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Neuntes Kapitel

Stepan Trofimowitsch wird »gepfändet«

Inzwischen trug sich bei uns ein Ereignis zu, das mich in Erstaunen versetzte und Stepan Trofimowitsch geradezu erschütterte. Um acht Uhr morgens kam zu mir seine Nastasia gelaufen mit der Nachricht, der Herr sei »gepfändet« worden. Anfangs konnte ich nicht daraus klug werden; ich begriff nur so viel, daß die »Pfändung« durch Beamte vorgenommen wurde, die gekommen waren, verschiedene Papiere fortnahmen und sie einem Soldaten übergaben, der sie in ein Bündel band und »auf einer Schubkarre wegschaffte«. Diese Nachricht klang ganz wild. In aller Eile begab ich mich sofort zu Stepan Trofimowitsch.

Ich traf ihn in einem ganz wunderlichen Zustande. Er war verstört, sehr aufgeregt, hatte aber zur gleichen Zeit etwas zweifellos Triumphierendes in seiner Miene. In der Mitte des Zimmers siedete auf dem Tisch ein Samowar, und daneben stand ein volles, aber noch unberührtes, vergessenes Glas Tee. Stepan Trofimowitsch schlenderte um den Tisch herum und ging in alle Ecken des Zimmers, ohne sich von seinen Bewegungen Rechenschaft zu geben. Es war wie gewöhnlich in seinem roten, wollenen Kamisol, aber als er mich erblickte, beeilte er sich sofort, die Weste und den Rock anzuziehen, was er früher nie getan hatte, wenn einer der Näherstehenden ihn in diesem roten Kamisol antraf. Er drückte mir sogleich in großer Aufregung und sehr warm die Hand.

»Enfin un ami!« rief er und seufzte aus voller Brust. »Cher, ich habe nur zu Ihnen hingeschickt, und sonst weiß noch niemand etwas davon. Ich muß Nastasia befehlen, die Türe zuzuschließen und niemand hereinzulassen, natürlich mit Ausnahme jener Menschen ... Vous comprenez?«

Er sah mich unruhig an, wie wenn er auf Antwort wartete. Selbstverständlich begann ich sofort, ihn auszufragen und erfuhr dann mit Mühe und Not aus seiner unzusammenhängenden, an Unterbrechungen und unnötigen Einschaltungen überaus reichen Schilderung, daß um sieben Uhr morgens zu ihm, »plötzlich« ein Gouvernementsbeamter gekommen war.

»Pardon, j'ai oublié son nom. II n'est pas du pays, aber ich glaube, er ist vom Lembke mit hierher gebracht worden, quelque chose de bête et d'allemand dans la physionomie. Il s'appelle Rosenthal.«

»Vielleicht Blümer?«

»Blümer, ja, ganz recht, so hieß er. Vous le connaissez? Quelque chose d'hébété et de très content dans la figure, pourtant très sévère, roide et sérieux. Eine unverkennbare Polizistengestalt, einer von denen, die bedingungslos gehorchen, je m'y connais. Ich schlief noch und, denken Sie sich, er bat mich um Erlaubnis, meine Bücher und Manuskripte ›anzusehen‹, oui, je m'en souviens, il a employé ce mot. Er hat mich nicht verhaftet, sondern nur meine Bücher mitgenommen ... Il se tenait à distance, und als er mir den Grund seines Kommens zu erklären begann, da besagte seine Miene, daß ich ... enfin il avait l'air de croire que je tomberai sur lui immediatement et que je commencerai à le battre comme plâtre. Tous ces gens du bas étage sont comme ça, wenn sie es mit einem anständigen Menschen zu tun haben. Natürlich war ich sofort im Bilde. Voilà vingt ans que je m'y prépare. Ich habe ihm alle Schubladen aufgeschlossen und alle Schlüssel ausgehändigt; ich habe ihm selbst, eigenhändig, alles gereicht. J'étais digne et calme. Von den Büchern nahm er nur die im Ausland erschienenen Werke Herzens, ein gebundenes Exemplar der ›Glocke‹, vier Abschriften meiner Dichtung, et enfin tout ça. Dann verschiedene Schriftstücke und Briefe et quelques unes de mes ébauches historiques, critiques et politiques. Das alles hat man davongetragen. Nastasia sagt, ein Soldat hätte es auf dem Schubkarren fortgefahren, und man hätte die Sachen vorher noch mit einer Schürze zugedeckt; oui, c'est cela, mit einer Schürze.«

