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Zehntes Kapitel

Die Flibustier. Der verhängnisvolle Vormittag

1

Das Geschehnis, auf das wir unterwegs stießen, war in der Tat recht merkwürdig. Aber ich muß das alles der Reihe nach erzählen. Eine Stunde, bevor wir beide, Stepan Trofimowitsch und ich, aus dem Hause gegangen waren, zog durch die Stadt, von vielen neugierig betrachtet, eine Schar von Männern. Es waren Arbeiter der Schpigulinschen Fabrik, zusammen etwa siebzig Mann oder vielleicht noch mehr. Sie gingen anständig, fast schweigend und absichtlich in guter Ordnung. Später behauptete man, diese siebzig wären von allen Schpigulinschen Arbeitern, deren Zahl sich auf ungefähr neunhundert belief, zum Gouverneur delegiert worden, um infolge der Abwesenheit der Fabrikbesitzer bei diesem ihr Recht gegen den Verwalter der Werke zu suchen. Denn dieser Verwalter liquidierte die Geschäfte, schloß den Betrieb und betrog seine Arbeiter bei der Entlassung in ganz schamloser Weise – eine Tatsache, die jetzt keinem Zweifel mehr unterliegt. Andere bestreiten bei uns bis auf den heutigen Tag noch, daß es sich um Abgesandte gehandelt habe. Sie behaupten, siebzig Mann seien für eine Delegation zu viel, und sind der Ansicht, daß diese Schar einfach aus den am meisten Geschädigten bestanden habe, die überhaupt nur zum Gouverneur zogen, um dort lediglich für sich selbst zu bitten, so daß von einer allgemeinen »Rebellion« der Fabrikarbeiter, von der später so viel Lärm gemacht wurde, überhaupt nicht die Rede sein konnte. Wieder andere vertreten jetzt eifrig die Ansicht, diese siebzig Mann wären nicht einfache Rebellen gewesen, sondern entschieden politische Aufrührer, das heißt Aufständige der schlimmsten Sorte, die überdies nicht anders als durch heimlich verbreitete Flugblätter aufgereizt waren. Kurz, es hat sich noch bis auf den heutigen Tag nicht herausgestellt, ob hinter dem Ganzen irgendein fremder Einfluß steckte. Meine eigene Meinung aber geht dahin, daß die Arbeiter diese Flugschriften gar nicht gelesen hatten, und ich bin überzeugt, daß selbst, wenn sie es getan hätten, sie doch kein Wort davon verstanden haben würden, schon allein aus dem Grunde, weil die Verfasser der Blätter trotz aller Nacktheit ihres Stils sich doch äußerst unklar ausdrückten. Da aber den Fabrikarbeitern wirklich ein Unrecht zugefügt worden war, und die Polizei, an die sie sich gewandt hatten, ihre Klage nicht berücksichtigen wollte, so war natürlich nichts selbstverständlicher, als daß sie auf den Gedanken kamen, im großen Haufen »zum General selber« zu gehen (wenn möglich, sogar mit einer Klageschrift an der Spitze des Zuges), sich wohlanständig vor seinem Haus aufzustellen und gleich bei seinem Erscheinen vor ihm auf die Knie zu fallen und ihn, wie die Vorsehung selbst, jammernd anzurufen?! Meiner Meinung nach handelte es sich hierbei weder um eine Rebellion noch um Abgesandte, denn die Arbeiter hatten nur ein altes, historisches Mittel angewandt. Das russische Volk hat seit jeher solche Gespräche »mit dem General selbst« gern gehabt und führte sie schon allein zum Vergnügen und ganz ohne Rücksicht darauf, womit so ein Gespräch enden konnte.

Und daher bin ich vollkommen überzeugt, obwohl Piotr Stepanowitsch, Liputin und vielleicht noch sonst jemand, vielleicht sogar auch Fedka vor diesen Vorfall unter den Arbeitern ihre Propaganda getrieben (denn auf diese Tatsache weisen wirklich ziemlich starke Umstände hin) und mit ihnen gesprochen haben, daß sie doch sicher nicht mit mehr als zwei, drei, sagen wir auch fünf Arbeitern in Berührung gekommen sind, und auch das lediglich versuchsweise. Genau so fest glaube ich auch, daß derartige Gespräche stets erfolglos geblieben sind. Was einen Aufstand anbetrifft, so hörten wohl die Arbeiter diesbezüglichen Reden gar nicht zu, weil sie sich gleich sagten, daß eine Rebellion etwas Dummes und ein durchaus ungeeignetes Mittel sei. Etwas anderes war es mit Fedka: dieser hatte anscheinend mehr Glück als Piotr Stepanowitsch. An dem Brand, der drei Tage darauf in der Stadt ausgebrochen war, trugen, wie jetzt unzweifelhaft feststeht, tatsächlich mit Fedka zusammen auch zwei Fabrikarbeiter die Schuld. Und später, etwa einen Monat darauf, wurden noch drei andere ebenfalls wegen Brandstiftung und eines Raubes festgenommen. Aber wenn es Fedka auch gelungen war, diese Arbeiter zu direktem Handeln zu verleiten, so beschränkte sich sein Erfolg sicherlich doch nur auf diese fünf Mann. Denn von den anderen Schpigulinschen Arbeitern hat nie etwas Derartiges verlautet.

Wie dem auch sein mochte, aber die Bittsteller kamen schließlich auf den freien Platz vor dem Hause des Gouverneurs und stellten sich dort wohlanständig und schweigend auf. Dann begannen sie mit offenem Munde nach dem Portal hinzublicken und warteten. Man erzählte mir, daß sie, kaum daß sie sich aufgestellt hatten, gleich auch die Mützen zogen, das heißt, vielleicht eine halbe Stunde vor der Ankunft des Herrn Gouverneurs, der leider gerade nicht zu Hause war. Sofort erschien die Polizei, anfangs nur in Gestalt einzelner Vertreter, dann aber in möglichst vollzähligem Aufgebot. Sie begann ihre Tätigkeit natürlich damit, daß sie drohend befahl, auseinanderzugehen. Aber die Arbeiter versteiften sich wie eine gegen einen Zaun gerannte Hammelherde und antworteten kurz und bündig, sie wollten mit »dem Jeneral selber« sprechen. Es war klar, daß sie fest entschlossen waren, auszuharren. Die fast unnatürlich klingenden Anrufe der Polizei hörten auf; an ihre Stelle trat schnell eine Nachdenklichkeit und ein Flüstern geheimer Anordnungen, sowie eine sorgenvolle Geschäftigkeit, die die Augenbrauen der Beamten sich finster zusammenziehen ließ. Der Polizeimeister zog es vor, die Ankunft des Herrn von Lembke abzuwarten.

Das Gerede, der Gouverneur wäre mit seinem Dreigespann in vollem Galopp herbeigesaust und habe noch im Wagen angefangen zu prügeln, ist ein Unsinn. Herr von Lembke sauste allerdings gern in seinem gelben Wagen bei uns durch die Stadt. Und wenn dann die halbverrückt gemachten Seitenpferde zum Entzücken aller Kaufleute der großen Handelsstraße immer rasender und rasender dahinflogen, dann erhob sich Herr von Lembke im Wagen, stellte sich in seiner ganzen Größe hin, hielt sich an einem zu diesem Zwecke an der Seite angebrachten Riemen fest, streckte die rechte Hand von sich, in der Art, wie man das oft an Denkmälern sieht, und besichtigte auf diese Weise die Stadt. Aber in vorliegendem Fall hat er keinen Menschen angerührt, und wiewohl er beim Herausspringen aus dem Wagen sich eines ziemlich kräftigen Wörtchens bediente, so tat er es nur, um seine Popularität nicht einzubüßen. Noch größerer Unsinn ist die Behauptung, daß man Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten herbeigeholt und telegraphisch von irgendwoher Artillerie und Kosaken angefordert hatte. Das sind Märchen, an die selbst ihre Erfinder jetzt nicht mehr glauben. Unsinn ist ebenfalls, daß man die Feuerwehr herbeigeholt habe und das Volk mit Wasserspritzen auseinandertreiben wollte. Es geschah nichts weiter, als daß Ilja Iljitsch einfach in der Erregung gerufen hatte, daß keiner von den Kerlen ganz trocken davonkommen würde; daraus sind dann wahrscheinlich die Wasserstrahlen der Feuerwehr entstanden, die dann in dieser Fassung auch in die hauptstädtischen Zeitungen übergegangen waren. Die glaubwürdigste Leseart wird wahrscheinlich diejenige sein, derzufolge die Menge zuerst mit allen gerade verfügbaren Polizeibeamten umstellt wurde, worauf man dann zu Lembke einen Extraboten, den Polizeiinspektor des ersten Reviers, geschickt hatte, der dann sofort in der Kutsche des Polizeimeisters nach Skworeschniki abfuhr, da man wußte, daß sich Herr von Lembke vor einer halben Stunde in seinem Wagen dorthin begeben hatte ...

