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Drittes Kapitel

Der beendete Roman

1

Aus dem großen Saal in Skworeschniki, in dem seinerzeit die letzte Zusammenkunft Warwara Petrownas mit Stepan Trofimowitsch stattgefunden hatte, konnte man die Feuersbrunst so deutlich sehen, wie wenn sie ganz nahe gewesen wäre. Bei Tagesanbruch, gegen sechs Uhr morgens, stand Lisa am äußersten Fenster rechts und blickte unverwandt nach dem erlöschenden Widerschein des Feuers hin. Sie war allein im Zimmer. Sie trug noch das gestrige Festkleid, in dem sie zu der literarischen Morgenfeier erschienen war, ein hellgrünes, kostbares, ganz mit Spitzen besetztes Gewand, das aber schon zerknittert aussah und eilig und nachlässig angezogen war. Als sie auf einmal bemerkte, daß sie es über der Brust nicht vollständig zugeknöpft hatte, errötete sie, brachte es hastig in Ordnung, ergriff ihr rotes Tuch, das sie schon tags zuvor auf einen Sessel hingeworfen hatte und band es sich um den Hals. Ihr üppiges Haar fiel in aufgelösten Locken unter dem Tuche auf die rechte Schulter herunter, ihr Gesicht war müde und sorgenvoll, aber ihre Augen brannten unter den finster zusammengezogenen Brauen. Sie näherte sich wieder dem Fenster und drückte ihre heiße Stirn gegen die kalten Scheiben. Da öffnete sich die Tür, und ins Zimmer trat Nikolaj Wsewolodowitsch.

»Ich habe soeben einen besonderen berittenen Boten hingeschickt,« sagte er, »in zehn Minuten werden wir alles genau erfahren. Vorläufig weiß ich nur, was die Leute sagen, und zwar, daß ein Teil der Häuser jenseits des Flusses niedergebrannt ist, und zwar nach dem Ufer zu, rechts von der Brücke. Das Feuer hatte schon zwischen elf und zwölf begonnen; jetzt legt es sich.«

Er trat nicht zum Fenster, sondern blieb drei Schritte hinter ihr stehen; sie wandte sich ihm nicht zu ...

»Nach dem Kalender hätte es schon seit einer Stunde hell sein müssen, und doch ist es draußen noch fast Nacht«, sagte sie ärgerlich.

»Alle Kalender lügen«, bemerkte er mit einem freundlichen Lächeln, schämte sich aber dieser Worte sogleich und fügte hastig hinzu: »Nach dem Kalender zu leben ist langweilig, Lisa.«

Und er verstummte endgültig, da er sich über die neue von ihm ausgesprochene Plattheit ärgerte. Lisa verzog die Lippen zu einem schiefen Lächeln.

»Sie sind in einer so trüben Stimmung, daß Sie nicht einmal die richtigen Worte für ein Gespräch mit mir finden können. Aber beruhigen Sie sich, was Sie soeben gesagt haben, paßt vortrefflich. Ich lebe stets nach dem Kalender, jeder meiner Schritte ist nach dem Kalender berechnet. Wundern Sie sich darüber?«

Sie wandte sich schnell vom Fenster weg und setzte sich in einen Sessel.

»Nehmen Sie bitte auch Platz! Wir werden nicht mehr lange zusammenbleiben, und ich will alles sagen, was mir beliebt ... Warum sollten Sie nicht auch alles sagen, was Ihnen beliebt?«

Nikolaj Wsewolodowitsch setzte sich neben sie und ergriff leise, beinah furchtsam ihre Hand.

»Was bedeutet diese Sprache, Lisa? Woher kommt sie auf einmal? Was heißt das: ›Wir werden nicht mehr lange zusammenbleiben ‹? Das ist schon der zweite, rätselhafte Satz in der halben Stunde, seit du aufgewacht bist.«

»Sie fangen an, meine rätselhaften Phrasen zu zählen?« erwiderte sie und lachte auf. »Und wissen Sie noch, daß ich gestern, als ich hereinkam, mich Ihnen als eine Tote vorgestellt habe? Das zu vergessen haben Sie doch für nötig gefunden? Zu vergessen, oder nicht zu beachten.«

»Ich weiß es nicht mehr, Lisa. Weshalb denn als eine Tote? Man muß leben ...«

»Und schon sind Sie wieder verstummt? Sie haben ja Ihre Redegewandtheit gänzlich verloren. Ich habe meine Stunde auf der Welt ausgelebt, und nun ist es genug. Erinnern Sie sich noch an Christofor Iwanowitsch?«

»Nein, ich erinnere mich nicht«, erwiderte er und zog die Brauen zusammen.

»Christofor Iwanowitsch in Lausanne? Sie waren seiner doch so sehr überdrüssig geworden. Wenn er die Tür auftat, sagte er immer: ›Ich komme nur für einen Augenblick‹, und saß dann den ganzen Tag da. Ich will nicht Christofor Iwanowitsch ähneln und den ganzen Tag dasitzen.«

Eine schmerzliche Empfindung malte sich auf seinen Zügen.

»Lisa, mir tut diese erkünstelte Sprache weh. Diese Grimasse kostet Sie ja selbst sehr viel. Wozu das? Weshalb?«

Seine Augen brannten.

