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Zweiter Teil. Fortsetzung

Sechstes Kapitel

Piotr Stepanowitsch ist geschäftig

1

Der Tag, an dem das Fest stattfinden sollte, war endgültig festgesetzt, aber Herr von Lembke wurde immer trüber und nachdenklicher. Er war von sonderbaren, unheilvollen Ahnungen erfüllt, und das schien Julia Michajlowna sehr zu beunruhigen. Allerdings war nicht alles ganz im besten Zustande. Unser früherer gutherziger Gouverneur hatte die Verwaltung nicht in der gewünschten Ordnung hinterlassen; zur Zeit rückte die Cholera heran; an manchen Orten nahmen Viehseuchen überhand; den ganzen Sommer hindurch hatten in den Städten und Dörfern Feuersbrünste gewütet, und im Volke gewann das törichte Gerücht von Brandstiftungen immer mehr und mehr an Boden. Das Räuberwesen im Bezirk war im Vergleich mit den früheren Zeiten ums Doppelte angewachsen. Aber das alles wäre natürlich durchaus nicht so schlimm gewesen, wenn nicht noch andere, schwerwiegendere Gründe hinzugekommen wären, die die Ruhe des bisher so glücklichen Andrej Antonowitsch entschieden störten.

Am meisten stutzte Julia Michajlowna darüber, daß er mit jedem Tag schweigsamer und seltsamerweise auch verschlossener wurde. Was hätte er wohl vor ihr überhaupt zu verbergen gehabt? Allerdings widersprach, er ihr nur selten und fügte sich meistenteils ihren Wünschen ganz und gar. Auf ihren dringenden Wunsch hin waren zum Beispiel zwei oder drei gewagte und beinah gesetzwidrige Maßnahmen getroffen, die auf die Erweiterung und Verstärkung der Amtsbefugnisse des Gouverneurs hinausliefen. Auch wurde mehrmals zu demselben Zweck in gewissen Fällen ein Auge zugedrückt und ganz bedenkliche Nachsicht geübt; so waren zum Beispiel einige Menschen, die verdient hätten, vors Gericht gestellt und nach Sibirien verbannt zu werden, einzig und allein auf Julia Michajlownas Andringen nicht nur unbehelligt gelassen, sondern sogar zu einer Auszeichnung vorgeschlagen worden. Auf gewisse Anfragen und Beschwerden beschloß man, grundsätzlich keine Antwort zu erteilen. Das kam jedoch erst später an den Tag. Herr von Lembke unterschrieb nicht nur alles, sondern beschäftigte sich überhaupt niemals mit der Frage, in welchem Maße seine Frau die eigentlich ihm allein obliegende amtliche Tätigkeit ausübte. Dafür begann er aber auf einmal, sich wegen »reiner Lappalien« zu ärgern und zu sträuben und versetzte Julia Michajlowna dadurch in großes Erstaunen. Natürlich empfand er das Bedürfnis, sich für ganze Tage des Gehorsams durch kurze Minuten der Auflehnungen zu entschädigen. Unglücklicherweise vermochte Julia Michajlowna trotz all ihres Scharfsinns diesen edlen Zug eines edlen Charakters nicht zu verstehen. Leider hatte sie für derlei Dinge keine Zeit übrig, und daraus erwuchsen sehr viele Mißverständnisse.

Es geziemt mir nicht, gewisse Dinge zu berichten, und außerdem verstehe ich mich auch nicht darauf. Über Fehler in Verwaltungsangelegenheiten zu urteilen ist auch nicht meine Sache, und so will ich denn diese Seite der Angelegenheit völlig beiseite lassen. Als ich diese meine Chronik begann, hatte ich ganz andere Ziele im Auge. Außerdem wird vieles ohnehin durch die gerichtliche Untersuchung, die jetzt in unserem Gouvernement in die Wege geleitet ist, aufgeklärt werden, und man braucht nur noch ein wenig zu warten. Einige Erläuterungen werde ich indessen doch nicht umgehen können.

Aber ich fahre mit meiner Erzählung über Julia Michajlowna fort. Die arme Dame, die ich aufrichtig bedaure, hätte alles, was sie so reizte und lockte, wie Ruhm und dergleichen mehr, auch wohl ohne diese starken und exzentrischen Schritte erreichen können, durch die sie sich bei uns gleich vom ersten Tag an ausgezeichnet hatte. Aber ob nun infolge einer überpoetischen Veranlagung, ob infolge der langen, traurigen Mißerfolge in ihrer ersten Jugend, jedenfalls gleich nach der Wandlung in ihrem Schicksal sich auf einmal als eine besonders Berufene, ja fast Gesalbte zu fühlen, auf der sich »Zungen, zerteilet wie vom Feuer setzten« und eben in diesen »Zungen« lag das Unglück, denn sie sind immerhin kein Chignon, der jeden Frauenkopf bedecken kann. Aber gerade von dieser Wahrheit ist es besonders schwer eine Frau zu überzeugen. Im Gegenteil: nur wer einer Frau nach dem Munde spricht, hat bei ihr Glück. Und bei Julia Michajlowna tat man es bei uns um die Wette. Die Ärmste wurde mit einemmal zum Spielball der verschiedensten Einflüsse, während sie sich gleichzeitig einbildete, völlig originell zu sein. Viele geschickte Burschen hatten sich ihre Gutmütigkeit zunutze gemacht und während der kurzen Zeit, wo sie bei uns Gouverneurin war, ihr Schäfchen ins Trockene gebracht. Und was für ein Mischmasch kam bei ihr unter dem Scheine der Selbständigkeit heraus! Ihr gefiel der Großgrundbesitz und das aristokratische Element und die Erstarkung der Machtbefugnisse des Gouverneurs sowohl, als auch das demokratische Element und die neuen Einrichtungen und zugleich auch die alte Ordnung und die Freidenkerei und die sozialistischen Ideen, der strenge Ton des aristokratischen Salons und die beinah an den Kneipenton erinnernde Ungeniertheit der sie umgebenden jungen Leute. Sie schwärmte davon, einmal in der Lage zu sein, alle »glücklich zu machen« und Unversöhnliches zu versöhnen oder, richtiger gesagt, alle und alles in der Anbetung ihrer eigenen Person zu vereinigen. Sie hatte auch ihre persönlichen Lieblinge. So gefiel ihr zum Beispiel ganz besonders Piotr Stepanowitsch, der sich übrigens unter anderem auch der gröbsten Schmeicheleien bediente. Aber sie fand an ihm noch aus einem anderen Grunde Gefallen. Dieser Grund war sehr wunderlich und für die arme Dame außerordentlich bezeichnend. Sie hoffte nämlich immer, er würde ihr eine ganze politische Verschwörung aufdecken. So schwer man sich das auch vorzustellen vermag, es verhielt sich aber tatsächlich so. Aus irgendeinem Grunde hatte sie sich eingebildet, daß sich im Gouvernement bestimmt eine politische Verschwörung verberge. Dadurch, daß Piotr Stepanowitsch mitunter schwieg und bei anderen Gelegenheiten gewisse Andeutungen machte, bestärkte er sie in dieser sonderbaren Idee immer mehr und mehr. Von ihm selbst hatte sie die Vorstellung, als stehe er mit allem, was es in Rußland an revolutionären Elementen gäbe, in Verbindung, gleichzeitig aber daß er ihr selbst bis zur Vergötterung ergeben sei. Die Aufdeckung der Verschwörung, der Dank aus Petersburg, die großartige Laufbahn in der Zukunft und die Einwirkung auf die jungen Leute durch »Freundlichkeit«, um sie am Rande des Verderbens zurückzuhalten: – das alles vertrug sich sehr gut miteinander in ihrem phantasievollen Kopf. Irgendwie war sie zu der unerschütterlichen Überzeugung gelangt, daß sie Piotr Stepanowitsch bereits besiegt und gerettet hätte, und glaubte nun fest daran, daß es ihr bei den andern ebensogut gelingen würde. Keiner, kein einziger von ihnen sollte zugrunde gehen; sie wollte sie alle retten; sie wollte sie selbst zuerst in verschiedene Klassen einteilen und dann nach und nach über sie berichten; sie malte sich schon aus, wie sie das alles vom Standpunkt der höchsten Gerechtigkeit machen würde, und sagte sich, daß vielleicht sogar die Geschichte und der ganze russische Liberalismus ihren Namen segnen würden. Die Verschwörung wäre aber dabei dennoch aufgedeckt worden. So gedachte sie alle nur möglichen Vorteile mit einemmal zu erhaschen.

Aber es erschien ihr durchaus notwendig, daß Andrej Antonowitsch wenigstens am Tage des Festes ein vergnügtes Gesicht machte. Er mußte unbedingt irgendwie beruhigt und aufgeheitert werden. Zu diesem Zwecke kommandierte sie zu ihm Piotr Stepanowitsch und hoffte dabei, daß dieser ihn durch irgendeine ihm allein bekannte Art und Weise, vielleicht sogar durch irgendeine Mitteilung, die nur er zu machen in der Lage wäre, und die dann sozusagen aus erster Hand kommen würde, beruhigen könnte. Auf die Geschicklichkeit Piotr Stepanowitschs setzte sie ihr volles Vertrauen. Der junge Mann war schon seit langem nicht mehr in Herrn von Lembkes Arbeitszimmer gewesen. Und nun kam er zu ihm gerade in einem Augenblick hereingelaufen, da sich der zu Erheiternde in besonders schlechter Stimmung befand.

2

Es hatte eine ganz eigentümliche Verkettung von Ereignissen stattgefunden, aus der Herr von Lembke durchaus nicht klug werden konnte. In jenem Kreise, in dem Piotr Stepanowitsch noch vor kurzem an einem Trinkgelage teilgenommen hatte, erhielt bald darauf ein Unterleutnant von seinem nächsten Vorgesetzten einen mündlichen Verweis. Das geschah vor der ganzen Kompanie. Der Unterleutnant war ein junger Mann, der erst vor kurzem aus Petersburg gekommen war, sich stets schweigsam und finster verhielt und eine selbstbewußte Miene hatte, obwohl er klein, dick und rotbackig war. Er konnte die Schande nicht ertragen und stürzte sich plötzlich auf seinen Kommandeur mit gesenktem Kopf und einem unerwarteten Aufkreischen, über das die ganze Kompanie erstaunt war, versetzte ihm einen Schlag und biß ihn aus aller Kraft in die Schulter. Nur mit Mühe gelang es, ihn loszureißen. Es konnte gar kein Zweifel bestehen, daß er verrückt geworden war; wenigstens stellte es sich heraus, daß er in der letzten Zeit ganz unmögliche sonderbare Handlungen begangen hatte. So warf er zum Beispiel aus seinem Quartier zwei dem Wirte gehörende Heiligenbilder hinaus und zerhackte eins davon sogar mit dem Beil; in seinem Zimmer lagen auf drei Untergestellen, die große Ähnlichkeit mit Chorpulten hatten, die Werke von Vogt, Moleschott und Büchner, und er zündete vor jedem Chorpult ein paar wächserne Kirchenlichter an. Der Menge der bei ihm gefundenen Bücher zufolge konnte man annehmen, daß er ein sehr belesener Mann war. Hätte er fünfzigtausend Franken gehabt, so wäre er vielleicht nach den Marquesasinseln gefahren, wie der »Kadett«, von dem mit so heiterem Humor in einer seiner Schriften Herzen erzählt. Als dieser Unterleutnant festgenommen wurde, fand man in seinen Taschen und in seiner Wohnung eine ganze Menge ganz toller Flugblätter.

Dieser Fund war indessen an sich nur eine Lappalie und meiner Ansicht nach keineswegs besorgniserregend. Hatten wir etwa wenig dergleichen gesehen? Zudem stellten sich die Blätter als nicht einmal neu heraus: genau dieselben Proklamationen waren, wie man später erzählte, unlängst auch im Gouvernement Ch. verbreitet worden, und Liputin, der vor anderthalb Monaten in jenen Kreis und in ein benachbartes Gouvernement gereist war, versicherte schon damals, genau dieselben Blätter gesehen zu haben. Aber was Andrej Antonowitsch am meisten überraschte, war der Umstand, daß der Verwalter der Schpigulinschen Fabrik gerade zur selben Zeit der Polizei zwei oder drei Päckchen genau derselben Flugblätter, wie sie der Unterleutnant besessen hatte, brachte, und zwar mit der Nachricht, sie wären im Laufe der Nacht auf den Fabrikhof geworfen worden. Die Päckchen waren noch nicht aufgemacht, und so hatte noch keiner der Arbeiter den Inhalt derselben erfahren. Die Tatsache war durchaus nicht bedeutungsvoll, aber Andrej Antonowitsch geriet in ein angestrengtes Grübeln. Das Ganze erschien ihm als eine komplizierte Verkettung von Ereignissen.

In dieser Fabrik der Gebrüder Schpigulin hatte übrigens gerade damals jene »Schpigulinsche Geschichte« begonnen, die bei uns soviel Lärm hervorgerufen und mit mancherlei Varianten auch in die hauptstädtischen Zeitungen übergegangen war. Vor etwa drei Wochen war dort nämlich ein Arbeiter an asiatischer Cholera erkrankt und gestorben. Bald darauf wurden noch einige Erkrankungsfälle festgestellt. Alle in der Stadt gerieten in große Angst, denn die Cholera rückte aus dem Nachbargouvernement heran. Ich will gleich sagen, daß bei uns nach Möglichkeit befriedigende sanitäre Maßnahmen getroffen waren, um dem ungebetenen Gaste in entsprechender Weise entgegenzutreten. Aber die Fabrik der Schpigulins, die Millionäre waren und über große Verbindungen verfügten, hatte man irgendwie übersehen. Und da begannen alle auf einmal zu schreien, daß gerade dort ein geheimer Herd, eine Brutstätte der Krankheit sei, und daß in der Fabrik selbst und besonders in den Arbeiterwohnungen von jeher eine solche Unreinlichkeit herrsche, daß, wenn es im Lande noch überhaupt keine Cholera gegeben hätte, sie dort unbedingt von selbst entstehen müßte. Die versäumten Maßnahmen wurden natürlich sofort angeordnet, und Andrej Antonowitsch bestand energisch auf ihrer unverzüglichen Durchführung. In kaum drei Wochen war die Fabrik bereits gereinigt, aber die Besitzer hatten sie nun aus irgendeinem unbekannten Grunde geschlossen. Der eine der Brüder Schpigulin lebte beständig in Petersburg, und der andere reiste nach der behördlichen Verfügung über die Reinigung nach Moskau ab. Der Verwalter schritt zur Entlassung der Arbeiter und betrog sie, wie sich jetzt herausstellte, bei der Auszahlung der Löhne in der schamlosesten Weise. Die Arbeiter begannen zu murren und verlangten eine gerechte Entlohnung; in ihrer Dummheit gingen sie damit zur Polizei, wobei sie übrigens nicht viel Geschrei machten und sich nicht gar zu sehr aufregten. Und gerade in dieser Zeit erhielt Andrej Antonowitsch die von dem Verwalter abgelieferten revolutionären Flugblätter.

Piotr Stepanowitsch erlaubte sich als ein guter Hausfreund und überdies als Julia Michajlownas Beauftragter, unangemeldet in das Arbeitszimmer hineinzustürmen. Als Herr von Lembke ihn erblickte, runzelte er finster die Stirn und blieb mit recht unfreundlicher Miene am Tische stehen. Bis dahin war er im Zimmer auf- und abgegangen und hatte mit einem Beamten seiner Kanzlei, Blümer, über irgend etwas unter vier Augen gesprochen. Dieser Blümer war ein ungelenker und mürrischer Deutscher, den Andrej Antonowitsch trotz der heftigsten Opposition von Seiten Julia Michajlownas aus Petersburg mitgebracht hatte. Als Piotr Stepanowitsch hineinkam, machte der Beamte einige Schritte nach der Tür zu, ging aber nicht hinaus. Und der junge Mann hatte sogar den Eindruck, als hätte Herr von Lembke mit seinem Untergebenen einen bedeutsamen Blick gewechselt.

»Aha! Da habe ich Sie endlich einmal erwischt, Sie geheimnisvoller Befehlshaber!« rief Piotr Stepanowitsch lachend und bedeckte mit seiner Hand ein Flugblatt, das gerade auf dem Tische lag. »Damit wollen Sie wohl Ihre Sammlung vergrößern, wie?«

Andrej Antonowitsch wurde feuerrot. Etwas verzerrte auf einmal sein ganzes Gesicht.

»Lassen Sie das! Lassen Sie das sofort!« rief er, indem er vor Zorn geradezu auffuhr. »Und unterstehen Sie sich nicht ... mein Herr ...«

»Was haben Sie denn? Sie scheinen sich zu ärgern?«

»Ich muß Ihnen erklären, mein Herr, daß ich durchaus nicht gewillt bin, Ihr sans façon noch länger zu ertragen, und ich bitte Sie, nicht zu vergessen ...«

»Pfui Teufel! Er ist ja wirklich ganz außer sich!«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« schrie Herr von Lembke und stampfte mit den Füßen auf den Teppich. »Und erdreisten Sie sich nicht ...«

Gott weiß, wie dieser Auftritt noch geendet hätte. Leider war hier außer allem anderen noch ein besonderer Umstand, von dem weder Piotr Stepanowitsch noch Julia Michajlowna eine Ahnung hatten. Der unglückliche Andrej Antonowitsch war nämlich in seiner Nervosität schon so weit gekommen, daß er in den letzten Tagen im stillen seiner Frau wegen auf Piotr Stepanowitsch eifersüchtig war. Wenn er allein war, namentlich nachts, verlebte er grübelnd sehr unangenehme Minuten.