Das klang wie eine Fieberphantasie. Wer konnte daraus klug werden. Ich fiel von neuem mit Fragen über ihn her. Ich wollte wissen, ob Blümer allein gekommen war oder nicht? In wessen Auftrage? Mit welchem Rechte? Wie er das überhaupt gewagt und was er zur Erklärung gesagt habe?

»Il était seul, bien seul, übrigens war da noch jemand dans l'antichambre, oui, je m'en souviens, et puis ... Übrigens war außerdem noch jemand da, und im Flur stand ein Wächter. Man muß darüber Nastasia fragen, sie weiß das alles besser. J'étais surexcité, voyez-vous. Il parlait, il parlait ... un tas de choses; übrigens hat er sehr wenig gesprochen, im allgemeinen habe ich geredet ... Ich habe ihm mein ganzes Leben geschildert, natürlich nur von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ... J'e'tais surexcité, mais digne, je vous l'assure. Ich fürchte nur, daß ich, wie es mir jetzt scheint, wirklich in Tränen ausgebrochen bin. Die Schubkarre haben sie sich vom Krämer nebenan geholt.«

»O Gott, wie konnte das nur alles geschehen? Aber schildern Sie mir das doch um des Himmels willen genauer, Stepan Trofimowitsch, was Sie da erzählen, klingt ja wie ein Traum!«

»Cher, mir ist selbst so, als ob ich träume ... Savez-vous! Il a prononcé le nom de Teliatnikoff, und ich glaube, daß gerade dieser junge Mann es gewesen ist, der sich im Flur verborgen hielt. Ja, jetzt erinnere ich mich: er schlug mir den Staatsanwalt vor und, glaube ich, noch Dmitrij Mitritsch ... qui me doit encore quinze roubles de Whist, soit dit en passant. Enfin, je n'ai pas trop compris. Aber ich habe ihn überlistet, und was geht mich schließlich Dmitrij Mitritsch an? Ich bat ihn, glaube ich, sehr, die Sache geheimzuhalten; ich bat ihn dringend darum, sehr, ich fürchte sogar, mich dabei vor ihm erniedrigt zu haben, comment croyez-vous? Enfin il a consenti ... Nein, jetzt erinnere ich mich: er ist es gewesen, der mich darum bat; er meinte, es wäre besser, die Sache geheimzuhalten, weil er nur hergekommen sei, um sich verschiedenes ›anzusehen‹ et rien de plus, und weiter nichts, nichts ... und wenn nichts gefunden werden sollte, dann würde die Sache auch gar keine Folgen haben. So daß wir schließlich alles en amis beendet haben; je suis tout-à-fait content.«

»Ich bitte Sie, da hat er Ihnen doch das in solchen Fällen übliche Verfahren und die üblichen Garantien vorgeschlagen, und Sie haben das selbst zurückgewiesen!« rief ich mit der Entrüstung eines Freundes.