»Lisa,« rief er, »ich schwöre dir, ich liebe dich jetzt noch mehr als gestern, als du zu mir kamst!«

»Was für ein sonderbares Bekenntnis! Was soll hier das Gestern und das Heute und dieses zweierlei Maß?«

»Du wirst mich nicht verlassen«, fuhr er beinah verzweifelt fort. »Wir werden heute noch zusammen wegreisen, heute noch, nicht wahr? Nicht wahr?«

»Ei, drücken Sie mir doch nicht so heftig die Hand! Wohin sollen wir gleich heute zusammen reisen? Irgendwohin, um dort wieder ›aufzuerstehen‹? Nein, genug der Versuche ... auch geht das für mich viel zu langsam; außerdem bin ich gar nicht fähig dazu; das ist zu hoch für mich. Wenn wir schon reisen wollen, dann nach Moskau, um dort Besuche zu machen und selbst Besuche zu empfangen – das ist mein Ideal, wie Sie selbst wissen. Ich habe Ihnen nie verheimlicht, schon in der Schweiz nicht, wie ich beschaffen bin. Da es uns aber unmöglich ist, nach Moskau zu fahren und dort Besuche zu machen, weil Sie verheiratet sind, so ist es überhaupt zwecklos, darüber zu reden.«

»Lisa, was war denn gestern gewesen?«

»Es war, was es war.«

»Das ist unmöglich! Das ist grausam!«

»Was tut es, daß es grausam ist? Wenn es grausam ist, müssen Sie es eben ertragen.«

»Sie rächen sich an mir für die gestrige Phantasie ...« murmelte er mit einem grimmigen Lächeln. Lisa fuhr auf und wurde rot.

»Was für ein gemeiner Gedanke!«

»Weshalb haben Sie mir denn ... ›soviel Glück‹ geschenkt? Habe ich ein Recht, das zu wissen?«

»Nein, versuchen Sie schon irgendwie, ohne Rechte auszukommen, ergänzen Sie nicht die Gemeinheit Ihrer Annahme durch eine Dummheit. Es gelingt Ihnen heute nichts. Übrigens, fürchten Sie etwa die Meinung der Gesellschaft, und daß man Sie wegen dieses ›so vielen Glücks‹ verurteilen wird? Oh, wenn dem so ist, da regen Sie sich um Gottes willen nicht auf. Sie tragen dabei durchaus keine Schuld und brauchen keinem Menschen Rechenschaft zu geben. Als ich gestern Ihre Tür öffnete, wußten Sie nicht einmal, wer da hereinkam. Es war eben nur eine Phantasie von mir, wie Sie sich soeben ausgedrückt haben und nichts weiter. Sie können allen kühn und siegesbewußt in die Augen sehen!«

»Deine Worte und dieses Lachen bringen schon seit einer Stunde einen kalten Schauder des Entsetzens über mich. Dieses ›Glück‹, von dem du in so rasender Art sprichst, kostet mich ... alles. Kann ich denn jetzt dich verlieren? Ich schwöre dir, ich habe dich gestern weniger geliebt. Weshalb nimmst du mir heute alles fort? Weißt du wohl, was sie mich gekostet hat, diese neue Hoffnung? Ein Leben ist der Preis gewesen.«

»Ihr Leben oder ein fremdes?«

Er erhob sich hastig.

»Was bedeutet das?« rief er, indem er sie starr anblickte.

»Ich wollte nur wissen, ob Sie mit Ihrem oder mit meinem Leben dafür bezahlt haben. Oder haben Sie jetzt endgültig aufgehört, etwas zu verstehen?« sagte Lisa und errötete wieder. »Weshalb sind Sie so plötzlich aufgesprungen? Weshalb sehen Sie mich so sonderbar an? Sie erschrecken mich. Wovor fürchten Sie sich denn immer? Ich habe schon längst bemerkt, daß Sie Angst haben, eben jetzt, gerade in diesem Augenblick ... O Gott, wie blaß Sie werden!«

»Wenn dir etwas bekannt ist, Lisa, so schwöre ich dir, daß ich nichts weiß ... und überhaupt nicht davon gesprochen habe, als ich sagte, daß ein Leben der Preis gewesen sein ...«

»Ich verstehe Sie ganz und gar nicht«, erwiderte sie und stockte erschrocken. Endlich erschien auf seinen Lippen langsam ein nachdenkliches Lächeln. Er setzte sich still wieder hin, drückte die Ellbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Das war ein böser Traum mit Fieberreden ... Wir haben von zwei verschiedenen Dingen geredet.«

»Ich weiß gar nicht, wovon Sie gesprochen haben ... Wußten Sie denn gestern wirklich nicht, daß ich heute wieder von Ihnen gehen werde? Wußten Sie es oder nicht? Lügen Sie nicht, ja oder nein?«

»Ich wußte es ...« erwiderte er leise.

»Nun also, was wollen Sie noch mehr: Sie wußten es und haben den ›Augenblick‹ ausgenutzt. Was ist denn da noch viel zu reden?«

»Sag mir die ganze Wahrheit,« rief er mit tiefer Qual, »als du gestern meine Tür geöffnet hattest, wußtest du da selbst, daß du sie nur für eine Stunde aufmachtest?«

Sie blickte ihn voller Haß an:

»Es scheint wahr zu sein, daß die ernstesten Menschen die wunderlichsten Fragen stellen können. Warum beunruhigen Sie sich nur so? Etwa aus verletzter Eitelkeit, weil eine Frau Sie als erste sitzen läßt, noch bevor Sie sich von ihr losgesagt haben? Wissen Sie, Nikolaj Wsewolodowitsch, seitdem ich bei Ihnen bin, habe ich mich unter anderem davon überzeugt, daß Sie gegen mich furchtbar großmütig sind und gerade das kann ich an Ihnen nicht ertragen.«

Er stand auf und machte einige Schritte im Zimmer.

