganze tiefe Liebe, stellt aber Bedingungen. Dieses gibt ihm mit Begeisterung das Einverständnis. Neue Menschen, ein erneuertes Leben! Die Götzen zerschlagen, die Schiffe verbrennen! Nötigenfalls ist er sogar bereit, auf seine Erbrechte zu verzichten; aber die Mutter bebt und zittert bereits und gibt nach. Er erschreckt sowohl den Gouverneur als auch den hervorragenden Schriftsteller. Empfindet hochherziges Mitgefühl mit der Schönen, die er schroff und roh wegen einer leichtsinnigen Extravaganz abgewiesen hat. (Anfangs machte er sich über sie lustig; sie hielt ihn für einen Nihilisten und wollte sich ein Spielchen mit ihm erlauben; er ließ sie roh sitzen und war im Unrecht: denn hier lag nicht, wie es ihm anfangs schien, eine Liederlichkeit oder ein Verführungsversuch vor, sondern eine zwar etwas leichtsinnige, aber ruhige und durchaus gewissenhafte Überzeugung.) Er gelangt überhaupt zu der Ansicht, daß es durchaus nicht so leicht ist, ein ehrlicher und besonders ein neuer Mensch zu sein, was er auch dem Zögling seiner Mutter mitteilt, als er zum Schluß seine Bedingungen stellt. »Ich werde nie einer dieser neuen Menschen werden, ich bin zu wenig originell«, sagte er. »Aber ich habe schließlich doch noch einige wertvolle Ideen gefunden und halte an ihnen fest. Was jedoch vor jeder Erneuerung und jeder Auferstehung nottut, ist Selbstbeherrschung.« Und deshalb »brauche ich dich unbedingt, denn du wirst mich durch deine sanfte Stille erretten«. – »Ich,« sagt er, »habe den Nihilismus früher verurteilt und war sein erbitterter Feind, jetzt aber sehe ich, daß die größte Schuld wir selbst tragen, daß am schlimmsten wir sind, wir, die geborenen Herren, die wir entwurzelt sind. Deshalb müssen wir uns vor allen anderen erneuern. Wir sind der schlimmste Fäulnisherd, auf uns lastet der größte Fluch, und nur durch uns ist das alles so gekommen.«

Dem Sch. hörte er wohl zu, fühlte aber aus seinen Worten etwas wie Haß heraus und sah auf ihn deshalb von oben herab. Aber Golubow hört er respektvoll zu.

Glaube und die orthodoxe Lehre.

Stawrogin (Fürst). (7. März)

Der Fürst war ein außerordentlich ausschweifender Mensch und ein sehr hochmütiger Aristokrat. Er hat sich bereits als ein unerbittlicher Feind der Befreiung der Bauern und als deren Unterdrücker eingeführt. Er ist ein Mensch der Idee. Die Idee erfaßt ihn und ergreift die Macht über ihn, aber derart, daß sie nicht so sehr in seinem Kopfe herrscht, als sich in ihm verkörpert. Sie geht in seine Natur über, bringt Leiden und Unruhe mit sich und verlangt, sobald sie von ihm Besitz ergriffen hat, unverzüglich angewandt zu werden. Jetzt, nach seiner Rückkehr in die Stadt, ist vor allen Dingen zu sagen, daß er schon lange nicht mehr dort war. In dieser Zeit haben sich seine Überzeugungen geändert. Das bedeutet für ihn auch eine sofortige Veränderung der ganzen Lebensweise. So kommt er bereits mit dem noch verborgenen Gedanken, wenigstens auf seine Erbrechte zu verzichten und mit allem Früheren zu brechen. Er ist plötzlich ein furchtbarer Skeptiker geworden, der immer nur das Schlimmste annimmt und argwöhnt, was für einen festen Menschen, für den ein Entschluß gleichbedeutend ist mit dem Verbrennen der Schiffe und der sofortigen Ausführung, eine durchaus verständliche Erscheinung ist. In so einem Menschen kann vielleicht, wenn er noch nicht ganz überzeugt ist, vor der Fassung des Entschlusses ein Zweifel aufsteigen; beginnt er aber zu zweifeln, so wird er, der Leidenschaftlichkeit seiner Natur zufolge, von einem bis an Zynismus grenzenden Skeptizismus erfaßt.

Er liebt das im Hause seiner Mutter erzogene Mädchen (aber nicht zu sehr; seine Gefühle entspringen vielmehr seinen angenehmen Erinnerungen an sie aus der Zeit des Aufenthalts im Ausland), und er verzichtet auf sie. Mit der Schönen bricht er. Er sucht seine Überzeugungen bei Sch. und bei Golubow zu festigen. Auch bei W. Er hört sogar auf das, was Gr. sagt. Zum Schluß ergibt sich, daß er sich in den Ideen Golubows verankert und alles andere von sich zurückweist.

Die Idee Golubows besteht in Demut und Selbstbeherrschung und besagt, daß sowohl Gott als auch das Himmelreich in unserem Innern sind, in Selbstbeherrschung. Das gleiche gilt für die Freiheit. Die Begegnung mit Golubow kommt für ihn unerwartet. Als er ihn trifft, ist er erstaunt, entsetzt und ergibt sich ihm dann schrankenlos.

NB. (Auch Sch. entnimmt er vieles, lehnt ihn aber im großen und ganzen ab.)

Das letzte Bildnis des Fürsten. (11. März)

Der Fürst kam, als alles in ihm bereits geklärt war und alle Zweifel sich gelegt hatten. Er ist ein neuer Mensch. Er führt einen Bruch mit zwei Mädchen herbei und beabsichtigt, auch endgültig mit der Mutter zu brechen. Infolge seiner rasenden, aus seinem Innern auslöschlichen Energie geht er wenig aus sich heraus, äußert sich nur selten und sieht auf alles spöttisch und mißtrauisch herab wie ein Mensch, der bereits für sich die endgültige Lösung und die Idee gefunden hat. Bis zur gegebenen Zeit hört er alle an und widerspricht nur sehr wenig. Innerlich macht er sich in einer hochmütigen Art über Gr. lustig; Sch. ist ihm eine schmerzliche Überraschung, er sieht vollkommen klar, daß dieser Mensch in Literatur versunken ist und keinen Ausweg ins richtige Leben finden kann; staunend und interessiert betrachtet er W. und hört ihm auch sehr aufmerksam zu, weil er endlich einmal klar erkennen will, was diesen Leuten eigentlich einen so festen Halt gibt? (NB. Mit W. unterhält er die früheren Beziehungen.) Nur Golubow erschüttert ihn, aber er gesteht ihm enthusiastisch (allerdings recht kurz, nur mit ein paar Worten), daß dies durchaus auch sein eigener Gedanke ist und die von ihm gefundene Überzeugung. Er ist gekommen, um seine in der Stadt begangenen Fehler, die angetanen Kränkungen usw. gutzumachen. Er versöhnt sich mit den Beleidigten, erduldet schweigend die Ohrfeige, verteidigt die Gotteslästerer, macht die Mörder ausfindig und stellt schließlich feierlich seine Bedingungen. Diese bestehen darin, daß er von nun an ganz ein Russe sei, und daß man selbst daran glauben müßte, was er bei Golubow gesagt hatte (daß Rußland und der russische Gedanke die Menschheit erlösen werden). Er betet vor Heiligenbildern usw. Die ganze Zeit, während der er sich in der Stadt aufhält, zeichnet er sich durch eine vollkommen ungehemmte Energie aus, mit der er seine neuen Überzeugungen vertritt. Er setzt dadurch seine Mutter in Verwunderung. Dem Zögling sagt er, daß er sie beobachtet hat und zur Überzeugung gelangt ist, daß er sie liebt und mit ihr neu aufleben wird, wenn sie seine Ansichten teilt. Und dann plötzlich erschießt er sich.

Stawrogin (Fürst) und Schatow

Der Hauptgedanke, an dem der Fürst krankt und mit dem er sich herumträgt, ist der: Wir haben die Orthodoxie; unser Volk ist so groß und herrlich, weil es glaubt und weil es seine orthodoxe Religion hat. Wir Russen sind stark und stärker als alle andern, weil wir unter uns eine ungeheure Menge Menschen haben, die orthodox gläubig sind. Wenn im Volke der Glaube an die Orthodoxie ins Wanken gekommen wäre, dann würde es sofort einer Zersetzung entgegengehen, und zwar genau so, wie das bei den Völkern des Westens bereits der Fall ist (natürlich ist die höhere Schicht unseres Volkes etwas Angeschwemmtes, aus dem Westen Entlehntes, also wie dürres Gras im Feuer und vollkommen unbedeutend), wo der Glaube (Katholizismus, Luthertum, Ketzereien und Verdrehungen des Christentums) verloren gegangen ist, und verloren gehen mußte. Nun die Frage: Wer kann denn gläubig sein? Glaubt jemand von den Allslawen zum Beispiel oder sogar von den Slawophilen? Und schließlich noch eine weitergehende Frage: Ist das Gläubigsein überhaupt möglich? Wenn nicht, wozu denn das Geschrei über die in der Orthodoxie wurzelnde Kraft des russischen Volkes? Das Ganze ist also nur eine Frage der Zeit. Doch liegen die Anfänge der Zersetzung und des Atheismus weiter zurück, bei uns wird das alles später beginnen; aber es ist unausbleiblich und mit der Einführung des Atheismus eng verknüpft. Wenn es aber wirklich unausbleiblich ist, so müßte man es geradezu herbeiwünschen, denn je schneller es geht, desto besser ist es.