»Nein, so ohne Garantien ist es schon besser. Wozu sollen wir einen Skandal heraufbeschwören? Mir ist es lieber, die Sache bleibt bis zu einem gewissen Zeitpunkt en amis ... Sie wissen doch, wenn man es in unserer Stadt erfährt ... mes ennemis ... et puis à quoi bon ce procureur, ce cochon de notre procureur, qui deux fois m'a manqué de politesse et qu'on a rossé à plaisir l'autre année chez cette charmante et belle Natalia Pawlowna, quand il se cacha dans son boudoir. Et puis, mon ami, widersprechen Sie mir nicht und entmutigen Sie mich nicht, bitte, denn es gibt nichts Unerträglicheres, als wenn ein Mensch unglücklich ist, und ihm gerade dann hundert Freunde nachweisen, wie dumm er gehandelt hat. Aber setzen Sie sich und trinken Sie Tee; und ich muß gestehen, ich bin sehr müde ... wäre es nicht besser, wenn ich mich hinlegte und mir Essigumschläge um den Kopf machte? Wie meinen Sie?«

»Unbedingt!« rief ich. »Sogar Eis wäre gut. Sie sind sehr angegriffen. Sie sehen blaß aus, und Ihre Hände zittern, legen Sie sich hin, ruhen Sie sich aus und erzählen Sie vorläufig nichts weiter. Ich werde mich hier neben Sie setzen und warten.«

Er konnte sich nicht dazu entschließen, sich hinzulegen, aber ich bestand darauf. Nastasia brachte Essig in einer Tasse, ich befeuchtete ein Handtuch und legte es ihm auf den Kopf. Daraufhin stieg Nastasia auf einen Stuhl und zündete in der Ecke vor dem Heiligenbilde ein Lämpchen an. Ich bemerkte das mit nicht geringem Staunen; ein Lämpchen war früher überhaupt nicht vorhanden gewesen, und nun war es jetzt mit einem Male da.

»Das habe ich vorhin angeordnet, gleich nachdem die Beamten fortgegangen waren«, murmelte Stepan Trofimowitsch, indem er mich schlau ansah. »Quand on a de ces choses-là dans sa chambre et qu'on vient vous arrêter, dann macht das einen Eindruck, und schließlich müssen sie dann melden, was sie gesehen haben ...«

Nachdem Nastasia mit dem Lämpchen fertig war, stellte sie sich an die Tür, legte die rechte Hand gegen die Backe und begann ihn mit weinerlicher Miene anzusehen.

»Eloignez-la unter irgendeinem Vorwand,« rief er mir vom Sofa zu, indem er mir mit dem Kopf winkte, »ich kann diese russische Art des Mitleids nicht leiden, et puis ça m'embête.«

Aber sie ging von selbst fort. Ich bemerkte, daß er immer nach der Türe hinspähte und sich bemühte, nach dem Vorzimmer zu horchen.

»Il faut être prêt, voyez-vous,« sagte er mir mit einem vielbedeutenden Blick, »chaque moment ... können sie herkommen und mich mitnehmen und hui, – ist ein Mensch verschwunden!«

»Mein Gott! Wer soll denn herkommen? Wer wird Sie mitnehmen?«

»Voyez-vous, mon cher, ich habe ihn, als er fortging, offen gefragt, was man mit mir jetzt machen wird.«

»Da hätten Sie ihn lieber gleich fragen sollen, wohin man Sie verbannen wird!« rief ich ebenso entrüstet wie vorhin.

»Das habe ich ja auch gemeint, als ich meine Frage stellte, aber er ging weg, ohne mir eine Antwort darauf gegeben zu haben. Voyez-vous: was Wäsche, Kleidung, insbesondere warme Kleidung anbetrifft, da werden sie schon selbst anordnen, was ich mitnehmen soll. Befiehlt man mir, etwas mitzunehmen, dann ist es gut. Es ist aber auch möglich, daß man mich in einem einfachen Soldatenmantel fortschicken wird. Aber«, fuhr er fort, indem er die Stimme senkte und besorgt nach der Türe hinsah, durch die Nastasia hinausgegangen war, »ich habe fünfunddreißig Rubel heimlich in einen Riß in der Westentasche geschoben, hier, fühlen Sie einmal ... Ich nehme doch an, daß man mir die Weste nicht wegnehmen wird. Und zum Schein habe ich im Portemonnaie sieben Rubel gelassen; ich kann dann sagen: ›das ist alles, was ich habe‹. Wissen Sie, hier auf dem Tisch ließ ich Kleingeld und Kupfermünzen herumliegen, so daß sie nicht auf den Gedanken kommen können, daß ich Geld versteckt habe, sondern wirklich glauben werden, daß dies alles sei. Denn schließlich kann Gott allein wissen, wo ich die kommende Nacht zubringen werde.«