»Schön, mag es so zu Ende gehen ... Aber wie konnte das alles nur geschehen?«

»Was Sie sich für Sorgen machen! Und überdies wissen Sie es ganz genau, Sie kennen die Umstände wie Ihre fünf Finger, begreifen das alles besser als irgend jemand in der Welt und haben selbst darauf gerechnet. Ich bin ein vornehmes Fräulein, meine Herzensbildung stammt von der Oper her; das ist die Wurzel und die ganze Lösung.«

»Nein.«

»Es ist hier nichts dabei, was Ihre Eitelkeit verletzen könnte, und es ist die volle Wahrheit. Es begann mit einem schönen Augenblick, den ich nicht zu ertragen vermochte. Vorgestern, als ich Sie in aller Öffentlichkeit ›beleidigt‹ hatte, und Sie mir in so ritterlicher Weise die geforderte Antwort gaben, sagte ich mir, sobald ich nach Hause kam, daß Sie nur deshalb vor mir geflohen waren, weil Sie verheiratet sind, und durchaus nicht darum, weil Sie mich verachten. Denn davor hatte ich mich als mondäne junge Dame am meisten gefürchtet. Ich begriff, daß Sie gerade mich, die Unvernünftige, durch Ihre Flucht schützen wollten. Sehen Sie, wie ich Ihre Großmut schätze? Da sprang Piotr Stepanowitsch herzu und erklärte mir alles. Er eröffnete mir, daß Sie von einem großen Gedanken erfüllt seien, vor dem wir beide, er und ich, ein reines Nichts wären, und daß ich Ihnen dennoch im Wege stände. Er hat sich selbst auch noch hineingebracht; er wollte unbedingt uns alle drei in einem Atemzug nennen und sprach ganz phantastisches Zeug von einem Nachen und Rudern aus Ahornholz, die in irgendeinem russischen Volkslied vorkommen. Ich lobte ihn und sagte ihm, er sei ein Dichter, was er für bare Münze nahm. Da ich aber ohnehin schon längst wußte, daß meine Kraft nur für einen Augenblick ausreichen würde, so entschloß ich mich eben. Nun, und das ist alles, und nun genug davon und, bitte, weiter keine Erklärungen mehr, sonst werden wir uns womöglich noch zanken. Sie brauchen sich vor keinem Menschen zu fürchten, denn ich werde alles auf mich nehmen. Ich bin schlecht, launisch, habe mich durch einen opernhaften Nachen verführen lassen, ich bin eben ein vornehmes Fräulein ... Aber wissen Sie, ich habe dennoch gedacht, daß Sie mich Gott weiß wie schrecklich lieb hätten. Verachten Sie nicht die Närrin und lachen Sie nicht über dieses Tränchen, das da soeben heruntergefallen ist. Ich habe es furchtbar gern, ›mich selbst bedauernd‹ zu weinen. Nun, genug, genug! Ich bin zu nichts fähig, und Sie sind nicht besser; wir haben jeder dem andern eins ausgewischt und können uns damit trösten. Wenigstens leidet die Eitelkeit nicht darunter.«

»Traum und Irrereden!« rief Nikolaj Wsewolodowitsch und begann händeringend im Zimmer auf und ab zu gehen. »Lisa, du Arme, was hast du mit dir getan?«

»Ich habe mich an einer Kerze versengt und nichts weiter. Weinen Sie etwa am Ende auch? Seien Sie anständiger, seien Sie gefühlloser ...«

»Weshalb, weshalb bist du nur zu mir gekommen?«

»Aber begreifen Sie denn gar nicht, in welche komische Lage Sie sich durch solche Fragen der Meinung der Welt gegenüber bringen?«

»Weshalb hast du dich in so häßlicher, in so törichter Weise zugrunde gerichtet, und was ist jetzt zu tun?«

»Und das ist Stawrogin, der ›Blutsauger Stawrogin‹, wie Sie eine hiesige Dame nennt, die in Sie verliebt ist! Hören Sie, ich habe Ihnen doch schon alles erzählt; ich habe mein ganzes Leben auf eine Stunde berechnet und bin ganz ruhig. Berechnen Sie auch Ihr Leben so ... Übrigens haben Sie gar keinen Grund dazu; Sie werden noch soviel von allerlei ›Stunden‹ und ›Augenblicken‹ haben.«

»Genau so viele wie du; ich gebe dir mein heiliges Ehrenwort darauf: auch nicht eine Stunde mehr als du!«

Er ging immer noch auf und ab und hatte ihren raschen, durchdringenden Blick nicht bemerkt, der plötzlich von einer Hoffnung erhellt zu werden schien. Aber der Lichtstrahl erlosch noch im selben Augenblick wieder.

»Wenn du nur wüßtest, was mich meine jetzige unmögliche Offenheit dir gegenüber kostet, Lisa, wenn ich dir nur eröffnen könnte ...«

»Eröffnen? Sie wollen mir etwas enthüllen? Gott bewahre mich vor Ihren Enthüllungen!« unterbrach sie ihn beinah erschrocken.

Er blieb stehen und wartete unruhevoll.

»Ich muß Ihnen gestehen, daß schon damals in der Schweiz sich bei mir der Gedanke festgesetzt hatte, daß Sie etwas Furchtbares, Schmutziges und Blutiges auf dem Gewissen haben, etwas ... was zu gleicher Zeit ein schrecklich komisches Licht auf Sie wirft ... Hüten Sie sich, es mir zu eröffnen, wenn dem so ist; ich werde Sie zugrunde richten durch mein Lachen. Ich werde mein ganzes Leben lang über Sie lachen ... Ei, Sie werden schon wieder blaß? Ich sage nichts mehr, ich sage nichts mehr, ich gehe gleich fort!« rief sie und sprang mit einer geringschätzigen und verächtlichen Gebärde vom Stuhle auf.

»Quäle mich, richte mich, laß deinen Zorn an mir aus!« schrie er verzweifelt. »Du hast ein volles Recht dazu! Ich wußte, daß ich dich nicht liebe und habe dich dennoch zugrunde gerichtet. Ja, ich habe ›den Augenblick ausgenutzt‹; ich hatte eine Hoffnung ... seit langem schon ... die letzte ... Ich konnte nicht dem Licht widerstehen, das mein Herz überflutete und erhellte, als du gestern zu mir hereinkamst, selbst, allein, als erste. Ich glaubte auf einmal ... Vielleicht glaube ich auch jetzt noch.«

»Für solche edle Offenherzigkeit will ich Ihnen mit gleicher Münze zahlen: es gelüstet mich nicht danach, Ihre barmherzige Schwester zu sein. Mag ich auch wirklich als Krankenpflegerin enden, wenn ich nicht verstehen werde zu sterben, rechtzeitig, heute noch. Aber selbst als Krankenschwester komme ich nicht zu Ihnen, obwohl Sie natürlich genau so bedürftig sind wie irgendein Beinloser oder ein Armloser. Es schien mir immer, daß Sie mich nach einem Orte entführen würden, wo eine riesige, böse Spinne von Menschengröße wohnt. Diese würden wir dann unser ganzes Leben lang ansehen und uns vor ihr fürchten. Und so wird unsere gegenseitige Liebe vergehen. Wenden Sie sich an Daschenka; die wird mit Ihnen gehen, wohin Sie wollen.«