Aber eine Frage bleibt für mich, offengestanden, dennoch ungelöst: wie konnte man nur eine harmlose, das heißt eine ganz gewöhnliche Schar von Bittstellern, die allerdings siebzig Mann stark war, so ohne weiteres von ihrem ersten Auftreten an in Rebellen verwandeln, die die Grundlagen des Staates zu erschüttern drohten? Wie kam es, daß auch Lembke selbst dieser Auffassung war, als er etwa zwanzig Minuten nach der Absendung des Extraboten in die Stadt zurückkam? Ich neige zur Annahme (aber das ist wieder nur meine persönliche Ansicht), daß es für Ilja Iljitsch, der sich mit dem Fabrikverwalter angefreundet hatte, vorteilhaft war, die ganze Angelegenheit dem Gouverneur in einem solchen Lichte darzustellen, und zwar, um ihn nicht zu einer richtigen Prüfung der Sache kommen zu lassen. Allerdings hat ihn Herr von Lembke selbst auf diesen Gedanken gebracht. In den letzten Tagen hatte er nämlich mit ihm zwei besondere, geheime, allerdings sehr konfus gehaltene Unterredungen gehabt, aus denen Ilja Iljitsch dennoch entnehmen konnte, daß sein Vorgesetzter sich fest in den Gedanken verrannt hatte, daß jemand durch Flugblätter und persönliche Agitation die Schpigulinschen Arbeiter zu einem sozialistischen Aufstand aufwiegelte. Ilja Iljitsch erkannte auch, daß diese Überzeugung seines Chefs so fest war, daß es ihm womöglich sogar leid tun könnte, wenn diese Aufwiegelung sich als Unsinn herausstellen würde. »Er will sich irgendwie vor der Petersburger Regierung auszeichnen,« sagte sich unser schlauer Ilja Iljitsch nach der Unterredung mit Herrn von Lembke, »na, schön, das paßt gerade fein.«

Aber ich bin überzeugt, daß der arme Andrej Antonowitsch selbst dann keinen Aufstand gewünscht hätte, wenn er sich dabei hätte auszeichnen können. Er war ein äußerst gewissenhafter Beamte, der bis zu seiner Verheiratung ganz unschuldig und harmlos dahinlebte, und konnte er denn etwas dafür, daß statt des harmlosen fiskalischen Holzes und eines ebenso harmlosen Minnachens eine vierzigjährige Prinzessin ihn zu sich emporgehoben hatte? Ich weiß bestimmt, daß gerade von diesem verhängnisvollen Vormittag an die ersten deutlichen Anzeichen jenes Zustandes aufgetreten waren, der, wie man sagt, den armen Andrej Antonowitsch in eine gewisse besondere Anstalt in der Schweiz gebracht hat, wo der Bedauernswerte jetzt angeblich neue Kräfte sammelt. Aber wenn man nun einmal zugibt, daß gerade an diesem Vormittage die ersten deutlichen Anzeichen »eines gewissen Zustandes« klar an den Tag getreten waren, so kann man, meiner Ansicht nach, auch zugeben, daß auch tags zuvor schon ähnliche Anzeichen sich bemerkbar machen konnten, wenn auch nicht ganz so deutlich.

Es ist mir manches aus ganz intimen Mitteilungen bekannt. Der Leser kann sich meinetwegen denken, daß mir in der Folgezeit Julia Michajlowna selbst einen kleinen Teil dieser Geschichte erzählt hatte, und zwar nicht mehr triumphierend, sondern beinah in reuiger Gemütsverfassung, denn vollständig bereut eine Frau niemals. Ich weiß zum Beispiel, daß Andrej Antonowitsch am vorhergehenden Tage in später Nacht, etwa zwischen zwei und drei Uhr, zu seiner Gattin gekommen war, sie geweckt und aufgefordert hatte, »sein Ultimatum« anzuhören. Diese Forderung war so energisch gestellt worden, daß Julia Michajlowna sich gezwungen sah, unwillig mit ihren Papilloten aus dem Bette zu steigen, sich auf eine Chaiselongue zu setzen und, wenn auch mit spöttischer Geringschätzung, so doch aufmerksam zuzuhören. Erst hier begriff sie zum erstenmal, wie weit es bereits mit Andrej Antonowitsch gekommen war, und erschrak innerlich. Sie hätte ja nun freilich zur Besinnung kommen und nachgeben sollen; aber sie verbarg ihren Schreck und zeigte sich noch hartnäckiger als zuvor. Sie hatte (wie wohl jede Ehefrau) ihre eigene Methode, Andrej Antonowitsch zu behandeln, die sie schon wiederholt erprobt, und die ihn bereits des öfteren einfach rasend gemacht hatte. Julia Michajlownas Methode bestand in einem verächtlichen Stillschweigen, das eine Stunde, zwei Stunden, vierundzwanzig Stunden und sogar bis zu drei Tagen dauerte; in einem Schweigen unter allen Umständen, mochte er sagen und tun, was er wollte und selbst auf das Fensterbrett steigen, um sich vom dritten Stockwerk hinabzustürzen, – eine Methode, die für einen gefühlvollen Menschen geradezu unerträglich ist! Wollte nun Julia Michajlowna ihren Gatten für die von ihm in den letzten Tagen gemachten Fehler und für seinen eifersüchtigen Neid bestrafen, den er in seiner Eigenschaft als oberster Beamter gegen ihre Verwaltungsfähigkeiten empfand? Tat sie es aus Entrüstung über seine Kritik an der Art, wie sie mit der Jugend und mit unserer ganzen Gesellschaft umging, eine Kritik, die er auszusprechen sich erlaubt hatte, ohne für ihre eigenen feinen, weit ausschauenden politischen Absichten ein Verständnis zu haben? Rächte sie sich an ihm für seine dumme, sinnlose Eifersucht auf Piotr Stepanowitsch? Ich weiß es nicht. Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls nahm sie sich vor, auch jetzt nicht nachzugeben, selbst nicht angesichts der Tatsache, daß es bereits drei Uhr morgens war und trotz einer beispiellosen Erregung ihres Mannes.

Indem er ganz außer sich auf dem Teppich ihres Boudoirs nach allen Richtungen hin- und herwanderte, setzte er ihr alles auseinander. Allerdings sprach er vollkommen zusammenhangslos, sagte aber dafür auch wirklich alles, was in ihm kochte, denn es »überschreite schon alle Grenzen«. Er begann damit, daß alle sich über ihn lustig machten und ihn »an der Nase umherführten«.

»Ich pfeife was auf den Ausdruck!« kreischte er sofort auf, als er ihr Lächeln bemerkte. »Wenn ich auch ›an der Nase‹ gesagt habe, so ändert es doch nichts daran, daß es wahr ist! ... Nein, gnädige Frau, jetzt ist die Stunde da! Merken Sie sich, bitte, daß jetzt weder ein Lachen noch die Kunstgriffe weiblicher Koketterie am Platze sind. Wir befinden uns nicht im Boudoir einer affektierten Dame! Wir sind jetzt gleichsam zwei abstrakte Wesen auf einem Luftballon, die einander begegnet sind, um sich gegenseitig die Wahrheit zu sagen«, rief er. Natürlich verwirrte er sich und fand nicht immer die richtigen Ausdrücke für seine an sich übrigens richtigen Gedanken. »Sie waren es, Sie, Sie, gnädige Frau, Sie waren es, die mich aus meinem früheren Zustand herausgerissen hat, und nur um Ihretwillen, nur um Ihres Ehrgeizes willen habe ich dieses Amt angenommen ... Sie lächeln spöttisch? Triumphieren Sie nicht, haben Sie es nicht so eilig! Bedenken Sie, gnädige Frau, bedenken Sie, daß ich imstande wäre und verstehen würde, auch mit diesem Amte fertig zu werden, und nicht nur allein mit diesem Amte, sondern auch mit zehn solchen Ämtern, denn ich besitze Fähigkeiten! Aber an Ihrer Seite, gnädige Frau, mit Ihnen ist mir das ganz unmöglich, denn an Ihrer Seite bin ich vollkommen unfähig. Zwei Mittelpunkte können nicht nebeneinander existieren; Sie aber haben zwei Mittelpunkte eingerichtet: den einen bei mir und den anderen bei sich, in Ihrem Boudoir! Zwei Mittelpunkte der Amtsgewalt, gnädige Frau! Aber ich werde es nicht länger dulden, ich werde es nicht dulden! Ich dulde es nicht mehr! Im Dienst wie in der Ehe kann es nur ein Zentrum geben, und zwei sind ganz unmöglich ...« – »Wie haben Sie mir das gelohnt?« rief er weiter aus. »Unsere Ehe bestand nur darin, daß Sie mir die ganze Zeit über allstündlich bewiesen haben, daß ich ein wertloser, dummer, ja ein gemeiner Mensch bin, während ich die ganze Zeit über, allstündlich und in der unwürdigsten Weise genötigt war, Ihnen zu beweisen, daß ich nicht wertlos und durchaus nicht dumm bin und alle Menschen durch meinen Edelsinn in Erstaunen versetze! Ist das etwa nicht ein von beiden Seiten unwürdiges Verhalten?«

Hier fing er an hastig mit den Füßen auf den Teppich zu stampfen, so daß Julia Michajlowna nicht umhin konnte, sich mit einer Miene ernster und drohender Würde aufzurichten. Er beruhigte sich schnell ein wenig, wurde aber sentimental und begann zu schluchzen (ja, zu schluchzen), wobei er sich fast ganze fünf Minuten lang gegen die Brust schlug und infolge des tiefen Schweigens, in das sich Julia Michajlowna hüllte, immer mehr und mehr außer sich geriet. Schließlich schoß er einen ganz entschiedenen Bock, indem er im Eifer zu verstehen gab, daß er auf Piotr Stepanowitsch eifersüchtig sei. Als er dann aber merkte, daß er eine maßlose Dummheit begangen hatte, da steigerte sich seine Wut bis zur Raserei. Er schrie, daß er »keine Gottesleugnungen dulde« und ihren »unmanierlichen Salon ohne Glauben« wegjagen werde; daß ein hoher Verwaltungsbeamter sogar verpflichtet sei, an Gott zu glauben »und folglich auch seine Frau«, und daß er die jungen Leute in seinem Hause nicht mehr zu sehen wünsche. »Sie, gnädige Frau,« rief er ihr zu, »Sie müßten um Ihrer eigenen Würde willen auf die Stellung Ihres Mannes bedacht sein und seinen Verstand verteidigen, selbst wenn er nur geringe Fähigkeiten besäße, was man von mir keineswegs sagen kann. Statt dessen sind gerade Sie daran schuld, daß alle mich hier beinah verachten; Sie, Sie allein sind diejenige, die die Leute hier gegen mich aufgebracht hat! ...« Er schrie noch, er würde die Frauenfrage ausrotten, er würde diesen Geist einfach ausräuchern und morgen schon dieses abgeschmackte Fest zum Besten der Erzieherinnen (daß sie der Teufel hole!) verbieten und die erste Erzieherin, die ihm begegnen würde, sofort »durch einen Kosaken!« aus dem Gouvernement hinaustreiben lassen. »Absichtlich! Mit voller Überlegung!« kreischte er. »Wissen Sie wohl, wissen Sie wohl,« schrie er, »daß Ihre Taugenichtse die Fabrikarbeiter aufwiegeln, und daß mir das bekannt ist? Wissen Sie wohl, daß diese Lumpen absichtlich Flugblätter verbreiten, ab–sicht?lich? Wissen Sie wohl, daß mir die Namen von vier dieser Lumpen bekannt sind, und daß ich den Verstand verliere, endgültig den Verstand verliere, endgültig!!! ...«