Bei diesen wahnsinnigen Worten meines Freundes ließ ich den Kopf sinken. Es war mir ganz klar, daß, wenn die Sache sich tatsächlich so verhielt, wie er sie schilderte, von einer wirklichen Haussuchung, geschweige denn von einer Verhaftung keine Rede sein konnte. Er war eben ganz verwirrt. Allerdings trug sich das alles damals noch vor dem Inkrafttreten der jetzigen neuen Gesetze zu. Aber es stimmt auch, daß man ihm ein regelrechteres Verfahren vorgeschlagen hatte (wie es aus seinen eigenen Mitteilungen hervorging), das er aber ablehnte, weil er sie alle ›überlisten‹ wollte ... Natürlich bestand früher, das heißt noch vor ganz kurzer Zeit, für den Gouverneur die Möglichkeit, in ganz außerordentlichen Fällen auch ... Aber von welchem außerordentlichen Fall konnte hier überhaupt die Rede sein? Das war es, was mir den klaren Blick raubte.

»Es hat da sicherlich ein Telegramm aus Petersburg vorgelegen«, sagte plötzlich Stepan Trofimowitsch.

»Ein Telegramm! Über Sie? Wegen der Schriften von Herzen und wegen Ihrer Dichtung? Sie sind wohl von Sinnen! Weswegen sollte man Sie da verhaften?«

Ich war einfach ärgerlich geworden. Er schnitt ein saures Gesicht und fühlte sich offenbar beleidigt, aber nicht, weil ich ihn angeschrien hatte, sondern wegen meiner Annahme, daß zu seiner Festnahme kein Grund vorliege.

»Wer will heutzutage wissen, wofür man ihn verhaften kann?« murmelte er rätselhaft. Ein törichter, ganz wilder Gedanke fuhr mir durch den Sinn.

»Stepan Trofimowitsch, sagen Sie mir als Ihrem Freunde,« rief ich, »als Ihrem aufrichtigen Freunde, der Sie nicht verraten wird: gehören Sie irgendeinem geheimen Bund, an oder nicht?«

Und siehe da, zu meiner Verwunderung war er auch hier über sich nicht im klaren und konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er einem geheimen Bunde angehörte oder nicht.

»Wie man es nimmt, voyez-vous ...«

»Wie meinen Sie das mit dem ›wie man's nimmt‹?«

»Wenn man von ganzem Herzen dem Fortschritt ergeben ist ... Wer kann denn dabei garantieren? Man denkt, daß man keinem solchen Bunde angehört, und dann stellt sich mit einemmal heraus, daß es doch der Fall ist.«

»Aber das ist ja unmöglich! Hier gibt es doch nur entweder ein Ja oder ein Nein!«

»Cela date de Pétersbourg, als ich mit ihr zusammen dort eine Zeitschrift gründen wollte. Da liegt die Wurzel der ganzen Sache. Damals sind wir beide ihnen durchgeschlüpft, und man hat uns vergessen; jetzt aber hat man sich unserer wieder erinnert. Cher, cher, kennen Sie mich denn nicht!« rief er schmerzerfüllt. »Und man wird uns festnehmen, in einen Bauernwagen setzen und dann heißt es: marsch nach Sibirien, für das ganze Leben; oder man wird in eine Kasematte gesperrt und vergessen ...«