»Sie konnten wohl nicht umhin, sie auch jetzt zu erwähnen?«

»Armes Hündchen! Übermitteln Sie ihr meinen Gruß. Weiß sie, daß Sie schon in der Schweiz beschlossen hatten, sie zur Pflegerin Ihres hohen Alters zu behalten? Welche Vorsorglichkeit! Welche Voraussicht! Ach, wer ist da?«

Im Hintergrunde des Saales wurde kaum merkbar eine Tür geöffnet: irgendein Kopf schob sich hindurch und verschwand hastig wieder.

»Bist du das, Alexej Jegorytsch?« fragte Stawrogin.

»Nein, ich bin es nur«, erwiderte Piotr Stepanowitsch und schob sich wieder halb ins Zimmer hinein. »Guten Morgen, Lisaweta Nikolajewna! Das ahnte ich schon, daß ich Sie beide in diesem Saal treffen werde! Ich bin nur für einen ganz kurzen Augenblick gekommen, Nikolaj Wsewolodowitsch; so schnell ich konnte, bin ich hierher geeilt, um Ihnen ein paar Worte zu sagen ... Etwas sehr Notwendiges ... nur ein paar Worte!«

Stawrogin folgte seinem Ruf, aber nach drei Schritten kehrte er wieder zu Lisa um.

»Wenn du etwas zu hören bekommst, Lisa, so wisse: ich bin der Schuldige!«

Sie fuhr zusammen und sah ihn erschrocken an, aber er ging hastig hinaus.

2

Das Zimmer, aus dem Piotr Stepanowitsch in den Saal hineingesehen hatte, war ein großer, ovaler Vorraum. Dort war bis dahin Alexej Jegorowitsch gewesen, aber der junge Werchowenskij schickte ihn hinaus. Nikolaj Wsewolodowitsch machte die Tür nach dem Saal hinter sich zu und blieb erwartungsvoll stehen. Piotr Stepanowitsch sah ihn hastig und prüfend an.

»Nun?«

»Das heißt, wenn Sie es schon wissen,« begann Piotr Stepanowitsch eilig, wobei er scheinbar wünschte, seinem Gegenüber mit den Augen in die Seele hineinzuspringen, »so ist selbstverständlich keiner von uns daran schuld, und am allerwenigsten Sie, weil das ein solches Zusammentreffen ... ein Zusammentreffen von Zufällen ist ... kurz, juristisch kann Ihnen kein Mensch was anhaben, und ich bin hierhergeeilt, um Sie davon im voraus zu benachrichtigen.«

»Verbrannt? Ermordet?«

»Ermordet, aber nicht verbrannt, und das ist gerade das schlimmste. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, daß ich gar keine Schuld daran trage, wie sehr Sie mich auch im Verdacht haben mögen, – denn Sie verdächtigen mich vielleicht, wie? Wollen Sie die ganze Wahrheit wissen? Nun, sehen Sie, dieser Gedanke war mir wirklich durch den Kopf gegangen, – Sie selbst hatten ihn mir eingegeben, nicht im Ernst, sondern nur, um mich zu reizen (denn im Ernst würden Sie nie so etwas anzustiften versucht haben), – aber ich konnte mich nicht dazu entschließen und hätte mich auch um keinen Preis dazu hergegeben, nicht für hundert Rubel! Und es ist ja auch kein Vorteil dabei, das heißt für mich, für mich ...« (Er hastete ganz furchtbar und redete wie eine Windklapper.) »Aber hier fand so ein Zusammentreffen von Umständen statt: ich habe diesem betrunkenen Dummkopf, dem Lebiadkin, aus meinen Mitteln (hören Sie wohl, von Ihrem Gelde war nicht ein einziger Rubel dabei, und was die Hauptsache ist, Sie wissen das selbst ebensogut wie ich), schon vorgestern abend zweihundertunddreißig Rubel gegeben, – hören Sie wohl, schon vorgestern und nicht etwa erst gestern nach der Vorlesung; beachten Sie das wohl: das ist ein sehr wichtiges Zusammentreffen, denn ich wußte damals selbst noch nicht genau, ob Lisaweta Nikolajewna zu Ihnen kommen würde oder nicht. Mein eigenes Geld aber habe ich ihm einzig und allein deshalb gegeben, weil Sie sich vorgestern so hervorgetan und den Einfall gehabt hatten, Ihr Geheimnis in aller Öffentlichkeit zu enthüllen. Nun, darauf will ich nicht weiter eingehen ... das ist Ihre Sache ... Sie Ritter ... aber, ich gestehe, ich war so erstaunt, wie wenn mir jemand mit dem Knüppel vor den Kopf geschlagen hätte. Da mir aber diese Tragödien gar viel mißfielen – vergessen Sie nicht, daß ich im Ernst rede, wenn ich auch altfränkische Ausdrücke gebrauche – da sie schließlich allen meinen Plänen schaden, so hatte ich mir eben vorgenommen, die Lebiadkins unter allen Umständen, und ohne daß Sie es wissen sollten, nach Petersburg abzuschieben, um so mehr, als er auch selbst dorthin strebte. Nur einen Fehler habe ich dabei begangen: ich habe ihm das Geld in Ihrem Namen gegeben; ist das ein Fehler oder nicht? Vielleicht ist es gar kein Fehler, wie? Und nun hören Sie, hören Sie jetzt, wie sich das alles gewendet hat ...«

Im Eifer des Gesprächs näherte er sich Stawrogin ganz dicht und griff nach seinem Rockaufschlag. (Bei Gott, vielleicht absichtlich.) Stawrogin schlug ihn kräftig auf die Hand.