Aber hier unterbrach Julia Michajlowna plötzlich ihr Schweigen und erklärte in ernstem Tone, daß sie selbst schon längst von den verbrecherischen Plänen informiert sei, und daß es sich nur um dummes Zeug handle, daß er die ganze Sache zu ernst nehme, und daß, was die Taugenichtse anbetrifft, sie nicht nur vier, sondern alle kenne (sie log); ferner meinte sie, daß sie trotzdem ganz und gar nicht die Absicht habe, deshalb den Verstand zu verlieren, sondern im Gegenteil noch mehr als zuvor auf ihren Verstand vertraue und fest darauf hoffe, alles zu einem harmonischen Ende zu bringen. Sie machte ihm klar, daß sie die jungen Leute ermutigen, ihnen vernünftige Gedanken eingeben und ihnen dann plötzlich und unerwartet beweisen werde, daß alle ihre Pläne bekannt seien, worauf sie ihnen neue Ziele für eine vernünftige und edlere Tätigkeit zu weisen beabsichtige.

Oh, was war da in diesem Augenblick mit Andrej Antonowitsch geschehen! Als er erfuhr, daß Piotr Stepanowitsch ihn wieder betrogen und sich in so grober Weise über ihn lustig gemacht hatte, daß er ihr weit mehr und früher enthüllt hatte, als ihm, und daß schließlich Piotr Stepanowitsch vielleicht sogar der Hauptbeteiligte an all diesen verbrecherischen Plänen sei – da wurde er geradezu rasend. »Wisse, du unvernünftiges und giftiges Weib,« rief er, indem er mit einem male alle Hemmungen sprengte, »wisse, daß ich deinen unwürdigen Liebhaber sofort verhaften, ihm Fußfesseln schmieden und in die Festung bringen lassen werde! Oder ich springe sofort selbst vor deinen Augen aus dem Fenster!«

Als Antwort auf diese Tirade brach Julia Michajlowna, die vor Ärger ganz grün geworden war, sofort in ein Gelächter aus, in ein langes, helles Gelächter mit Läufern und Übergängen, das genau so klang, wie das Lachen einer Schauspielerin, die für hunderttausend Rubel aus Paris engagiert ist, um die Kokette zu spielen und auf der Bühne ihrem Manne ins Gesicht lacht, weil dieser eifersüchtig zu werden wagt. Herr von Lembke stürzte sich schon zum Fenster, blieb aber plötzlich wie angewurzelt stehen, verschränkte die Arme über die Brust, wurde leichenblaß und sah die Lachende mit einem unheilverkündenden Blick an. »Weißt du, weißt du wohl, Julia ...« sagte er endlich nach Atem ringend und mit flehender Stimme, »weißt du, daß auch ich etwas tun kann?« Als aber diesen Worten ein neuer, noch stärkerer Ausbruch von lautem Lachen folgte, preßte er die Zähne zusammen, stöhnte auf und stürzte plötzlich – nicht aus dem Fenster, sondern auf seine Frau, und zwar mit erhobener Faust!

Er versetzte ihr keinen Schlag, nein, dreimal nein! Statt dessen verschwand er selbst auf der Stelle. Ohne die Beine unter sich zu spüren, lief er in sein Zimmer, warf sich, unausgekleidet, wie er war, mit dem Gesicht nach unten auf das für ihn zurechtgemachte Bett, wickelte sich krampfhaft ganz mit dem Kopfe in die Bettdecke ein, und lag so etwa zwei Stunden lang, ohne zu schlafen und ohne nachzudenken, mit einem schweren Stein auf dem Herzen und einer dumpfen starren Verzweiflung in der Seele.

Von Zeit zu Zeit lief ein qualvolles, fieberhaftes Zittern durch seinen ganzen Körper. Es kamen ihm ganz zusammenhangslose Dinge ins Gedächtnis, die zu seinem jetzigen Leben in gar keiner Beziehung mehr standen. Bald dachte er zum Beispiel an eine alte Wanduhr, die er vor etwa fünfzehn Jahren in Petersburg gehabt hatte und von der der Minutenzeiger abgefallen war; bald erinnerte er sich an den lustigen Beamten Millebois, und daran, wie sie beide einmal im Alexanderpark einen Sperling gefangen und sich nach dem Fang mit einem durch den ganzen Park schallenden Gelächter daran erinnert hatten, daß einer von ihnen bereits Kollegienassessor war. Ich glaube, er versank in Schlaf gegen sieben Uhr morgens, ganz ohne es zu merken und schlief mit Genuß und hatte angenehme Träume. Als er dann gegen zehn Uhr wieder erwachte, sprang er plötzlich wie wild aus dem Bett, erinnerte sich mit einemmal an alles und schlug sich heftig mit der Hand vor die Stirn. Er nahm kein Frühstück zu sich und ließ weder Blümer, noch den Polizeimeister, noch den Beamten vor, der gekommen war, um ihn daran zu erinnern, daß die Mitglieder der und der Versammlung an diesem Vormittag darauf warteten, daß er den Vorsitz übernähme. Er wollte von nichts wissen, wollte nichts hören und nichts verstehen und lief wie ein Wahnsinniger nach den von Julia Michajlowna bewohnten Zimmern. Dort erklärte ihm Sofia Antropowna, eine alte Dame adligen Geblüts, die schon lange bei Julia Michajlowna wohnte, daß seine Frau sich bereits um zehn Uhr mit einer großen Gesellschaft in drei Equipagen nach Skworeschniki begeben habe. Die Alte sagte ihm noch, daß Julia Michajlowna die dortigen Lokalitäten zu besichtigen wünschte, und zwar im Hinblick auf das zweite geplante Fest, das in vierzehn Tagen stattfinden solle, und daß diese Besichtigung schon vor drei Tagen mit Warwara Petrowna verabredet worden war. Diese Nachricht überraschte Andrej Antonowitsch aufs höchste. Sofort kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück und erteilte den Befehl, schleunigst die Pferde anzuspannen. Er konnte kaum die Zeit abwarten, bis der Wagen bereit war. Seine Seele sehnte sich nach Julia Michajlowna. Nur sie ansehen wollte er, nur fünf Minuten in ihrer Nähe sein; vielleicht würde sie ihm wieder einen Blick zuwerfen, ihn bemerken, ihm wie früher zulächeln, verzeihen ... Oh! Oh! »Wo bleiben denn die Pferde?« Mechanisch schlug er ein auf dem Tische liegendes, dickes Buch auf. Mitunter blickte er aufs Geratewohl in dieses Werk hinein und las dann auf der rechten Seite die ersten drei Zeilen, wodurch er die Zukunft zu erkennen suchte. Diesmal stieß er auf den Satz: »Tout est pour le mieux dans le meilleur des mondes possibles. – Voltaire, Candide.« Er spuckte aus und lief hinaus, um einzusteigen: »Nach Skworeschniki!«

Der Kutscher erzählte später, der Herr habe ihn unterwegs zu immer schnellerer Fahrt angehalten. Kaum hätten sie sich aber dem Gutshaus genähert, da habe er ihm befohlen, umzuwenden und wieder nach der Stadt zu fahren: »›Aber recht schnell bitte, so schnell wie möglich.‹ Kurz bevor der Wagen wieder den Stadtwall erreichte, befahl er mir, wieder anzuhalten, stieg aus dem Wagen und ging vom Weg weg aufs Feld. Ich dachte, er täte es wegen eines Bedürfnisses, aber er blieb stehen und begann, sich verschiedene Blümchen zu besehen, und stand so eine ganze Weile lang da. Es war wirklich wunderlich. Mir kamen da gleich verschiedene Zweifel in den Sinn.« So erzählte der Kutscher.

Ich erinnere mich an das Wetter an jenem Morgen: es war ein kalter, klarer, aber windiger Septembertag; vor Andrej Antonowitsch, der vom Wege abgegangen war, breitete sich die ernste strenge Landschaft des kahlen Feldes aus, von dem das Getreide längst weggeräumt war; der aufheulende Wind schaukelte die kläglichen Überbleibsel der absterbenden gelben Blümchen ... Wollte er etwa sich und sein Schicksal mit den kümmerlichen, vom Herbst und den Frösten arg zugerichteten Blüten vergleichen? Ich glaube kaum. Ich nehme sogar bestimmt an, daß es nicht der Fall gewesen ist, und glaube, daß er überhaupt gar nicht wußte, daß er Blümchen betrachtete, trotz der Angabe des Kutschers und des Polizeiinspektors des ersten Reviers, der in diesem Augenblick in der Kutsche des Polizeimeisters herbeigefahren kam und später versicherte, den Chef tatsächlich mit einem Sträußchen gelber Blumen getroffen zu haben.