»Und ich habe gedacht, daß, wenn ein Mensch einem andern zwei Tage hintereinander bis nach Mitternacht unter vier Augen seinen Roman vorliest und ein Urteil zu hören wünscht, dieser Mensch dann wenigstens für seine Person über diese äußeren Formalitäten hinausgewachsen ist ... Mich empfängt Julia Michajlowna als einen sehr guten Bekannten; wie soll man sich danach das Ganze erklären und sich dazu verhalten?« erwiderte Piotr Stepanowitsch sogar nicht ohne eine gewisse Würde. »Da haben Sie übrigens auch Ihren Roman«, fügte er hinzu und legte ein großes, schweres, zusammengerolltes und fest in blaues Papier gewickeltes Heft auf den Tisch.

Lembke wurde rot und geriet ein wenig aus der Fassung.

»Wo haben Sie es denn gefunden?« fragte er vorsichtig in einer Anwallung von Freude, die er aus aller Kraft zu unterdrücken suchte. Aber es gelang ihm nicht.

»Denken Sie sich nur, das Heft ist genau in demselben Zustande, in dem ich es mitgenommen hatte, genau so zusammengerollt, hinter die Kommode gefallen. Ich muß es wohl, als ich damals nach Hause kam, ungeschickt hingeworfen haben. Erst vorgestern haben wir es mit Mühe und Not beim Scheuern des Zimmers gefunden. Ich habe mir Ihretwegen eine gehörige Arbeit gemacht!«

Lembke schlug ernst die Augen nieder.

»Zwei Nächte hintereinander habe ich um Ihretwillen nicht geschlafen. Vorgestern hat man das Manuskript gefunden; da habe ich es nun noch behalten und gelesen. Am Tage habe ich keine Zeit, also las ich eben nachts. Nun – ich bin mit dem Gelesenen unzufrieden; es ist nicht meine Anschauungsweise. Indessen können Sie darauf pfeifen; ich bin noch nie ein Kritiker gewesen. Aber obwohl ich unzufrieden war, Väterchen, konnte ich mich doch nicht davon losreißen! Das vierte und fünfte Kapitel, das ... das ... das ... das ist ja einfach zum Schreien! Und wieviel Humor Sie hineingestopft haben! Ich habe aus vollem Halse lachen müssen. Wie Sie es doch verstehen, jemand lächerlich zu machen sans que cela paraisse! Nun, im neunten Kapitel und im zehnten, da ist nur von der Liebe die Rede; davon verstehe ich nichts; indessen wirkt es doch sehr stark; beim Lesen des Briefes von Igrenjew habe ich beinahe losgeheult, obwohl Sie ihn so zart gezeichnet haben ... Wissen Sie, das ist ja sehr gefühlvoll, und zu gleicher Zeit scheinen Sie ihn in ein falsches Licht rücken zu wollen, nicht wahr? Habe ich erraten oder nicht? Aber für den Schluß hätte ich Sie am liebsten durchgeprügelt! Was für Gedanken führen Sie da durch? Das ist ja die frühere Vergötterung des Familienglücks, des Kinderzuwachses und der Erwerbung von Kapitalien! Ganz wie in alten Märchen: ›Und nun lebten sie noch lange in Glück und Zufriedenheit.‹ Ich bitte Sie! Den Leser nehmen Sie bestimmt gefangen, wie denn selbst ich mich gar nicht von Ihrem Werk losreißen konnte; aber das ist ja um so schlimmer! Der Leser ist ja nun einmal dumm und bleibt es auch; da müssen ihn kluge Leute aufklären; Sie aber ... Nun ja, genug; leben Sie wohl! Ich hoffe, Sie das nächste Mal nicht so ärgerlich zu finden. Ich war nur hergekommen, um Ihnen ein paar Worte zu sagen, die allerdings notwendig sind; aber Sie sind ja so ...«

Andrej Antonowitsch hatte unterdessen seinen Roman genommen und ihn in einen eichenen Bücherschrank eingeschlossen, wobei er unter anderem Herrn Blümer mit den Augen einen Wink gab, er möchte verschwinden. Dieser machte ein langes, betrübtes Gesicht und entfernte sich.

»Ich bin gar nicht so ein Unmensch wie Sie sagen, sondern ... ich habe immerzu Unannehmlichkeiten«, murmelte er mit finsterem Gesicht, aber nicht mehr zornig und setzte sich an den Tisch. »Nehmen Sie Platz und sagen Sie mir Ihre paar Worte. Ich habe Sie schon lange nicht gesehen, Piotr Stepanowitsch. Aber künftig dürfen Sie nicht wieder so in dieser Ihrer Art hineinstürmen ... Mitunter, wenn man bei der Arbeit ist, macht das ...«

»Meine Art ist nur ...«

»Ich weiß und glaube es Ihnen, daß Sie es ohne Absicht tun. Aber mitunter hat man soviel Geschäftliches zu erledigen und ist so von Sorgen bedrückt ... Setzen Sie sich doch.«

Piotr Stepanowitsch flegelte sich auf das Sofa hin und schlug sofort die Beine unter.

3

»Was haben Sie denn für Geschäfte und Sorgen? Doch nicht etwa diese Lappalie?« fragte er, indem er mit dem Kopfe auf die Flugblätter hinwies. »Ich kann Ihnen von diesen Blättchen so viel herbringen, wie Sie nur haben wollen. Ich habe die Dinger schon im Gouvernement Ch. kennengelernt.«

»Das heißt in der Zeit, als Sie da wohnten?«

»Nun, selbstverständlich nicht in meiner Abwesenheit. Das Blatt hatte noch ein Kopfbild: es war da ein Beil gezeichnet. Gestatten Sie,« fuhr er fort und nahm das Flugblatt in die Hand, »na ja, auch hier ist das Beil! Also ist es dasselbe Flugblatt, genau dasselbe.«

»Ja, ein Beil. Das ist es ja eben: ein Beil!«

»Was ist denn dabei? Haben Sie etwa vor dem Beil Angst?«

»Nein, vor dem Beil nicht ... Und ich habe überhaupt keine Angst; aber diese Sache ... es sind da solche Umstände ...«

»Was denn für Umstände? Daß man es Ihnen aus der Fabrik gebracht hat? Ha, ha! Wissen Sie wohl, daß auf dieser Fabrik die Arbeiter bald selbst Flugblätter verfassen und schreiben, werden.«

»Wieso meinen Sie das?« fragte Herr von Lembke streng und sah Piotr Stepanowitsch forschend an.

»Nun, ganz einfach. Sie müssen auf diese Leute mehr aufpassen. Sie sind ein gar zu gutherziger Mensch, Andrej Antonowitsch! Sie schreiben Romane! Und hier müßte man ganz einfach nach altem Brauch verfahren.«

»Was soll das heißen: ›nach altem Brauch‹? Was sind das für Ratschläge? Die Fabrik ist gereinigt; ich habe es befohlen, und sie ist gereinigt worden.«

»Unter den Arbeitern ist ein Aufstand ausgebrochen. Man müßte sie alle bis auf den letzten Mann durchpeitschen, dann wäre die Sache erledigt.«

»Ein Aufstand? Unsinn! Ich habe es befohlen, und die Fabrik ist gereinigt worden.«

»Ach, Andrej Antonowitsch, Sie sind ein gar zu milder Mensch!«

»Erstens bin ich gar nicht so milde, und zweitens ...« rief Herr von Lembke, der sich wieder verletzt fühlte und dieses Gespräch mit dem jungen Menschen überhaupt nur mit der größten Überwindung führte, und zwar nur aus Neugier, um eben zu sehen, ob dieser ihm vielleicht nicht doch etwas Neues sagen würde.

»Ah, ah! Wieder eine alte Bekannte!« unterbrach ihn Piotr Stepanowitsch und wies auf ein anderes Blatt unter einem Briefbeschwerer, das ebenfalls wie eine revolutionäre Flugschrift aussah und allem Anschein nach im Ausland, aber diesmal mit Versen bedruckt war. »Na, das hier kann ich auswendig: ›Eine lichte Persönlichkeit!‹ Wollen mal sehen; na ja, stimmt! ›Eine lichte Persönlichkeit!‹ Ich bin mit dieser ›Persönlichkeit‹ schon im Auslande bekannt geworden. Wo haben Sie es ausgegraben?«

»Sie sagen, Sie haben das Flugblatt bereits im Auslande gesehen?« fragte Herr von Lembke etwas lebhafter.

»Und ob! Schon vor vier oder sogar vor fünf Monaten.«

»Wie vieles Sie doch im Auslande gesehen haben!« bemerkte Herr von Lembke mit ganz feinem Spott und sah sein Gegenüber von der Seite an. Aber Piotr Stepanowitsch hörte nicht auf ihn, faltete das Blatt auseinander und las laut das folgende Gedicht:

Eine lichte Persönlichkeit.

Deren Sproß, die nichts bedeuten,
Wuchs er unter schlichten Leuten.
Doch verfolgt vom Haß des Zaren
Und der Mißgunst der Bojaren
Wählte er zum Los sich Qualen,
Folter, Pein und Leid. Und allen
Tat er kund: man muß auf Erden
Frei und gleich wie Brüder werden.

Damit Sieg den Aufstand kränze,
Über seiner Heimat Grenze
Floh er weit vor'm Haß des Zaren,
Kerkern, Knuten und Kandaren.
Und das Volk stand weit und breit
Schon zum Freiheitskampf bereit,
Von Smolensk und bis Taschkent
Ward erwartet der Student.

Jeder war ein harter Warter
Auf den Schluß der alten Marter,
Auf das Ende der Bojaren
Und sogar der Macht des Zaren
Und es hieß: »Die Herrn vertreiben,
Boden soll Gemeingut bleiben!
Kirch' und Eh', der Rest des Bösen,
Soll vergehen und verwesen! ...«

»Wahrscheinlich haben Sie das jenem Offizier abgenommen, wie?« fragte Piotr Stepanowitsch.

»Sie haben also auch jenen Offizier gekannt?«

»Und ob. Ich habe da mit ihm zwei Tage lang gekneipt. Es war ihm anzusehen, daß er einmal verrückt werden wird.«

»Vielleicht ist er gar nicht verrückt geworden.«

»Zweifeln Sie daran etwa, weil er seinen Vorgesetzten gebissen hat?«

»Aber, gestatten Sie: wenn Sie diese Verse im Ausland gesehen hatten und diese sich dann bei jenem Offizier ...«

»Wie? Sehr gescheit! Sie scheinen mich zu examinieren, Andrej Antonowitsch? Sehen Sie mal,« begann er auf einmal mit ungewöhnlichem Ernst, »über das, was ich im Auslande zu sehen bekam, habe ich schon gleich nach meiner Rückkehr an der zuständigen Stelle Auskunft gegeben, und meine Erklärungen sind als befriedigend befunden worden. Sonst hätte ich ja diese schöne Stadt durch meine Anwesenheit gar nicht beglücken können. Ich bin der Ansicht, daß meine diesbezüglichen Angelegenheiten erledigt sind, und daß ich keinem Menschen mehr in dieser Hinsicht zur Rechenschaft verpflichtet bin. Und nicht deshalb hat das alles einen Abschluß gefunden, weil ich ein Denunziant bin, sondern einfach, weil ich gar nicht anders handeln konnte. Diejenigen Personen, von denen Julia Michajlowna über mich Briefe bekommen hat, haben in den ganzen Angelegenheitenkomplex einen Einblick getan und empfahlen mich als einen ehrlichen Menschen ... Nun ja, mag das alles der Teufel holen. Ich bin hierhergekommen, um Ihnen eine sehr ernste Mitteilung zu machen, und es ist recht gut, daß Sie Ihren Schornsteinfeger hinausgeschickt haben. Die Sache ist für mich von großer Wichtigkeit, Andrej Antonowitsch; ich habe eine außerordentliche Bitte an Sie.«

»Eine Bitte? Hm ... Nun, bitte, sprechen Sie. Ich warte, und bin, offen gestanden, sehr neugierig. Ich muß überhaupt sagen, daß Sie mich in ziemlich große Verwunderung versetzen, Piotr Stepanowitsch.«

Herr von Lembke war etwas aufgeregt. Piotr Stepanowitsch schlug ein Bein über das andere und begann:

»In Petersburg war ich in vielen Punkten recht offenherzig; aber über manches, wie zum Beispiel über dies hier,« sagte er und wies mit dem Finger auf die ›Lichte Persönlichkeit‹ – »habe ich geschwiegen, erstens weil es nicht der Mühe wert war, darüber zu sprechen, und zweitens, weil ich nur solche Auskünfte gab, die man von mir verlangte. Ich liebe es nicht, bei solchen Sachen zu hasten und anderen Leuten vorzugreifen; darin besteht meiner Meinung nach überhaupt der Unterschied zwischen einem Schurken und einem ehrlichen Menschen, den die Verhältnisse einfach überrumpelt haben ... Nun kurz, das nur nebenbei, lassen wir das. Jetzt aber ... jetzt, da diese Dummköpfe ... nun, da es endlich doch herausgekommen ist, und Sie es bereits in den Händen haben, und da vor Ihnen, wie ich sehe, nichts verborgen bleiben kann – denn Sie sind ein Mann, der seine Augen offen hält, und man kann sich mit Ihnen im voraus nicht zurechtfinden – da also diese Dummköpfe ihre Torheiten fortsetzen, da wollte ich ... ich ... Nun ja, kurz, ich bin hierhergekommen, um Sie zu bitten, einen Menschen zu retten, der ebenfalls ein Narr ist, und vielleicht sogar ein Verrückter. Retten Sie ihn um seiner Jugend und um des vielen Unglücks willen, das er durchgemacht hat, retten Sie ihn auf Grund Ihrer Humanität ... Sie werden doch nicht bloß in Ihren Romanen eigener Fabrikation so human sein!« schloß er mit einem plumpen Spott und brach dann ungeduldig ab.

Kurz, man hatte den Eindruck, daß er ein offener, aber infolge eines Übermaßes von Menschenfreundlichkeit und eines allzugroßen Zartgefühls sich ungeschickt und linkisch benehmender Mann war. Vor allen Dingen mußte man in ihm einen Menschen sehen, mit dessen geistigen Fähigkeiten es nicht weit her war, wie das Herr Lembke auch sofort mit großem Scharfsinn herausgefühlt hatte. Übrigens war der Gouverneur schon längst dieser Meinung über Piotr Stepanowitsch und besonders hatte sie sich in ihm während der vorigen Woche gefestigt, als er Nächte hindurch allein in seinem Arbeitszimmer saß und aus Leibeskräften im stillen über die unerklärlichen Erfolge schimpfte, die der junge Mann bei Julia Michajlowna hatte.

»Für wen bitten Sie denn, und was bedeutet das alles?« erkundigte er sich würdevoll und gemessen, indem er sich bemühte, seine Neugier zu verbergen.

»Das ... das ... zum Teufel! ... Ich kann doch nichts dafür, daß ich zu Ihnen Vertrauen habe! Bin ich schuld daran, daß ich Sie für einen höchst edlen Menschen halte und namentlich für einen vernünftigen ... Das heißt für einen, der imstande ist zu begreifen ... Pfui Teufel ...«

Der Ärmste wußte anscheinend nicht, wie er mit sich selbst fertig werden sollte.

»Begreifen Sie doch endlich,« fuhr er dann fort, »begreifen Sie doch, daß, wenn ich Ihnen seinen Namen nenne, ich ihn Ihnen verrate! Ich liefere ihn doch damit aus, nicht wahr? Nicht wahr?«

»Aber wie kann ich denn schließlich erraten, wer es ist, wenn Sie mir seinen Namen nicht sagen wollen?«

»Das ist es ja eben, daß Sie einen stets mit dieser Ihrer Logik einfach zu Boden werfen, der Teufel auch ... Na, hol's der Kuckuck ... diese ›Lichte Persönlichkeit‹, dieser ›Student‹ – ist Schatow ... Nun wissen Sie alles!«

»Schatow? Das heißt, wieso denn Schatow?«

»Schatow ist der ›Student‹, von dem in diesem Gedichte die Rede ist. Er lebt jetzt hier. Ein früherer Leibeigener, na, Sie wissen doch, es ist derselbe, der noch damals die Ohrfeige gegeben hat.«

»Ich weiß, ich weiß schon«, erwiderte Herr von Lembke und kniff die Augen zusammen. »Aber gestatten Sie, was wird ihm denn eigentlich zur Schuld gelegt, und worauf bezieht sich denn überhaupt Ihre Fürsprache?«

»Ich bitte Sie, ihn zu retten, verstehen Sie das nicht? Ich kenne ihn ja schon seit acht Jahren; man kann vielleicht sagen, daß ich sogar sein Freund war«, erwiderte Piotr Stepanowitsch und schien ganz außer sich zu geraten. »Nun, ja, ich bin Ihnen ja keine Rechenschaft über mein früheres Leben schuldig«, fuhr er mit einer geringschätzigen Handbewegung fort. »Das Ganze ist vollkommen bedeutungslos; alles in allem sind es ja höchstens dreiundeinhalb Menschen, und mit denen, die noch im Ausland stecken, werden es kaum zehn sein. Ich hoffe in der Hauptsache auf Ihre Humanität und auf Ihren Verstand. Ich glaubte, Sie würden mich verstehen und die Sache in ihrer wahren Gestalt darstellen, eben nicht als Gott weiß was, sondern als eine dumme Schwärmerei eines fast wahnsinnig gewordenen Menschen ... der eben zuviel Unglück durchgemacht hat! Merken Sie sich das, zuviel Unglück! ... Ich glaubte, Sie würden die Sache ganz einfach auffassen und nicht wie irgendeine unerhörte politische Verschwörung! ...«

Er rang beinah nach Atem.