»Was machen Sie denn ... Lassen Sie das ... Auf diese Weise können Sie einem ja die Hand brechen ... Die Hauptsache ist ja dabei, wie sich das alles gewendet hat«, ratterte er von neuem los, ohne sich über den Schlag im geringsten zu wundern. »Abends also gebe ich ihm das Geld, damit er und sein Schwesterchen am nächsten Morgen so früh wie möglich abdampfen; ich beauftrage den Schurken Liputin, die beiden selbst in den Wagen zu setzen und fortzuschaffen. Aber der Lump, der Liputin, hielt es auf einmal für nötig, mit dem Publikum Pennälerstreiche zu spielen, – vielleicht ist Ihnen davon schon etwas bekannt geworden. Bei der Vorlesung. Also hören Sie, hören Sie nur: beide saufen zusammen und fabrizieren ein Gedicht, dessen Verse zur guten Hälfte von Liputin herrühren; dann zieht er dem Hauptmann einen Frack an und redet mir vor, daß er ihn schon am frühen Morgen fortgeschafft habe, während er ihn in Wirklichkeit in einem Hinterzimmer versteckt hält, um ihn dann auf die Bühne herauszustoßen. Aber Lebiadkin betrinkt sich ganz schnell und unerwartet. Dann folgt der bekannte Skandal, worauf er halbtot nach Hause gebracht wird. Liputin aber benutzt die Gelegenheit und nimmt ihm im stillen zweihundert Rubel weg, so daß dem Hauptmann nur noch das Kleingeld verbleibt. Aber zum Unglück stellt sich heraus, daß Lebiadkin schon am Vormittag geprahlt, diese zweihundert Rubel aus der Tasche hervorgeholt, und sie an einer Stelle gezeigt hatte, wo das besser zu unterlassen gewesen wäre. Da aber Fedka gerade auf eine ähnliche Gelegenheit gelauert und schon bei Kirillow etwas gehört hatte (Sie erinnern sich doch noch, so eine Andeutung gemacht zu haben?), so entschloß er sich eben, die Gelegenheit auszunutzen. Das ist die ganze Wahrheit. Ich freue mich wenigstens darüber, daß Fedka kein Geld gefunden hat, denn der Schurke wird wohl mindestens auf tausend Rubel gerechnet haben! Er hat es so eilig gehabt und hat sich, wie es scheint, über die Feuersbrunst selbst erschrocken ... Glauben Sie mir, auf mich wirkte diese Feuersbrunst wie ein Schlag mit einem Holzscheit über den Kopf. Nein, das ist doch ... weiß der Teufel, was das ist! Das ist eine solche Eigenmächtigkeit ... da sehen Sie, daß ich vor Ihnen, von dem ich soviel erwarte, nichts verheimliche. Nun ja, die Idee, sich auch einer Feuersbrunst zu bedienen, war schon längst in meinem Kopfe herangereift, da es eine so volkstümliche und populäre Sache ist; aber ich habe diesen Gedanken bisher stets zurückgedrängt und wollte ihn erst in der kritischen Stunde in die Tat umsetzen, in jenem köstlichen Augenblick, wo wir uns alle erheben werden, und ... diese Leute stifteten jetzt auf einmal ganz eigenmächtig und ohne Befehl so etwas an, gerade in einer Zeit, da man sich eigentlich verborgen halten mußte und nur in die Faust hineinatmen durfte! Nein, das ist eine solche Eigenmächtigkeit! ... Kurz, ich weiß noch nichts, es wird da von zwei Schpigulinschen Arbeitern geredet ... Aber wenn auch einige von den Unsrigen beteiligt sind, wenn auch nur ein einziger von ihnen dabei sein Schäfchen geschoren hat, – dann wehe ihm! Da sehen Sie selbst, wohin es führt, wenn man die Zügel auch nur ein bißchen locker läßt! Nein, dieses demokratische Gesindel mit seinen Fünferkomitees ist eine schlechte Stütze. Was hier nottut, ist ein einziger, majestätischer Wille, der Wille eines Götzen oder eines Despoten, der sich nicht auf etwas Zufälliges und außerhalb Stehendes stützt ... Dann werden auch die Fünferkomitees gehorsam den Schwanz einklemmen und können bei Gelegenheit als Sklaven ausgenutzt werden. Aber auf jeden Fall, wenn man jetzt auch in alle Welt hinausposaunt, daß Stawrogin seine Frau verbrennen wollte und deshalb die Stadt angezündet worden sei, so ist indessen ...«

»So, wird das schon hinausposaunt?«

»Das heißt, eigentlich, durchaus noch nicht, und ich gestehe, daß ich überhaupt nichts gehört habe. Aber mit dem Volke ist ja nichts anzufangen, namentlich nicht mit den Abgebrannten. Vox populi, vox Dei. Das ist doch kein Kunststück, ein solches albernes Gerücht in Umlauf zu setzen! ... Aber im Grunde genommen haben Sie gar nichts zu befürchten. Vom juristischen Standpunkt aus sind Sie vollkommen unschuldig und ebenso frei sind Sie Ihrem Gewissen gegenüber. Denn Sie haben es ja nicht gewollt? Nicht wahr? Es sind gar keine Indizien vorhanden und es ist nichts weiter als ein Zusammentreffen von Umständen und Zufällen ... Es sei denn, daß sich Fedka an Ihre damaligen unvorsichtigen Worte bei Kirillow erinnerte. (Warum hatten Sie damals nur so gesprochen?) Aber das beweist ja auch noch rein gar nichts, und den Fedka werden wir schon klein kriegen. Ich werde ihn heute noch ganz klein machen ...«