Dieser Polizeiinspektor, eine für administrative Tätigkeit begeisterte Persönlichkeit, namens Wasilij Iwanowitsch Flibustjerow, war erst seit kurzem in unserer Stadt ansässig, hatte sich aber bereits wiederholt ausgezeichnet und sowohl durch seinen enormen Diensteifer als auch durch sein kräftiges Zupacken auf allen Gebieten des Vollzuges, und durch den ihm angeborenen Mangel an Nüchternheit Aufsehen erregt. Er sprang aus der Kutsche und ohne sich durch den Anblick seines Vorgesetzten, der sich mit einem irrsinnigen, aber überzeugten und ruhigen Gesichtsausdruck einer so sonderbaren Beschäftigung hingab, auch im geringsten beirren zu lassen, meldete er kurz und herausplatzend, daß es »in der Stadt unruhig« sei.

»Wie? Was?« rief Andrej Antonowitsch und wandte sich zu ihm mit strengem Gesichtsausdruck, aber ohne das geringste Erstaunen oder irgendeine Erinnerung an die Kutsche und den Kutscher, sondern genau so, wie wenn er sich in seinem Arbeitszimmer befände.

»Der Polizeiinspektor des ersten Reviers, Flibustjerow, meldet Eurer Exzellenz, daß in der Stadt eine Rebellion ausgebrochen ist.«

»Flibustier?« wiederholte Andrej Antonowitsch wie nachdenklich.

»Jawohl Exzellenz. Die Schpigulinschen befinden sich im Aufstand.«

»Die Schpigulinschen! ...«

Es schien ihm bei diesem Namen »die Schpigulinschen« etwas einzufallen. Er fuhr sogar zusammen und rückte den Finger an die Stirn: »Die Schpigulinschen!« Schweigend, aber immer noch in Nachdenken versunken, ging er ohne Eile zu seinem Wagen, stieg ein und befahl nach der Stadt zu fahren. Der Polizeiinspektor folgte in seiner Kutsche hinter ihm her.

Ich nehme an, daß dem Gouverneur unterwegs viele sehr interessante Dinge, wenn auch etwas unklar, durch den Kopf gegangen waren, aber er hatte kaum irgendeinen festen Gedanken oder irgendeine bestimmte Absicht, als sein Wagen auf den Platz vor dem Gouvernementsgebäude rollte. Kaum erblickte er aber die Schar der »Rebellen«, die sich dort aufgestellt hatte und fest dastand, umringt von der Kette der Polizisten, mit dem machtlosen (und vielleicht sogar absichtlich machtlosen) Polizeimeister an der Spitze, und kaum hatte er wahrgenommen, daß sich die allgemeine Erwartung nur auf ihn richtete, als ihm alles Blut zum Herzen strömte. Blaß stieg er aus dem Wagen.

»Mützen ab!« sagte er kaum vernehmbar. Er atmete nur mühsam. »Auf die Knie!« kreischte er dann auf einmal unerwartet, ganz unerwartet auch für sich selbst. Und gerade in diesem überraschenden Ausruf lag vielleicht der Schlüssel zu der ganzen nachfolgenden Entwicklung der Begebenheit. Es war wie auf den Rutschbergen in der Fastnachtwoche – kann da etwa ein von oben herabsausender Schlitten mitten auf dem Berge anhalten und stehenbleiben? Andrej Antonowitsch hatte sich sein ganzes Leben lang wie sich selbst zum Trotze durch ruhiges Wesen ausgezeichnet und hatte nie jemand angeschrien und nie mit den Füßen gestampft. Aber gerade bei solchen Menschen ist es bedeutend gefährlicher, wenn es einmal vorkommt, daß ihr Schlitten aus irgendeinem Grunde plötzlich vom Berge heruntersaust. Alles schien sich vor seinen Augen zu drehen.

»Flibustier!« schrie er noch kreischender und häßlicher, und die Stimme brach ihm plötzlich ab. Er stand da, noch ohne zu wissen, was er tun solle, ahnte aber und fühlte mit seinem ganzen Wesen, daß er unbedingt sofort etwas tun würde.

»O Gott!« erscholl es aus der Menge. Irgendein junger Bursche begann sich zu bekreuzen; drei oder vier Mann wollten schon wirklich auf die Knie fallen, aber die anderen rückten in ihrer ganzen Masse etwa drei Schritte vor und begannen auf einmal alle durcheinanderzuschreien: »Euer Exzellenz ... wir sind für vierzig Kopeken gedungen worden ... der Fabrikverwalter ... du darfst nicht so reden« und so weiter. Man konnte nicht daraus klug werden.

Ach! Andrej Antonowitsch konnte überhaupt nichts begreifen: er hatte immer noch die Blümchen in der Hand. Von der Rebellion war er ebenso fest überzeugt, wie vorhin Stepan Trofimowitsch von dem Bauernwagen. Und in der Schar der »Rebellen«, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten, glaubte er den umherhuschenden und »sie aufwiegelnden« Piotr Stepanowitsch zu sehen, den er seit dem gestrigen Tage auch nicht für einen Augenblick vergessen konnte – Piotr Stepanowitsch, den ihm verhaßten Piotr Stepanowitsch.

»Auspeitschen!« rief er wieder. Und das kam noch überraschender als alles Vorangegangene.

Es trat Totenstille ein.

So mußte sich das Ganze im ersten Stadium abgespielt haben. So stelle ich es mir wenigstens vor, sowohl nach meinen Vermutungen als auch auf Grund sehr zuverlässiger Nachrichten. Aber über den weiteren Verlauf der Angelegenheit sind die Nachrichten nicht mehr so zuverlässig, und das gilt auch für meine Vermutungen. Indessen gibt es auch einige feststehende Tatsachen.

Erstens erschienen die Ruten irgendwie gar zu schnell; offenbar waren sie schon von dem ahnungsvollen Polizeimeister in Erwartung des Kommenden bereitgehalten worden. Bestraft wurden übrigens nur zwei Arbeiter; ich glaube nicht einmal, daß es drei waren. Mehr werden es auf keinen Fall gewesen sein; das kann ich mit Bestimmtheit versichern. Es ist eine reine Erfindung, wenn gesagt wird, daß alle oder mindestens die Hälfte der Bittsteller einer Prügelstrafe unterzogen wurden. Unsinn ist es auch, daß eine vorbeigehende arme adlige Dame ergriffen wurde und aus irgendeinem Grunde sofort Ruten bekam. Trotzdem habe ich diese erfundene Geschichte einige Wochen darauf in der Korrespondenz einer Petersburger Zeitung gelesen. Viele erzählten bei uns von einer Insassin des am Kirchhof liegenden Armenhauses, Awdolja Petrowna Tarapygina, daß sie, als sie auf dem Heimwege von einem Besuche über den Platz gekommen sei und sich aus natürlicher Neugier durch die Zuschauer hindurchgedrängt hatte, beim Anblick des Vorganges ausgespien und etwas wie »solche Schande« gerufen habe. Dafür sei sie sofort ergriffen und auch verhauen worden. Über diesen Vorfall wurde nicht nur allein in den Zeitungen berichtet, nein, man ging bei uns sogar so weit, daß man in der ersten Hitze für diese Frau in der Stadt eine Sammlung veranstaltete. Ich selbst habe auch zwanzig Kopeken gezeichnet. Und die Folge? Es stellt sich jetzt heraus, daß es eine solche Armenhäuslerin Tarapygina bei uns überhaupt nie gegeben hat! Ich bin selbst nach dem Armenhaus hingegangen, um Erkundigungen einzuziehen und stellte fest, daß man dort von irgendeiner Tarapygina überhaupt nie etwas gehört hatte; ja, man fühlte sich dort sogar sehr gekränkt, als man aus meiner Erzählung erfuhr, was für ein Gerücht im Umlauf sei.

Ich aber berichte über diesen Vorfall mit der nicht existierenden Awdolja Petrowna nur, weil Stepan Trofimowitsch beinah dasselbe zugestoßen war, wie ihr (falls sie nämlich wirklich existiert hätte); ja, vielleicht hat sich dieses ganze alberne Gerücht über eine Tarapygina nur irgendwie an seine Person geknüpft, das heißt, vielleicht hat man ihn bei der weiteren Entwicklung der Klatschgeschichte einfach in irgendeine Tarapygina verwandelt. Vor allen Dingen verstehe ich gar nicht, wie er mir nur entschlüpfen konnte, als wir eben zusammen auf den Platz gekommen waren. Da ich bereits Unheil ahnte, wollte ich ihn um den Platz herum direkt zum Portal des Gouvernementshauses führen, aber die Neugier übermannte auch mich, so daß ich für einen Augenblick stehenblieb, um den ersten besten, auf den ich stieß, über das Geschehene zu befragen. Und da sah ich auf einmal, daß Stepan Trofimowitsch sich nicht mehr neben mir befand. Instinktiv beeilte ich mich sofort, ihn an der gefährlichsten Stelle zu suchen; aus irgendeinem Grunde hatte ich eine Ahnung, daß sein Schlitten den Berg hinuntersause. Und wirklich fand ich unseren Freund gerade im Brennpunkt der Geschehnisse. Ich erinnere mich, daß ich ihn bei der Hand ergriffen hatte; aber mit einer Miene maßloser Überlegenheit sah er mich still und stolz an.

»Cher«, sagte er mit einer Stimme, in der irgendeine zerrissene Saite nachklang. »Wenn sie schon alle hier auf dem Platz in unserer Gegenwart so rücksichtslos verfahren, was kann man dann von diesem da erwarten ... falls er einmal in die Lage kommt, selbständig zu handeln?«

Er zitterte förmlich vor Entrüstung und in dem unbändigen Wunsch, den anderen herauszufordern, wies er wie drohend und anklagend mit dem Finger auf Flibustjerow, der nur zwei Schritte von uns stand und uns mit weitaufgerissenen Augen anglotzte.