Hier brach er in heiße Tränen aus, die ihm plötzlich aus den Augen stürzten. Er bedeckte sein Gesicht mit einem rotseidenen Taschentuch und schluchzte, schluchzte etwa fünf Minuten lang krampfhaft. In mir drehte sich schier alles um. Dieser Mensch, der uns zwanzig Jahre lang prophetische Lehren erteilt hatte, der unser Prediger, unser Führer, unser Patriarch, unser Kukolnik gewesen war, der sich eine so hohe, majestätische Stellung über uns allen geschaffen hatte, dieser Mann, vor dem wir uns von ganzem Herzen gebeugt hatten und uns das zur Ehre anrechneten, – er schluchzte jetzt, plärrte wie ein kleiner, unartig gewesener Knabe, der auf die Rute wartet, die der Lehrer eben herbeiholt. Er tat mir furchtbar leid. An den »Bauernwagen« glaubte er offenbar ebenso fest, wie daran, daß ich neben ihm saß. Und er erwartete seine Verhaftung gleich an diesem Vormittage noch, sofort, augenblicklich, und nur, weil er Schriften von Herzen besessen und irgendeine Dichtung verfaßt hatte! Eine solche vollkommene, unübertreffliche Unkenntnis der alltäglichen Wirklichkeit war rührend, zugleich aber auch ein wenig widerwärtig.

Endlich hörte er auf zu weinen, stand vom Sofa auf und begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen, wobei er das Gespräch mit mir weiterführte, aber alle Augenblicke durchs Fenster sah oder aus dem Zimmer hinaushorchte. Die Fortsetzung unseres Gespräches war eigentlich recht zusammenhangslos. Alle meine Versicherungen und Beruhigungsversuche sprangen von ihm ab wie Erbsen von der Wand. Er hörte nur wenig auf mich; aber dennoch war es ihm ein dringendes Bedürfnis, daß ich beruhigend zu ihm sprach und unaufhörlich in diesem Sinne redete. Ich sah deutlich, daß er mich jetzt schlechterdings nicht entbehren konnte und mich um keinen Preis fortgelassen hätte. So blieb ich denn, und wir saßen länger als zwei Stunden zusammen. Im Laufe des Gesprächs erwähnte er, daß Blümer zwei Flugblätter bei ihm gefunden und mitgenommen hatte.

»Wie? Flugblätter!« rief ich, da ich dummerweise einen Schreck bekam. »Haben sie denn ...«

»Ach, man hat mir da zehn Stück zugesteckt«, erwiderte er ärgerlich. (Er sprach jetzt mit mir bald ärgerlich und hochmütig, bald wieder furchtbar kläglich und demütig.) »Aber acht davon habe ich schon wieder aus dem Hause geschafft, so daß Blümer nur noch zwei beschlagnahmen konnte ...«

Und plötzlich wurde er ganz rot vor Entrüstung.

»Vous me mettez avec ces gens-là! Können Sie denn wirklich annehmen, daß ich imstande bin, mit diesen Schurken etwas Gemeinsames zu haben, mit diesen heimlichen Zusteckern, mit meinem lieben Söhnchen Piotr Stepanowitsch, avez ces esprits-forts de la lacheté«? O mein Gott!«

»Pah, hat man Sie da vielleicht irgendwie mit denen in einen Topf geworfen ... Übrigens ist das Unsinn, das ist ja ganz unmöglich«, bemerkte ich.