»Hm ... Ich sehe, daß er an den Flugblättern mit dem Beil Schuld trägt«, resümierte Herr von Lembke mit fast majestätischer Würde. »Aber gestatten Sie: wenn er der allein Schuldige ist und keine Helfer hat, wie konnte er denn diese Blätter sowohl hier als auch in den Provinzen und sogar im Gouvernement Ch. verbreitet haben? Und ... endlich, vor allen Dingen: wo hat er das Zeug hergenommen?«

»Ich sagte Ihnen doch, daß es offenbar im ganzen etwa fünf Menschen sind, na, oder auch zehn; wie kann ich das wissen?«

»Sie wissen es nicht?«

»Woher soll ich es denn wissen, hol's der Teufel?«

»Aber Sie wußten doch zum Beispiel, daß Schatow einer der Beteiligten ist?«

»Ach!« rief Piotr Stepanowitsch und wehrte mit der Hand ab, als wollte er sich gegen den überwältigenden Scharfsinn des Fragenden schützen. »Nun, hören Sie, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen: von den Flugblättern weiß ich nichts, das heißt rein gar nichts, hol's der Kuckuck! Verstehen Sie, was das heißt: rein gar nichts? ... Nun ja, natürlich, da ist jener Unterleutnant und noch jemand hier in der Stadt ... na und vielleicht auch Schatow, na und vielleicht noch jemand, na und das wäre auch alles, die ganze elende und klägliche Gesellschaft ... Aber ich bin zu Ihnen gekommen, um für Schatow zu bitten; er muß gerettet werden, denn dieses Gedicht ist sein eigenes Erzeugnis und wurde in seinem Auftrag im Auslande gedruckt. Das ist es, was mir genau bekannt ist; aber von den Flugblättern weiß ich schlechterdings nichts.«

»Wenn das Gedicht von ihm herrührt, so wird er wohl auch für die Flugblätter verantwortlich sein. Was veranlaßt Sie indessen, diesen Herrn Schatow zu verdächtigen?«

Auf diese Frage hin holte Piotr Stepanowitsch mit der Miene eines Menschen, der nun völlig die Geduld verloren hat, seine Brieftasche hervor und entnahm dieser einen Zettel.

»Das ist es, was mich dazu veranlaßt!« rief er und warf den Zettel auf den Tisch. Herr von Lembke faltete ihn auseinander und sah, daß er vor etwa einem halben Jahre von hier aus nach irgendeinem Orte im Ausland geschrieben war; es waren im ganzen zwei Zeilen:

»Die ›Lichte Persönlichkeit‹ kann ich hier nicht vervielfältigen und kann überhaupt nichts. Drucken Sie das Blatt im Ausland.

Iw. Schatow.«

Herr von Lembke richtete seinen Blick starr und unverwandt auf Piotr Stepanowitsch. Julia Michajlowna hatte recht, wenn sie behauptete, daß der Blick ihres Mannes mitunter sehr stark an den eines Hammels erinnere.

»Dieses Schreiben bedeutet,« sagte Piotr Stepanowitsch hastig, »daß er diese Verse hier vor einem halben Jahr geschrieben hatte, sie aber hier nicht drucken lassen konnte ... etwa in einer geheimen Druckerei, und daher bat, das Gedicht im Ausland zu veröffentlichen ... Das ist doch wohl klar genug?«

»Ja, das ist klar. Aber wen bittet er denn darum? Das ist noch nicht klar!« bemerkte Herr von Lembke mit ganz schlauem Spott.

»Aber den Kirillow doch; der Brief ist an Kirillow, der damals im Auslande wohnte, geschrieben worden ... Wußten Sie das etwa nicht? Das Ärgerliche ist doch eben, daß Sie sich vor mir vielleicht nur verstellen und selbst schon längst sowohl von diesen Versen als auch von allem anderen Kenntnis haben! Wie wäre denn sonst das Gedicht auf Ihren Schreibtisch gekommen? Es hat doch den Weg zu Ihnen gefunden! Warum foltern Sie mich denn, wenn dem so ist?«

Er wischte sich krampfhaft mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Mir ist vielleicht in der Tat manches bekannt«, erwiderte Herr von Lembke, geschickt ausweichend. »Aber wer ist denn dieser Kirillow?«

»Das ist doch der von auswärts zugezogene Ingenieur, der Stawrogins Sekundant war; ein Besessener, ein Verrückter. Ihr Unterleutnant hat vielleicht tatsächlich nur im Delirium so gehandelt, aber dieser Kirillow ist total verrückt; ganz und gar; das garantiere ich Ihnen. Ach, Andrej Antonowitsch, wenn die Regierung wüßte, was das alles für Menschen sind, alle bis auf den letzten Mann, dann hätte sie sich geschämt, gegen sie vorzugehen. Die gehören alle durch die Bank ins Irrenhaus; ich habe sie mir in der Schweiz auf ihren Kongressen zur Genüge angesehen.«

»Von dort aus also wird die hiesige Bewegung geleitet?«

»Aber wer leitet sie? Drei Menschen und noch ein halber Mensch. Wenn man sich diese Leute ansieht, da überkommt einen nichts als Langeweile. Und was für eine Bewegung haben sie denn hier zu leiten? Etwa die Flugblätterverbreitung? Wie? Und wen haben sie sich hier angeworben? Unterleutnants, die an Delirien leiden und zwei bis drei Studenten! Sie sind ein vernünftiger Mensch, und ich frage Sie deshalb: warum werden diese Leute nicht von bedeutenden Menschen unterstützt, warum kommen zu ihnen nur Studenten und unreife Burschen von höchstens zweiundzwanzig Jahren? Und sind ihrer etwa viele? Es sind doch sicherlich mindestens eine Million Spürhunde auf der Suche nach ihnen, und wie viele hat man denn gefunden? Sieben Menschen! Ich sage Ihnen, das Ganze ist einfach langweilig.«

Herr von Lembke hörte aufmerksam zu, aber mit einer Miene, die deutlich besagte: »Mit Worten läßt sich niemand abspeisen.«

»Gestatten Sie aber: Sie behaupten da, daß der Brief nach dem Auslande geschickt worden war; aber eine Adresse ist hier nicht zu sehen; woher wissen Sie denn, daß der Empfänger der Herr Kirillow war, ferner, daß er im Auslande lebte und ... und daß der Schreiber wirklich Herr Schatow gewesen ist?«

»Verschaffen Sie sich doch gleich jetzt Schatows Handschrift und vergleichen Sie dann beides. In Ihrer Kanzlei wird sich gewiß eine Unterschrift von ihm auftreiben lassen. Und daß der Brief an Kirillow gerichtet war, weiß ich daher, weil Kirillow ihn mir damals selbst gezeigt hatte.«

»Also waren Sie selbst ...«

»Nun ja, natürlich! Die Leute haben mir damals gar manches gezeigt. Und was diese Verse anbetrifft, so wird fingiert, der verstorbene Herzen hätte sie auf Schatow gemacht, als dieser sich noch im Auslande herumtrieb. Und zwar sollte er das zur Erinnerung an ihre Begegnung niedergeschrieben haben, als ein Lob und eine Empfehlung und weiß der Teufel noch was ... Und Schatow verbreitet es jetzt unter den jungen Leuten und sagt ihnen damit gleichsam: ›Seht mal, so hat Herzen selbst über mich geurteilt!‹«

»Aha, aha!« rief Lembke, als wäre ihm endlich alles klar geworden. »Und ich habe mir immer den Kopf darüber zerbrochen: ein Flugblatt, das versteht man noch, aber warum denn Verse?«

»Wie sollten Sie das auch nicht verstehen? Weiß der Kuckuck, warum ich Ihnen das alles ausgeplaudert habe! Hören Sie, geben Sie mir den Schatow frei, und dann mag alle übrigen der Teufel holen, selbst Kirillow einbegriffen, der sich jetzt im Filippowschen Hause, wo auch Schatow wohnt, eingeschlossen hat und verborgen hält. Diese Menschen mögen mich nicht, weil ich zurückgekehrt bin ... aber versprechen Sie mir, Schatow zu schonen, und ich werde Ihnen alle übrigen wie auf dem Präsentierteller ausliefern. Ich werde Ihnen noch nützlich sein können, Andrej Antonowitsch! Ich schätze diese ganze klägliche Gesellschaft auf neun, höchstens zehn Mann. Ich spüre ihnen selbst nach, auf eigene Faust. Drei von ihnen sind uns schon bekannt: Schatow, Kirillow und der Unterleutnant. Die anderen nehme ich erst jetzt aufs Korn ... übrigens bin ich nicht ganz kurzsichtig. Es ist hier nicht anders als im Gouvernement Ch.: dort wurden mit den Flugblättern zwei Studenten abgefaßt, ein Gymnasiast, zwei zwanzigjährige Adlige, ein Lehrer und ein sechzigjähriger pensionierter Major, der vom vielen Trinken schon ganz wirr im Kopfe geworden war. Und das war alles! Man war sogar ganz erstaunt darüber, daß sich sonst kein Mensch an der Sache beteiligt hatte. Aber ich brauche noch sechs Tage Zeit. Ich habe mir das schon ganz genau ausgerechnet: sechs Tage und nicht weniger. Wenn Sie überhaupt einen Erfolg haben wollen, dann lassen Sie die Leute noch sechs Tage lang unbehelligt, und ich werde sie Ihnen selbst in ein Bündel zusammenbinden. Stören Sie sie aber früher auf, dann fliegt das ganze Nest aus. Aber schenken Sie mir den Schatow. Ich bitte für Schatow ... Das beste wäre, wenn Sie ihn insgeheim und freundschaftlich zu sich, etwa hierher in Ihr Arbeitszimmer rufen, den Schleier vor ihm lüften und ihn persönlich ausfragen würden ... Dann wird er Ihnen bestimmt ohne weiteres zu Füßen fallen und in Tränen ausbrechen. Er ist ein nervöser, unglücklicher Mensch; seine Frau hat ein Verhältnis mit Stawrogin. Seien Sie nett zu ihm, und er wird Ihnen alles selbst verraten. Aber sechs Tage müssen Sie noch damit warten ... Und was die Hauptsache ist, sagen Sie vor allen Dingen kein Sterbenswörtchen davon zu Julia Michajlowna. Es soll ein Geheimnis bleiben. Können Sie das als ein Geheimnis behandeln?«

»Wie?« rief Lembke und riß die Augen weit auf. »Haben Sie denn Julia Michajlowna noch nichts davon ... enthüllt?«

»Ihr? Gott bewahre mich davor? A–ach, Andrej Antonowitsch! Sehen Sie, ich lege den größten Wert auf Julia Michajlownas Freundschaft, ich schätze sie sehr hoch ... na und so weiter ... aber einen solchen Bock werde ich doch nicht schießen! Ich widerspreche ihr nicht, weil das, wie Sie selbst wissen, gefährlich ist. Ich lasse wohl auch ab und zu vor ihr ein Wörtchen fallen, weil sie das so gern hat; aber daß ich ihr, wie jetzt Ihnen, Namen oder dergleichen mehr angeben soll, davon kann doch nicht die Rede sein, Väterchen! Warum wende ich mich denn jetzt unmittelbar an Sie? Nun, weil Sie immerhin ein Mann sind, ein ernster Mensch, mit langjähriger, sicherer dienstlicher Erfahrung. Sie haben schon manches gesehen und durchgemacht. Und ich nehme an, daß Sie noch von Petersburg her ganz genau wissen, wie man in solchen Angelegenheiten vorgehen muß. Hätte ich aber zum Beispiel die beiden Namen Julia Michajlowna angegeben, so würde sie diese sogleich ausgetrommelt haben ... Sie möchte doch gar zu sehr ganz Petersburg in Staunen versetzen. Nein, sie ist zu hitzig, zu temperamentvoll! Das ist es!«

»Ja, sie neigt ein wenig dazu«, murmelte Andrej Antonowitsch, dem diese Äußerung Piotr Stepanowitschs ein gewisses Vergnügen bereitete. Zu gleicher Zeit aber ärgerte er sich sehr darüber, daß dieser Flegel sich erdreistete, über Julia Michajlowna etwas gar zu frei zu sprechen. Aber der junge Mann glaubte wahrscheinlich, noch nicht genug erreicht zu haben und beschloß noch mehr Dampf anzuwenden, und noch mehr Schmeicheleien, um sich den »Lembka« ganz gefügig zu machen.

»Ganz richtig, sie neigt eben dazu«, stimmte er bei. »Sie mag eine geniale, literarisch hochgebildete Dame sein, aber diese Sperlinge würde sie nur auseinanderscheuchen. Sie würde nicht sechs Stunden aushalten, geschweige denn sechs Tage. Ach, Andrej Antonowitsch, stellen Sie einer Frau nie eine Frist von sechs Tagen! Sie werden doch zugeben, daß auch ich einige Erfahrung besitze, ich meine eben in diesen Dingen; ich weiß ja manches, und Sie wissen selbst, daß ich durchaus in der Lage dazu bin. Ich bitte Sie ja um diese sechs Tage nicht zum Spaß, sondern um der Sache selbst willen.«

»Ich habe gehört ...« begann Lembke, der sich doch nicht entschließen konnte, seinen Gedanken offen auszusprechen, »ich habe gehört, daß Sie nach Ihrer Rückkehr aus dem Ausland an der zuständigen Stelle Ihre Erklärungen abgegeben ... etwas wie Reue bekundet haben ...«

»Na ja, nehmen wir es an.«

»Ich habe natürlich gar kein Verlangen, auf die Einzelheiten einzugehen. Aber ich hatte immer den Eindruck, als hätten Sie hier bisher in einem ganz anderen Sinne gesprochen. So zum Beispiel von dem christlichen Glauben, von den gesellschaftlichen Einrichtungen und schließlich sogar von der Regierung selbst ...«

»Ich habe manches gesagt. Und ich spreche noch jetzt ebenso; nur darf man derlei Gedanken nicht so durchzusetzen versuchen, wie es diese Dummköpfe möchten. Das ist der springende Punkt. Was hat es wohl für einen Sinn, daß man seinen Vorgesetzten in die Schulter beißt? Schließlich waren Sie doch selbst ebenfalls mit meinen Gedanken einverstanden und meinten, nur ihre Durchführung wäre verfrüht.«

»Meine Zustimmung sowohl als auch meine Ansicht, daß es verfrüht sei, bezogen sich eigentlich auf etwas ganz anderes.«

»Sie scheinen aber jedes Wort auf die Goldwage zu legen, he, he! Sie sind ein vorsichtiger Mensch!« bemerkte plötzlich Piotr Stepanowitsch. »Hören Sie, mein Bester, ich mußte Sie doch näher kennenlernen; na und deshalb habe ich mit Ihnen in meinem Stil gesprochen. Ich habe vielleicht nicht nur mit Ihnen allein, sondern auch noch mit vielen anderen auf diese Art und Weise nähere Bekanntschaft gemacht. Vielleicht hielt ich es für nötig, Ihren Charakter kennenzulernen.«

»Wozu denn das?«

»Na, was weiß ich wozu?« erwiderte er und lachte wieder. »Sehen Sie wohl, bester und hochverehrter Andrej Antonowitsch, Sie sind schlau, aber so weit reicht es bei Ihnen noch nicht aus und wird auch nie ausreichen, verstehen Sie? Vielleicht verstehen Sie mich auch. Ich habe zwar bei meiner Rückkehr aus dem Ausland an der zuständigen Stelle gewisse Erklärungen abgegeben, aber ich weiß wirklich nicht, weshalb ein Mensch, der ehrliche Überzeugungen hat, nicht im Sinne dieser Überzeugungen handeln sollte ... Und es hat von dort aus noch niemand von mir über Ihren Charakter Aufklärung verlangt, und ich habe von dort noch keine derartigen Aufträge übernommen. Denken Sie sich nun selbst in die Sache hinein: statt Ihnen als erstem diese beiden Namen anzugeben, hätte ich auch direkt dorthin fahren können, das heißt dorthin, wo ich ursprünglich meine Erklärungen abgegeben habe; und wenn es mir um Finanzen zu tun wäre oder um einen anderen Vorteil, so hätte ich doch durch meine jetzige Handlungsweise einen Fehler begangen, denn man wird dort jetzt Ihnen und nicht mir dankbar sein. Ich handle so aber einzig und allein, um Schatow aus der Schlinge zu retten,« fügte Piotr Stepanowitsch edelmütig hinzu, »und bitte Sie nur um Schatow, unserer früheren Freundschaft wegen ... Na, und wenn Sie die Feder ergreifen, um dorthin zu berichten, dann können Sie auch mich ein bißchen loben, wenn Sie wollen ... Ich werde nichts dagegen haben, he, he! Aber nun adieu, ich habe gar zu lange dagesessen und hätte nicht soviel schwatzen sollen!« fügte er sehr liebenswürdig hinzu und erhob sich von dem Sofa.