(Der Fürst bemerkt plötzlich, daß er zu der Ansicht von W. kommt, derzufolge man am besten täte, wenn man alles verbrennen würde.)

Es ergibt sich also:

1. Daß im täglichen Leben tätig und sachlich vorgehende Menschen, die alle diese Fragen für unwesentlich halten und die Ansicht vertreten, daß man auch ohne deren Lösung leben kann, nichts weiter sind als Pöbel, minderwertig und dürres Gras im Feuer,

2. daß der Kern der Sache in der dringend zu lösenden Frage liegt, ob man gläubig und zugleich zivilisiert, das heißt ein Europäer sein kann? Das heißt, ob man dabei bedingungslos an die Göttlichkeit des Gottessohnes Jesus Christus glauben kann? (Denn der ganze Glaube besteht lediglich darin.)

NB. Auf diese Frage gibt die Zivilisation durch Tatsachen die Antwort, daß es vollkommen unmöglich ist (Renan), sowie auch dadurch, daß sich die Gesellschaft das reine Verständnis Christi nicht erhalten hat. (Katholizismus – Antichrist, die große Hure, während bei den Lutheranern die Molokanensekte den Beweis liefert.)

3. Wenn dem so ist, entsteht die Frage, ob die menschliche Gesellschaft ohne Religion existieren kann (auf der wissenschaftlichen Basis zum Beispiel, Herzen). Die moralischen Grundlagen werden durch Offenbarungen gegeben. Wollte man im Glauben irgend etwas vernichten, so würde die ganze sittliche Grundlage des Christentums zusammenbrechen, weil alles miteinander verbunden und ineinander verflochten ist.

Ist also eine andere, wissenschaftliche Moral möglich?

Wenn nicht, dann ist das russische Volk allein der Hüter der Moral, weil es die Orthodoxie hat.

Wenn aber der orthodoxe Glaube für einen gebildeten und aufgeklärten Menschen unmöglich ist (und in hundert Jahren wird schon mindestens die Hälfte der Bevölkerung Rußlands aufgeklärt und gebildet sein), dann ist es also nichts weiter als Hokuspokus, und die ganze Kraft Rußlands ist nur vorübergehend. Denn wenn sie ewig sein sollte, müßte ihr ein unbeschränkter Glaube an alles zugrunde liegen. Kann man aber glauben?

Also, um sich zu beruhigen, muß man vor allen Dingen und im voraus die Frage lösen, ob man wirklich und allen Ernstes glauben kann.

Darin liegt alles, darin liegt der ganze Knoten des Lebens für das russische Volk, sowie sein ganzes Dasein und seine Bestimmung für die Zukunft.

Wenn aber ein solcher Glaube unmöglich ist, so ist es gar nicht so unverzeihlich, wenn jemand erklärt, daß es das beste sei, wenn man alles verbrennen würde, obwohl die Erfüllung dieser Forderung nicht sofort notwendig ist. Beide Forderungen sind im gleichen Maße von Menschenliebe getragen. (Das langsam ablaufende Leiden und der Tod und das rasch ablaufende Leiden und der Tod. Das Raschere ist natürlich noch menschenfreundlicher.)

Das ist also das Rätsel?

NB. Man kann natürlich der Richtigkeit dieser logischen Schlußfolgerung und der vorher aufgestellten Thesen widersprechen, anderer Ansicht sein und dagegen streiten. So kann zum Beispiel von der gelehrten rechten Seite behauptet werden, daß das Christentum nicht in der Form des lutherischen Glaubens untergehen wird, das heißt nicht dann, wenn man Christus nur für einen einfachen Menschen und einen segensreichen Philosophen halten wird (und dahin führt doch schließlich das Luthertum). Oder es kann von der linken Seite, wie auch jetzt schon geschieht, die Behauptung aufgestellt werden, daß das Christentum der Menschheit gar nicht so notwendig und ihm gar nicht ein Quell des lebendigen Lebens sei (die ganz Eifrigen schreien sogar, daß das Christentum nur schädliche Wirkung habe) und daß die Wissenschaft zum Beispiel sehr wohl imstande sei, der Menschheit ein lebendiges Leben und das vollkommenste sittliche Ideal zu geben. Alle diese Streitigkeiten sind durchaus möglich; die Welt ist voll davon und wird noch lange voll davon bleiben. Aber wir beide, Sie, Schatow, und ich, wissen doch, daß dies alles nichts weiter als Unsinn ist, daß Christus, als Mensch aufgefaßt, nicht mehr ein Erlöser und ein Quell des lebendigen Lebens sein kann. Wir wissen, daß die Wissenschaft nie in der Lage sein wird, das menschliche Ideal ganz auszufüllen, wir wissen, daß die Ruhe und die Erlösung von der Verzweiflung dem Menschen ein Lebensquell sind, und daß die Bedingung sine qua non für das Bestehen der ganzen Welt in den Worten eingeschlossen ist, die da lauten: » Und das Wort wurde Fleisch, und der Glaube an diese Worte.« Früher oder später werden alle darin übereinkommen und damit also ist der Kern der ganzen Frage wiederum nur: Kann man wirklich alles das glauben, was die orthodoxe Lehre zu glauben befiehlt? Wenn nicht, so gebietet schon die Menschenliebe, und es ist auch das beste – alles zu verbrennen und sich Werchowenskij anzuschließen.

Stawrogin (Fürst) und Schatow

Fürst. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß diese Fragen unermeßlich wichtiger sind, als man auf den ersten Blick annimmt, obwohl auch das sehr alte Neue in ihnen darin liegt, daß wir beide ihre unermeßliche Wichtigkeit und die unbedingte Notwendigkeit ihrer Lösung durchaus anerkannt haben.«

»Ach! Wozu wollen wir das im voraus entscheiden,« rief Schatow »auf tausend Jahre im voraus!« (Er meinte die langsame Zersetzung.) »Lassen Sie uns in der Gegenwart leben, das heute notwendige Werk tun und nicht daran zweifeln, daß Gott uns in der Folge helfen wird.«

»Versuch einer, damit auszukommen!« sagte der Fürst, lachte auf und ging hinaus.

Stawrogin (Fürst) und Schatow

»W. ist gerade deshalb so ruhig,« sagt der Fürst, »weil er wirklich glaubt, das Christentum sei nicht nur für das lebendige Leben der Menschheit entbehrlich, sondern es sei bestimmt sogar schädlich. Er ist überzeugt, daß mit der Ausrottung des Christentums die Menschheit sofort zum neuen, wirklichen Leben erwachen wird. Darin besteht die ungeheuerliche Kraft dieser Menschen. Der Westen wird mit ihnen nicht fertig werden. Sie werden sehen, daß dort noch alles viel früher zugrunde gehen wird als bei uns.«

»Und was dann?«

»Eine tote Maschine, die natürlich nicht zu verwirklichen ist, aber ... doch verwirklicht werden kann, denn es ist durchaus möglich, die ganze Welt im Laufe von einigen Jahrhunderten derart abzutöten, daß sie vor Verzweiflung sich vielleicht tatsächlich danach sehnen wird, tot zu sein. ›Fallet über uns, Berge, und erdrücket uns.‹ Und so wird es auch werden. (Wenn die Mittel, die ihnen zum Beispiel die Wissenschaft geben wird, sich für die allgemeine Ernährung als ungenügend herausstellen werden, und wenn es eng werden wird auf der Erde, dann wird man die Neugeborenen in den ... werfen oder verspeisen. Es soll mich gar nicht wundern, wenn sowohl das eine als auch das andere eintrifft. So muß es kommen, besonders, wenn die Wissenschaft es verlangen wird.)«

»Rollen Sie das Bild deutlicher auf«, sagt Schatow.