»Savez-vous«, entfuhr es ihm auf einmal, »ich habe mitunter die Empfindung, que je ferai là-bas quelque esclandre. Oh, gehen Sie nicht fort, lassen Sie mich nicht allein. Ma carrière est finie aujourd'hui, je le sens. Ich werde mich, wissen Sie, vielleicht auch noch auf jemanden stürzen und ihn beißen, wie jener Unterleutnant ...«

Er sah mich mit einem sonderbaren Blick an, aus dem zugleich Furcht leuchtete wie auch der Wunsch, Furcht zu erregen. Er schien sich in der Tat, je weiter die Zeit vorrückte, ohne daß der »Bauernwagen« erschien, immer mehr und mehr über irgend jemand und über irgend etwas zu ärgern. Er wurde sogar wütend ... Plötzlich stieß Nastasia, die zu irgendeinem Zwecke aus der Küche in das Vorzimmer gegangen war, dort an einen Kleiderständer an und warf ihn um. Stepan Trofimowitsch zuckte zusammen und wurde leichenblaß; als aber die Sache sich aufgeklärt hatte, schimpfte er kreischend auf Nastasia, stampfte grimmig mit den Füßen und jagte sie wieder in die Küche zurück. Eine Minute später sah er mich wie verzweifelt an.

»Ich bin verloren! Cher«, rief er, setzte sich plötzlich neben mich und sah mir mit unbeschreiblich jämmerlicher Miene in die Augen. »Cher, ich fürchte mich nicht vor Sibirien, oh, je vous jure« (es traten ihm sogar Tränen in die Augen), »ich fürchte mich vor etwas anderem ...«

Ich erriet aus seiner Miene, daß er mir endlich etwas Außerordentliches mitteilen wollte, wozu er sich also bisher nicht hatte entschließen können.

»Ich fürchte mich vor der Schande«, flüsterte er geheimnisvoll.

»Was für Schande? Es ist doch das Gegenteil! Glauben Sie mir, Stepan Trofimowitsch, die ganze Sache wird sich heute noch aufklären und zu Ihren Gunsten enden ...«

»Sind Sie so fest davon überzeugt, daß man mir verzeihen wird?«

»Was heißt hier ›verzeihen‹? Was gebrauchen Sie für Ausdrücke? Was haben Sie denn verbrochen? Ich versichere Ihnen, daß Sie vollkommen frei von jeder Schuld sind!«

»Qu'en savez-vous? Mein ganzes Leben war ... cher ... Die werden jetzt alles wieder hervorholen, und ... wenn sie nichts finden, dann ist es um so schlimmer«, fügte er plötzlich zu meiner Überraschung hinzu.

»Wieso denn das?«

»Dann ist es eben noch schlimmer.«

»Ich verstehe nicht.«

»Mein Freund, mein Freund, mag man mich nach Sibirien verschicken, meinetwegen auch nach Archangelsk, mag man mir die bürgerlichen Ehrenrechte aberkennen – wenn ich schon zugrunde gehen soll, dann bin ich bereit, zugrundezugehen! Aber ... ich befürchte etwas anderes ...« fügte er von neuem im Flüsterton hinzu und hatte eine geängstigte Miene und etwas Geheimnisvolles im Wesen.

»Aber was denn, was denn?«

»Man wird mich auspeitschen«, sagte er und sah mich mit ganz verstörtem Blick an.

»Wer wird Sie auspeitschen? Wo? Warum?« rief ich und hatte Angst, mein Freund könnte den Verstand verloren haben.

»Wo? Nun, dort ... wo das gemacht wird.«

»Wo wird denn das gemacht?«

»Ach, cher,« flüsterte er ganz dicht an meinem Ohr, »da geht unter einem plötzlich der Fußboden auseinander, man sinkt bis zur Mitte hinein ... Das ist doch allen bekannt.«

»Ammenmärchen,« rief ich, als ich endlich begriffen hatte, was er meinte, »alte Ammenmärchen! Haben Sie das wirklich bis jetzt noch geglaubt?« Ich mußte laut lachen.