»Im Gegenteil, ich freue mich sehr, daß die Angelegenheit sich sozusagen aufklärt«, erwiderte Herr von Lembke, indem er sich ebenfalls erhob. Sein Gesicht war jetzt bedeutend freundlicher, offenbar unter der Einwirkung der letzten Worte. »Ich nehme Ihre Hilfe mit Anerkennung an, und seien Sie überzeugt, daß alles, was meinerseits hinsichtlich einer Äußerung über Ihr Verdienst bei der Sache geschehen kann ...«

»Vor allen Dingen müssen Sie mir sechs Tage Frist geben; sechs Tage lang haben Sie sich selbst ganz still zu verhalten; das ist es, was ich unbedingt brauche.«

»Schön. Bewilligt.«

»Natürlich binde ich Ihnen nicht die Hände; das wage ich auch gar nicht. Sie werden es selbstredend nicht unterlassen können, der Sache auch von hier aus nachzuspüren, aber scheuchen Sie mir das Nest nicht vor der Zeit auf! In diesem Punkte verlasse ich mich ganz und gar auf Ihre Klugheit und Ihre Erfahrung. Sie haben doch sicherlich eine ganze Menge Ihrer eigenen Spürhunde zur Hand, he, he!« platzte Piotr Stepanowitsch heiter und leichtfertig, wie das so in der Art der jungen Leute liegt, plötzlich heraus.

»Das ist nicht ganz so«, erwiderte Lembke, indem er der Frage liebenswürdig auswich. »Das ist nur eine Einbildung der Jugend, daß wir so viele Menschen in Bereitschaft haben ... Aber, was ich noch sagen wollte, gestatten Sie noch eine kleine Frage: wenn dieser Kirillow Stawrogins Sekundant war, dann ist doch wohl auch Herr Stawrogin ...«

»Was denn?«

»Ich meine, wenn die beiden miteinander so befreundet sind? ...«

»Ach nein, nein, nein! Da haben Sie doch fehlgeschossen trotz Ihrer ganzen Schlauheit! Darüber muß ich mich sogar wundern. Ich dachte, daß Sie darüber vollkommen orientiert wären ... Hm ... Stawrogin ist doch das vollkommen Entgegengesetzte, aber vollkommen ... Avis au lecteur!«

»Tatsächlich? Ist das wirklich möglich?« fragte Lembke mißtrauisch. »Julia Michajlowna hat mir mitgeteilt, daß gewissen Nachrichten zufolge, die sie aus Petersburg erhalten hat, Stawrogin zu uns sogar mit einigen Instruktionen hergekommen zu sein scheint ...«

»Ich weiß nichts davon, nichts, rein gar nichts. Adieu. Avis au lecteur!« erwiderte Piotr Stepanowitsch, indem er dieser Frage plötzlich ganz unverhohlen auswich.

Er lief hastig zur Türe.

»Einen Augenblick, Piotr Stepanowitsch«, rief Lembke ihm nach. »Ich habe da noch eine ganz kleine Sache, ich werde Sie nicht lange aufhalten.«

Er zog aus dem Tischkasten einen Briefumschlag heraus.

»Hier ist noch ein Exemplarchen aus derselben Kategorie. Indem ich es Ihnen zeige, beweise ich Ihnen, daß ich Ihnen im höchsten Grade vertraue. Hier sehen Sie es sich mal an und sagen Sie mir, was Sie darüber denken.«

In dem Umschlag steckte ein Brief, ein seltsamer, anonymer, an Herrn von Lembke adressierter Brief, den er tags zuvor erhalten hatte. Piotr Stepanowitsch las zu seinem größten Ärger folgendes:

»Exzellenz!

Denn dem Range nach sind Sie das. Hiermit erstatte ich Ihnen Anzeige von einem Anschlage auf das Leben verschiedener Generale und des Vaterlandes; denn es führt geradewegs dazu. Ich habe selbst im Laufe mehrerer Jahre mit für die Verbreitung gesorgt. Das gleiche gilt in bezug auf Gottlosigkeit. Es wird ein Aufstand vorbereitet, und es sind mehrere Tausende Flugblätter da, und hinter jedem werden hundert Menschen mit ausgestreckter Zunge herlaufen, wenn die Behörde sie nicht vorher wegnimmt; denn es sind eine Menge Belohnungen versprochen, und das gewöhnliche Volk ist dumm, zumal noch der Branntwein dazukommt. Das Volk, das den Schuldigen ehrerbietig ansieht, richtet den einen sowohl als auch den andern zugrunde, und da ich vor beiden Seiten in Furcht bin, so habe ich bereut, woran ich nicht teilgenommen habe, denn meine Verhältnisse sind nun einmal derart. Wenn Sie wollen, daß eine Anzeige erfolgt zur Rettung des Vaterlandes sowohl als auch der Kirchen und der Heiligenbilder, so bin ich der einzige, der das kann. Aber nur unter der Bedingung, daß mir allein sofort telegraphisch Begnadigung aus der Geheimabteilung des Ministeriums des Innern erteilt wird. Die anderen mögen büßen. Als Zeichen muß dann jeden Abend um sieben Uhr ein Licht ins Fenster beim Portier gestellt werden. Wenn ich das sehe, werde ich Vertrauen fassen und zu Ihnen kommen, um die barmherzige Hand aus der Hauptstadt zu küssen, aber nur, wenn ich eine Pension bekomme, denn wovon soll ich sonst leben? Sie aber werden es nicht zu bereuen haben, denn für Sie wird dabei ein Stern für die Brust abfallen. Es muß ganz still gemacht werden, sonst drehen sie einem das Genick um.

Euer Exzellenz verzweifelter Mensch fällt zu Ihren Füßen nieder

der reuige Freidenker Inkognito.«

Herr von Lembke erklärte, daß dieser Brief gestern in der Portierloge gelegen hatte und wahrscheinlich in einem Augenblick hineingelegt worden war, als gerade niemand darin gewesen war.

»Wie denken Sie denn darüber?« fragte Piotr Stepanowitsch in beinah grobem Tone.

»Ich neige zur Annahme, daß es sich hierbei um eine anonyme Schmähschrift handelt, die mir zum Spott geschickt wurde.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht mit dieser Vermutung. Es ist nicht so einfach, Sie hinters Licht zu führen.«

»Meine Ansicht stützt sich in der Hauptsache auf die auffallende Dummheit des Schreibens.«

»Haben Sie hier auch schon andere Schmähbriefe bekommen?«

»Ja, zweimal und beide Male anonym.«

»Nun, das ist ja klar, daß die Absender so etwas nicht unterschreiben. Waren die Briefe in verschiedenem Stil abgefaßt? Mit verschiedener Handschrift geschrieben?«

»Ganz recht.«

»Und waren sie auch so possenhaft wie dieser Brief hier?«

»Ja, das waren sie und wissen Sie ... auch sehr gemein.«

»Nun, wenn es schon nicht zum erstenmal geschehen ist, dann handelt es sich hier bestimmt wieder um einen Spottbrief.«

»Ich glaube das hauptsächlich deswegen, weil das Schreiben so dumm ist. Denn jene Leute sind doch gebildet und schreiben sicherlich nicht so dumm.«

»Na ja, na ja.«

»Wie aber, wenn jemand tatsächlich eine Anzeige erstatten will?«

»Unwahrscheinlich«, antwortete Piotr Stepanowitsch kurz und trocken. »Was bedeutet denn diese Forderung eines Telegramms aus der Geheimabteilung des Ministeriums und dieses Verlangen nach einer Pension? Es ist klar, daß man Sie zum besten halten will.«

»Ja, ja«, bestätigte Lembke beschämt.

»Wissen Sie was? Überlassen Sie das Ding mir. Ich werde Ihnen den Schreiber mit Sicherheit ausfindig machen. Noch früher, als ich die anderen herausbekomme.«

»Nehmen Sie es mit«, willigte Herr von Lembke ein, allerdings erst nach einigem Zaudern.

»Haben Sie es schon jemandem gezeigt?«

»Nein, wie könnte ich! Keinem Menschen.«

»Zum Beispiel Julia Michajlowna?«

»Ach Gott bewahre! Und zeigen Sie es ihr um Gottes willen auch nicht!« rief Herr von Lembke erschrocken. »Es würde sie geradezu erschüttern ... Und sie würde mir furchtbar böse sein.«

»Ja, das stimmt, Sie wären dann der erste, der eine Kopfwäsche bekäme. Sie würde sagen, Sie seien selbst schuld daran, wenn man Ihnen solche Briefe schreibt. Die Logik der Frauen ist ja bekannt. Nun, leben Sie wohl! Ich werde Ihnen vielleicht schon nach drei Tagen diesen Herrn Verfasser vorführen. Die Hauptsache ist, Sie halten an unserer Verabredung fest«.

4

Piotr Stepanowitsch war vielleicht kein dummer Mensch, aber Fedka der Sträfling hatte mit Recht von ihm gesagt, daß er in den Menschen nichts weiter sehe, als das, was er sich einmal von ihnen eingebildet habe. Als er jetzt Herrn von Lembke verließ, war er felsenfest davon überzeugt, daß er den Gouverneur wenigstens für die verabredeten sechs Tage beruhigt hatte. Diese Frist brauchte er sehr notwendig. Aber seine Annahme war irrig, und alles gründete sich bei ihm nur darauf, daß er sich von vornherein eingebildet hatte, Andrej Antonowitsch sei ein ganz beschränkter Einfaltspinsel.

Wie jeder krankhaft-argwöhnische Mensch war Andrej Antonowitsch jedesmal, wenn er aus einem Zustande der Ungewißheit herauskam, im ersten Augenblick fröhlich und vertrauensvoll. Die neue Wendung der Dinge erschien ihm anfangs stets in ziemlich erfreulichem Lichte, trotz einiger wieder drohend heranrückender sorgenvoller Verwicklungen. Jedenfalls aber schienen ihm jetzt die alten Zweifel erledigt zu sein. Überdies war er nach den letzten Tagen so müde geworden und fühlte sich so zermartert und hilflos, daß seine Seele sich unwillkürlich nach Ruhe sehnte. Aber leider war er gleich darauf schon wieder voller Sorgen. Das lange Leben in Petersburg hatte in ihm unverwischbare Spuren hinterlassen. Die offizielle und sogar die geheime Geschichte der »neuen Generation« war ihm ziemlich gut bekannt, da er ein wißbegieriger Mensch war und sogar Flugblätter gesammelt hatte, aber zu verstehen vermochte er von der ganzen Sache nicht einmal das Geringste. Jetzt aber überkam ihm die Empfindung, als hätte er sich im Walde verirrt: jede Schwingung seines Unterbewußtseins sagte ihm, daß in den Worten Piotr Stepanowitschs etwas lag, was mit allen Formen und Gebräuchen durchaus unvereinbar war. »Obwohl nur der Teufel wissen mag, was bei dieser ›neuen Generation‹ alles geschehen kann, und nur der Teufel weiß, was bei ihnen vorgeht«, ging es durch seinen Kopf. Er verlor sich förmlich in Vermutungen.

Aber gerade in diesem Augenblick steckte, wie wenn das Schicksal es beabsichtigt hätte, Blümer wieder den Kopf zur Tür herein. Während der ganzen Zeit, da Piotr Stepanowitsch bei seinem Chef gewesen war, hatte er in der Nähe gewartet. Dieser Blümer war sogar ein entfernter Verwandter Andrej Antonowitschs, was aber bisher stets sorgsam und ängstlich geheim gehalten wurde. Ich bitte den Leser zu verzeihen, daß ich dieser unbedeutenden Persönlichkeit an dieser Stelle wenigstens ein paar Worte widme. Blümer gehörte zu der seltsamen Gattung der »unglücklichen« Deutschen und nicht etwa infolge seiner Unbegabtheit, sondern aus gar keinem bestimmten Grunde. »Unglückliche« Deutsche sind kein Mythus, sondern sie existieren tatsächlich, sogar in Rußland und haben ihren besonderen Typus. Andrej Antonowitsch hegte das ganze Leben lang das rührendste Mitleid mit ihm und schob ihn überall, wo er nur konnte, im Zusammenhang mit seinen eigenen dienstlichen Erfolgen vorwärts. Er ließ ihn stets eine untergeordnete, von ihm persönlich abhängige Stelle einnehmen. Aber Blümer hatte nirgends Glück gehabt. Bald wurde die von ihm bekleidete Stelle ganz abgeschafft, bald wechselte der Vorgesetzte, und einmal wäre er beinah mit einigen anderen Beamten vor Gericht gekommen. Er war sehr sorgfältig, aber ganz ohne Not und sich selbst zum Schaden allzu mürrisch; dazu rothaarig, hochgewachsen, von gebückter Haltung, trübsinnig und sogar sentimental, aber bei all seiner Demut hartnäckig und eigensinnig wie ein Ochse, wiewohl immer zur falschen Zeit. Andrej Antonowitsch gegenüber empfand er samt seiner Frau und seinen zahlreichen Kindern eine langjährige, ehrerbietige Anhänglichkeit. Außer Andrej Antonowitsch hatte ihn nie jemand gern gehabt. Julia Michajlowna trat ihm sofort vom ersten Augenblick an feindselig gegenüber, konnte aber in diesem Punkt die Hartnäckigkeit ihres Gemahls nicht überwinden. Blümer gab auch den Grund zu dem ersten ehelichen Streit der Lembke ab, der sich gleich nach der Hochzeit, noch zu Beginn der Flitterwochen zugetragen hatte. Als der bis dahin verborgen gehaltene Blümer ihr plötzlich vor die Augen trat, und sie erfuhr, daß er ihr nunmehr verwandt sei, empfand sie das als eine persönliche Beleidigung. Andrej Antonowitsch flehte sie mit gefalteten Händen an und erzählte ihr mit rührenden Worten die ganze Geschichte Blümers und seiner von Kindheit an währenden Freundschaft mit ihm. Aber Julia Michajlowna hielt sich für lebenslänglich entehrt und ging sogar mit Ohnmächten vor. Herr von Lembke gab ihr nicht einen Zoll breit nach und erklärte, daß er um keinen Preis in der Welt Blümer aufgeben und aus seiner Nähe entfernen würde, so daß sie endlich ins Staunen geriet und genötigt war, sich dem Willen des Mannes zu fügen. Man beschloß nur, diese Verwandtschaft noch sorgfältiger als bisher zu verheimlichen und sogar den Namen Blümers zu ändern, denn dieser hieß zufälligerweise ebenfalls Andrej Antonowitsch. Blümer hatte bei uns keines Menschen Bekanntschaft gesucht, verkehrte nur mit dem deutschen Apotheker, hatte niemandem einen Besuch gemacht und lebte seiner Gewohnheit gemäß geizig und zurückgezogen. Ihm waren schon längst auch die schriftstellerischen Sünden Andrej Antonowitschs bekannt. Er wurde von Herrn von Lembke vorzugsweise dazu berufen, bei geheimen Vorlesungen seinen Roman unter vier Augen anzuhören und saß dann oft sechs Stunden hintereinander unbeweglich wie ein Pfahl da; er schwitzte dabei und strengte alle seine Kraft an, um nicht einzuschlafen und zu lächeln; und wenn er nachher nach Hause kam, stöhnte er zusammen mit seiner langbeinigen, hageren Frau über die unglückliche Schwäche, die ihr beiderseitiger Wohltäter für die russische Literatur besaß.

Andrej Antonowitsch warf dem eintretenden Blümer einen schmerzerfüllten Blick zu.

»Ich bitte dich, Blümer, mich in Ruhe zu lassen«, begann er hastig und erregt, offenbar in dem Wunsch, einer Erneuerung des Gesprächs, das durch Piotr Stepanowitschs Ankunft unterbrochen war, aus dem Wege zu gehen.

»Und doch läßt sich das in der delikatesten Weise, ganz im stillen machen; Sie besitzen ja alle erforderlichen Vollmachten«, erwiderte Blümer, der respektvoll aber hartnäckig auf etwas bestand und mit gekrümmtem Rücken und kleinen Schritten sich immer mehr und mehr Andrej Antonowitsch näherte.

»Blümer, du bist mir dermaßen ergeben und bist so diensteifrig, daß ich jedesmal, wenn ich dich sehe, außer mir vor Angst bin.«

»Sie sagen immer so witzige Dinge und schlafen dann in der Freude über das Gesagte ruhig ein, wodurch Sie sich selbst schaden.«

»Blümer, ich habe mich soeben davon überzeugt, daß die ganze Sache sich anders verhält, gar nicht so, wie wir sie uns vorstellten.«

»Doch nicht etwa auf Grund der schönen Redensarten dieses falschen und lasterhaften jungen Mannes, gegen den Sie selbst einen Verdacht hegen? Er hat Sie durch sein schmeichlerisches Lob Ihres schriftstellerischen Talents besiegt.«

»Blümer, du verstehst nichts davon; dein Plan ist eine Torheit, sage ich dir. Wir werden rein gar nichts finden, dagegen wird sich ein gewaltiges Geschrei erheben und dann ein Gelächter und dann wird Julia Michajlowna ...«

»Wir werden zweifellos alles finden, was wir suchen«, unterbrach ihn Blümer, legte seine rechte Hand auf das Herz und trat mit festen Schritten an ihn heran. »Wir werden plötzlich eine Haussuchung veranstalten, ganz früh in den ersten Morgenstunden, mit aller Rücksichtnahme auf die Person, zugleich aber unter genauer Beobachtung aller vorgeschriebenen, streng gesetzlichen Formen. Die jungen Leute, Liamschin und Teliatnikow, versichern schon gar zu bestimmt, daß wir dort alles Gewünschte finden werden. Sie sind dort oft zu Besuch gewesen. Herrn Werchowenskij hat hier niemand besonders gern. Die Generalin Stawrogina hat ganz offenkundig ihre Hand von ihm zurückgezogen, und jeder ehrliche Mensch, wenn es überhaupt einen solchen in dieser Stadt von Rohlingen gibt, ist überzeugt, daß sich dort von jeher die Quelle des Unglaubens und der sozialistischen Lehren versteckt hat. Er besitzt alle möglichen verbotenen Bücher, so zum Beispiel die ›Träumereien‹ von Rylejew, alle Werke von Herzen ... Ich habe für alle Fälle ein ziemlich vollständiges Verzeichnis.«

»Mein Gott, diese Bücher besitzt fast ein jeder; wie bist du doch einfältig, mein armer Blümer!«

»Außerdem hat er auch sehr viele Flugschriften«, fuhr Blümer fort, ohne auf die Bemerkung Andrej Antonowitschs zu achten. »Wir werden sicherlich dahin gelangen, daß wir dabei auch die Spur der Flugblätter finden, die jetzt hier im Umlauf sind. Dieser junge Werchowenskij erscheint mir im höchsten Grade verdächtig.«

»Aber du verwechselst ja den Vater mit dem Sohne. Sie haben sich entzweit, der Sohn macht sich über den Alten ganz unverhohlen lustig.«

»Das ist nur eine Maske.«

»Blümer, du hast dir wohl geschworen, mich zu Tode zu quälen! Bedenke doch, er ist ja hier am Orte immerhin eine angesehene Persönlichkeit. Er ist Professor gewesen; er ist ein berühmter Mann, er wird ein großes Geschrei erheben, und sofort wird die ganze Stadt mit den übelsten Spöttereien überflutet; wir sind dann unsterblich blamiert ... und bedenke doch, was dann mit Julia Michajlowna sein wird!«

Blümer wollte auf nichts hören.