»Diesen da?« schrie der Beamte außer sich vor Wut. »Welchen denn? Und wer bist du eigentlich?« fuhr er fort und trat mit geballter Faust näher. »Wer bist du?« brüllte er wie ein Rasender.

Ich bemerke, daß er Stepan Trofimowitsch vom Ansehen sehr gut kannte. Noch einen Augenblick, und er hätte ihn sicherlich am Kragen gepackt; aber zum Glück wandte Lembke auf das Geschrei hin den Kopf um. Verwundert, aber unverwandt sah er Stepan Trofimowitsch an, wie wenn er sich etwas überlegte, und begann dann plötzlich ungeduldig mit der Hand zu winken. Flibustjerow wurde verwirrt und ließ von Stepan Trofimowitsch ab. Ich zog meinen Freund aus der Menge heraus. Übrigens hatte er selbst vielleicht schon den Wunsch, den Rückzug anzutreten.

»Nach Hause, nach Hause«, drang ich auf ihn ein. »Wenn wir nicht geschlagen worden sind, so ist es natürlich nur Lembke zu verdanken.«

»Gehen Sie, mein Freund, es ist unrecht von mir, Sie in Gefahr zu bringen ... Sie haben eine Zukunft vor sich und Ihre eigene Karriere, während ich ... mon heure a sonné.«

Festen Schrittes trat er auf die Vortreppe des Gouvernementsgebäudes. Der Portier kannte mich; ich sagte ihm, daß wir beide zu Julia Michajlowna wollten. Im Wartezimmer setzten wir uns hin und begannen zu warten. Ich mochte meinen Freund nicht allein lassen, hielt es aber für überflüssig, mit ihm noch zu sprechen. Er sah aus wie ein Mann, der sich etwa dem sicheren Tode für das Vaterland geweiht hatte. Wir saßen nicht zusammen, sondern jeder in einer anderen Ecke, ich näher zur Eingangstür und er von ihr entfernt mir gegenüber. Er hielt den Kopf nachdenklich gesenkt und stützte sich mit beiden Händen ein wenig auf seinen Stock. Seinen breitkrempigen Hut hielt er in der linken Hand. So saßen wir etwa zehn Minuten lang.

2

Lembke trat plötzlich mit schnellen Schritten in Begleitung des Polizeimeisters ein, sah uns zerstreut an und wollte, ohne uns die geringste Beachtung zu schenken, nach rechts in sein Arbeitszimmer gehen. Aber Stepan Trofimowitsch trat vor und versperrte ihm den Weg. Die hohe Gestalt Stepan Trofimowitschs, die so wenig gewöhnlich aussah, machte Eindruck. Lembke blieb stehen.

»Wer ist das?« murmelte er überrascht, wie wenn er sich an den Polizeimeister wandte, ohne indessen den Kopf nach ihm umzudrehen und fuhr fort, Stepan Trofimowitsch zu betrachten.

»Der pensionierte Kollegienassessor Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, Eure Exzellenz«, antwortete mein Freund und neigte ein wenig den Kopf. Seine Exzellenz sah ihn immer noch an, übrigens mit einem ziemlich stumpfen Blicke.

»In welcher Angelegenheit?« fragte er in der lakonischen Art eines Vorgesetzten, wandte mißmutig und ungeduldig Stepan Trofimowitsch sein Ohr zu, da er ihn offenbar für einen gewöhnlichen Bittsteller hielt, der irgendeine schriftliche Eingabe einreichen wollte.

»Ich bin heute von einem Beamten, der im Namen Eurer Exzellenz handelte, einer Haussuchung unterworfen worden; deshalb möchte ich ...«

»Den Namen? Den Namen?« fragte Lembke ungeduldig, wie wenn ihm plötzlich etwas einfiele. Stepan Trofimowitsch wiederholte seinen Namen mit noch größerer Würde.

»A–a–ah! Das ist diese Brutstätte ... Mein Herr, Sie haben sich von einer Seite gezeigt ... Sie sind Professor? Professor?«

»Ich habe seinerzeit die Ehre gehabt, der Jugend an der ...er Universität einige Kollegien zu halten.«

»Der Ju–gend!« rief Lembke und zuckte zusammen, obwohl ich darauf wetten möchte, daß er noch immer nicht recht verstand, um was es sich handelte, und vielleicht nicht einmal recht wußte, mit wem er sprach. »Ich werde es nicht dulden!« rief er auf einmal in heftigem Zorn. »Ich dulde keine Jugend. Das sind nur revolutionäre Flugblätter. Das ist ein Angriff auf die Gesellschaft, mein Herr, Seeräuberei, Flibustiertum ... Um was baten Sie mich?«

»Im Gegenteil, es war Ihre Frau Gemahlin, die mich gebeten hat, morgen bei ihrem Feste etwas vorzulesen. Ich aber bitte um nichts, sondern bin gekommen, um mein Recht zu suchen ...«

»Bei dem Fest? Es wird kein Fest geben. Ich werde ihr Fest nicht zulassen! Kollegien? Kollegien?« schrie er auf einmal ganz wütend.

»Es wäre mir sehr lieb, Exzellenz, wenn Sie mit mir höflicher sprechen und nicht mit den Füßen stampfen und mich nicht wie einen kleinen Knaben anschreien würden.«

»Vielleicht begreifen Sie aber auch, mit wem Sie reden?« erwiderte Lembke und errötete.

»Vollkommen, Exzellenz.«

»Ich schütze die Gesellschaft mit meiner Person, Sie aber vernichten sie! Sie zer–stö–ren sie! Sie ... Übrigens erinnere ich mich jetzt an Sie: Sie waren ja wohl Erzieher im Hause der Generalin Stawrogina.«

»Ja, ich war ... Erzieher ... im Hause der Generalin Stawrogina.«

»Und Sie bildeten zwanzig Jahre hindurch die Brutstätte alles dessen, was sich jetzt angesammelt hat ... alles Früchte ... Ich glaube, ich habe Sie soeben auf dem Platz gesehen. Aber nehmen Sie sich in acht, mein Herr, nehmen Sie sich in acht; Ihre Gesinnung ist uns bekannt. Seien Sie überzeugt, daß ich Sie im Auge behalten werde. Ich kann Ihre Kollegien nicht dulden, mein Herr, ich kann es einfach nicht. Mit solchen Bitten brauchen Sie sich an mich gar nicht zu wenden.«

Er wollte schon wieder vorbeigehen.

»Ich wiederhole, daß Sie sich im Irrtum befinden, Exzellenz: es war Ihre Frau Gemahlin, die mich gebeten hat, bei dem morgigen Fest etwas vorzulesen, kein Kolleg, sondern etwas Literarisches. Aber ich verzichte jetzt auch selbst darauf. Meine gehorsamste Bitte besteht darin, mir, wenn möglich, zu erklären, warum und weshalb ich der heutigen Haussuchung unterworfen worden bin? Man hat mir einige Bücher, Papiere, sowie auch einige mir teuere Privatbriefe weggenommen und sie auf einer Schubkarre durch die Stadt fortgebracht ...«

»Wer hat die Haussuchung vorgenommen?« fragte Lembke, der zusammenfuhr, auf einmal völlig zur Besinnung kam und ganz rot wurde. Er wandte sich rasch an den Polizeimeister. In diesem Augenblick erschien in der Tür die lange gebückte und ungelenke Gestalt Blümers.

»Dieser Beamte da war es«, sagte Stepan Trofimowitsch und wies auf ihn. Blümer trat hervor und hatte eine zwar schuldbewußte, aber keineswegs nachgiebige Miene.

»Vous ne faites que des bêtises«, warf ihm Lembke ärgerlich und zornig hin und schien sich mit einem Male wie verwandelt zu haben.

»Verzeihen Sie ...« murmelte er in außerordentlicher Verwirrung und wurde dabei so rot wie nur irgend möglich, »das alles war ... das alles war wahrscheinlich nur eine Ungeschicklichkeit, ein Mißverständnis ... Nur ein Mißverständnis.«

»Exzellenz,« bemerkte Stepan Trofimowitsch, »in meiner Jugend war ich einmal Zeuge eines recht charakteristischen Vorfalls. Im Gang des Theaters trat jemand hastig an einen anderen heran und versetzte ihm in Gegenwart aller Leute eine schallende Ohrfeige. Als er aber gleich darauf erkannt hatte, daß die mißhandelte Person gar nicht diejenige war, der er die Ohrfeige zugedacht hatte, sondern eine ganz andere, die der gesuchten nur ein wenig glich, da rief er ärgerlich und eilig, wie jemand, der seine kostbare Zeit nicht verlieren möchte, genau so wie jetzt Eure Exzellenz: ›Ich habe mich geirrt ... entschuldigen Sie, es ist ein Mißverständnis, nur ein Mißverständnis.‹ Und als der beleidigte Mensch sich trotzdem noch beleidigt fühlte und Lärm schlug, bemerkte ihm der Beleidiger außerordentlich ärgerlich: ›Aber ich habe Ihnen ja bereits gesagt, daß es nur ein Mißverständnis war, weshalb schreien Sie denn noch?!‹«

»Das ... das ist allerdings sehr komisch ...« erwiderte Lembke mit einem sauren Lächeln, »aber ... aber sehen Sie denn wirklich nicht, wie unglücklich ich selbst bin?«

Er schrie beinah auf, und es schien, als wolle er das Gesicht mit den Händen bedecken.