»Ammenmärchen! Wo kommen denn diese Märchen her? Ein Durchgepeitschter verlegt sich doch nicht auf solche Erfindungen. Ich habe mir das schon zehntausendmal im Geiste vorgestellt!«

»Aber weshalb sollte man Sie, gerade Sie bestrafen? Sie haben doch nichts getan!«

»Um so schlimmer. Sie werden sehen, daß ich nichts getan habe und mich einfach durchpeitschen lassen.«

»Und Sie sind überzeugt, daß man Sie zu diesem Zwecke nach Petersburg bringen wird?«

»Mein Freund, ich sagte Ihnen bereits, daß ich mich um nichts mehr gräme, ma carrière est finie. Seit jener Stunde in Skworeschniki, als sie von mir Abschied nahm, ist mir mein Leben nichts mehr wert ... Aber die Schande, die Schande! Que dira-t-elle, wenn sie es erfährt?«

Er sah mich ganz verzweifelt an und wurde feuerrot. Der Ärmste tat mir so leid, daß auch ich die Augen niederschlug.

»Sie wird nichts erfahren, weil Ihnen nichts zustoßen wird. Sie haben mich dermaßen in Erstaunen versetzt, Stepan Trofimowitsch, daß mir wahrhaftig so zumute ist, als ob ich heute zum erstenmal in meinem Leben mit Ihnen spräche.«

»Mein Freund, es handelt sich doch bei mir nicht um Angst. Nehmen wir sogar an, daß man mir verzeihen und mich sogar wieder hierher zurückbringen wird und mir überhaupt nichts tut, – und da, gerade da wird es aus mit mir sein. Elle me soupconnera tout sa vie ... mich, den Dichter, den Denker, den Menschen, den sie zwanzig Jahre lang verehrt hat!«

»Das wird ihr gar nicht einfallen.«

»Doch«, flüsterte er aus tiefster Überzeugung. »Ich habe mit ihr mehrmals darüber gesprochen, in Petersburg noch, in den großen Fasten, kurz vor unserer Abreise, als wir beide unsere Befürchtungen hatten ... Elle me soupconnera toute sa vie ... und wie kann ich sie dann von dem Gegenteil überzeugen? Es wird zu unwahrscheinlich klingen. Und wer wird es überhaupt hier in dieser elenden Stadt glauben. C'est invraisemblable ... Et puis les femmes ... Sie wird sich freuen. Sie wird sehr betrübt sein, als Freundin, aufrichtig betrübt sogar, aber im geheimen wird sie sich freuen ... Ich werde ihr damit eine Waffe fürs ganze Leben gegen mich in die Hand geben! Oh, ich bin verloren! Zwanzig Jahre eines so vollkommenen Glücks mit ihr ... und nun ...«

Er verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Stepan Trofimowitsch, wäre es nicht das Beste, Sie würden Warwara Petrowna sofort von dem Vorgefallenen in Kenntnis setzen?« schlug ich vor.

»Gott soll mich bewahren!« erwiderte er zusammenfahrend und sprang von seinem Platz auf. »Um keinen Preis, niemals! Nach dem, was wir uns beim Abschied in Skworeschniki gesagt haben? Nie–mals!«

Seine Augen begannen zu funkeln.

Nun blieben wir, glaube ich, eine Stunde oder noch länger zusammen und warteten immer noch auf etwas, denn diese Vorstellung hatte sich in seinem Kopf nun auf einmal festgesetzt. Er legte sich wieder hin, schloß sogar die Augen und lag so etwa zwanzig Minuten lang da, ohne ein Wort zu sagen, so daß ich sogar annahm, er wäre eingeschlafen oder eingedrusselt. Plötzlich aber sprang er ungestüm auf, riß sich das Handtuch vom Kopfe, stürzte zum Spiegel, band sich mit zitternden Händen die Halsbinde um und rief mit donnernder Stimme Nastasia, sie solle ihm den Überzieher, den Hut und den Stock bringen.

»Ich ertrage das nicht länger«, rief er mit stockender Stimme. »Ich kann nicht mehr, ich kann nicht! ... Ich gehe selbst hin.«

»Wohin?« fragte ich, ebenfalls aufspringend.