»Er war nur Privatdozent und nicht Professor; und ausgeschieden aus dem Staatsdienst ist er überhaupt nur mit dem Range eines Kollegienassessors«, rief er, indem er sich mit der Hand gegen die Brust schlug. »Er besitzt auch keine Orden und wurde wegen Verdachtes regierungsfeindlicher Gesinnung aus dem Dienste entlassen. Er hat unter geheimer Aufsicht gestanden, und es ist sicherlich auch heute noch nicht anders. Und infolge der jetzt an den Tag kommenden Gesetzwidrigkeiten sind Sie zweifelsohne zum Einschreiten verpflichtet! Sie aber tun das Gegenteil davon und lassen sich die Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entgehen, indem Sie gegen den wirklich Schuldigen Nachsicht üben.«

»Julia Michajlowna kommt! Verschwinde, Blümer!« rief Herr von Lembke plötzlich, da er im anstoßenden Zimmer die Stimme seiner Gemahlin vernahm.

Blümer fuhr zusammen, warf aber die Flinte noch nicht ins Korn.

»Geben Sie mir die Erlaubnis dazu, geben Sie mir die Erlaubnis dazu«, ließ er nicht nach, indem er noch mehr herantrat und noch fester beide Hände gegen die Brust drückte.

»Mach', daß du hinauskommst!« rief Andrej Antonowitsch zähneknirschend. »Tu, was du willst ... später ... Oh, mein Gott!«

Die Portiere wurde aufgehoben, und Julia Michajlowna trat ins Zimmer. Bei Blümers Anblick blieb sie majestätisch stehen und musterte ihn mit einem hochmütigen und kränkenden Blick, wie wenn schon allein die Anwesenheit dieses Menschen hier für sie eine Beleidigung wäre. Blümer machte ihr schweigend und respektvoll eine tiefe Verbeugung und ging auf den Zehen hinaus, wobei er aus Überfluß an Achtung sich zusammenkrümmte und die Arme ein wenig auseinander hielt.

Ob er nun wirklich Andrej Antonowitschs letzten, beinah hysterischen Ausruf als eine direkte Erlaubnis aufgefaßt hatte, nach seinem Vorschlag zu verfahren, oder ob er nun in diesem Falle, um seinem Wohltäter zu nützen, gegen sein Gewissen gehandelt hatte, weil er gar zu fest davon überzeugt war, daß das Ende das Werk krönen werde, vermag ich nicht zu sagen. Wie wir aber später sehen werden, ist aus diesem Gespräch des Vorgesetzten mit seinem Untergebenen eine höchst unerwartete Geschichte hervorgewachsen, die bald in der ganzen Stadt bekannt wurde, viele Leute zum Lachen brachte, bei Julia Michajlowna heftigen Zorn erregte und durch all dies Andrej Antonowitsch nun vollends die Fassung raubte, so daß er gerade zur kritischsten Zeit in kläglichster Unentschlossenheit hin und her schwankte.

5

Dieser Tag brachte Piotr Stepanowitsch viele Sorgen. Von Herrn von Lembke wollte er so schnell wie möglich nach der Bogojawlenskaja kommen; als er aber durch die Bykowa ging und an dem Hause vorbeikam, in dem augenblicklich Karmasinow wohnte, blieb er plötzlich stehen, lächelte und trat ins Haus hinein. Man sagte ihm, daß er erwartet werde, was ihm sehr interessant vorkam, da er sein Kommen gar nicht vorher angekündigt hatte.

Aber der große Schriftsteller erwartete ihn tatsächlich und sogar schon seit zwei Tagen. Vor drei Tagen hatte er ihm das Manuskript seiner Abhandlung »Merci« mitgegeben, die er auf der literarischen Matinee bei dem von Julia Michajlowna veranstaltetem Feste vorlesen wollte, und zwar hatte er es nur aus Liebenswürdigkeit getan, weil er überzeugt war, dem Selbstgefühl des jungen Mannes in angenehmer Weise zu schmeicheln, indem er ihm das großartige Werk als erstem zum Lesen gab. Piotr Stepanowitsch hatte schon längst die Beobachtung gemacht, daß dieser eitle, verwöhnte und für Nichtauserwählte fast beleidigend unzugängliche Herr, dieser »fast alles umfassende Geist« sich ganz einfach bei ihm lieb Kind zu machen suchte und dazu noch mit großer Beflissenheit. Ich glaube, der junge Mann hatte es schließlich herausgefühlt, daß, wenn Karmasinow ihn auch nicht für den Leiter der gesamten geheimen revolutionären Bewegung Rußlands, so doch für einen Menschen hielt, der in die Geheimnisse der russischen Revolution wie nur wenige tief eingeweiht sei und einen unbestreitbaren Einfluß auf die Jugend ausübe. Die Gedankenrichtung und die Anschauungen des »klügsten Mannes in Rußland« interessierten Piotr Stepanowitsch, aber aus bestimmten Gründen war er bisher stets einer aufklärenden Aussprache aus dem Wege gegangen.

Der große Schriftsteller wohnte im Hause seiner Schwester, die mit einem Kammerherrn und Gutsbesitzer verheiratet war. Sowohl sie als auch ihr Mann vergötterten beinah ihren berühmten Verwandten, aber zu ihrem größten Bedauern befanden sie sich bei seinem jetzigen Besuch gerade in Moskau, so daß die Ehre, ihn zu empfangen, einer alten Frau zufiel, einer sehr entfernten armen Verwandten des Kammerherrn, die schon lange im Hause wohnte und dem Ehepaar die Wirtschaft führte. Seit der Ankunft des Herrn Karmasinow ging jedermann im Hause nur noch auf Zehenspitzen. Die alte Frau berichtete fast jeden Tag nach Moskau darüber, wie er geschlafen und was er zu essen geruht habe. Und sie hatte einmal sogar ein Telegramm mit der Nachricht abgesandt, daß der große Mann nach einem Diner beim Oberbürgermeister genötigt war, einen ganzen Löffel einer gewissen Medizin zu nehmen. Nur selten wagte sie zu ihm in sein Zimmer hineinzugehen, obwohl er sich ihr gegenüber sehr höflich benahm. Allerdings war sein Ton stets etwas trocken, und er sprach mit ihr nur das Allernotwendigste. Als Piotr Stepanowitsch jetzt in sein Zimmer trat, nahm er gerade sein Frühstück ein, das aus einem Kotelett und einem halben Glase Rotwein bestand. Der junge Werchowenskij war auch früher schon einige Male bei ihm gewesen und hatte ihn stets bei diesem Frühstück getroffen, das er ruhig in seiner Gegenwart weiter aß, ohne jedoch dem Gast etwas anzubieten. Nach dem Kotelett wurde ihm noch eine kleine Tasse Kaffee gereicht. Der Diener, der die Speisen hereinbrachte, war in Frack und Handschuhen und trug weiche Stiefel, so daß er fast unhörbar auftrat.

»A–ah!« rief Karmasinow, erhob sich vom Sofa, wischte sich mit der Serviette den Mund ab und machte Anstalten, mit dem Ausdruck der reinsten Freude seinen Gast zu umarmen und zu küssen, was eine charakteristische Gewohnheit der Russen ist, wenn sie gar zu berühmt sind. Aber Piotr Stepanowitsch hatte bereits die Erfahrung gemacht, daß Karmasinow zwar stets die oben beschriebenen Anstalten machte, aber statt selbst zu küssen, nur seine Backe hinhielt. Aus diesem Grunde tat der junge Mann diesmal dasselbe, so daß die Backen der beiden zusammentrafen. Karmasinow gab sich den Anschein, es nicht bemerkt zu haben, setzte sich wieder auf das Sofa und wies seinen Besucher auf einen gegenüberstehenden Lehnstuhl hin. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und machte es sich sofort bequem.

»Sie sind doch nicht ... Wollen Sie nicht frühstücken?« fragte der Wirt, diesmal von seiner Gewohnheit abweichend, aber natürlich mit einer Miene, die dem andern eine ablehnende Antwort nahelegte. Aber Piotr Stepanowitsch ließ sich dadurch nicht beirren und bat sofort um ein Frühstück. Ein Schatten des Gekränktseins und der Verwunderung lief über das Gesicht Karmasinows, aber nur für einen Augenblick. Nervös klingelte er dem Diener und sprach, als er das zweite Frühstück zu bringen befahl, trotz all seiner guten Erziehung mit etwas erhobener Stimme und in einem gereizten und verdrießlichen Ton.

»Was wünschen Sie, ein Kotelett oder Kaffee?« erkundigte er sich noch einmal.

»Beides, und lassen Sie auch etwas Wein bringen, denn ich bin ganz ausgehungert«, erwiderte Piotr Stepanowitsch und musterte dabei mit ruhiger Aufmerksamkeit das Kostüm seines Gastgebers. Herr Karmasinow trug eine Art von wattierter Hausjacke mit Perlmutterknöpfen, die indessen viel zu kurz war, was gar nicht zu seinem ziemlich vollen Bäuchlein und den prall gerundeten Teilen um den Anfang der Beine paßte. Aber der Geschmack ist eben verschieden. Auf den Knien hatte er ein ausgebreitetes, wollenes, kariertes Tuch liegen, obwohl es im Zimmer ziemlich warm war.

»Sie sind wohl krank?« bemerkte Piotr Stepanowitsch.

»Nein, noch nicht, aber ich fürchte, in diesem Klima krank zu werden,« erwiderte der Schriftsteller mit seiner kreischenden Stimme, wobei er jedoch jedes Wort angenehm und fast zärtlich aussprach und in vornehmer Art lispelte, »ich habe Sie schon gestern erwartet.«

»Warum denn? Ich hatte doch nichts versprochen.«

»Aber Sie haben mein Manuskript. Haben Sie ... es gelesen?«

»Ein Manuskript? Was für eins?«

Karmasinow war verblüfft.

»Aber Sie werden es doch wenigstens mitgebracht haben?« fragte er in solcher Aufregung, daß er sogar zu essen aufhörte, und sah Piotr Stepanowitsch ganz erschrocken an.

»Ach, Sie meinen wohl dieses ›Bonjour‹, nicht wahr?«

»Nein, ›Merci‹.«

»Na, meinetwegen auch so. Nein, ich habe es ganz vergessen und noch gar nicht gelesen. Ich hatte keine Zeit. Wahrhaftig, ich weiß nicht ... In den Taschen habe ich es nicht ... Wahrscheinlich ist es auf meinem Schreibtisch liegen geblieben. Seien Sie unbesorgt, es wird sich schon wieder finden.«

»Das Beste ist doch wohl, ich schicke sofort zu Ihnen hinüber. Die Handschrift könnte ja verloren gehen und am Ende kann sie noch jemand stehlen.«

»Na, wer kann so etwas gebrauchen? Aber warum sind Sie denn so erschrocken? Julia Michajlowna erzählte mir, daß Sie stets mehrere Abschriften machen und dann eine ins Ausland einem Notar, eine zweite nach Petersburg, eine dritte nach Moskau und eine vierte sogar an die Bank zur Aufbewahrung schicken. Stimmt das?«

»Aber auch Moskau kann doch abbrennen und mit ihm mein Manuskript. Nein, ich werde doch lieber gleich hinschicken.«

»Halt, da ist es!« rief Piotr Stepanowitsch und zog aus der Hintertasche ein Päckchen Briefbogen heraus. »Es ist ein wenig zerknittert. Denken Sie sich nur: wie ich es damals von Ihnen bekommen habe, da steckte ich es in die hintere Rocktasche, und dort hatte es die ganze Zeit über mit dem Taschentuch zusammengelegen! Ich habe es ganz vergessen.«

Karmasinow griff gierig nach dem Manuskript, musterte es sorgsam, zählte die Blätter und legte sie mit einer gewissen Achtung einstweilen neben sich auf ein besonderes Tischchen, aber so, daß er sie fortwährend im Auge hatte.

»Sie scheinen nicht sehr viel zu lesen?« zischte er, da er sich nicht mehr beherrschen konnte.

»Nein, nicht sonderlich viel.«

»Und auf dem Gebiete der russischen schönen Literatur wohl überhaupt nichts?«

»Aus der russischen schönen Literatur? Gestatten Sie, da habe ich doch etwas gelesen ... ›Auf dem Wege‹ ... oder ›Auf den Weg‹ ... oder ›Am Kreuzwege‹ ... ich weiß nicht mehr, wie das Ding hieß. Es ist schon lange her, daß ich es gelesen habe, wohl fünf Jahre. Ich habe keine Zeit.«

Die beiden schwiegen eine Weile.

»Als ich hierher kam, habe ich allen Leuten versichert, Sie wären ein außerordentlich kluger Mensch, und jetzt scheinen alle von Ihnen ganz entzückt zu sein.«

»Ich danke Ihnen«, erwiderte Piotr Stepanowitsch ruhig.

Das Frühstück wurde gebracht. Piotr Stepanowitsch machte sich mit einem außerordentlichen Appetit über das Kotelett her, aß es schnell auf, trank den Wein aus und leerte die Tasse Kaffee.

»Dieser Flegel,« dachte Karmasinow, indem er ihn von der Seite betrachtete und dabei selbst den letzten Bissen zu Ende aß und das letzte Schlückchen trank, »dieser Flegel hat wahrscheinlich die Stichelei, die in meiner letzten Bemerkung lag, sofort verstanden ... Auch das Manuskript hat er natürlich begierig gelesen und lügt nur aus gewissen Absichten. Es ist aber auch möglich, daß er nicht lügt, sondern wirklich dumm ist. Ich habe es gern, wenn ein genialer Mensch ein wenig dumm ist. Vielleicht ist er unter diesen Leuten wirklich ein Genie?! Mag ihn übrigens der Teufel holen.«

Er erhob sich vom Sofa und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um sich ein wenig Bewegung zu machen, was er regelmäßig jeden Tag nach dem Frühstück tat.

»Werden Sie bald von hier wieder abreisen?« fragte Piotr Stepanowitsch von seinem Lehnsessel aus, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte.