»Wenn es so weit kommt, daß die Nahrung nicht ausreicht und daß keine Wissenschaft weder neue Nahrung, noch Heizmaterial herbeischaffen kann und die Zahl der Menschen sehr groß wird, dann dürfte nichts anderes übrigbleiben, als der weiteren Vermehrung Einhalt zu gebieten. Die Wissenschaft sagt: ›Du trägst keine Schuld daran, daß die Natur es so eingerichtet hat.‹ Da aber vor allen Dingen und in erster Linie der Selbsterhaltungstrieb das Wort hat, so wird man eben zur Verbrennung der Neugeborenen schreiten müssen. Das ist die Moral der Wissenschaft. Maltus hatte gar nicht so unrecht, denn es fehlte ihm an der nötigen Zeit, um Erfahrungen zu sammeln und ein Experiment zu machen. Überlegen Sie sich nur das Weitere und sagen Sie selbst, ob Europa in der Lage sein wird, eine Bevölkerung ohne Nahrung und ohne Heizmaterial zu ertragen? Und wird denn die Wissenschaft rechtzeitig helfen, selbst wenn sie in der Lage dazu wäre? Das Verbrennen der Neugeborenen wird allmählich zur Gewohnheit werden, denn alle sittlichen Grundlagen des Menschen, der lediglich auf seine eigene Kraft gestellt ist, sind nur bedingt. Der Wilde im Norden Amerikas skalpiert seine Feinde, während wir es vorläufig für gräßlich und widerwärtig halten (obwohl wir zu gleicher Zeit eine Menge Taten begehen, die vielleicht durchaus nicht besser sind und die wir trotzdem als tugendhaft betrachten). Jetzt sehen Sie mal her: wenn Sie glauben, daß das Christentum eine Notwendigkeit ist und (ein Geschenk) ein Segen Gottes, den der Mensch allein niemals erreicht hätte; wenn Sie glauben, daß der Mensch von Anbeginn seines Bestehens in unmittelbarer Verbindung mit Gott, stand, anfangs durch Offenbarungen und dann durch das Wunder des Erscheinens Christi; wenn Sie schließlich glauben, daß der Mensch auf sich selbst gestellt und vereinsamt zugrunde gegangen wäre und daß also schon deshalb zu glauben sei, daß Gott in unmittelbarer Verbindung mit der Menschheit stand, – dann werden Sie, indem Sie sich dem Christentum ergeben, sich niemals mit dem Gedanken an die Verbrennung der Neugeborenen versöhnen können. Und daraus folgt also eine vollkommen andere Moral. Also hat das Christentum allein das lebendige Wasser in sich und ist nur allein imstande, den Menschen an die Quellen lebendiger Wasser zu führen und ihn dadurch vor der Auflösung zu bewahren. Ohne Christentum aber wird das Menschentum zerfallen und verfaulen.

Also kann man sowohl an das eine als auch an das andere glauben. Die ganze Frage geht demzufolge dahin, was wohl das Richtigere ist und wo sich die Quellen des lebendigen Wassers befinden. Meiner Ansicht nach wird die Wissenschaft allein, indem sie zur Gleichgültigkeit den Neugeborenen gegenüber führt, die Menschheit erstarren und verwildern lassen, so daß es schon besser ist, zu brennen als zu sterben. Andererseits aber glaube ich fest daran, daß das Christentum die Menschheit erlösen und retten könnte.«

Schatow. »Wie, wie?«

Fürst. »Das Christentum vereinigt in sich alle Bedingungen der Erlösung, der Sklaverei und der Freiheiten. Wenn man annehmen wollte, daß alle Heilande seien, wäre dann der Pauperismus möglich? Im Christentum wäre selbst ein Mangel an Nahrungen und Heizmaterial erträglich (man kann die Tötung der Neugeborenen ablehnen und selbst für seinen Nächsten sterben).«

Schatow. »Wenn dem so ist, worin besteht denn die Frage?«

Fürst. »Immer noch darin, ob es einem zivilisierten Menschen möglich ist, zu glauben.

Nur seiner Leichtsinnigkeit zufolge stellt der Mensch diese Frage nicht in den Vordergrund. Übrigens gibt es viele, die sich auch darum kümmern und darüber schreiben und sprechen. Wir machen uns, unserer Leichtsinnigkeit zufolge und wohl auch aus Ärger nur über die alltäglichsten Fragen Sorgen und glauben, daß dies auch alles sei, was wirklich nottut. Andere errichten sich wiederum allerlei Verdauungsphilosophien, die besagen, daß das Christentum sehr wohl mit dem Gang der Zivilisation zu vereinbaren sei und nicht nur mit dem jetzigen Gang, sondern in alle Ewigkeit. Aber wir beide wissen doch, daß dies alles Unsinn ist, und daß es nur zwei Möglichkeiten gibt: entweder glauben oder brennen. W. hat sich für das letztere entschieden und ist stark und ruhig. Ich beobachte ihn jetzt nur und möchte ausfindig machen, was in seiner Kraft aus der Überzeugung stammt und was einfach angeboren ist.«

Stawrogin (Fürst) und Schatow

Schatow. »Wenn der Mensch sich verändern wird, wie wird er dann verständig leben können? Der Besitz eines Verstandes entspricht nur dem jetzigen Organismus.«

Fürst. »Woher wissen Sie, daß der jetzige Verstand notwendig sein wird?«

Schatow. »Was wird denn sein? Natürlich etwas Höheres?«

Fürst. »Selbstverständlich etwas Höheres.«

Schatow. »Ja, gibt es denn etwas Höheres als den Verstand?«

Fürst. »Der Wissenschaft zufolge wohl nicht. Aber hier kriecht bei Ihnen eine Wanze. Die Wissenschaft weiß, daß dies ein Organismus ist, der irgendein Leben lebt, Empfindungen und sogar eine gewisse Kombinationsgabe und weiß Gott noch was alles hat. Ist aber die Wissenschaft in der Lage, mir das Wesen des Lebens, der Empfindungen und der Kombinationsgabe dieser Wanze zu erklären? Nein, das kann sie nie. Um das zu erfahren, muß man selbst für einen Augenblick eine Wanze werden. Wenn die Wissenschaft es nicht vermag, so bin ich berechtigt, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß sie auch außerstande ist, die Wesenheit eines anderen Organismus oder eines anderen Lebens wiederzugeben. Und folglich auch nicht den Zustand des Menschen bei der Degeneration im Millenium, selbst wenn es zu der Zeit überhaupt keinen Verstand mehr geben sollte.«

Stawrogin (Fürst) und Schatow

»Sie haben mich ganz schwindlig gemacht,« sagt Schatow, »aber ich werde von Ihnen nicht ablassen.«

Fürst. »Ich verstehe nicht, warum Sie den Besitz des Verstandes, das heißt des Bewußtseins, als die höchstmögliche Form des Daseins betrachten? Meiner Meinung nach hat das nichts mehr mit der Wissenschaft zu tun, das ist bereits ein Glaube und, wenn Sie wollen, so liegt hier ein Hokuspokus der Natur vor, denn der Mensch muß sich im ganzen, das heißt in der Menschheit, hochschätzen, und das ist lediglich zu seiner Erhaltung notwendig. Ein jedes Geschöpf muß sich für das Allerhöchste halten. Eine Wanze zum Beispiel hält sich selbst bestimmt für höher als Sie und würde sicherlich kein Mensch werden wollen, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte; sie wäre lieber eine Wanze geblieben. Die Wanze ist ein Geheimnis, und überall stecken Geheimnisse. Weshalb verneinen Sie denn die andern Geheimnisse? Merken Sie sich noch, daß der Unglaube dem Menschen vielleicht nur deshalb so sehr liegt, weil er seinen Verstand über alles stellt. Da aber der Verstand nur dem menschlichen Organismus eigen ist, so versteht er nicht, daß es noch eine andere Form vom Leben geben kann, ein Leben nach dem Tode also, und glaubt auch nicht, daß dieses Leben höher ist. Andererseits ist dem Menschen schon seiner Natur nach das Fluchen und das Verzweifeln eigen, denn der Verstand eines Menschen ist dergestalt eingerichtet, daß er alle Augenblicke den Glauben an sich verliert, in sich selbst keine Befriedigung findet und daher geneigt ist, sein Dasein für unzureichend zu halten. Daraus ergibt sich die Neigung zum Glauben an ein Leben nach dem Tode. Wir sind allem Anschein nach Geschöpfe der Übergangszeit, und unsere Existenz auf der Erde ist offenbar ein Prozeß von der Art der ununterbrochenen Existenz einer Puppe, die sich in einen Schmetterling verwandelt. Besinnen Sie sich auf die Redensart: ›Ein Engel fällt nie, der Teufel aber ist so sehr gefallen, daß er immer liegt‹ ...? Der Mensch fällt und steht wieder auf. Ich glaube, die Menschen gestalten sich allmählich zu Engeln oder zu Teufeln. Es wird behauptet, daß eine ewige Strafe ungerecht sei, und die französische Verdauungsphilosophie hat ausgeklügelt, daß allen einmal verziehen wird. Aber das irdische Leben ist doch nur ein Prozeß der Umgestaltung. Wer ist schuld daran, daß Sie als Teufel wiedergeboren sind. Natürlich wird alles gewogen werden. Aber das ist doch eine Tatsache, ein Ergebnis, genau so wie alles auf der Welt, jede Gestalt und jedes Ereignis nur andern Gestalten und andern Ereignissen entspringt. Vergessen Sie auch nicht, daß es keine Zeit mehr geben wird, wie der Engel geschworen hat. Merken Sie sich außerdem, daß die Teufel – wissen. Also haben auch die Gestalten aus dem Jenseits ein Bewußtsein und ein Gedächtnis, die allerdings vielleicht übermenschlich sind, aber der Mensch verfügt doch nicht allein über diese Eigenschaften. Man kann nicht sterben. Ein Dasein gibt es, aber ein Nichtsein gibt es überhaupt nicht.«