»Sind die Leichen gar nicht verbrannt?«

»Nicht ein bißchen; diese Kanaille hat nichts richtig zu machen verstanden! Aber ich freue mich wenigstens darüber, daß Sie so ruhig sind ... denn Sie tragen zwar durchaus keine Schuld daran und haben sich nicht einmal durch einen Gedanken beteiligt, aber immerhin ... Und dabei müssen Sie selbst zugeben, daß diese Wendung Ihnen sehr zustatten kommt: dadurch sind Sie plötzlich ein freier Witwer geworden und können jeden Augenblick ein schönes Mädchen mit einem riesigen Vermögen heiraten, zumal sich dieses Mädchen bereits in Ihren Händen befindet. Sehen Sie, was ein einfaches, plumpes Zusammentreffen von Umständen für Wirkungen hervorrufen kann, nicht wahr?«

»Sie drohen mir, Sie Dummkopf?«

»Nun, lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein, schon bin ich ein Dummkopf! Und was ist das überhaupt für ein Ton? Sie sollten sich freuen und statt dessen ... Ich bin absichtlich hierhergeeilt, um Sie so schnell wie irgend möglich zu benachrichtigen ... Und womit könnte ich Ihnen wohl drohen? Was könnte ich wohl mit Ihnen anfangen, wenn Sie nur infolge der Drohungen mitmachen wollten? Ich brauche Ihren guten Willen und nicht Ihre Mitarbeit aus Furcht. Sie sind mir wie das Licht und wie die Sonne ... Ich bin es, der vor Ihnen zittert, und nicht Sie brauchen Furcht vor mir zu haben! Ich bin doch nicht Mawrikij Nikolajewitsch ... Ja, denken Sie sich nur, ich fahre in einer leichten Droschke hierher und sehe Mawrikij Nikolajewitsch hier an Ihrem Gitter, an der hinteren Ecke des Gartens ... im Mantel, ganz durchnäßt; wahrscheinlich hat er dort die ganze Nacht gewartet! Allerhand! Wie weit doch die Leute den Verstand verlieren können!«

»Mawrikij Nikolajewitsch? Wirklich?«

»Aber natürlich! Er sitzt dort am Gartengitter. Von hier sind es ungefähr dreihundert Schritte, denke ich. Ich bin an ihm so schnell wie möglich vorbeigegangen, aber er hat mich dennoch bemerkt. Sie haben es also gar nicht gewußt? Dann freue ich mich sehr, nicht vergessen zu haben, es Ihnen mitzuteilen. Denn gerade so ein Mensch ist am gefährlichsten, im Falle, wenn er einen Revolver bei sich hat. Und dann kommt noch die Nacht dazu, das Schlackerwetter, die natürliche Gereiztheit, – denn Sie müssen auch bedenken, in was für einer Situation er sich jetzt befindet, ha, ha! Weshalb mag er da wohl sitzen, was meinen Sie?«

»Er wartet natürlich auf Lisaweta Nikolajewna.«

»So–o! Aber weshalb sollte sie denn zu ihm herauskommen? Und ... in solchem Regen ... Ist das ein Dummkopf!«

»Sie wird sogleich zu ihm hinausgehen.«

»Ei, ei! Ist das eine Nachricht! Dann also ... Aber hören Sie: Lisaweta Nikolajewnas Lage hat sich doch nunmehr vollkommen verändert. Wozu braucht sie jetzt noch Mawrikij. Sie sind doch ein freier Witwer und können sie gleich morgen heiraten? Sie weiß noch nichts, – überlassen Sie es mir, und ich werde Ihnen gleich alles einrenken. Wo ist sie? Man muß auch sie erfreuen.«

»Erfreuen?«

»Und ob. Kommen Sie.«

»Und Sie glauben, sie wird nicht erraten, wie diese drei Menschen ums Leben gekommen sind?« fragte Stawrogin und kniff seine Augen in einer seltsamen Weise zusammen.

»Natürlich wird sie es nicht erraten,« fiel ihm Piotr Stepanowitsch ins Wort mit so einem Ton und so einem Gesichtsausdruck, als wenn er der größte Dummkopf wäre, »denn rechtlich ... Ach, sie! Und wenn sie es auch erriete! Bei den Weibern gerät so etwas sehr leicht in den Hintergrund, Sie kennen die Weiber noch nicht! Ganz abgesehen davon, daß es jetzt in ihrem eigensten Interesse liegt, Sie zu heiraten, denn sie hat sich doch immerhin vor der Gesellschaft bloßgestellt! Außerdem habe ich ihr da soviel von dem ›Nachen‹ eingeredet, da ich eingesehen habe, daß gerade mit dem ›Nachen‹ bei ihr am meisten zu erreichen ist. Da sehen Sie also, von welchem Kaliber sie ist. Seien Sie ganz unbesorgt: sie wird über diese Leichen so leicht hinwegschreiten, so leicht, sage ich Ihnen, – um so mehr, da Sie vollständig unschuldig sind, vollständig, nicht wahr? Sie wird sich diese Leichnamchen nur aufheben, um Sie später einmal, so etwa im zweiten Jahr der Ehe, damit zu stacheln. Eine jede Frau, die zum Altar geht, versorgt sich in dieser Art mit irgendeiner Waffe aus der Vergangenheit ihres Mannes, aber dann wird ja ... Was wird wohl nach einem Jahre sein? Hahaha!«

»Wenn Sie in einem leichten Wagen hergekommen sind, dann bringen Sie Lisaweta Nikolajewna sofort zu Mawrikij Nikolajewitsch. Sie hat mir soeben gesagt, daß ich ihr unausstehlich bin und daß sie von mir weggehen will. Demnach wird sie natürlich von mir keinen Wagen annehmen.«

»So–o! Will sie wirklich von Ihnen fort? Wie konnte denn das geschehen?« fragte Piotr Stepanowitsch und machte ein ganz dummes Gesicht.

»Sie hat es wahrscheinlich in dieser Nacht auf irgendeine Weise erraten, daß ich sie nicht liebe ... was sie natürlich immer schon gewußt hat.«

»Ja, lieben Sie denn Lisaweta Nikolajewna nicht?« fiel Piotr Stepanowitsch mit der Miene maßlosen Erstaunens ein. »Aber wenn dem so ist, weshalb haben Sie denn Lisaweta Nikolajewna gestern, als sie hereinkam, bei sich behalten und ihr nicht als anständiger Mensch offen gesagt, daß Sie sie nicht lieben? Das ist furchtbar schmutzig von Ihnen; und in welch gemeines Licht haben Sie mich da vor ihr hingestellt?«

Stawrogin brach auf einmal in ein Gelächter aus.