»Ich bin eigentlich hierher gekommen, um mein Gut zu verkaufen und hänge jetzt von meinem Verwalter ab.«

»Und ich glaubte, Sie wären hier, weil Sie dort im Ausland nach dem Krieg eine Epidemie befürchteten?«

»N–ein, nicht ganz deshalb«, fuhr Herr Karmasinow fort, wobei er wieder in gutmütigster Weise seine Worte skandierte und bei jeder Wendung von einer Ecke nach der anderen munter, aber nur ein wenig, mit dem Beine schlenkerte. »Ich beabsichtige tatsächlich,« fuhr er mit einem Lächeln fort, das nicht ohne Bosheit war, »möglichst lange zu leben. Das russische Herrentum nutzt sich sonst in jeder Beziehung außerordentlich schnell ab. Ich aber will mich möglichst langsam abnutzen und werde daher ganz und gar nach dem Ausland übersiedeln; dort ist das Klima besser und die Ordnung sicherer, und auch sonst ist alles fester als bei uns. Solange ich lebe, wird doch Europa wohl vorhalten, meine ich. Wie denken Sie darüber?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Hm. Wenn es dort wirklich dazu kommt, daß Babel zusammenbricht, und sein Fall gewaltig sein wird, worin ich mit Ihnen vollständig einer Meinung bin, obwohl ich allerdings annehme, daß ich es nicht mehr erleben werde, so ist bei uns in Rußland, relativ gesprochen, überhaupt nichts vorhanden, was zusammenbrechen könnte. Bei uns werden nicht Steine zusammenstürzen, sondern es wird alles im Schmutz zerfließen. Das heilige Rußland ist am allerwenigsten in der Lage, irgendeinem Stoß Widerstand zu leisten. Das einfache russische Volk hält sich noch so zur Not durch den russischen Gott aufrecht; aber der russische Gott ist nach den letzten Nachrichten ziemlich unzuverlässig geworden und hat sogar der letzten Bauernreform gegenüber kaum standgehalten; wenigstens hat er stark gewackelt. Und dazu kommen noch die Eisenbahnen und dann noch Ihre Leute ... Nein, an den russischen Gott glaube ich schon ganz und gar nicht mehr.«

»Und an den europäischen?«

»Ich glaube an gar keinen. Man hat mich bei der russischen Jugend verleumdet. Ich habe stets mit allen Ihren Bestrebungen sympathisiert. Man zeigte mir die hiesigen revolutionären Flugblätter. Man staunt über sie, weil die Form die Leute abschreckt, und doch sind alle von deren Macht überzeugt, obwohl sie es auch selbst nicht eingestehen. Alle sind schon längst im Fallen begriffen und alle wissen längst, daß sie sich an nichts festklammern können. Ich bin schon deshalb von dem Erfolge dieser geheimen Propaganda in Rußland überzeugt, weil gerade Rußland jetzt auf der ganzen Welt dasjenige Land ist, wo alles mögliche geschehen kann, ohne daß auch der geringste Widerstand geleistet wird. Ich verstehe sehr wohl, warum die vermögenden Russen scharenweise nach dem Auslande gegangen sind, und warum sie dies von Jahr zu Jahr in immer größerem Umfange tun. Das geschieht ganz einfach instinktiv. Wenn ein Schiff untergeht, so sind die Ratten die ersten, die es fluchtartig verlassen. Das heilige Rußland ist ein hölzernes Land, ein bettelarmes und ... gefährliches Land, ein Land von eitlen Bettlern in seinen höchsten Schichten, ein Land, das zum größten Teil auf tönernen Füßen steht. Diesem Land wird jede Möglichkeit, aus dieser Lage herauszukommen, willkommen sein, man braucht es ihm nur klarzumachen. Nur die Regierung will noch Widerstand leisten; aber sie schlägt mit dem Knüppel im Dunkeln und trifft ihre eigenen Leute. Hier ist alles verdammt und dem Untergang geweiht. So, wie es ist, hat Rußland keine Zukunft. Ich bin ein Deutscher geworden und rechne es mir zur Ehre an.«

»Nein, Sie streiften da vorhin die Flugblätter. Sprechen Sie sich doch ganz aus: was denken Sie darüber?«

»Diese Flugblätter werden von allen gefürchtet, also sind sie mächtig. Sie decken den Betrug offen auf und zeigen, daß man sich bei uns an nichts festklammern und auf nichts stützen kann. Sie reden laut zu einer Zeit, wo alle schweigen. Trotz ihrer Form wird ihnen gerade der Umstand, daß sie mit einer bisher unerhörten Kühnheit der Wahrheit gerade ins Gesicht sehen, am meisten zum Siege verhelfen. Diese Fähigkeit, der Wahrheit gerade ins Gesicht zu sehen, besitzen nur Russen. Nein, in Europa ist man noch nicht so kühn; dort ist das Königtum von Stein; dort ist noch etwas vorhanden, worauf man sich stützen kann. Soweit ich sehe, und soweit ich es beurteilen kann, besteht der ganze Kern der russischen revolutionären Idee in der Verneinung der Ehre. Es gefällt mir, daß dies so kühn und furchtlos ausgesprochen wird. Nein, in Europa wird man dafür kein Verständnis haben, bei uns aber dürfte gerade das die größte Anziehungskraft ausüben. Dem Russen erscheint die Ehre nur als eine überflüssige Last. Und sie ist ihm auch immer eine Last gewesen, in seiner ganzen Geschichte. Durch ein offen verkündetes ›Recht auf Ehrlosigkeit‹ kann man ihn am leichtesten ködern und mit sich ziehen. Ich gehöre zur alten Generation und gestehe offen, daß ich noch ein Verteidiger der Ehre bin. Aber das nur aus Gewohnheit. Mir gefallen eben noch die alten Formen. Vielleicht nur infolge meiner Schwäche. Man muß doch schließlich sein Leben irgendwie zu Ende führen können.«

Er hielt auf einmal inne.

»Aber was tue ich denn?« dachte er. »Ich rede und rede, während er immerzu schweigt und offenbar Ausschau hält. Er ist hergekommen, damit ich ihm eine offene Frage vorlege. Nun, ich werde es auch tun.«

»Julia Michajlowna bat mich, irgendwie, vielleicht durch eine List, von Ihnen herauszubekommen, was Sie für eine Überraschung für den übermorgen sattfindenden Ball vorbereiten«, fragte auf einmal Piotr Stepanowitsch.

»Ja, das wird wirklich eine Überraschung sein, und ich will die hiesige Gesellschaft in der Tat in Erstaunen versetzen ...« erwiderte Karmasinow würdevoll und wichtig, »aber ich werde Ihnen dieses Geheimnis nicht verraten.«

Piotr Stepanowitsch drang auch nicht weiter darauf.

»Hier lebt ein gewisser Schatow,« erkundigte sich der große Schriftsteller, »und denken Sie sich: ich habe ihn noch gar nicht gesehen.«

»Eine sehr nette Persönlichkeit. Warum fragen Sie nach ihm?«

»Nur so. Er wird in der Matinee auch über irgend etwas sprechen. Er war es doch, der Stawrogin geohrfeigt hat?«

»Ja, das war er.«

»Und wie denken Sie über Stawrogin?«

»Ich weiß nicht recht, er ist ein Schürzenjäger.«

Karmasinow haßte Stawrogin, weil dieser ihn gewöhnlich gar nicht zu bemerken pflegte und in Gesellschaft stets übersah.

»Wenn hier einmal das, was die Flugblätter predigen, verwirklicht werden sollte,« sagte er kichernd, »dann wird man diesen Schürzenjäger wahrscheinlich als ersten an einen Ast aufknüpfen.«

»Vielleicht noch früher sogar«, erwiderte plötzlich Piotr Stepanowitsch.

»Verdient hat er es schon«, stimmte ihm Karmasinow bei. Aber dieses Mal lachte er nicht mehr und sagte das etwas gar zu ernst.

»Sie haben diesen Gedanken auch schon früher einmal ausgesprochen, und wissen Sie, ich habe ihm das erzählt.«

»Wie? Haben Sie das wirklich getan?« fragte Karmasinow und lachte wieder.

»Er erwiderte, daß, wenn er es verdient habe, an einen Ast aufgehängt zu werden, dann würde es für Sie genügen, wenn man Sie durchpeitschte, aber nicht etwa nur, um Ihrer Ehre Abbruch zu tun, sondern wirklich schmerzhaft, so wie man früher leibeigene Bauern peitschte.«

Piotr Stepanowitsch nahm seinen Hut und erhob sich von seinem Platz. Karmasinow streckte ihm zum Abschied beide Hände entgegen.

»Wie meinen Sie,« flötete er plötzlich mit honigsüßer Stimme, die einen ganz besonderen Unterklang hatte, indem er die Hände des Gastes immer noch in den seinen hielt, »wie meinen Sie, wenn nun alledem, was da geplant wird, tatsächlich beschieden ist verwirklicht zu werden ... wann könnte es denn wohl geschehen?«

»Woher soll ich denn das wissen?« erwiderte Piotr Stepanowitsch ein wenig grob. Beide blickten einander scharf in die Augen.

»Ungefähr? Annähernd?« flötete Karmasinow noch süßlicher.

»Sie werden noch Zeit haben, Ihr Gut zu verkaufen und sich aus dem Staube zu machen«, murmelte Piotr Stepanowitsch noch gröber. Beide sahen einander noch schärfer an.

Es folgte ein minutenlanges Schweigen.

»Anfang des nächsten Mai geht es los, und zu Mariä Schutz wird alles zu Ende sein«, sagte Piotr Stepanowitsch plötzlich.

»Meinen aufrichtigsten Dank«, erwiderte Karmasinow warm und drückte ihm die Hände.

»Du wirst noch Zeit genug haben, du Ratte du, das Schiff zu verlassen«, dachte Piotr Stepanowitsch, als er auf die Straße hinaustrat. »Na, wenn sogar dieser ›fast alles umfassende Geist‹ sich mit solcher Überzeugung nach dem Tag und der Stunde des vermutlichen Gelingens erkundigt, dann dürfen wir selbst an unserer Kraft keineswegs zweifeln.« Er lächelte. »Hm. Er scheint tatsächlich nicht dumm zu sein und ... ist doch nur eine auswandernde Ratte; so einer denunziert nicht!«

Und er begab sich eilig nach der Bogojawlenskaja in das Filippowsche Haus.

6

Piotr Stepanowitsch ging zuerst zu Kirillow. Dieser war wie gewöhnlich allein und beschäftigte sich diesmal damit, daß er mitten im Zimmer turnerische Freiübungen ausführte. Er stand nämlich mit gespreizten Beinen da und schwenkte die Arme in einer besonderen Weise über dem Kopf herum. Auf dem Fußboden lag der Ball. Auf dem Tisch stand der noch nicht weggeräumte, schon kalt gewordene Morgentee. Piotr Stepanowitsch blieb fast eine Minute lang an der Schwelle stehen.

»Sie scheinen um Ihre Gesundheit doch sehr besorgt zu sein«, sagte er laut und heiter, als er dann ins Zimmer trat. »Was Sie da für einen prächtigen Ball haben! Ei, wie der springt! Haben Sie den auch zu Leibesübungen angeschafft?«

Kirillow zog sich den Rock an.

»Ja. Zur Gesundheit«, murmelte er trocken. »Setzen Sie sich.«

»Ich bin nur für einen Augenblick gekommen. Übrigens kann ich mich auch hinsetzen. Die Gesundheit ist, wissen Sie, eine Sache für sich, ich bin aber hier, um Sie an unsere Verabredung zu erinnern. Es nähert sich ›gewissermaßen‹ unser Termin«, schloß er mit einer unglücklichen Redewendung.

»Was für eine Verabredung?«

»Sie fragen noch?« fuhr Piotr Stepanowitsch auf. Er schien einen ordentlichen Schreck bekommen zu haben.

»Das ist keine Verabredung und keine Verpflichtung; ich habe mich durch nichts gebunden. Das ist ein Irrtum Ihrerseits.«

»Aber hören Sie mal, was machen Sie denn?« rief Piotr Stepanowitsch und sprang nun vor Erregung in die Höhe.

»Meinen Willen.«

»Welchen?«

»Den früheren.«

»Das heißt, wie soll ich denn das verstehen? Soll das bedeuten, daß Sie genau so wie früher denken?«

»Allerdings. Nur ist nie eine Verabredung gewesen, und ich habe mich durch nichts gebunden. Es war lediglich mein Wille und ist auch jetzt nichts weiter als mein Wille.«

Kirillow sprach scharf und wie angewidert.

»Ich bin einverstanden, einverstanden; mag es auch nichts mehr als Ihr Wille sein, wenn dieser Wille sich nur nicht ändert«, erwiderte Piotr Stepanowitsch und setzte sich mit zufriedener Miene wieder hin. »Sie ärgern sich über Worte, Sie sind in der letzten Zeit sehr reizbar geworden; deshalb vermied ich es auch, Sie zu besuchen. Übrigens war ich fest davon überzeugt, daß Sie nicht umgefallen sind.«

»Sie sind mir sehr widerwärtig, aber Sie können vollkommen unbesorgt sein! Obgleich ich Begriffe wie: umfallen, Verrat oder Nichtverrat nicht anerkenne.«

»Wissen Sie was,« fuhr Piotr Stepanowitsch von neuem auf, »wir müßten einmal darüber vernünftig reden, um nicht in Verwirrung zu kommen. Die Angelegenheit erfordert eine genaue Bestimmtheit; Sie aber machen mich ganz wirr. Gestatten Sie, daß ich rede?«

»Sprechen Sie«, versetzte Kirillow kurz und blickte in eine Ecke.

»Sie haben schon lange beschlossen, sich das Leben zu nehmen ... das heißt, Sie hatten eine solche Idee. Habe ich mich richtig ausgedrückt? Ja? Habe ich mich auch nicht geirrt?«

»Ich habe auch jetzt noch dieselbe Idee.«

»Ausgezeichnet. Beachten Sie dabei, daß niemand Sie dazu gezwungen hat.«

»Das wäre noch schöner! Wie dumm Sie reden.«

»Mag sein, mag sein; ich habe mich sehr ungeschickt ausgedrückt. Ohne Zweifel wäre es sehr dumm, wenn man jemand dazu zwingen wollte. Aber ich fahre fort: Sie waren Mitglied unseres Bundes schon zur Zeit der alten Organisation und bekannten damals einem anderen Mitglied ihre diesbezüglichen Gedanken.«

»Ich habe nichts bekannt, sondern einfach gesagt.«

»Meinetwegen. Es wäre ja allerdings lächerlich, so etwas zu ›bekennen‹; es ist ja keine Beichte. Sie haben es einfach gesagt, und basta, sehr schön.«

»Nein, nicht sehr schön, denn Sie gehen wie eine Katze um den heißen Brei. Ich bin Ihnen gar keine Rechenschaft schuldig, und meine Gedanken zu begreifen sind Sie nicht imstande. Ich will mir das Leben nehmen, weil ich so eine Idee habe, weil ich keine Todesfurcht will, weil ... weil Sie nichts davon zu wissen brauchen ... Was wollen Sie? Tee trinken? Er ist kalt. Warten Sie, ich werde Ihnen ein anderes Glas bringen.«

Piotr Stepanowitsch hatte wirklich schon nach der Teekanne gegriffen und suchte ein leeres Trinkgefäß. Kirillow ging zum Schrank und brachte ein reines Glas.

»Ich habe soeben bei Karmasinow gefrühstückt,« bemerkte der Gast, »dann habe ich zugehört, wie er redete und geriet dabei in Schweiß; danach lief ich hierher und bin dabei wieder in Schweiß geraten, und nun habe ich einen furchtbaren Durst.«

»Trinken Sie. Der kalte Tee tut gut.«

Kirillow setzte sich wieder auf einen Stuhl und starrte von neuem in eine Ecke.

»Der Bund kam auf den Gedanken,« fuhr er in demselben Ton wie vorher fort, »daß ich nützlich sein könnte, falls ich mir das Leben erst dann nehme, wenn jemand von euch oder ihr alle etwas angerichtet haben würdet. Man würde nach den Schuldigen suchen, und da könnte ich mich erschießen und einen Brief hinterlassen, daß ich alles allein getan hätte, so daß Sie ein ganzes Jahr lang unbehelligt bleiben dürften.«

»Wenn auch nur einige Tage lang; auch ein einzelner Tag ist kostbar.«

»Gut. In diesem Sinne wurde mir gesagt, daß ich warten möchte, wenn es mir recht wäre. Und da erwiderte ich, ich wäre bereit zu warten, bis mir der Zeitpunkt seitens des Bundes angegeben wird, denn mir sei das schließlich einerlei.«

»Ja, aber erinnern Sie sich, daß Sie sich verpflichtet haben, Ihren letzten Brief nicht anders als mit mir zusammen abzufassen und nach Ihrer Ankunft in Rußland zu meiner ... na, mit einem Wort, zu meiner Verfügung zu stehen, das heißt natürlich nur für diesen einen Fall. In jeder anderen Hinsicht sind Sie selbstverständlich vollkommen frei«, fügte Piotr Stepanowitsch in beinah liebenswürdigem Ton hinzu.

»Ich habe mich nicht dazu verpflichtet, sondern mich damit nur einverstanden erklärt, weil mir eben alles gleich ist.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet, ich habe durchaus nicht die Absicht, Ihr Ehrgefühl zu verletzen, aber ...«

»Vom Ehrgefühl ist hier nicht die Rede.«

»Aber bedenken Sie, daß man für Sie hundertundzwanzig Taler zur Reise zusammengebracht hat, und Sie somit Geld genommen haben.«

»Durchaus nicht!« rief Kirillow aufgebracht. »Dieses Geld hat damit nichts zu tun. Für so etwas nimmt man kein Geld.«

»Mitunter doch.«

»Sie lügen. Ich habe in einem Briefe aus Petersburg die Sache klargelegt, und in Petersburg selbst habe ich Ihnen hundertundzwanzig Taler zurückgezahlt. Ihnen persönlich ... Und das Geld ist schon dorthin zurückgesandt worden, wenn Sie es nicht für sich behalten haben.«

»Gut, gut, ich streite ja nicht darüber, das Geld ist natürlich zurückgeschickt. Die Hauptsache ist, daß Sie noch genau so denken, wie früher.«

»Noch genau so. Sobald Sie zu mir kommen und sagen: ›es ist Zeit‹, werde ich alles ausführen. Wie steht es denn? Ist es bald soweit?«

»Lange wird es nicht mehr dauern ... Aber vergessen Sie nicht: den Brief fassen wir zusammen ab, gleich in derselben Nacht.«

»Meinetwegen auch bei Tage. Sie sagten, ich soll die Flugblätter auf mich nehmen?«

»Ja, und außerdem noch etwas.«

»Ich werde aber nicht jede Tat auf mich nehmen.«

»Was denn nicht?« fragte Piotr Stepanowitsch wieder beunruhigt.

»Was ich nicht will ... Genug davon. Ich mag nicht mehr darüber sprechen.«

Piotr Stepanowitsch nahm sich zusammen und änderte den Gesprächsstoff.