Stawrogin (Fürst) und Schatow

Schatow. »Solcher Gespräche wie das unsrige werden in Rußland eine Unmenge geführt. Wie, wenn Sie sich nur über mich lustig machen?«

»Was könnte schon dabei sein?« erwiderte der Fürst lachend.

Schatow. »Ich glaube es nicht. Ein Mensch, der die Orthodoxie als Rußlands Wesen erkannt hat, und zwar so stark wie Sie, kann sich nicht über einen anderen lustig machen.«

Fürst. »Tue ich auch nicht.«

Schatow. »Wirklich nicht? Ich bin ein Mensch, der sein Leben aus Büchern geschöpft hat. Ich möchte nicht so sein, ich möchte anders werden. Was muß ich dazu tun?«

Fürst. »Werden Sie gläubig.«

Schatow. »An was soll ich denn glauben? An die Orthodoxie und an Rußland?«

Fürst. »Ja.«

Schatow. »Ja, natürlich, darin liegt eine Rettung. Ich ... Es scheint mir, daß ich glaube. Warum schweigen Sie denn?«

Fürst. »Also glauben Sie nicht.«

Schatow. »Und Sie?«

Fürst. »Da muß ich Sie wieder fragen: Wozu brauchen Sie mich?«

Schatow. »Verstehen wir uns denn wirklich schon nach zwei Worten?«

Fürst. »Leben Sie wohl! Ich werde nie wieder zu Ihnen kommen. Und erlauben Sie mir, Ihnen etwas im voraus zu sagen, Schatow: Sie riefen soeben: ›Ich werde von Ihnen nicht ablassen!‹ Ich wünsche das durchaus nicht, sondern will vielmehr, daß Sie mich vollkommen in Ruhe lassen. Ich meine es allen Ernstes. Ich habe meine Gründe dafür. Ich werde nie wieder zu Ihnen kommen.«

Stepan Trofimowitsch Werchowenskij (Gr.) und Schatow

Gr. sagt:

»Vom Werk zum Kartenspiel, vom Kartenspiel zur Feder,
Der Ebbe und der Flut sind Stunden festgesetzt.«

Schatow fällt ihm sofort ins Wort: »Tschazkij war ein beschränkter Narr und wußte gar nicht, wie dumm er war, als er das sprach. Er schreit: ›Den Wagen mir, den Wagen!‹ und ist entrüstet, weil er nicht imstande ist einzusehen, daß man selbst in dem damaligen Moskau die Zeit durchaus anders verbringen konnte als nur ›vom Werk zum Kartenspiel, vom Kartenspiel zur Feder‹. Er war ein vornehmer Herr und ein Gutsbesitzer, und über seinen Kreis hinaus existierte für ihn überhaupt nichts mehr. Deshalb ist er auch so verzweifelt über die Lebensweise der Moskauer höheren Kreise, wie wenn es in Rußland außer dieser Art von Leben nichts weiter gäbe. Das russische Volk hat er einfach übersehen, wie alle unsere fortschrittlichen Männer. Je fortschrittlicher jemand ist, um so mehr übersieht er auch. Je mehr einer zu den Vornehmen und Fortschrittlichen gehört, um so mehr haßt er auch, und nicht etwa die russischen Einrichtungen, sondern das russische Volk. Von dem russischen Volk, von seinem Glauben, von seiner Geschichte, von seinen Sitten und Bräuchen und von seiner zahlenmäßigen Größe dachte Tschazkij nur wie von einer Einnahmequelle durch die Abgaben der Bauern. Genau so dachten auch die Dekabristen, die Dichter, die Professoren, die Liberalen und alle Reformatoren bis zum Zaren Alexander II., dem Befreier.

Tschazkij hat aus dem Volke die Zinsen und Abgaben gezogen, um mit diesem Geld in Paris zu leben, um dort Cousin hören zu können und um später einmal mit dem Tschaadajewschen oder Gagarinschen Katholizismus, oder wenn er ein Freidenker ist, mit dem Haß Belinskijs und tutti quanti zu Rußland abzuschließen. Das Schlimmste ist aber, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, daß es in Rußland noch eine andere Welt geben konnte als die Moskauer, weil er eben selbst ein Moskauer vornehmer Herr und ein Gutsbesitzer war. Und um wieviel klüger als er waren doch diese Moskauer Hohlköpfe, die da Karten spielten. Aber mag er auch dumm sein, er hat wenigstens ein gutes Herz. Mag er auch beschränkt sein, dafür war doch wenigstens sein Gedanke originell. Aber Sie, welch ein Bild bieten Sie, da Sie diese Worte jetzt nachsprechen? Oh, wenn Sie nur wüßten, wie sehr Sie hinter diesen damaligen Moskauern zurückgeblieben sind, die nur ihren Dienst taten und Karten spielten. Und Sie halten sich doch für einen fortschrittlichen Menschen! Wer schon in die offiziellen Formen des Fortschrittlertums hineingeraten ist, der ist rückständig. Die Form des Liberalismus muß immer originell und mit jeder Generation neu sein. Ich spreche nicht von dem Wesen, sondern nur von der Form. Der Liberalismus, der schließlich zur Antinationalität und zu einem persönlichen Haß gegen Rußland gelangt ist, ist nichts weiter als ein Stillstand und eine Verwirrung. Sie aber verstehen es nicht, Sie halten es für den Kern des Fortschrittlichen und Erhabenen.

Vergessen Sie auch nicht, daß der Zar das Volk befreit hat und nicht Sie. Herrgott, gerade Ihresgleichen haben nie verstanden, daß die Zaren unvergleichlich liberaler und fortschrittlicher waren, weil sie stets mit dem Volk zusammengegangen sind, selbst zu Birons Zeiten. Dieser Gedanke ist bei den Zaren schon längst vorhanden gewesen, während er dem Tschazkij gar nicht in den Kopf kam. Solche Leute wie er wurden zu jener Zeit im Gegenteil sogar wegen ihrer grausamen Behandlung der Bauern entmündigt. Weshalb waren sie aber so grausam? Waren sie etwa so bösartig? Durchaus nicht, nein, sie waren nur außerstande, Rußland gegenüber einen originelleren Standpunkt einzunehmen, weil sie ihre Moskauer Gesellschaft für ganz Rußland hielten ... Ich möchte wetten, daß die Dekabristen sofort die Bauern befreit hätten, aber sie würden ihnen sicherlich kein Land gegeben haben, wofür ihnen das Volk ebenso sicher den Hals umgedreht und ihnen zu ihrer größten Verwunderung damit bewiesen hätte, daß Rußland durchaus nicht aus ihrer Moskauer Gesellschaft besteht. Aber was würde es schon ausmachen? Auch ohne ihre Köpfe hätten sie nichts verstanden, obwohl es gerade die Köpfe waren, die sie am Verstehen am meisten hinderten. Nein, das ist eine Spaltung! Seit Peter dem Großen haben wir zwei Spaltungen gehabt, eine in den höheren und eine in den unteren Bevölkerungsschichten.«

Stepan Trofimowitsch und Schatow

»Sie, die Sie alle Christus und Gott verneinen, haben gar nicht darüber nachgedacht, wie alles in der Welt ohne Christus schmutzig und sündig werden wird. Sie verurteilen Christus und machen sich über Gott lustig, aber was bieten Sie denn selbst für Beispiele, Sie, die Sie so kleinlich, verdorben, habgierig und ehrgeizig sind. Indem Sie Christus abschaffen, nehmen Sie der Menschheit auch das unerreichbare Ideal des Schönen und Guten. Was wollen Sie denn an seine Stelle setzen, was von gleicher Kraft wäre?«