Dieser unerwartete, schmerzhafte Ausruf, dem beinah ein Schluchzen gefolgt war, machte einen unerträglichen Eindruck. Das war offenbar seit dem gestrigen Tage der erste Augenblick eines vollen Bewußtseins und eines klaren Erkennens alles Vorgefallenen, der sofort von einer vollständigen, erniedrigenden, sich ergebenden Demut abgelöst wurde. Wer weiß – noch einen Augenblick und Andrej Antonowitsch wäre vielleicht in ein lautes, den ganzen Saal erfüllendes Schluchzen ausgebrochen. Stepan Trofimowitsch sah ihn zuerst befremdet an, neigte dann auf einmal den Kopf und sagte mit tief gerührter Stimme:

»Exzellenz, lassen Sie sich meine streitsüchtige Beschwerde nicht weiter zu Herzen gehen und befehlen Sie nur, daß mir meine Bücher und Briefe zurückgegeben werden ...«

Hier wurde er unterbrochen. Gerade in diesem Augenblick kehrte Julia Michajlowna mit der ganzen Gesellschaft, die sie begleitet hatte, mit vielem Geräusch zurück. Aber das möchte ich nun möglichst eingehend schildern.

3

Erstens traten alle diejenigen, die in drei Equipagen nach Skworeschniki gefahren waren, nunmehr gleichzeitig in dichtem Schwarm in das Wartezimmer. Zu Julia Michajlownas Gemächern führte eigentlich ein besonderer Eingang, gleich vom Portal aus links. Aber diesmal nahmen alle den Weg durch den Saal und zwar, wie ich glaube, nur deshalb, weil sich Stepan Trofimowitsch dort befand, und weil alles, was ihm zugestoßen war, auch die Vorgänge mit den Schpigulinschen Arbeitern, Julia Michajlowna bereits beim Einfahren in die Stadt gemeldet war. Es war Liamschin, der sie so schnell von allen diesen Vorgängen in Kenntnis gesetzt hatte. Für irgendein Verschulden hatte man ihn zu Hause gelassen, und er durfte an der Fahrt nicht teilnehmen. Infolgedessen hatte er alles früher als die anderen erfahren. Voller Schadenfreude war er auf einem gemieteten Kosakengaul den Heimkehrenden entgegen den Weg nach Skworeschniki geritten, um sie mit den fröhlichen Nachrichten zu begrüßen. Ich glaube, daß Julia Michajlowna beim Anhören dieser erstaunlichen Neuigkeiten trotz ihres außerordentlich festen und entschlossenen Charakters doch etwas verlegen wurde. Übrigens dauerte das bei ihr wahrscheinlich nur einen kurzen Augenblick. Die politische Seite der Angelegenheit zum Beispiel konnte ihr gar keine Sorge machen: Piotr Stepanowitsch hatte ihr schon etwa viermal mit Nachdruck erklärt, daß man die Schpigulinschen Rowdys einfach alle durch die Bank durchpeitschen müßte, und Piotr Stepanowitsch war für sie seit einiger Zeit wirklich eine bedeutende Autorität geworden. »Aber ... das soll er mir dennoch büßen«, dachte sie sicherlich bei sich, wobei sich »er« natürlich nur auf ihren Gemahl bezog. Ich will hier nebenbei noch bemerken, daß Piotr Stepanowitsch diesmal an dem allgemeinen Ausflug wie absichtlich nicht teilgenommen hatte und vom frühen Morgen an noch nirgends und von niemand gesehen worden war. Auch will ich gleich hinzufügen, daß Warwara Petrowna, nachdem sie die Gäste empfangen hatte, mit ihnen zusammen, das heißt in ein und demselben Wagen mit Julia Michajlowna, nach der Stadt zurückgekehrt war, in der Absicht, unbedingt an der in Aussicht genommenen Komiteesitzung, die zum letztenmal über das morgige Fest entscheiden sollte, teilzunehmen. Auch sie mußten natürlich die von Liamschin über Stepan Trofimowitsch mitgebrachten Nachrichten interessieren und hatten sie vielleicht sogar aufgeregt.

Die Abrechnung mit Andrej Antonowitsch begann sofort. Ach, er merkte es gleich beim ersten Blick auf seine schöne Frau Gemahlin. Mit offener Miene und mit einem bezaubernden Lächeln näherte sie sich rasch Stepan Trofimowitsch, streckte ihm ihr reizend behandschuhtes Händchen hin und überhäufte ihn mit den schmeichelhaftesten Begrüßungen, wie wenn sie den ganzen Vormittag über keine andere Sorge gehabt hätte, als nur möglichst schnell nach Hause zu eilen und Stepan Trofimowitsch mit Freundlichkeiten zu überschütten, dafür, daß er endlich zu ihr gekommen war. Mit keiner Silbe berührte sie die am Vormittag stattgefundene Haussuchung, wie wenn sie noch gar nichts davon gewußt hätte. Kein einziges Wort zu ihrem Mann, keinen Blick nach der Seite hin, wo er stand! Sie tat, als wäre er gar nicht im Zimmer. Und nicht genug: sofort beschlagnahmte sie Stepan Trofimowitsch und führte ihn weg in ihren Salon – wie wenn er mit Lembke selbst überhaupt keine Unterredung gehabt hätte, oder wie wenn es sich, falls eine solche stattgefunden hatte, gar nicht lohnte, sie fortzusetzen. Ich wiederhole nochmals: es scheint mir, daß Julia Michajlowna trotz aller ihrer Gewandtheit in diesem Falle wieder einen sehr großen Fehler begangen hatte. Besonders behilflich war ihr dabei Karmasinow, der nämlich auf Julia Michajlownas besondere Bitte hin ebenfalls an der Fahrt teilgenommen und auf diese Weise, wenn auch nicht ganz eindeutig, endlich auch Warwara Petrowna einen Besuch gemacht hatte, worüber diese aus Mangel an Standhaftigkeit ganz entzückt war.

Karmasinow, der etwas später als die anderen eingetreten war, schrie, kaum daß er Stepan Trofimowitsch erblickte, noch von der Türschwelle auf und lief auf ihn mit offenen Armen zu, wobei er sogar Julia Michajlowna unterbrach.

»Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen! Wie viele Sommer und Winter sind inzwischen vergangen! Endlich ... Excellent ami!«

Er tat so, als ob er ihn küssen wollte und hielt ihm natürlich nur seine Backe hin. Der in Verwirrung geratene Stepan Trofimowitsch sah sich genötigt, diese zu küssen.

»Cher,« sagte er zu mir am Abend, als er an die Ereignisse des Tages zurückdachte, »in diesem Augenblick fragte ich mich: wer von uns beiden ist gemeiner? Er, der mich umarmte, um mich gleich auf der Stelle zu erniedrigen, oder ich, der ihn und seine Backe verachtete und sie trotzdem küßte, obwohl ich mich doch hätte abwenden können? ... Pfui!«

»Nun erzählen Sie doch, erzählen Sie alles!« stieß Karmasinow lispelnd und gleichsam kauend hervor, wie wenn es tatsächlich möglich wäre, so ohne weiteres sein ganzes Leben während dieser fünfundzwanzig Jahre zu erzählen. Aber diese ungeschickte Oberflächlichkeit gehörte zum »feinsten« Ton.

»Bedenken Sie doch, daß wir uns zum letztenmal in Moskau gesehen haben, bei einem Diner zu Ehren Granowskijs, und daß seitdem bereits vierundzwanzig Jahre vergangen sind«, begann Stepan Trofimowitsch sehr vernünftig und daher ganz und gar nicht im Einklang mit dem feinsten Ton.

»Ce cher homme,« unterbrach ihn Karmasinow kreischend und familiär und drückte ihm dabei mit der Hand allzu freundschaftlich die Schulter zusammen, »aber führen Sie uns doch schneller in Ihren Salon, Julia Michajlowna. Er wird sich dort hinsetzen und alles erzählen.«

»Und dabei habe ich diesem reizbaren, alten Weib niemals nahe gestanden«, rief Stepan Trofimowitsch am selben Abend, als er vor Zorn zitternd fortfuhr, sich zu beklagen. »Wir waren noch fast Jünglinge, und schon damals begann ich ihn zu hassen ... genau so wie er mich ... selbstverständlich ...«

Julia Michajlownas Salon füllte sich schnell. Warwara Petrowna befand sich in einer besonders erregten Gemütsverfassung, obwohl sie sich auch bemühte, gleichmütig und ruhig zu erscheinen. Aber es gelang mir, zwei- bis dreimal zu beobachten, daß sie haßerfüllte Blicke auf Karmasinow richtete und Stepan Trofimowitsch recht zornig ansah. Sie zürnte ihm schon im voraus, sie zürnte ihm aus Eifersucht, sie zürnte ihm aus Liebe! Hätte Stepan Trofimowitsch diesmal irgendeine Ungeschicklichkeit begangen und Karmasinow dadurch Gelegenheit gegeben, ihn in Gegenwart aller zu blamieren, so wäre sie, glaube ich, sofort aufgesprungen und hätte ihren früheren Freund buchstäblich geprügelt. Ich vergaß zu erwähnen, daß auch Lisa anwesend war, und noch nie hatte ich sie sorgloser, heiterer und glücklicher gesehen. Selbstverständlich war auch Mawrikij Nikolajewitsch da, dann bemerkte ich unter dem Schwarm der jungen Damen und der halb verlotterten jungen Männer, die Julia Michajlownas gewöhnliche Gefolgschaft bildeten und bei denen die Zügellosigkeit als Fröhlichkeit und der billigste Zynismus als Verstand galt, auch noch einige neue Gesichter. Da war ein erst vor kurzem zugereister, gar zuviel scharwenzelnder Pole, ferner ein deutscher Doktor, ein gesunder, alter Mann, der laut und mit großem Genuß alle Augenblicke über seine eigenen Witze lachte und schließlich ein sehr junger Fürst aus Petersburg, der wie ein Automat aussah, den würdigen Anstand eines Staatsmannes zur Schau trug und furchtbar lange Vatermörder trug. Aber es war unzweifelhaft, daß Julia Michajlowna diesen Gast besonders hochschätzte und sich in seiner Gegenwart sogar Sorgen um das Benehmen der Mitglieder ihres Salons machte ...