»Ich lache über meinen Affen«, fügte er sofort erläuternd hinzu.

»Aha! Sie haben es erraten, daß ich hier den Hanswurst spielte«, rief Piotr Stepanowitsch und begann ebenfalls furchtbar vergnügt zu lachen. »Das tat ich nur, um Sie zu erheitern! Denken Sie sich, ich habe doch gleich, als Sie zu mir herauskamen, aus Ihrem Gesichtsausdruck erraten, daß Sie ein ›Unglück‹ erlebt haben. Vielleicht war es sogar ein vollständiger Mißerfolg, wie? Na, ich möchte darauf wetten,« rief er und schien vor Entzücken fast gar nicht mehr reden zu können, »daß Sie die Nacht über im Saal nebeneinander auf Stühlen gesessen und die ganze kostbare Zeit in Gesprächen und Debatten über irgendeinen hohen, edlen Gegenstand verbracht haben ... Na, verzeihen Sie, verzeihen Sie; mir kann es ja schließlich gleichgültig sein. Ich habe noch gestern mit Bestimmtheit gewußt, daß es bei Ihnen mit einer Dummheit enden wird. Ich habe sie Ihnen hergebracht, einzig und allein, um Ihnen eine Zerstreuung zu verschaffen und um Ihnen zu beweisen, daß Sie sich, wenn Sie mich nicht verlassen, niemals langweilen werden; ich werde Ihnen noch dreihundertmal und mehr in dieser Weise nützlich sein; ich habe es überhaupt gern, anderen Leuten Gefälligkeiten zu erweisen. Wenn Sie aber Lisaweta Nikolajewna jetzt nicht mehr brauchen können, worauf ich gerechnet hatte, weshalb ich auch hierhergekommen bin, dann ...«

»Also haben Sie Lisaweta Nikolajewna nur zu meiner Zerstreuung hergebracht?«

»Wozu denn sonst?«

»Und nicht, um mich zu zwingen, meine Frau zu töten?«

»Nein, so was! Haben Sie Ihre Frau denn getötet? Was sind Sie doch für ein tragischer Mensch!«

»Das ist einerlei, Sie haben sie getötet.«

»Ja, habe ich denn das getan? Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich nicht das geringste damit zu tun hatte. Aber Sie fangen wirklich an, mich zu beunruhigen ...«

»Fahren Sie fort, Sie haben gesagt: ›Falls Sie Lisaweta Nikolajewna jetzt nicht mehr brauchen können, dann ...‹ Fahren Sie fort.«

»Dann überlassen Sie das weitere mir, selbstverständlich! Ich werde sie noch glänzend mit Mawrikij Nikolajewitsch verheiraten. Setzen Sie sich nicht in den Kopf, daß ich ihn da in den Garten gestellt habe. Ich fürchte mich ja jetzt vor ihm. Sie sagen da, ich soll sie in meiner leichten Droschke fortbringen ... Aber ich bin vor ihm nur so vorbeigehuscht ... wirklich. Wie, wenn er einen Revolver bei sich hat? ... Gut, daß ich meinen mitgenommen habe. Da ist er« (er zog die Waffe aus der Tasche, zeigte sie Nikolaj Wsewolodowitsch und steckte sie sofort wieder ein). – »Ich nahm ihn des langen Weges wegen mit ... Übrigens werde ich Ihnen das im Nu einrenken, denn ihr tut jetzt das Herzchen gerade nach Mawrikij weh ... muß wenigstens nach ihm wehtun ... und, wissen Sie, – bei Gott, ich bedauere sie sogar ein bißchen! Wenn ich sie jetzt mit Mawrikij zusammenbringe, dann wird sie sich sogleich an Sie erinnern, wird Sie in seiner Gegenwart loben und ihn ins Gesicht beschimpfen, – so ist nun mal das Weiberherz! Na, sehen Sie, da lachen Sie wieder. Ich freue mich furchtbar, daß Sie so heiter geworden sind. Na, dann gehen wir also. Ich werde gleich mit Mawrikij anfangen, und von jenen ... von den Getöteten ... wissen Sie, wäre es nicht das beste, wir schwiegen jetzt vorläufig noch davon? Sie wird es ja später sowieso erfahren.«

»Was wird sie erfahren? Wer ist getötet? Was haben Sie von Mawrikij Nikolajewitsch gesagt?« fragte plötzlich Lisa, indem sie die Tür öffnete.

»Ah, Sie haben gehorcht?«

»Was haben Sie soeben von Mawrikij Nikolajewitsch gesagt? Ist er getötet?«

»Ah! Dann haben Sie also nicht richtig verstanden! Beruhigen Sie sich, Mawrikij Nikolajewitsch lebt und ist gesund, wovon Sie sich sofort überzeugen können, weil er sich hier am Wege befindet, neben dem Gartengitter ... und offenbar hat er dort die ganze Nacht über gesessen; er ist durchnäßt, im Mantel ... Als ich herfuhr, hat er mich gesehen.«

»Es ist nicht wahr. Sie haben gesagt: ›getötet‹ ... Wer ist getötet?« fragte sie in qualvollem Mißtrauen hartnäckig weiter.

»Getötet ist nur meine Frau, ihr Bruder Lebiadkin und deren Magd«, antwortete Stawrogin in festem Tone.

Lisa zuckte zusammen und wurde furchtbar blaß.