Gr. »Na, darüber läßt sich noch streiten, aber wer hindert Sie denn daran, Christus als Ideal der Vollkommenheit und der sichtlichen Schönheit zu verehren, ohne gleichzeitig zu glauben, daß er ein Gott ist?«

Schatow. »Sie meinen also, daß ich nicht zu glauben brauche, an ›das Wort ward Fleisch‹, und nicht glauben soll, daß das Ideal verkörpert war und demzufolge für die Menschheit nicht unerreichbar ist. Ja, kann denn die Menschheit ohne diesen tröstlichen Gedanken auskommen? Christus war ja nur deshalb in die Welt gekommen, damit der Mensch begreife, daß auch seine irdische Natur und auch der menschliche Geist tatsächlich in einem so himmlischen Glanze und wirklich verkörpert erscheinen kann und nicht nur allein im Ideal in der Form eines Zukunftstraumes. Christus wollte zeigen, daß dies sowohl natürlich als auch möglich ist. Die Nachfolger Christi, die diesen durchgeistigten und durchstrahlten Körper vergötterten, haben in furchtbarsten Qualen ein Zeugnis dafür abgelegt, welch ein Glück es ist, diesen Leib in sich zu tragen, der Vollkommenheit dieses Bildes zu folgen und an den Vermenschlichten zu glauben. Andere aber, die da sahen, welche Glückseligkeit dieser Leib verleiht, sobald der Mensch sich Ihm anzuschließen und Seine Schönheit wirklich nachzuahmen begann, wunderten sich, gerieten in Erstaunen und endigten damit, daß sie selbst dieses Glücks teilhaftig werden wollten, zu Christen wurden und sich dann auf die Marterqualen bereits freuten. Das Ganze liegt hier eben darin, daß das Wort wirklich ›Fleisch ward‹. Darin ist der ganze Glaube und der ganze Trost der Menschheit, auf den sie nicht verzichten wird. Aber gerade das wollen Sie ihr nehmen. Übrigens dürfen Sie es ruhig tun, wenn Sie nur etwas Besseres als Christus vorzuweisen haben. Weisen Sie es nur vor!«

Schatow

Gr. sagt: »Immerhin muß man sich aber über das außerordentliche Maß von Dummheit wundern, das in Rußland enthalten ist.«

Fürst. »Aber das sind ja alles grüne Burschen, die mit ihrer Bildung nicht fertig sind und die weder von der menschlichen Gesellschaft noch von dem Volke irgend etwas verstehen.«

Gr. »Die sich aber so großer Unterstützung erfreuen und stets neue Unterstützung finden und zu denen so viele grüne Burschen und Mädels kommen, die zwar grün sind, immerhin aber nicht zehn, sondern zwanzig und sogar mehr Jahre zählen. In diesem Alter ist ein solches Maß von Dummheit bereits unverzeihlich.«

Schatow. »Ich bitte Sie, sind denn in unserer gebildeten Gesellschaft nicht alle, selbst wenn sie sechzig Jahre sind, ebenso dumm? Ganze Zeitungen und Zeitschriften, ernste Menschen, sogar einige Professoren und höhere Vorgesetzte vertreten den Gedanken der Zersplitterung Rußlands und der Entfremdung unserer Randgebiete. Ist denn das nicht ebenso dumm?

Sie haben doch selbst, glaube ich, erzählt, wie die Literaten und die literarisch angehauchten Herren zusammen mit Belinskij darüber diskutiert haben, wie dies und jenes in der zukünftigen Gesellschaft sein werde. Alles das stammt von Ihnen, das heißt, es hat gerade zu Ihrer Zeit den Anfang genommen. Waren Sie etwa klüger? Ist denn dieser Gedanke, demzufolge alle Völker des Westens national sein müssen, und wofür ihnen alle gebührende Achtung zukommt und einem jeden mit Ehrfurcht die ganze Besonderheit der Entwicklung zugestanden werden soll, während das russische Volk keineswegs es selbst sein darf, wobei sogar in der Theorie keine russischen besonderen Eigenheiten zugegeben werden, – ist denn, dieser Gedanke nicht viel dümmer als alles das, was jene grünen Jungen in ihren Flugblättern über die Gewerkschaften schreiben? Diese Flugblätter und alles, was drum und dran ist, gründen sich ja in Wirklichkeit eigentlich nur auf Ihre Argumente, das alles haben Sie eingebrockt, das Fundament des Ganzen ist die Unkenntnis und die Ablehnung Rußlands, und das haben gerade Sie gepredigt! Was aber diese grünen Jungen anbetrifft, so stellen sie sich selbst, schon durch ihr Aktionsprogramm, auf den Kriegsfuß mit der Gesellschaft und dürfen sich gar nicht beklagen und wundern, daß die Gesellschaft sie jetzt vernichten wird. Sie sagen, daß sie vor moralischen Pedanterien keinen Halt machen und morden und brennen werden; folglich kann man auch mit ihnen genau so umgehen. Sie wollen dem Volke, nachdem sie die ganze Regierung umgebracht haben werden, nur einige Tage Zeit lassen, damit ein jeder sein ganzes Vermögen zu ihnen bringt, für immer darauf verzichtet und Mitglied einer Genossenschaft und ein Handwerker, ein Schuster wird. Also dürfen alle, die es nicht wollen, mit ihnen genau so ungeniert umspringen.«

Schatow

Schatow sagt in der Sitzung: »Ich schäme mich, meinen Namen unter ein solches Programm zu setzen.« (Einige Tage und dann müssen alle zu Schustern werden.) »Zehnjährige Jungen würden klüger sein. Der Ton Ihres Programms besagt, daß Sie fest davon überzeugt sind, daß alle sich durch Ihren Schneid verführen lassen werden, ihre Frauen, Kinder, Habe und Kirchen von sich werfen und sich Ihnen anzuschließen, um zu plündern, zu morden und zu brennen. Aus Ihren Worten geht deutlich hervor, daß Sie vollkommen davon überzeugt sind, daß das Volk den Zaren haßt und nur auf den Augenblick wartet, um alles Eigene im Stiche zu lassen und sich Ihnen anzuschließen. Ihre Überzeugung ist so fest, daß Sie bereits mit ruhigem Herzen begonnen haben, Ihre Plünder-, Mord- und Brandpläne in die Tat umzusetzen. Sie sind so sehr grüne Jungen, daß Sie, abgesehen von allem andern, sogar den einfachen Stolz in den Menschen nicht ahnen, da Sie doch annehmen, daß das Volk alles verlassen und Ihnen, so grünen Jungen, nachlaufen wird. Sie sind so hohl und dumm, daß Sie vollkommen überzeugt sind, es sei Ihnen gelungen, irgendeine sehr große Entdeckung zu machen, wobei sie gar nicht darüber nachdenken, daß die Menschheit schon längst dahintergekommen wäre, wenn es sich wirklich um eine Wahrheit handeln würde, und nicht tausend Jahre lang gelitten hätte, um auf Sie zu warten. Sie schämen sich gar nicht, so zu lügen, wie Sie es in Ihren Flugblättern tatsächlich tun, und stellen außerordentlich naiv die Behauptung auf, daß dies lediglich ein jesuitischer Kunstgriff sei. Sie sagen, daß die Jesuiten sehr geschickte Menschen gewesen sind und daß sie ebenso vorgehen werden. Dabei ahnen Sie gar nicht, daß jede Lüge und jede Verdrehung der Tatsachen sehr bald ihre Aufklärung finden und daß dann gleich nach Eintritt dieses Falles die Gesellschaft klar erkennen wird, daß Sie absichtlich Lügen verbreiten, und Ihnen dann natürlich die Gefolgschaft versagt. Wie grüne Jungen hegen Sie die Überzeugung, daß Schwindeln durchaus nicht schaden kann und daß im Gegenteil alle sich gerade durch Ihre Lügen und durch die Art, wie Sie diese vorbringen, verführen lassen und alles, was bisher für heilig galt, alles, was bisher geliebt wurde, von sich werfen werden: ihre Frauen, ihre Kinder, Gott, die Ordnung und die Wohlanständigkeit, und einzig und allein deshalb, weil Sie morden und brennen, – ohne zu wissen warum. – Sie schämten sich nicht, niederzuschreiben, daß Sie einem Volke von achtzig Millionen nur einige Tage Frist geben, in deren Verlauf es Ihnen seine Habe ausliefern, seine Kinder verlassen und die Kirchen schänden soll, um in Genossenschaften einzutreten und zu Schustern zu werden. Sie sind überzeugt, daß alle die Kirchen hassen, die Ehe als lästig empfinden und sich nur nach Palästen aus Aluminium sehnen, in denen man tanzen und gemeinsame Männer und Frauen in besondere Zimmer führen können wird. Sie sind gar nicht auf die Vermutung gekommen, daß eine solche Auslegung der Angelegenheit, die tatsächlich an Spielsachen erinnert, Sie gleich ohne weiteres als grüne Jungen entlarven wird, als grüne Jungen, die man empfindlich mit Ruten züchtigen müßte, und Sie empfinden so wenig Achtung vor der Gesellschaft, daß Sie sich gar keine Mühe genommen haben, selbst den Wortlaut Ihres Flugblatts etwas sorgfältiger aufzusetzen. Das Publikum wird sofort einsehen, daß bei Ihnen alles gar zu spielzeugmäßig ist, da doch Rußland Ihrer Ansicht nach in einigen Tagen alles von sich werfen und sich vollkommen verwandeln soll, und dieses Publikum wird über Ihre Dummheit staunen; gleichzeitig aber wird es einsehen, daß Sie auch Übeltäter sind und wird Sie als schädliche Verrückte beseitigen, und zwar ohne Gnade. Aber leider sind auch alle nicht viel klüger als Sie, und das alles kam nur daher, weil man entwurzelt war und nicht sein eigenes, sondern ein fremdes Leben gelebt hat, und zwar unter einer ständigen Aufsicht.«