»Cher mr. Karmazinoff,« begann Stepan Trofimowitsch, indem er sich malerisch auf das Sofa niedersetzte und auf einmal nicht schlechter als Karmasinow selbst zu lispeln begann, »cher mr. Karmazinoff, das Leben eines Menschen unserer Zeit, der gewisse Überzeugungen hat, muß selbst in einem Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren ziemlich einförmig erscheinen ...«

Der Deutsche begann plötzlich laut und stoßweise zu lachen. Er wieherte beinah, da er anscheinend annahm, Stepan Trofimowitsch hätte etwas außerordentlich Komisches gesagt. Dieser sah ihn mit unterstrichener Verwunderung an, machte aber dadurch gar keinen Eindruck. Auch der Fürst warf einen Blick auf den Deutschen, indem er sich zu ihm mit seinen ganzen Vatermördern wandte und den Klemmer aufsetzte, wenn auch ohne das geringste Zeichen von Interesse.

»... muß einförmig erscheinen«, wiederholte Stepan Trofimowitsch absichtlich, wobei er jedes Wort so lang und ungeniert wie möglich in die Breite zog. »So war auch mein Leben während dieses ganzen Vierteljahrhunderts, et comme on trouve partout plus de moines que de raison, und da ich durchaus derselben Meinung bin, so ist es gekommen, daß ich während dieses ganzen Vierteljahrhunderts ...«

»C'est charmant, les moines«, flüsterte Julia Michajlowna, indem sie sich zu der neben ihr sitzenden Warwara Petrowna wandte.

Warwara Petrowna antwortete mit einem stolzen Blick. Aber Karmasinow konnte den Erfolg der französischen Phrase nicht ruhig ertragen und beeilte sich, Stepan Trofimowitsch mit kreischender Stimme zu unterbrechen:

»Was mich anbetrifft, so habe ich mich in dieser Hinsicht vollkommen beruhigt und sitze schon seit bald sieben Jahren in Karlsruhe. Und als im vorigen Jahr die Stadtvertretung beschlossen hatte, eine neue Kanalisation anzulegen, da fühlte ich in meinem Herzen, daß diese Karlsruher Kanalisationsfrage mir wichtiger und lieber war als alle Fragen meines teuren Vaterlandes ... während der ganzen Zeit der sogenannten hiesigen Reformen.«

»Ich sehe mich genötigt, Ihnen das nachzufühlen, wenn auch nur mit widerstrebendem Herzen«, erwiderte Stepan Trofimowitsch mit einem Seufzer und neigte vielsagend seinen Kopf.

Julia Michajlowna triumphierte: das Gespräch begann tiefsinnig zu werden und hatte eine bestimmte Richtung bekommen.

»Meinen Sie Röhren zur Ableitung des Unrats?« erkundigte sich der Doktor laut.

»Abflußrohre, Doktor, Abfallrohre, und ich habe damals sogar bei der Aufstellung des Projektes mitgeholfen.«

Der Doktor begann knatternd zu lachen. Er steckte auch viele andre an, und diese lachten diesmal dem Doktor gerade ins Gesicht; er bemerkte es aber nicht und freute sich sehr über die allgemeine Heiterkeit.

»Gestatten Sie mir, hierin anderer Ansicht zu sein, Karmasinow«, beeilte sich Julia Michajlowna einzuschalten. »Karlsruhe ist eine Sache für sich, aber Sie mystifizieren gern Ihre Zuhörer, und diesmal werden wir Ihnen keinen Glauben schenken. Wer von den russischen Schriftstellern hat so viele allermodernste Charaktere dargestellt, so viele höchst aktuelle Fragen aufgeworfen und gerade auf die Hauptpunkte hingewiesen, aus denen sich der Typus der heutzutage in der Öffentlichkeit wirkenden Männer zusammensetzt? Sie, nur Sie und kein anderer! Da können Sie uns lange einreden, Sie wären gegen die Heimat gleichgültig und hätten ein so großes Interesse für die Karlsruher Abflußrohre! Haha!«

»Ja, ich habe allerdings«, begann Karmasinow zu lispeln, »in der Gestalt Pogoshews alle Fehler der Slawophilen und in der Gestalt Nikodimows alle Mängel der Westler dargestellt ...«

»Er spricht so, als ob er wirklich alle Fehler aufgedeckt hätte«, flüsterte Liamschin leise.

»Aber ich tue das nur so nebenbei,« fuhr Karmasinow fort, »nur um irgendwie die lästige Zeit totzuschlagen und ... um all die zudringlichen Forderungen meiner Landsleute zu befriedigen.«

»Es ist Ihnen wohl bekannt, Stepan Trofimowitsch,« fuhr Julia Michajlowna wie begeistert fort, »daß wir morgen die Freude haben werden, ganz reizende Zeilen zu vernehmen ... eins der letzten schöngeistigen Werke Semion Jegorowitschs, das er ›Merci‹ betitelt hat. Er kündigt in diesem Stück an, daß er in Zukunft nicht mehr schreiben werde, um keinen Preis in der Welt, selbst wenn ein Engel vom Himmel, oder besser gesagt, die ganze vornehme Gesellschaft ihn bitten sollte, seinen Entschluß umzustoßen. Kurz, er legt die Feder für das ganz Leben nieder, und das graziöse ›Merci‹ wendet sich an das Publikum, und dankt für die ständige Begeisterung, mit der es so viele Jahre hindurch die Dienste begleitete, die unser Freund Karmasinow dem ehrenhaften russischen Gedanken geleistet hat.«

Julia Michajlowna war auf dem Gipfel der Glückseligkeit.

»Ja, ich werde Abschied nehmen; ich werde mein ›Merci‹ sagen und abreisen, und dort ... in Karlsruhe ... werde ich meine Augen schließen«, begann Karmasinow, der angesichts des Lobes allmählich jeden Halt zu verlieren begann.

Wie viele unserer hervorragenden Schriftsteller (und wir haben deren eine ganze Menge), konnte auch er kein Lob vertragen und begann in solchen Fällen trotz seines Scharfsinns schwach zu werden. Aber ich bin der Ansicht, daß dies verzeihlich ist. Man erzählt, daß einer unserer Shakespeares in einem Privatgespräch geradezu herausplatzte: »Wir hervorragenden Männer können gar nicht anders ...« Und er soll es überhaupt nicht bemerkt haben.

»Dort, in Karlsruhe, werde ich meine Augen schließen. Uns hervorragenden Männern bleibt, nachdem wir unser Werk vollbracht haben, nichts anderes übrig, als sobald wie möglich die Augen zuzumachen, ohne eine Belohnung zu suchen. So werde auch ich es machen.«

»Geben Sie mir Ihre Adresse, dann will ich zu Ihnen nach Karlsruhe an Ihr Grab kommen«, bemerkte der Deutsche und begann unbeschreiblich zu lachen.

»Jetzt werden auch Tote mit der Bahn befördert«, sagte unerwartet einer der unbedeutenden jungen Männer.

Liamschin winselte vor Entzücken förmlich auf. Julia Michajlowna zog finster die Augenbrauen zusammen. In diesem Augenblick trat Nikolaj Stawrogin ins Zimmer.

»Und mir wurde gesagt, man hätte Sie heute verhaftet?« sagte er laut, indem er sich vor allen anderen an Stepan Trofimowitsch wandte.

»Nein, es ist nichts haften geblieben«, entgegnete Stepan Trofimowitsch mit einem Wortspiel.

»Aber ich will doch hoffen, daß das Ganze nicht den geringsten Einfluß auf meine Bitte haben wird«, fiel hier Julia Michajlowna ein. »Ich hoffe, Sie werden ohne Rücksicht auf diese bedauerliche Unannehmlichkeit, von der ich bisher noch keinen klaren Begriff habe, nicht unsere schönsten Erwartungen täuschen und uns nicht der Freude berauben, Ihre Vorlesung bei der literarischen Matinee zu hören.«

»Ich weiß nicht ... ich ... bin jetzt ...«

»Ach, das macht mich wirklich ganz unglücklich, Warwara Petrowna. Denken Sie sich nur, gerade, wo ich mich darauf freute, bald einen der bedeutendsten und unabhängigsten Geister Rußlands persönlich kennenzulernen, gerade da erklärt Stepan Trofimowitsch auf einmal, er habe die Absicht, sich von uns fernzuhalten.«

»Das Lob ist so laut ausgesprochen worden, daß ich es selbstverständlich nicht hätte hören sollen«, bemerkte Stepan Trofimowitsch, jedes Wort deutlich und pointiert aussprechend, »aber ich glaube nicht, daß meine Wenigkeit morgen für Ihr Fest wirklich so unentbehrlich ist. Übrigens bin ich ...«

»Aber Sie werden ihn ja verwöhnen!« rief Piotr Stepanowitsch, der gerade ins Zimmer hineingelaufen kam. »Kaum habe ich ihn in Bearbeitung genommen, da fällt es über ihn an einem einzelnen Vormittag plötzlich wie aus dem Füllhorn: eine Haussuchung, eine Verhaftung! Dann faßt ihn ein Polizist am Kragen, und jetzt verhätscheln ihn noch die Damen im Salon unseres obersten Beamten! Da muß ihm ja jedes Knöchelchen vor Entzücken weh tun. So ein Benefizium hat er sich gewiß nicht einmal träumen lassen! Wie wird er jetzt wohl die Sozialisten denunzieren!«

»Das ist ganz unmöglich, Piotr Stepanowitsch. Der Sozialismus ist eine zu große Idee, als daß Stepan Trofimowitsch es nicht anerkennen sollte«, nahm Julia Michajlowna meinen Freund energisch in Schutz.

»Die Idee ist schon groß, aber diejenigen, die sie tragen, sind nicht immer Riesen, et brisons là, mon cher«, schloß Stepan Trofimowitsch, indem er sich an seinen Sohn wandte und sich elegant von seinem Platz erhob.