»Ich will jetzt von etwas anderem reden«, schickte er voraus. »Werden Sie heute abend bei den Unsrigen sein? Wirginskij feiert seinen Namenstag, und unter diesem Vorwande werden wir uns alle versammeln.«

»Nein, ich habe keine Lust.«

»Tun Sie uns den Gefallen, und kommen Sie hin. Das ist notwendig. Wir müssen durch die Zahl und das Aussehen Eindruck machen ... Sie haben ein Gesicht, daß ... Na, mit einem Wort, Sie haben ein ganz fatales Gesicht.«

»Finden Sie?« lachte Kirillow auf. »Gut, ich werde kommen; aber nicht des Gesichts wegen. Wann?«

»Oh, möglichst früh, etwa um halb sieben. Und wissen Sie, Sie können hereinkommen, sich hinsetzen und brauchen mit keinem Menschen zu sprechen, mögen auch noch so viele da sein. Vergessen Sie nur bitte nicht, einen Bleistift und etwas Papier mitzubringen.«

»Wozu denn das?«

»Ihnen kann es ja gleichgültig sein; und das ist eine besondere Bitte von mir. Sie sollen nur dasitzen; sie brauchen mit keinem Menschen zu sprechen und nur zuzuhören und von Zeit zu Zeit so zu tun, als ob Sie sich Notizen machten; Sie können meinetwegen auch etwas zeichnen.«

»Was für ein Unsinn! Wozu das?«

»Na, wenn Ihnen doch alles gleichgültig ist! Sie haben doch selbst gesagt, daß Ihnen alles gleichgültig ist.«

»Aber wozu?«

»Nun, schön, dann will ich es Ihnen sagen. Ein Mitglied unseres Bundes, das hier revidieren sollte, ist in Moskau sitzengeblieben. Ich aber habe hier verschiedenen Leuten gesagt, daß uns vielleicht bald ein Revisor besuchen würde. Da werden sie alle nun denken, Sie seien der Revisor und werden sich noch mehr wundern, da Sie ja schon seit drei Wochen hier sind.«

»Lauter Kunststücke. Sie haben ja gar keinen Revisor in Moskau.«

»Na ja, dann nicht, hol' ihn der Teufel, was kümmert Sie das, und wie kann Sie das irgendwie hindern? Sie sind ja selbst ein Mitglied des Bundes.«

»Gut. Sagen Sie ihnen, ich sei der Revisor. Ich werde dasitzen und schweigen. Aber Papier und Bleistift nehme ich nicht mit.«

»Aber warum denn nicht?«

»Ich will nicht.«

Piotr Stepanowitsch wurde so ärgerlich, daß er ganz grün wurde. Aber er bezwang sich wieder, stand auf und nahm seinen Hut.

»Ist dieser Mensch bei Ihnen?« fragte er plötzlich halblaut.

»Jawohl.«

»Das ist gut. Ich werde ihn bald fortschaffen; seien Sie unbesorgt.«

»Ich mache mir auch keine Sorgen. Er übernachtet hier nur. Die Alte ist im Krankenhaus; ihre Schwiegertochter ist gestorben; ich bin schon seit zwei Tagen allein. Ich habe ihm im Zaun eine Stelle gezeigt, wo sich ein Brett herausnehmen läßt. Da kriecht er durch; niemand sieht ihn.«

»Ich werde ihn bald fortschaffen.«

»Er sagt, er habe viele Stellen, wo er übernachten könnte.«

»Er lügt. Man sucht ihn, und hier fällt er einstweilen niemandem auf. Lassen Sie sich denn mit ihm in Gespräche ein?«

»Ja, ich rede mit ihm die ganze Nacht. Er schimpft sehr auf Sie. Ich habe ihm in der Nacht aus der Offenbarung Sankt Johannis vorgelesen und Tee gegeben. Er hat sehr aufmerksam zugehört; außerordentlich sogar. Die ganze Nacht.«

»Aber zum Henker, da bekehren Sie ihn am Ende gar noch zum christlichen Glauben!«

»Er ist auch so christlichen Glaubens. Aber seien Sie unbesorgt; er wird schon den Mord begehen. Wen wollen Sie denn abschlachten lassen?«

»Nein, ich habe ihn für andere Zwecke nötig ... Weiß Schatow von Fedka?«

»Ich spreche mit Schatow gar nicht und sehe ihn auch nicht.«

»Er ist wohl böse auf Sie?«

»Nein, wir sind nicht böse aufeinander. Wir gehen uns einfach aus dem Wege. Wir haben in Amerika zu lange zusammengelegen.«

»Ich werde ihn gleich aufsuchen.«

»Wie Sie wollen.«

»Auch werde ich vielleicht heute abend mit Stawrogin von dort zu Ihnen herankommen. So gegen zehn Uhr.«

»Gut.«

»Ich muß mit Ihnen über etwas sehr Wichtiges sprechen ... Wissen Sie was, schenken Sie mir Ihren Ball; wozu brauchen Sie ihn jetzt? Ich möchte ihn auch zu Leibesübungen haben. Ich bin sogar bereit, ihn zu bezahlen.«

»Nehmen Sie ihn so.«

Piotr Stepanowitsch steckte den Ball in die hintere Tasche.

»Aber irgend etwas, was Sie gegen Stawrogin ausspielen könnten, werde ich Ihnen nicht in die Hand geben«, murmelte Kirillow, während er den Besucher hinausließ. Dieser sah ihn verwundert an, erwiderte aber nichts darauf.

Die letzten Worte Kirillows brachten Piotr Stepanowitsch mit einem Schlag aus der Fassung; er war sich über ihren Sinn noch nicht ganz ins klare gekommen, bemühte sich aber, schon auf der Treppe zu Schatow, seine unzufriedene Miene durch eine recht freundliche zu ersetzen.

Schatow war zu Hause und fühlte sich nicht recht wohl. Er lag auf dem Bette, übrigens angekleidet.

»Ist das ein Pech!« rief Piotr Stepanowitsch von der Schwelle aus. »Sind Sie ernstlich krank? ...«

Der freundliche Ausdruck war mit einem Schlage von seinem Gesicht verschwunden; etwas Boshaftes funkelte in seinen Augen.

»Durchaus nicht«, rief Schatow nervös und sprang auf. »Ich bin gar nicht krank, nur der Kopf tut mir ein bißchen weh ...«

Er war ganz fassungslos; das plötzliche Erscheinen eines solchen Gastes versetzte ihn entschieden in Schrecken.

»Ich komme gerade in einer Angelegenheit, bei der das Kranksein durchaus nicht am Platze ist«, begann Piotr Stepanowitsch hastig und gewissermaßen gebieterisch. »Gestatten Sie, daß ich mich setzte.« (Er setzte sich.) »Und nehmen Sie auch wieder Platz. Auf Ihrem Bett. So ist es recht. Heute werden sich unter dem Vorwand, man wolle Wirginskijs Namenstag feiern, einige von den Unsrigen versammeln; Menschen anderer Richtung werden übrigens überhaupt nicht dabei sein; dagegen sind bereits Maßregeln getroffen. Ich werde mit Nikolaj Stawrogin kommen. Sie würde ich natürlich nicht hinschleppen, da ich Ihre jetzige Denkweise kenne ... Das heißt, ich will damit sagen, daß ich eben vermeiden würde, Sie zu quälen, und nicht etwa, daß ich befürchte, Sie könnten eine Denunziation einreichen. Es ist aber so gekommen, daß Sie heute unbedingt hingehen müssen. Sie werden dort heute die Leute treffen, mit denen wir dann endgültig entscheiden werden, auf welche Weise Sie aus dem Bund ausscheiden können, und wem Sie das, was sich in Ihren Händen befindet, zu übertragen haben. Wir können das ganz unauffällig machen; ich führe Sie dort einfach in irgendeine Ecke; es werden viele Menschen da sein, und nicht alle brauchen es zu wissen. Ich habe offengestanden Ihretwegen meine Zunge gehörig anstrengen müssen; aber jetzt sind auch die anderen, wie es scheint, einverstanden, natürlich unter der Bedingung, daß Sie die Druckerei und alles andere abgeben. Dann dürfen Sie gehen, wohin Sie wollen.«

Schatow hörte mit finsterer und ärgerlicher Miene zu. Die nervöse Angst von vorhin war nunmehr endgültig geschwunden.

»Ich erkenne keine Verpflichtung an, weiß der Teufel, wem ich Rechenschaft abzugeben habe«, erwiderte er im entschiedenen Tone. »Niemand kann mich freilassen.«

»Ganz so verhält es sich doch nicht. Ihnen ist vieles anvertraut worden. Sie hatten nicht das Recht, mit dem Bund so schroff zu brechen. Und schließlich haben Sie das auch niemals klar kundgetan, so daß die anderen stets Rätsel lösen mußten und in eine zweideutige Situation hineingeraten sind.«

»Gleich nach meiner Ankunft in dieser Stadt habe ich es in einem Briefe klar ausgesprochen.«

»Nein, eben nicht klar,« widersprach Piotr Stepanowitsch vollkommen ruhig, »ich habe Ihnen zum Beispiel die ›Lichte Persönlichkeit‹ und zwei Flugblätter hierhergeschickt, damit Sie die Sachen hier drucken und die Abzüge, bis sie verlangt werden, bei sich aufbewahren. Sie schickten mir alles mit einem zweideutigen Briefe zurück, der absolut nichts besagte.«

»Ich habe es klar und offen abgelehnt, die Sachen zu vervielfältigen.«

»Offen ja, aber nicht klar. Sie schrieben mir: ›ich kann nicht‹, erklärten aber nicht, warum Sie es nicht können. ›Ich kann nicht‹ bedeutet noch lange nicht soviel, wie ›ich will nicht‹. Man konnte denken, Sie wären einfach aus finanziellen Gründen außerstande, die Drucklegung zu übernehmen. So ist es auch aufgefaßt worden, und man war dort der Ansicht, daß Sie nach wie vor willens seien, Ihre Verbindung mit dem Bund aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grunde war es durchaus möglich, daß man Ihnen wieder etwas anvertraut und folglich sich kompromittiert hätte. Hier wird behauptet, Sie wollten uns einfach täuschen, um, sobald Ihnen etwas Wichtiges mitgeteilt würde, eine Anzeige zu erstatten. Ich habe Sie aus aller Kraft verteidigt und habe den Zweiflern Ihre zweizeilige schriftliche Antwort als Beleg zu Ihren Gunsten vorgezeigt. Als ich aber diesen Brief jetzt wieder las, mußte ich selbst zugeben, daß diese zwei Zeilen nicht klar sind und leicht einen Irrtum hervorrufen können.«

»Haben Sie denn diesen Brief so sorgfältig aufbewahrt?«

»Da ist doch nichts dabei; ich habe ihn auch jetzt noch.«

»Meinetwegen, hol's der Teufel! ...« rief Schatow wütend. »Mögen Ihre Dummköpfe glauben, daß ich Sie denunziert habe. Was schert mich das! Ich möchte mal sehen, was Sie mir tun können!«

»Man würde Sie notieren und Sie beim ersten Erfolg der Revolution aufknüpfen.«

»Das heißt, sobald Sie die Oberhand erlangt und Rußland unterworfen haben werden?«

»Lachen Sie nicht darüber. Ich wiederhole: ich habe Sie verteidigt. Na, so oder so, jedenfalls rate ich Ihnen, heute zu erscheinen. Wozu so viele unnütze Worte aus falschem Stolz machen? Ist es nicht viel besser, man geht freundschaftlich auseinander? Sie werden doch sowieso unter allen Umständen die Druckpresse und die Lettern und die alten Flugblätter abliefern müssen. Und darüber wollen wir heute eben reden.«

»Ich werde kommen«, brummte Schatow und ließ nachdenklich den Kopf hängen. Piotr Stepanowitsch betrachtete ihn von seinem Platze mit einem schiefen Blick.

»Wird Stawrogin auch da sein?« fragte Schatow plötzlich und hob den Kopf in die Höhe.

»Ganz bestimmt.«

»He, he!«

Wieder schwiegen sie etwa eine Minute lang. Schatow lächelte geringschätzig und gereizt.

»Und ist Ihre verflixte ›Lichte Persönlichkeit‹, die ich hier nicht vervielfältigen wollte, denn nun gedruckt?«

»Das ist sie.«

»Wollen Sie wieder Gymnasiasten einreden, Herzen hätte Ihnen das Gedicht selbst ins Album geschrieben?«

»Allerdings.«

Es trat wieder ein Schweigen ein, das diesmal beinah drei Minuten dauerte. Endlich stand Schatow vom Bette auf.

»Scheren Sie sich weg von hier; ich will nicht mit Ihnen zusammen sein.«

»Ich gehe schon«, erwiderte Piotr Stepanowitsch. Er erhob sich sofort von seinem Platz und schien sogar höchst vergnügt zu sein. »Nur noch ein Wort: Kirillow wohnt jetzt in seinem Seitengebäude offenbar ganz allein, sogar ohne Bedienerin?«

»Ja, mutterseelenallein. Gehen Sie, ich kann nicht mit Ihnen in ein und demselben Zimmer sein.«

»Na, du bist jetzt in einer schönen Verfassung!« dachte Piotr Stepanowitsch froh und munter, als er auf die Straße hinaustrat. »Und auch heute abend wirst du in einer schönen Verfassung sein. Und gerade so habe ich dich jetzt nötig; besser hätte ich es mir gar nicht wünschen können, wahrhaftig nicht! Der russische Gott hilft selbst!«

7

Wahrscheinlich hatte er an diesem Tage sehr viel Geschäftsgänge zu besorgen, und wahrscheinlich hatte er bei seinen Unternehmungen Erfolg gehabt. Das ließ sich deutlich an dem selbstzufriedenen Ausdruck seines Gesichts erkennen, als er am Abend, Punkt sechs Uhr, bei Nikolaj Wsewolodowitsch erschien. Aber zu diesem wurde er nicht sogleich vorgelassen, weil Stawrogin gerade mit Mawrikij Nikolajewitsch im Arbeitszimmer eine Unterredung hatte. Diese Nachricht machte Piotr Stepanowitsch sofort nachdenklich. Er setzte sich dicht an die Tür des Arbeitszimmers, um dort abzuwarten, bis der Besucher weggehen würde. Er hörte, daß die beiden sprachen, konnte aber kein Wort verstehen. Die Unterredung dauerte nicht lange; bald wurde Lärm vernehmbar, es ertönte eine sehr laute und scharfe Stimme, dann öffnete sich die Tür und Mawrikij Nikolajewitsch stürzte mit ganz blassem Gesicht heraus. Er bemerkte den jungen Werchowenskij nicht und ging schnell an ihm vorbei. Piotr Stepanowitsch lief sofort in das Arbeitszimmer hinein.

Ich kann nicht umhin, über diese kurze Unterredung der beiden »Nebenbuhler« ausführlich zu berichten, zumal eine Begegnung der beiden unter den nun einmal obwaltenden Umständen scheinbar ganz unmöglich war, aber dennoch tatsächlich stattgefunden hatte.

Das Ganze spielte sich folgendermaßen ab. Nikolaj Wsewolodowitsch schlummerte nach dem Mittagessen auf der Chaiselongue im Arbeitszimmer, als ihm Alexej Jegorowitsch die Ankunft des unerwarteten Besuchers meldete. Als Stawrogin den Namen Mawrikij Nikolajewitschs hörte, sprang er sogar auf und wollte es nicht glauben. Aber bald zeigte sich auf seinen Lippen ein Lächeln, das hochmütigen Triumph und gleichzeitig eine mißtrauische Verwunderung ausdrückte. Dieses Lächeln verblüffte den eintretenden Mawrikij Nikolajewitsch so, daß er sogar im Zimmer stehen blieb, wie wenn er unschlüssig darüber wäre, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Der Wirt veränderte aber sofort seinen Gesichtsausdruck. Ernstes Erstaunen malte sich auf seinen Zügen, und er trat dem Gast entgegen. Dieser nahm die ihm hingestreckte Hand nicht, zog sich linkisch einen Stuhl heran und setzte sich noch eher als der Wirt hin, ohne eine Aufforderung abzuwarten und ohne überhaupt ein Wort zu sagen. Nikolaj Wsewolodowitsch nahm ihm schräg gegenüber auf der Chaiselongue Platz, sah ihn aufmerksam an, schwieg ebenfalls und wartete.

»Wenn es Ihnen möglich ist, dann heiraten Sie Lisaweta Nikolajewna«, sagte Mawrikij Nikolajewitsch auf einmal, und das Merkwürdigste war, daß man an dem Ton, in dem er das ausgesprochen hatte, keineswegs erkennen konnte, was es eigentlich war: eine Bitte, eine Empfehlung, ein Nachgeben oder ein Befehl.

Nikolaj Wsewolodowitsch schwieg immer noch. Aber der Gast hatte anscheinend bereits alles gesagt, was er zu sagen beabsichtigt hatte und blickte nun in Erwartung einer Antwort dem Hausherrn ins Gesicht.

»Wenn ich mich nicht irre, so ist Lisaweta Nikolajewna bereits mit Ihnen verlobt. Übrigens kann ja daran gar nicht mehr gezweifelt werden«, meinte endlich Stawrogin.

»Sie ist mit mir in aller Form verlobt«, bestätigte Mawrikij Nikolajewitsch unumwunden und fest.

»Haben Sie ... sich entzweit? ... Verzeihen Sie die Frage, Mawrikij Nikolajewitsch.«

»Nein, sie ›liebt und achtet‹ mich. Das sind ihre eigenen Worte. Und ihre eigenen Worte sind am zuverlässigsten.«

»Daran ist nicht zu zweifeln.«

»Aber Sie müssen wissen: selbst wenn sie in der Kirche schon am Altar stehen wird, ist sie imstande, bei Ihrem ersten Ruf mich und alle zu verlassen und zu Ihnen zu gehen.«

»Von der Trauung weg?«

»Selbst nach der Trauung.«

»Irren Sie sich auch nicht?«

»Nein. Unter dem nie aufhörenden, aufrichtigen und maßlosen Haß, den sie gegen Sie empfindet, leuchtet alle Augenblicke Liebe hervor und ... Wahnsinn ... Die aufrichtigste, schrankenloseste Liebe und – der Wahnsinn! Dagegen aber macht sich hinter der Liebe, die sie ebenso aufrichtig für mich fühlt, jeden Augenblick ein Haß bemerkbar, und zwar der größte Haß! Ich hätte mir früher alle diese ... Metamorphosen gar nicht vorstellen können.«

»Aber es wundert mich, daß Sie einfach hierher kommen und über Lisaweta Nikolajewnas Hand verfügen! Haben Sie ein Recht dazu? Oder hat sie Ihnen den Auftrag dazu gegeben?«

Mawrikij Nikolajewitsch zog finster die Brauen zusammen und senkte für einen Augenblick den Kopf.