Schatow

»Es gibt in diesem unter Aufsicht verbrachten Leben sehr wenig des Guten, um es zu verteidigen. Es hat sich viel Leichtsinnigkeit und Liederlichkeit angehäuft. Würden wir auf unser Leben Mühe verwendet haben, hätten wir es in Arbeit verlebt, selbständig, im Kampf und in Qualen und vor allen Dingen mit Mühe, vor allen Dingen in Arbeit, und nicht nur unter behördlicher Vormundschaft, dann hätten wir uns Tatsachen erworben, es würde sich bei uns viel Erlebtes angehäuft haben, viele Erinnerungen und viele Überlieferungen von dem Kampf und von der mühevollen Arbeit. Und dies Erlebte und Erduldete wäre uns allen teuer gewesen, genau so wie die Erinnerung an die wirkenden Männer der Vergangenheit, und so würden wir auch die Führer der Gegenwart hochschätzen, die dann wirklich einen Einfluß auf alle hätten, so daß die Gesellschaft nicht so leichtsinnig wie jetzt auf den Ruf dummer, verdorbener, seelenloser grüner Jungen antworten würde. Eine Lektion! Deutsche Vormundschaft! Mein Gott, was für eine Lehre! Es gibt kein solches Volk, keine solche Nation in ganz Europa, die nicht imstande wäre, sich selbst durch eigene Kraft zu erhalten, selbst auf dem Höhepunkt der Revolution. Denn schon auf den Barrikaden wird vor allen Dingen nach Ordnung verlangt, und allen Dieben, Übeltätern und Brandstiftern mit dem Tode gedroht! Sie aber, Sie glauben bei uns, bei einem achtzig Millionen starken Volke durch den Köder der Brandstiftungen, der Morde und der Zarenmorde eine Sympathie mit Ihnen hervorrufen zu können. Also schätzt wohl diese Gesellschaft schlechterdings nichts aus dem bereits verlebten Leben, und sie hat sich wohl außerordentlich gut unter der Vormundschaft der Behörden gefühlt! So entartet sind Sie schon! Und Sie, Sie haben sich bis jetzt eingebildet, daß unser Volk Sie nicht gänzlich, nicht vollkommen ablehnt! Versuchen Sie, es doch noch einmal zu entmündigen, versuchen Sie es doch! Nein, Sie haben das Volk schon mit gar zu holsteinischen Augen betrachtet!«

Und gleich darauf fügt der Chronist von sich aus hinzu: So sprach Schatow wie in einem Anfall von Raserei, und es ist doch durchaus möglich, daß in seinen Worten wirklich manches Richtige enthalten war. In der Tat haben die Vormundschaft und die Entfremdung von dem Volke dahin geführt, daß der Gesellschaft erstens nichts mehr teuer ist und sie nichts mehr hat, was sie wirklich mit Lust verteidigen könnte. Zweitens aber hat sich diese Gesellschaft, da sie sah, daß das wirkliche Volk zu gleicher Zeit sein Eigenstes schätzt und bereit ist, es zu verteidigen und ein eigenes volles, unverkümmertes Leben führt, das alles zum Vorwand genommen, um dieses Volk gerade wegen seines reichen Lebens endgültig zu hassen. Ich verstehe jetzt, was Sch. über diesen Haß der Belinskijs und aller unserer Westler zum Volke sagte; und wenn diese Leute es selbst auch bestreiten werden, so beweist es nur, daß sie es eben nicht einsehen. Und das verhält sich in der Tat so: sie glaubten, aus Liebe zu hassen und verkündeten das über sich selbst. Sie schämten sich sogar nicht ihres äußersten Widerwillens gegen das Volk, den sie stets bekundeten, wenn sie mit diesem Volk einmal tatsächlich in der Wirklichkeit zusammenstießen. (In der Theorie liebten sie es natürlich.)

Schatow

Gr. sagt: »Man hat doch aber das Volk ebenso bevormundet wie die höheren Schichten, und doch geben Sie zu, daß es trotzdem ›das russische Volk‹ geblieben ist, unter der Vormundschaft nicht entartete und Rußland nicht haßt.«

Schatow. »Man hat das Volk mit den deutschen Reformen verschont und hat von Anfang an nichts mehr von ihm wissen wollen. Sogar die langen Bärte wurden sofort wieder erlaubt. Man hatte damals das Volk durchaus nicht als etwas Wichtiges angesehen und betrachtete es nur als Material und als eine Steuer- und Abgabenquelle. Allerdings hat man dieses Volk sehr stark bevormundet, das stimmt, aber sein inneres, eigenes Leben ließ man unangetastet. Und wenn dieses Volk auch sehr viel gelitten und durchgemacht hat, so gelangte es schließlich dahin, daß ihm auch sein Leid lieb wurde. Die ganze obere Schicht Rußlands aber schloß ihre Entwicklung damit ab, daß sich ihre Angehörigen in Deutsche verwandelten und, einmal entwurzelt, endlich so weit kamen, daß sie alles Deutsche liebgewannen und alles Eigene verachteten und haßten. So war es überall. So haben auch in Litauen echte, blutreine Russen schließlich ihr eigenes Volk zu hassen begonnen.«

Fragen und Antworten

»Sie bieten Glück an. Selbst wenn man annimmt, daß Sie in bezug auf das Endziel Ihrer Bemühungen recht haben (was ein Unsinn ist, worüber ich aber vorläufig nicht streiten will), so ist schon allein aus Ihrem Flugblatt deutlich zu ersehen, wie unreif, nichtig und leichtsinnig Ihre Köpfe sind und wie wenig sie folglich zur Erreichung gerade Ihrer Ziele taugen. Sehen Sie denn wirklich nicht ein, daß eine solche Umgestaltung des Menschen, wie Sie sie annehmen, sowohl in den einzelnen Individuen als auch in der Gesellschaft nicht so leicht und schnell vor sich gehen kann, wie Sie es glauben? Denn Sie sagen ja, daß alles mit dem Beil, alles durch Räubereien erreicht werden wird und fordern zugleich, daß der Mensch sich von Gott lossagt, von der Liebe zu Christus, von der Liebe und den Pflichten seinen Kindern gegenüber, und daß er auf seine eigene Persönlichkeit und seine Sicherheit verzichtet, – dazu reichen Jahrhunderte nicht aus. Im Laufe von Jahrhunderten wurde zum Beispiel die gesellschaftliche juristische Sicherheit aufgebaut, und doch ist sie überall noch so unzureichend und unbefriedigend! Da sehen Sie, wie langsam selbst ein so wirklich alltägliches Bedürfnis des Menschen in der Praxis organisiert und eingeführt wird! Und deshalb sage ich, daß, obwohl das bereits Vorhandene auch unzulänglich ist, der Mensch dennoch nicht so rasch darauf verzichten wird, um Ihnen zu folgen. Denn, wenn das bereits Organisierte auch schlecht ist und nicht ausreicht, so ist doch wenigstens etwas vorhanden, während Sie nichts vorzuweisen haben, denn Sie erklären ja geradeaus, daß alles sich nur auf einen gütlichen Vertrag gründen wird und daß alles, was nicht unmittelbar mit den Genossenschaften zu tun hat, in keiner Weise und durch nichts garantiert sein soll. Um lästigen Fragen aus dem Wege zu gehen, behaupten Sie, daß es in der neuen Gesellschaft kein Unrecht geben wird, so daß also auch keine Garantien notwendig sein werden. Aber nur ein Verrückter kann doch so etwas behaupten, ohne es erprobt zu haben, und dazu noch so unbegründet, wie Sie es tun. Und wenn nun der Mensch selbst darauf nicht so ohne weiteres verzichten kann, wie soll er sich da von seinen Kindern, von der Liebe zu ihnen und von Gott lossagen, wie soll er da seine Freiheit aufgeben? Auf keine einzige Frage, die die Menschheit wirklich beunruhigt, wissen Sie eine Antwort zu geben, Sie weichen einfach allem aus. Wenn Sie aber auf diese Frage nicht antworten können, wodurch wollen Sie denn Ihre Lösung herbeiführen? Und deshalb frage ich: wie sollen da alle Ihnen sofort folgen und sich gleich in eine neue Gesellschaft verwandeln? Nein, Ihre Gefolgschaft wird nur aus einem Häuflein von Lumpen und Taugenichtsen bestehen, denen Sie Raub- und Plündermöglichkeiten in Aussicht stellen. Und noch eins: wenn das, was Sie erstreben, nur im Laufe von Jahrhunderten vollbracht werden kann, wie wagen Sie es denn, alles in einigen Tagen erreichen zu wollen (wie Sie sich buchstäblich selbst ausdrücken)? Sind Sie also nicht wirklich leichtsinnig? Und haben Sie auch bedacht, welche Verantwortung Sie auf sich nehmen für die Ströme von Blut, das Sie vergießen wollen? Etwas aufbauen ist schwierig; so reißen Sie denn einfach alles nieder, weil das am leichtesten ist.«