Aber nun geschah etwas vollkommen Unerwartetes. Herr von Lembke befand sich schon seit einiger Zeit im Salon. Alle sahen ihn eintreten, taten aber so, als ob sie ihn nicht bemerkten. Die immer noch an der früheren Idee festhaltende Julia Michajlowna fuhr fort, ihn zu ignorieren. Er hatte neben der Tür Platz genommen und mit finsterer, strenger Miene den Gesprächen zugehört. Als er aber die Bemerkungen über die Vorgänge am Vormittag hörte, begann er sich unruhig hin und her zu drehen und starrte dabei den Fürsten an, dessen nach vorn ragender, steif gestärkter Vatermörder ihn offenbar geradezu überraschte. Dann, als er Piotr Stepanowitschs Stimme vernahm und diesen selbst hereinlaufen sah, fuhr er plötzlich zusammen. Kaum aber hatte Stepan Trofimowitsch seine Sentenz über die Sozialisten ausgesprochen, als er plötzlich an ihn herantrat. Dabei stieß er unterwegs Liamschin, der nun mit einer Geste der Überraschung und mit gekünsteltem Erstaunen zur Seite sprang, sich die Schulter rieb und so tat, wie wenn er einen schmerzlichen Stoß erhalten hätte.

»Genug!« sagte Herr von Lembke, indem er den erschrockenen Stepan Trofimowitsch energisch an der Hand ergriff und diese aus aller Kraft in der seinen zusammendrückte. »Genug! Die Flibustier unserer Tage sind festgestellt. Kein Wort mehr. Die Maßnahmen sind ergriffen ...«

Er hatte laut gesprochen. So laut, daß es durch das ganze Zimmer schallte. Und er schloß sehr energisch. Der Eindruck, den seine Worte gemacht hatten, war ein außerordentlich peinlicher. Alle empfanden, daß etwas Unangenehmes im Anrücken sei. Ich sah, wie Julia Michajlowna erblaßte. Aber der Effekt wurde von einem dummen Zufall unterbrochen. Nachdem Lembke erklärt hatte, daß Maßnahmen ergriffen seien, drehte er sich kurz um und wollte schnell das Zimmer verlassen, aber beim zweiten Schritt stolperte er über den Teppich und wäre beinah vornüber auf die Nase gefallen. Für einen Augenblick blieb er stehen, betrachtete die Stelle, an der er gestolpert war, sagte laut: »Abändern!« und ging hinaus. Julia Michajlowna eilte ihm nach.

Kaum war sie draußen, als sich sofort ein Lärm erhob, so daß es schwer war, etwas zu verstehen. Einige sagten, er sei »verstört«, andere wieder meinten, er sei »angegriffen«, wieder andere aber zeigten mit dem Finger auf die Stirn, und Liamschin hielt in einer Ecke zwei Finger über den Kopf. Es wurden Anspielungen auf gewisse häusliche Vorgänge gemacht, aber natürlich alles nur im Flüsterton. Niemand griff nach dem Hute, alle warteten. Ich weiß nicht, was Julia Michajlowna inzwischen erreicht hatte, aber nach fünf Minuten kehrte sie zurück und bemühte sich aus aller Kraft, ruhig zu erscheinen. Sie antwortete ausweichend, Andrej Antonowitsch sei ein wenig aufgeregt, was aber nichts zu bedeuten habe, da es bei ihm schon seit seiner Kindheit des öfteren vorkomme; sie behauptete, es »am allerbesten« wissen zu müssen und versicherte, daß das morgige Fest ihn sicherlich aufheitern werde. Dann sagte sie noch einige schmeichelhafte, aber lediglich des Anstandes wegen gesprochene Worte zu Stepan Trofimowitsch und forderte die Komiteemitglieder auf, gleich jetzt, ohne Verzug, die Sitzung zu beginnen. Erst hier schickten sich diejenigen, die nicht zum Komitee gehörten, an, nach Hause zu gehen. Aber die peinlichen Ereignisse dieses verhängnisvollen Tages waren damit noch nicht zu Ende ...

Schon seit dem Augenblick, als Nikolaj Wsewolodowitsch in den Salon getreten war, hatte ich bemerkt, daß Lisa ihn schnell und prüfend ansah und dann lange keinen Blick von ihm abwandte – so lange, daß es schließlich auffiel. Ich sah, daß Mawrikij Nikolajewitsch sich von hinten zu ihr neigte und ihr anscheinend etwas zuflüstern wollte. Aber er änderte offenbar seine Absicht, richtete sich rasch wieder auf und sah dabei alle Anwesenden wie schuldbewußt an. Auch Nikolaj Wsewolodowitsch erregte die allgemeine Neugier. Sein Gesicht war blasser als gewöhnlich und sein Blick außerordentlich zerstreut. Nachdem er beim Hereinkommen seine Frage an Stepan Trofimowitsch gerichtet hatte, schien er ihn sofort vergessen zu haben, und es ist mir, als ob er wirklich auch an die Wirtin heranzutreten und sie zu begrüßen vergessen hatte. Lisa sah er überhaupt nicht an, und nicht, weil er es wollte, sondern lediglich, und das behaupte ich mit allem Nachdruck, weil er sie ebenfalls gar nicht bemerkt hatte. Und da, auf einmal, nach dem kurzen Schweigen, das auf Julia Michajlownas Aufforderung, unverzüglich die letzte Sitzung zu beginnen, gefolgt war, ließ sich plötzlich Lisas helle und absichtlich laute Stimme vernehmen. Sie rief Nikolaj Wsewolodowitsch zu sich heran.

»Nikolaj Wsewolodowitsch,« sagte sie, »ein Hauptmann namens Lebiadkin, der behauptet, ein Verwandter von Ihnen, der Bruder Ihrer Gattin zu sein, schreibt mir fortwährend unanständige Briefe, beklagt sich in diesen über Sie und erbietet sich, mir irgendwelche Sie betreffenden Geheimnisse zu enthüllen. Wenn er tatsächlich Ihr Verwandter ist, so verbieten Sie ihm, bitte, mich zu beleidigen, und befreien Sie mich von diesen lästigen Unannehmlichkeiten.«

Eine furchtbare Herausforderung lag in diesen Worten, und alle begriffen das. Die Beschuldigung lag klar zutage, wennwohl sie auch für Lisa selbst vielleicht etwas plötzlich gekommen war. Ihre Empfindungen glichen denen eines Menschen, der mit geschlossenen Augen vom Dache herunterspringt.

Aber die Antwort, die ihr Nikolaj Stawrogin erteilte, war noch verblüffender.

Erstens erschien schon allein das seltsam genug, daß er durchaus nicht erstaunt war und Lisa mit der ruhigsten Aufmerksamkeit angehört hatte. Weder Verlegenheit noch Zorn malten sich in seinen Zügen. Schlicht und fest, sogar mit der Miene vollständiger Bereitwilligkeit, antwortete er auf die verhängnisvolle Frage:

»Ja, ich habe das Unglück, mit diesem Menschen verwandt zu sein. Ich bin schon seit fast fünf Jahren der Mann seiner Schwester, die eine geborene Lebiadkina ist. Seien Sie überzeugt, daß ich ihm Ihr Verlangen baldmöglichst übermitteln werde. Ich bürge dafür, daß er Sie nicht mehr belästigen wird.«

Nie werde ich den Schrecken vergessen, der sich auf Warwara Petrownas Gesicht malte. Mit irrem Blick erhob sie sich von ihrem Stuhle, wobei sie, wie um sich zu schützen, die rechte Hand vor sich in die Höhe hob. Nikolaj Wsewolodowitsch sah zuerst sie, dann Lisa, dann alle anderen Zuschauer an, lächelte auf einmal in einer maßlos hochmütigen Weise und verließ ohne Eile das Zimmer. Alle sahen, daß Lisa, sowie Nikolaj Wsewolodowitsch sich umwandte, um fortzugehen, vom Sofa aufsprang. Offenbar wollte sie ihm nachlaufen, was sich deutlich aus ihren Bewegungen entnehmen ließ. Aber sie besann sich und lief nicht, sondern ging leise hinaus, ebenfalls ohne zu jemand ein Wort zu sagen und ohne jemand anzusehen, aber natürlich in Begleitung des ihr nachstürzenden Mawrikij Nikolajewitsch ...

Den Lärm und das Gerede in der Stadt an diesem Abend will ich gar nicht erst erwähnen. Warwara Petrowna schloß sich in ihrem Stadthaus ein. Nikolaj Wsewolodowitsch aber fuhr, wie man erzählt, ohne seine Mutter vorher gesehen zu haben, direkt nach Skworeschniki. Stepan Trofimowitsch schickte mich am Abend zu »cette chère amie«, damit ich für ihn die Erlaubnis bekäme, zu ihr kommen zu dürfen. Aber ich wurde von ihr gar nicht empfangen.

Er war furchtbar ergriffen und weinte sogar. »Eine solche Ehe! Eine solche Ehe! Eine solche Schmach für die Familie!« wiederholte er alle Augenblicke. Indessen erinnerte er sich auch an Karmasinow und schimpfte auf ihn ganz fürchterlich. Außerdem bereitete er sich energisch auf die morgige Vorlesung vor, und zwar – eine Künstlernatur! – vor dem Spiegel. Dabei besann er sich auf alle seine scharfsinnigen Aussprüche und Wortspiele (die er in seinem ganzen Leben gemacht und in ein besonderes Heft eingetragen hatte), um sie morgen bei der Vorlesung anzubringen.

»Mein Freund, ich tue das im Interesse der großen Idee«, sagte er zu mir, offenbar, weil er sich verteidigen wollte. »Cher ami, ich habe mich von dem Platz, den ich fünfundzwanzig Jahr lang inne hatte, gerührt und bin plötzlich ins Rutschen geraten. Wohin es geht, weiß ich nicht, aber ich rutsche ...«


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