»Sie machen ja nur Worte,« erwiderte er dann plötzlich, »rachsüchtige, triumphierende Worte. Ich bin überzeugt, daß Sie auch das Unausgesprochene sehr wohl verstehen. Und bleibt denn da noch wirklich Raum für kleinliche, hochmütige Eitelkeit? Ist die Genugtuung noch nicht ausreichend? Muß ich denn wirklich alles breitdrücken und auf jedes I einen Punkt setzen? Nun schön, ich werde es tun, wenn Ihnen an meiner Erniedrigung soviel gelegen ist. Ein Recht dazu habe ich nicht; ein Auftrag ist hier ein Ding der Unmöglichkeit; Lisaweta Nikolajewna weiß nichts davon. Ihr Bräutigam hat aber den letzten Rest des Verstandes verloren, ist reif für das Irrenhaus und kommt nun, um allem die Krone aufzusetzen, selbst hierher, um Ihnen davon Meldung abzustatten. Auf der ganzen Welt können nur Sie allein Lisaweta Nikolajewna glücklich machen und nur ich allein unglücklich. Sie machen sie mir streitig, Sie verfolgen sie und heiraten sie aus mir unbekannten Gründen doch nicht. Wenn das einem Liebeszank zufolge geschieht, der im Auslande stattgefunden hat, und wenn, um ihn zu beenden, ich zum Opfer gebracht werden muß, dann bringen Sie mich zum Opfer. Sie ist außerordentlich unglücklich, und ich kann das nicht ertragen. Meine Worte sind keine Erlaubnis und auch keine Vorschrift, folglich enthalten sie auch nichts, was Ihr Selbstgefühl verletzten könnte. Wenn es Ihren Wünschen entsprechen würde, meinen Platz am Altar einzunehmen, so hätten Sie das ohne Erlaubnis von meiner Seite tun können, und ich hätte dann natürlich keinen Anlaß gehabt, mit diesem Wahnsinn zu Ihnen zu kommen. Um so mehr, da auch unsere Heirat nach meinem jetzigen Schritt ganz unmöglich geworden ist. Ich kann sie doch nicht zum Altar führen, da ich so gemein bin! Was ich jetzt tue, und daß ich sie Ihnen, vielleicht ihrem unversöhnlichsten Feinde verrate, ist meiner Ansicht nach eine solche Gemeinheit, daß ich sie selbstverständlich nie verwinden werde.«

»Wollen Sie sich erschießen, wenn wir getraut werden?«

»Nein, erst viel später. Wozu soll ich ihr Hochzeitsgewand mit meinem Blute beflecken? Und vielleicht werde ich mich überhaupt nicht erschießen, weder jetzt noch später.«

»Durch diese letzten Worte wollen Sie mich wahrscheinlich beruhigen?«

»Sie? Was kann es Ihnen schon ausmachen, wenn ein bißchen mehr Blut vergossen wird?«

Er war blaß geworden, und seine Augen fingen an zu funkeln. Es folgte ein minutenlanges Schweigen.

»Entschuldigen Sie die Fragen, die ich Ihnen vorgelegt habe«, begann Stawrogin von neuem. »Einige von ihnen hatte ich gar kein Recht zu stellen, aber zu einer Frage glaube ich dennoch voll und ganz berechtigt zu sein: sagen Sie mir bitte, welche Tatsachen Sie veranlassen, über meine Gefühle zu Lisaweta Nikolajewna derartige Schlüsse zu ziehen? Ich meine über jenen Grad dieser Gefühle, von dem Sie dermaßen stark überzeugt sind, daß diese Überzeugung Ihnen erlaubt, zu mir zu kommen ... und einen derartigen Vorschlag zu riskieren.«

»Wie?« rief Mawrikij Nikolajewitsch aus und zuckte dabei sogar ein wenig zusammen. »Haben Sie sich denn nicht um sie beworben? Liegt Ihnen nicht daran, und wollen Sie sich nicht um sie bewerben?«

»Über meine Gefühle zu dieser oder jener Frau kann ich überhaupt nicht zu einem Dritten sprechen, wer es auch sein mag, sondern nur zu der betreffenden Frau selbst. Verzeihen Sie, aber das ist nun einmal eine Eigentümlichkeit meines Charakters. Dafür aber will ich Ihnen im übrigen die volle Wahrheit sagen: ich bin verheiratet, und es ist mir daher nicht mehr möglich, eine andere Frau zu heiraten, oder mich zu ›bewerben‹.«

Mawrikij Nikolajewitsch war so sehr erstaunt, daß er sogar gegen die Rücklehne seines Sessels zurückschwankte und eine Weile wie starr Stawrogin ins Gesicht blickte.

»Denken Sie sich, das habe ich mir wirklich gar nicht vorstellen können,« murmelte er, »Sie haben doch damals an jenem Vormittag gesagt, Sie seien unverheiratet ... Da habe ich natürlich geglaubt, Sie wären ledig ...«

Er war furchtbar blaß geworden. Plötzlich schlug er aus voller Kraft auf den Tisch und rief:

»Wenn Sie nach diesem Bekenntnis Lisaweta Nikolajewna nicht vollständig in Ruhe lassen und sie unglücklich machen, dann werde ich Sie einfach mit dem Stock totschlagen, wie einen Hund am Zaune!«

Er sprang auf und ging hastig aus dem Zimmer.

Der gleich darauf eingetretene Piotr Stepanowitsch fand Stawrogin in einer ganz unerwarteten Gemütsverfassung.

»Ah, Sie sind es!« rief Nikolaj Wsewolodowitsch und lachte laut auf. Er schien eigentlich nur über Piotr Stepanowitschs Figur zu lachen, da dieser mit so unverhohlener, aufgeregter Neugier hereingestürmt war. »Sie haben an der Tür gehorcht? Warten Sie mal, weshalb kommen Sie denn überhaupt? Ich habe Ihnen doch etwas versprochen ... Ach ja! Jetzt erinnere ich mich! Wir wollten ja die ›Unsrigen‹ aufsuchen! Kommen Sie, ich freue mich sehr darauf. Etwas, was mir jetzt gelegener käme, hätten Sie gar nicht ersinnen können!«

Er griff nach seinem Hute, und beide verließen sofort das Haus.

»Sie lachen schon im voraus vor Freude, daß Sie die ›Unsrigen‹ zu sehen bekommen werden?« fragte Piotr Stepanowitsch, indem er lustig umherschwänzelte und bald neben Stawrogin auf dem schmalen Ziegelbürgersteig zu gehen versuchte, bald aber auf dem Straßendamm geradezu in den Schmutz lief, weil Nikolaj Wsewolodowitsch es gar nicht bemerkte, daß er allein gerade in der Mitte des Bürgersteigs ging und es somit dem anderen vollkommen unmöglich machte, denselben auch zu benutzen.

»Ich lache durchaus nicht«, erwiderte Stawrogin laut und heiter. »Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß ich dort nur sehr ernste Menschen finden werde.«

»›Griesgrämige Dummköpfe‹, wie Sie sich einmal auszudrücken beliebten.«

»Es gibt nichts Erheiternderes als so manchen griesgrämigen Dummkopf.«

»Ach, Sie meinen wohl damit Mawrikij Nikolajewitsch! Ich bin fest davon überzeugt, daß er jetzt bei Ihnen war, um Ihnen seine Braut anzubieten. Stimmt das? Ich habe ihn indirekt selbst dazu aufgehetzt. Das können Sie sich doch auch selbst denken. Und wenn er sie Ihnen nicht freiwillig abtritt, dann werden wir sie ihm einfach wegnehmen, nicht wahr?«

Piotr Stepanowitsch wußte natürlich, was er riskierte, wenn er sich auf solche Ausflüchte einließ; aber wenn er einmal selbst aufgeregt war, so wagte er lieber nötigenfalls alles, als daß er länger in Ungewißheit blieb. Nikolaj Wsewolodowitsch lachte nur.

»Rechnen Sie immer noch darauf, mir einmal helfen zu müssen?« fragte er.

»Sobald Sie mich rufen werden. Wissen Sie aber, daß es einen sehr guten Weg gibt? Den allerbesten?«

»Ich kenne Ihren Weg.«

»Ach nein. Was ich meine, ist vorläufig noch ein Geheimnis. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß das Geheimnis Geld kostet.«

»Ich weiß sogar, wieviel es kostet«, brummte Stawrogin vor sich hin, nahm sich aber zusammen und sagte nichts weiter.

»Wieviel? Was sagten Sie?« fragte Piotr Stepanowitsch beinah erschrocken.

»Ich sagte: der Teufel möge Sie zusammen mit Ihrem Geheimnis holen. Erzählen Sie mir lieber, wer sich dort heute bei Ihnen alles versammeln wird? Ich weiß, daß wir zur Feier eines Namenstags hingehen; aber wer ist denn eigentlich dort?«

»Oh, es wird im höchsten Grade gemischt sein! Selbst Kirillow hat sein Kommen zugesagt.«

»Lauter Mitglieder eurer Zirkel?«

»Der Kuckuck auch, haben Sie es eilig! Hier hat sich noch kein einziger Zirkel gebildet.«

»Wie haben Sie es denn fertig gebracht, so viele Flugblätter zu verbreiten?«

»Dort, wohin wir jetzt gehen, sind nur vier Mitglieder unseres kleinen Kreises. Die übrigen müssen vorläufig noch warten, bespitzeln einander um die Wette und erstatten mir Bericht. Es sind Leute, die zu vielen Hoffnungen berechtigen. Das ist lauter Material, das man organisieren muß, worauf man sich allerdings am besten aus dem Staube macht. Übrigens haben Sie ja selbst das Statut verfaßt; Ihnen brauche ich nichts auseinanderzusetzen.«

»Geht denn die Sache so schwer? Hapert es?«

»Wie es geht? Leichter kann man es sich gar nicht wünschen. Ich will Sie jetzt ein bißchen erheitern: das erste, was geradezu furchtbar wirkt, das ist eine Uniform. Es gibt kein stärkeres Zugmittel als das. Ich ersinne absichtlich Titel und Ämter, ich habe da Sekretäre, geheime Kundschafter, Kassierer, Vorsitzende, Registratoren, ihre Gehilfen, und das alles gefällt ihnen sehr gut und gedeiht ganz nach Wunsch. Die zweite treibende Kraft ist die Sentimentalität. Wissen Sie, der Sozialismus verdankt seine Verbreitung bei uns hauptsächlich der Sentimentalität. Das Unglück ist nur, daß wir Menschen haben wie diesen Unterleutnant, die plötzlich alle Zügel schießen lassen und zu beißen beginnen. Da geht es eben solange, wie es geht, und auf einmal ist man hineingefallen. Ferner haben wir reine Schurken; nun, die sind ja sonst als ganz brauchbare Menschen zu betrachten und können manchmal sehr nützlich sein; nur muß man gar zu viel Zeit für sie verwenden, denn sie verlangen eine unaufhörliche Überwachung. Nun und dann kommt schließlich das Hauptmoment, sozusagen der alles bindende Zement: das ist die Scheu vor einer eigenen Meinung. Das ist eine Kraft, sage ich Ihnen! Und wer hat da nur so gut gearbeitet, wer ist der ›liebe Mensch‹, der sich so große Mühe gegeben hat, daß in keinem von ihnen auch nur ein einziger eigener Gedanke geblieben ist? Die Leute schämen sich jedes selbständigen Denkens!«

»Wenn dem so ist, warum geben Sie sich denn soviel Mühe?«

»Ich bitte Sie! Wenn so ein Kerl daliegt und weit den Mund aufsperrt, wie soll man ihn dann nicht in die Tasche stecken? Es ist, als ob Sie an der Möglichkeit des Gelingens ernstlich zweifelten? Ach, der Glaube ist schon da, es fehlt nur noch am Wollen. Aber gerade mit solchen Leuten ist ein Erfolg möglich. Ich sage Ihnen, ein jeder von ihnen wird für mich durch Feuer und Wasser gehen; ich brauche ihnen nur zuzurufen, sie seien nicht fortschrittlich genug. Die Dummköpfe werfen mir vor, ich hätte sie alle mit dem Zentralkomitee und den ›unzähligen Verzweigungen‹ betrogen. Sie selbst, Stawrogin, haben mir auch einmal diesen Vorwurf gemacht. Aber kann denn da überhaupt von einer Täuschung die Rede sein? Das Zentralkomitee, das sind Sie und ich, und Verzweigungen wird es so viele geben, wie man haben will.«

»Und überall nur solches Gesindel!«

»Menschenmaterial. Auch das ist zu gebrauchen.«

»Und Sie rechnen immer noch auf mich?«

»Sie sind der Chef, Sie sind die Macht. Ich werde Ihnen nur zur Seite stehen, etwa als Sekretär. Wir werden uns, wissen Sie, in einen Nachen setzen, unsere Ruder werden von Ahornholz sein, die Segel von Seide, und am Steuer werden wir ein schönes Mädchen haben, etwa die herrliche Lisaweta Nikolajewna ... Oder wie das in jenem Liede heißt, hol's der Kuckuck ...«

»Sind Sie doch stecken geblieben!« rief Stawrogin und begann laut zu lachen. »Nein, ich werde Ihnen ein besseres Liedchen vorsingen. Sie zählten jetzt an den Fingern ab, welche treibenden Kräfte zur Bildung der revolutionären Gruppen führen können. All dieses Beamtenwesen und diese Sentimentalität ist wohl ein guter Kleister, aber es gibt noch etwas bedeutend Besseres: bereden Sie vier Ihrer Mitglieder, ein fünftes umzubringen, indem Sie etwa vorgeben, es sei ein Denunziant, und sofort werden Sie diese Leute mittels des vergossenen Bluts stärker als mit einem Strick zusammenbinden. Die Herrschaften werden sofort Ihre Sklaven werden und nie wieder wagen, weder sich zu empören, noch Rechenschaft zu fordern. Hahaha!«

»Du sollst mir aber ...,« dachte Piotr Stepanowitsch für sich, »du sollst mir für diese Worte büßen, und zwar heute abend noch. Du erlaubst dir doch gar zu viel.«

So oder ähnlich mochte Piotr Stepanowitsch gedacht haben. Übrigens näherten sich die beiden bereits dem Hause Wirginskijs.

»Sie werden mich dort natürlich für ein ausländisches Mitglied ausgegeben haben, das mit der Internationale in Verbindung steht. Oder für einen Revisor?« fragte plötzlich Stawrogin.

»Nein, nicht für einen Revisor; die Rolle des Revisors spielt ein anderer. Sie werden ein aus dem Ausland eingetroffenes Mitglied sein, das zu den Gründern des Bundes gehört und dem die wichtigsten Geheimnisse bekannt sind. Das ist Ihre Rolle. Sie werden natürlich das Wort ergreifen?«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Jetzt müssen Sie das geradezu.«

Stawrogin war so erstaunt, daß er sogar stehenblieb. Es war mitten auf der Straße, nicht weit von einer Laterne. Piotr Stepanowitsch hielt seinem Blick dreist und ruhig stand. Stawrogin spuckte aus und ging weiter.

»Und Sie? Werden Sie auch sprechen?« fragte er plötzlich Piotr Stepanowitsch.

»Nein, ich werde lieber Ihnen zuhören.«

»Hol' Sie der Teufel! Sie bringen mich wirklich auf einen Gedanken!«

»Auf welchen denn?« fragte Piotr Stepanowitsch hastig.

»Dort will ich meinetwegen ein wenig reden, dafür aber werde ich Sie nachher durchprügeln und, wissen Sie, gehörig sogar.«

»Ja, übrigens, ich habe heute vormittag über Sie zu Karmasinow gesagt, Sie hätten die Äußerung getan, daß man ihn durchpeitschen müßte, aber nicht einfach um seiner Ehre Abbruch zu tun, sondern recht schmerzhaft, wie man eben einen leibeigenen Bauern früher peitschte.«

»Aber das habe ich doch nie gesagt, haha!«

»Das macht nichts. Si non è vero ...«

»Nun, dann danke ich Ihnen, ich danke Ihnen aufrichtig.«

»Noch eins: wissen Sie, was Karmasinow behauptet? Er ist der Ansicht, daß unsere Lehre in der Hauptsache eine Verneinung der Ehre sei, und daß man mit dem offen verkündeten Recht auf Ehrlosigkeit die Russen am allerleichtesten ködern und mit sich ziehen könne.«

»Ausgezeichnete Worte! Goldene Worte!« rief Stawrogin. »Da hat er genau ins Schwarze getroffen! Das Recht auf Ehrlosigkeit, – ja, da werden alle zu uns gelaufen kommen, kein einziger wird zurückbleiben! Aber hören Sie mal, Werchowenskij, gehören Sie nicht etwa zu den höheren Beamten der Geheimpolizei?«

»Wer solche Fragen im Kopf hat, der spricht sie doch nicht laut aus.«

»Ich verstehe, aber wir sind ja unter uns.«

»Nein, vorläufig gehöre ich noch nicht zur Geheimpolizei. Aber nun genug, wir sind angelangt. Machen Sie sich ein Gesicht zurecht, Stawrogin; ich tue das auch immer, wenn ich zu den Leuten hineingehe. Möglichst viel Finsterkeit, und weiter ist nichts mehr nötig. Es ist eine sehr einfache Sache.«


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