»Wir übernehmen gar keine Verantwortung, wir tragen einfach unser eigenes Fell zum Markte. Die zukünftige Gesellschaft wird von dem Volke selbst aufgebaut werden, und zwar sofort nach der allgemeinen Zerstörung. Und je eher das kommt, desto besser ist es.«

»Erstens wird sich das Volk gar nicht schlagen, ohne zu wissen wofür. Prügeln, brennen und rauben wird nur ein Häuflein heimlicher Übeltäter. Das Volk kann doch Ihr Programm gar nicht annehmen, dieses Programm, das die Abschaffung Gottes, des Eigentums, der Persönlichkeit und der Familie verlangt. Ich wiederhole: wenn Ihr Programm auch wirklich gerecht und richtig wäre, so kann es auch dann nur im Laufe von Jahrhunderten angenommen werden, im Laufe von Jahrhunderten eines friedlichen, praktischen Studiums und einer ebenso friedlichen Entwicklung. Und wenn das Volk sich auch tatsächlich durch den Aufstand und durch die Raubmöglichkeiten hinreißen lassen sollte, dann wird es sich aber sofort wieder beruhigen und etwas ganz anderes einrichten, etwas Eigenes, was vielleicht noch viel schlechter sein wird.«

»Wenn auch. Schon das ist gut, daß eine Welt zugrunde gehen wird. Dann tritt eine andere an ihre Stelle, die vom Volke aufgebaute. Und wenn sie auch nicht fehlerfrei sein kann, so wird sie dennoch besser sein als die gestürzte. Sobald man aber die Fehler erkannt haben wird, werden wir selbst oder unsere Nachfolger auch dieses Neue stürzen und so weiter und weiter, bis unser Programm ganz durchgesetzt sein wird. Aber selbst bei dem ersten Versuch werden wir schon unser Ziel erreichen, allein schon dadurch, daß das Prinzip des Beils und der Revolution angenommen sein wird.«

»Aber aus welchem Grunde sind Sie so fest davon überzeugt, daß Ihr Programm unfehlbar ist? Wie, wenn es nur ein Unsinn ist und lediglich auf der blödesten Unkenntnis der menschlichen Natur im allgemeinen und der des russischen Volkes im besonderen aufgebaut ist? Sie können ja nichts aus Ihrem Programm durch etwas anderes beweisen als durch das Argument, daß es Ihnen so scheint. Aber es scheint Ihnen vielleicht nur deshalb so, weil Sie dumm sind! Sollen denn wirklich alle absichtlich zu Dummköpfen werden, um Ihnen folgen zu können? Aber nun weigern Sie sich sogar zu argumentieren. Sie behaupten einfach, daß, wer nicht mit Ihnen ist, zu Ihren Feinden zähle und weihen alle Andersdenkenden dem Tode, wobei Sie ganz und gar vergessen, daß ein Streiten und Debattieren allenfalls der Entwicklung der Sache selbst dienlich ist. Und mit wie großer Wut lehnen Sie erst diejenigen ab, die wahrscheinlich, da sie Ihre Ansichten nicht teilen, gegen Sie vorgehen werden.«

»Das alles ist Unsinn und nichts weiter als Klügeleien!«

»Wenn Sie aber nicht bestimmt wissen, ob Ihr Programm auch wirklich unfehlbar ist, wie können Sie dann Ihr Gewissen mit der Übeltat der Zerstörung belasten?«

»Wir glauben, daß unser Programm unfehlbar ist und daß jeder, der es annimmt, glücklich werden wird. Deshalb sind wir auch bereit, Blut zu vergießen, weil mit diesem Blut das Glück erkauft werden wird.«

»Und wenn es nicht der Fall sein sollte? Was dann? Man glaubt nur an Gott, im Leben aber braucht man Tatsachen.«

»Wir sind fest davon überzeugt, daß mit diesem Blut das Glück erkauft werden wird und das genügt uns.«

»Oh, ihr Unglücklichen! Es freut mich nur, daß dies Ihnen niemals gelingen wird, weil Sie das Volk nicht kennen. Selbst wenn man annimmt, daß Ihnen einige Plünderungen, Brandstiftungen, Morde und Verführungen gelingen werden, selbst wenn Sie tatsächlich einen Aufstand zustandebringen sollten, selbst dann wird das Volk in seiner großen Masse Sie dennoch alle sofort aufknüpfen und Ihr Programm ablehnen, weil es unnatürlich ist und vor allen Dingen, weil es auf einer vollkommenen Unkenntnis des russischen Volkes aufgebaut ist. Nie wird ein Mensch Ihnen seinen Glauben und seine Familie hergeben, nie wird er in das Zuchthaus gehen, das Sie ihm durch Ihr Programm anbieten, und nie wird er auf seine persönliche Freiheit einer solchen Sklaverei wegen verzichten ... Das einfache Volk aber wird Ihnen niemals seinen ›Zaren – den Befreier‹ hergeben.«

 

»Sie wollen brennen und morden, weil das am leichtesten ist. Diese Lehre tauchte gerade in Frankreich auf und zwar, nachdem die Kommunen überall gesprengt wurden und die Kommunisten sich als nichtige Wildfange erwiesen hatten.«

Stepan Trofimowitsch und Piotr Werchowenskij

»Ich handle, weil das Handeln notwendig ist. Es ist natürlich, daß ein jedes Werk damit (mit der Zerstörung) beginnen muß; ich weiß es und richte mein Verhalten danach. Das Ende geht mich gar nichts an. Ich weiß nur, daß damit begonnen werden muß, und alles übrige ist leeres Geschwätz und nimmt nur Zeit in Anspruch. Alle diese Reformen, Veränderungen und Verbesserungen sind Unsinn. Je mehr man verbessert und reformiert, um so schlechter wird es, denn auf diese Weise haucht man künstlich Leben ein in ein Gebilde, das auf jeden Fall sterben und zerfallen muß. Je eher das Absterben vor sich geht, um so besser ist es, je schneller man damit beginnt, um so mehr erreicht man. (In erster Linie kommt Gott, Verwandtschaftsgefühl, die Familie selbst und so weiter.) Um ein neues Gebäude aufzurichten, muß man alles vernichten, denn einen alten Bau mit Säulen zu stützen ist häßlich und unsauber.«

»Nun schön. Aber du weißt zum Beispiel, daß du über kurz oder lang sterben mußt, warum erschießt du dich denn nicht jetzt schon, da du doch das Prinzip: ›Je eher, um so besser‹ vertrittst?«

»Einzig und allein deshalb, weil ich es noch nicht will und weil ich handeln muß.«

 

»Ich bin kein Genie und will auch keins sein, aber ich weiß, was getan werden muß und tue es. Auch Ihr habt es gewußt, aber Ihr plärrt nur. Wir aber weinen nicht und handeln einfach.«

»Der verstorbene Belinskij hat über Christus geschimpft und hätte selbst einem Huhn nichts zuleide tun können.«