»Zu Lembke. Cher, ich muß es tun, ich kann nicht anders. Es ist meine Pflicht. Ich bin ein Staatsbürger und ein Mensch und kein Holzspänchen, ich habe meine Rechte und will auf meinen Rechten bestehen ... Zwanzig Jahre lang habe ich meine Rechte nicht berücksichtigt, mein ganzes Leben lang habe ich sie freventlich vergessen ... Aber jetzt will ich mein Recht fordern! Er wird mir alles sagen müssen, alles. Er hat ein Telegramm erhalten. Aber er darf mich nicht quälen! Hat er was, dann soll er mich verhaften, verhaften, verhaften!«

Er stieß diese Worte kreischend hervor und stampfte dabei mit den Füßen.

»Diesem Plan kann ich nur zustimmen«, sagte ich absichtlich sehr ruhig, obwohl ich innerlich sehr um ihn in Sorge war. »Das wird in der Tat besser sein als hier mit solcher Beklemmung dazusitzen. Aber Ihre Stimmung gefällt mir nicht; schauen Sie sich nur einmal im Spiegel an, wie Sie aussehen, und ob Sie in dieser Verfassung dahin gehen können. II faut être digne et calme avec Lembke. Sie sind jetzt wirklich imstande, sich dort auf jemand zu stürzen und ihn zu beißen.«

»Ich liefere mich selbst aus. Ich gehe geradeswegs in den Rachen des Löwen ...«

»Aber ich gehe auch mit Ihnen.«

»Ich habe von Ihnen nicht weniger erwartet und nehme ihr Opfer an, das Opfer eines aufrichtigen Freundes, aber nur bis zum Hause, nur bis zum Hause! Sie sollen und dürfen sich nicht durch meine Gesellschaft noch mehr kompromittieren. Oh, croyez-moi, je serai calme! ich fühle mich in diesem Augenblick à la hauteur de tout, ce qu'il y a de sacré ...«

»Ich werde mit Ihnen vielleicht auch ins Haus hineingehen«, unterbrach ich ihn. »Gestern hat mich dieses dumme Komitee durch Wysozkij benachrichtigen lassen, daß man auf mich zähle und mich bitte, bei dem morgigen Feste einer der Festordner zu sein, oder wie sie das nennen ... ich meine, einer von jenen sechs jungen Leuten, deren Aufgabe darin besteht, daß sie auf die Präsentierbretter aufpassen, den Damen den Hof machen, den Gästen ihre Plätze anweisen und eine Schleife aus weißen und roten Bändern auf der linken Schulter tragen. Ich wollte es eigentlich ablehnen, aber warum sollte ich jetzt nicht unter dem Vorwande, mit Julia Michajlowna selbst darüber reden zu wollen, mit Ihnen ins Haus kommen? ... Sehen Sie, so können wir zusammen hingehen.«

Er hörte mir kopfnickend zu, aber ich hatte den Eindruck, als wenn er gar nichts verstanden hätte. Wir standen auf der Schwelle.

»Cher,« sagte er und streckte die Hand nach der Ecke aus, wo vor dem Heiligenbild ein Lämpchen brannte, »cher, ich habe nie daran geglaubt, aber ... meinetwegen, meinetwegen!« Er bekreuzte sich. »Allons!«

»Na, so wird es besser sein«, dachte ich, als ich mit ihm aus dem Hause hinaustrat. »Unterwegs wird schon die frische Luft Abhilfe schaffen, wir werden uns beruhigen, nach Hause zurückkehren und schlafen gehen ...«

Aber ich hatte meine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Gerade unterwegs stieß uns ein Abenteuer zu, das Stepan Trofimowitsch noch heftiger erschütterte und ihn endgültig in seinem Vorhaben bestärkte ... so daß ich, offengestanden, von unserem Freund gar nicht solchen Schneid erwartet hätte, wie er ihn plötzlich an diesem Vormittag bewies. Armer Freund, guter Freund!


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