»Oh, eigentlich war Belinskij sehr schwach. Auch die Wirklichkeit kannte er recht wenig. Es ist wahr, was Turgenew über ihn gesagt hat, nämlich, daß er sehr wenig wußte, sogar, was Wissenschaften anbetrifft. Aber er verstand alles besser als die andern. Du lachst, wie wenn du sagen wolltest: ›Was haben sie wohl alle verstanden?‹ Mein Freund, ich erhebe keinen Anspruch auf ein tieferes Verständnis der kleinen Einzelheiten des wirklichen Lebens. Ich sprach von Belinskij. Ich erinnere mich an den Schriftsteller D., der damals noch beinah ein Jüngling war. B. versuchte ihn damals zum Atheismus zu bekehren und erwiderte auf die Entgegnungen des D., der Christus verteidigte, damit, daß er über Christus schimpfte. – ›Und immer, wenn ich schimpfte, machte er ein so trauriges, so niedergeschlagenes Gesicht‹, erzählte B., indem er mit dem heitersten und gutmütigsten Lächeln auf D. wies. Einmal begegnete dieser D. dem B. am Bahnhof einer sich im Bau befindlichen Eisenbahn. ›Ich kann nicht kaltblütig warten, ich habe mir diesen Ort zu meinen Spaziergängen gewählt und sehe mir jeden Tag die Bahn an.‹ Oh, wenn er, der Ärmste, gewußt hätte, mit welchen Blicken damals viele diese Bahn betrachteten und insbesondere ihre Erbauer! Belinskij sagte: ›Ich bin nicht so wie die andern, auch darum kümmere ich mich, auch das bereitet mir schon einen Schmerz. Wenn man mich einmal einbuddelt, wird man noch erfahren, wen man zu Grabe getragen hat.‹ D. schloß sich ihm auf diesem Spaziergang an, und das Gespräch drehte sich um die Eisenbahn; nach und nach sprach man auch von den künftigen Eisenbahnen, von der Heizung der Wagen und dann schließlich auch von der Versorgung Moskaus mit Brennmaterial. Man sprach darüber, daß in Moskau auch jetzt schon das Holz immer teurer und teurer wurde, und es wurde die Vermutung geäußert, daß, wenn Moskau erst ein Kreuzpunkt vieler Eisenbahnen sein würde, die Preise für das Holz noch eine weitere Steigerung erfahren werden. ›Wahrscheinlich,‹ erwiderte D., ›wird man dann das Holz mit der Eisenbahn aus den waldreichen Gegenden heranschaffen.‹ Belinskij begann über diese geringe Kenntnis der Wirklichkeit laut zu lachen. ›Der Mann will Holz mit der Eisenbahn transportieren!‹ Das schien ihm ungeheuerlich zu sein. Denken Sie sich nur, er glaubte tatsächlich, daß die Eisenbahnen nur zur Beförderung von Fahrgästen dienen sollten und daß an Waren mit ihnen nur irgendwelche ganz feine und kostbare articles de Paris transportiert werden könnten. So wenig kannte er die Wirklichkeit ... Aber verstanden hat er doch mehr als alle andern.«

»Das besagt nur, daß alle recht wenig verstanden haben.«

»Mein Freund, ich habe das Handeln aufgegeben ... Jetzt will ich an der Sache nicht mehr teilnehmen und kann es auch nicht mehr ...«

»Wozu würdest du jetzt auch noch zu gebrauchen sein!«

Charakteristik Piotr Werchowenskijs

»Das Volk und die Kenntnis des Volkes kümmern mich eigentlich gar nicht. Ich weiß, daß man das Volk jetzt zum Aufstande aufreizen kann, und das ist alles.«

Im Gespräch über das Volk bekundet er plötzlich in einem Punkte eine himmelschreiende und sonderbare Unwissenheit. (Sie muß unbedingt sonderbar sein und gerade durch ihre Ungeheuerlichkeit auffallen.) Man überführt ihn lachend; aber es ist bemerkenswert, daß er gar nicht verlegen und gar nicht schwankend wird und sich gar nicht gekränkt oder pikiert fühlt. Er nimmt die Berichtigung furchtbar kaltblütig und lässig entgegen: »Mag sein, daß Sie recht haben,« sagt er, »das ist ganz egal, darum handelt es sich gar nicht, sondern darum, daß man jetzt das Volk aufwiegeln kann, und das ist es, was ich gerade will.«

Man erwidert ihm, daß ihm nicht einmal das gelingen wird, wenn er das Volk nicht kennt, und sagt ihm, daß seine Flugblätter abgeschmackt sind. »Das ist Unsinn,« erwidert er, »lassen Sie mich nur eine Viertelstunde lang ohne Zensur mit dem Volke reden, und es wird mir sofort folgen.«

Als man ihm versichert, daß die Wurzeln des Volkes viel fester sitzen, erwidert er: »Ach, Unsinn!« und weist auf Tatsachen hin, auf Plünderungen, Brandstiftungen, auf Herrn von Sohn, – »und jedenfalls sehen Sie wohl selbst ein, daß es noch nicht so fest entschieden ist, da Sie verstummt sind. (Der Goldnen Bulle ist doch das Volk gefolgt, warum soll es nun den Flugblättern kein Gehör schenken?)«.

Er ist mitunter furchtbar unwissend. Auf die ernsten Einwendungen des Vaters (zum Beispiel darüber, daß nicht die ganze Natur des Menschen bekannt ist und daß der Verstand nur den zwanzigsten Teil des Menschen ausmacht) achtet er überhaupt nicht. Er will gar nicht darauf erwidern, versucht es nicht einmal, sondern gibt sogar vollkommen unumwunden zu, daß ihm das unbekannt sei und daß es sich für ihn um etwas ganz anderes handle.

In seiner Unwissenheit ist er vollkommen ruhig.

Die Rede des Vaters bei der Fürstin hat er überhaupt nicht gehört.

Und doch schlägt er den Vater aufs Haupt. (»Mit ihm kann man gar nicht disputieren«, sagt dieser.)

Die Fragenkomplexe um die Slawophilen und um die Westler sind ihm nicht einmal annähernd bekannt. Er hatte nur gehört, daß es solche Slawophilen und Westler gibt, aber ihm ist das alles Unsinn, und nicht darum handelt es sich für ihn.

Er schreibt sogar fehlerhaft.

Charakteristik Stepan Trofimowitschs

Das Bildnis eines reinen und idealen Westlers in seiner ganzen Buntheit und Koketterie.

Lebt vielleicht (in Moskau) in einer Gouvernementsstadt.

Charakteristische Züge. Eine das ganze Leben lang währende Gegenstandslosigkeit und Haltlosigkeit in den Ansichten und Gefühlen, die früher den Grund vieler Pein ausmachte, jetzt aber zur zweiten Natur geworden ist. (Der Sohn macht sich darüber lustig.)

Ist zum drittenmal verheiratet. (Der bezeichnendste Zug.)

Sehnt sich geradezu danach, verfolgt zu werden und spricht sehr gerne über das, was er erlitten hat.

Ein Mensch der vierziger Jahre und gedenkt ihrer auch in seinen Beziehungen zu den noch am Leben gebliebenen Kämpen jener Zeit. (Ich und Timofej Granowskij.)

Er besitzt einen einstmals berühmten Namen (zwei, drei Artikel, eine Untersuchung, eine Reise durch Spanien, eine handschriftliche Notiz über den Krimkrieg, die von Hand zu Hand ging und den Grund zu seiner Verfolgung abgab). Stellt sich unbewußt auf ein Piedestal wie eine Reliquie, zu der man kommt, um sie anzubeten. Er hat das gern. Spricht oft ohne Fürwörter.

Ist wirklich ehrlich, rein und hält sich für einen Weisheitsborn. Ist in seinen Ansichten sehr schwankend.

Sehr poetisch, nicht ohne Phrase.

Hat das russische Leben ganz übersehen.

Wehrt sich mit Händen und Füßen gegen den Nihilismus und versteht ihn nicht.

Ist fünfundfünfzig Jahre alt. Hat literarische Erinnerungen. Belinskij, Granowskij, Herzen, Turgenew usw.

Trinkt gern Champagner.

Die Rolle von Sachs.

Schreibt gern weinerliche Briefe, hat da und da, und da und da Tränen vergossen.

»Lassen Sie mir Gott und die Kunst, ich will Ihnen gern Christus überlassen.«

Alle Augenblicke blicken bei ihm durch seine Ernsthaftigkeit George Sand und die Götzen hindurch.

Ist wirklich ein Dichter. Dies irae, goldnes Zeitalter, griechische Götter. Er soll ein begeistertes Kapitel haben. – Hat seine finanziellen Angelegenheiten gut geordnet. Bildchen, Memoirchen (usw. in derselben Art).

Sein Sohn wird im Auslande erzogen.

Das Bildnis der jungen Frau. (Ist im vierten Monat der Schwangerschaft.)

NB. (Weint allen Frauen nach und heiratet alle Augenblicke wieder.)

»Ich kann keinen Frieden finden, immer und überall empfinde ich Kummer und Sehnsucht.«

Ist klug und geistreich.


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