»Ein viehischer, sonderbarer Fall, Lisaweta Nikolajewna, ein ganz dummer Fall von Raub«, ratterte Piotr Stepanowitsch sofort los. »Es liegt nur ein Raub vor, allerdings unter Ausnutzung der Feuersbrunst; es ist das Werk des Räubers, der hier unter dem Namen Fedka der Sträfling bekannt ist, und die Schuld daran trägt der Dummkopf Lebiadkin selbst, der allem und jedem sein Geld gezeigt hatte ... Gerade mit dieser Nachricht bin ich hierhergeeilt ... sie überraschte mich so, wie wenn mir jemand einen Stein gegen die Stirn geworfen hätte. Stawrogin war kaum imstande, sich auf den Beinen zu halten, als ich ihm das mitteilte. Wir haben hier beraten, ob wir Ihnen das gleich erzählen sollen oder nicht.«

»Nikolaj Wsewolodowitsch, sagt er die Wahrheit?« fragte Lisa, die nur noch mit Mühe sprechen konnte.

»Nein.«

»Wieso denn?« rief Piotr Stepanowitsch zusammenfahrend. »Was ist denn das schon wieder?«

»Mein Gott, ich werde wahnsinnig!« schrie Lisa auf.

»Aber begreifen Sie doch wenigstens, daß er jetzt aus dem Häuschen ist!« brüllte Piotr Stepanowitsch so laut er konnte. »Es ist doch immerhin seine Frau, die man gemordet hat, sehen Sie doch, wie blaß er geworden ist ... er hat doch die ganze Nacht mit Ihnen zusammen verbracht und hat Sie für keinen Augenblick verlassen, wie kann ihn denn jemand verdächtigen?«

»Nikolaj Wsewolodowitsch, sagen Sie mir, wie wenn Sie vor Gott ständen, sind Sie schuldig oder nicht? Und ich schwöre Ihnen, daß ich Ihrem Worte wie dem Worte Gottes glauben und Ihnen bis ans Ende der Welt folgen werde! Oh ja! Wie ein Hündchen werde ich Ihnen folgen ...«

»Weshalb quälen Sie sie denn so, Sie phantastischer Kopf!« schrie Piotr Stepanowitsch in rasender Wut. »Lisaweta Nikolajewna, bei Gott, zerstampfen Sie mich in einem Mörser, wenn ich nicht die Wahrheit spreche: er ist unschuldig, ganz unschuldig! Er ist vielmehr selbst wie vor den Kopf geschlagen und redet irre! Sie sehen es ja! Durch nichts, durch nichts, nicht einmal durch einen Gedanken hat er sich schuldig gemacht! ... Das Ganze ist nur das Werk von Räubern, die man bestimmt noch innerhalb dieser Woche ausfindig machen und mit Peitschen bestrafen wird ... Da hat Fedka der Sträfling seine Hand im Spiel gehabt und mit ihm die Schpigulinschen Arbeiter; davon spricht schon die ganze Stadt, und deshalb sage ich das ebenfalls.«

»Stimmt das? Stimmt das?« fragte Lisa, die zitternd ihr letztes Urteil erwartete.

»Ich habe sie nicht getötet und bin dagegen gewesen, aber ich wußte, daß sie umgebracht werden sollten und habe die Mörder nicht zurückgehalten. Gehen Sie von mir, Lisa«, sagte Stawrogin, wandte sich ab und ging in den Saal.

Lisa bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und verließ das Haus. Piotr Stepanowitsch wollte ihr zunächst nacheilen, kehrte aber sofort wieder um und begab sich ebenfalls in den Saal.

»So also handeln Sie? So sind Sie also? Sie fürchten also nichts?« stürzte er auf Stawrogin los. Er befand sich in vollständiger Raserei, murmelte unzusammenhängend, konnte fast keine Worte finden und hatte Schaum vor dem Munde.

Stawrogin stand mitten im Saal und antwortete nichts. Er hatte mit der linken Hand ein Büschel seiner Haare ergriffen und lächelte wie geistesabwesend. Piotr Stepanowitsch zupfte ihn kräftig am Ärmel.

»Sind Sie etwa verloren gegangen? Das also ist es, was Sie jetzt vorhaben? Sie wollen alle denunzieren und dann ins Kloster gehen oder sonst irgendwohin zum Teufel ... Aber ich werde Sie dennoch abmurksen, wenn Sie mich auch nicht fürchten!«

»Ah, Sie sind es, der da plappert?« sagte Stawrogin, der seiner endlich gewahr wurde. »Laufen Sie,« rief er, da er nun gänzlich zur Besinnung kam, »laufen Sie ihr nach, befehlen Sie den Leuten, Ihnen meinen Wagen zu geben, verlassen Sie sie nicht ... Laufen Sie doch, laufen Sie! Begleiten Sie sie nach Hause, damit es niemand erfährt, und damit sie nicht dorthin geht ... zu den Leichen ... zu den Leichen ... Sie müssen sie mit Gewalt in den Wagen hineinsetzen ... Alexej Jegorytsch! Alexej Jegorytsch!«

»Warten Sie, schreien Sie nicht! Sie liegt gewiß schon in Mawrikijs Armen ... Mawrikij wird sich doch nicht in Ihren Wagen setzen ... Warten Sie doch! Hier geht es um Wichtigeres als um den Wagen!«

Er zog wieder seinen Revolver heraus. Stawrogin sah ihn ernst an.

»Nun, meinetwegen, töten Sie mich«, sagte er dann leise und fest in versöhnlichem Ton.

»Pfui, Teufel, was der Mensch für Lügen über sich bringt!« schrie Piotr Stepanowitsch, der nur so am ganzen Leibe zitterte. »Weiß Gott, das beste wäre, Sie einfach totzuschießen! Sie hätte Ihnen wahrhaftig ins Gesicht spucken müssen! ... Was sind Sie auch für ein ›Nachen‹, Sie alter, löcheriger, nur noch zum Abbruch tauglicher Holzkahn! ... Wenn Sie wenigstens aus Bosheit, wenigstens aus Wut jetzt zur Besinnung kämen! Ach, ach! Es könnte Ihnen doch wirklich alles gleichgültig sein, da Sie doch selbst um eine Kugel in den Schädel bitten?«

Stawrogins Lippen verzogen sich zu einem seltsamen Lächeln.

»Wenn Sie nicht so ein Hanswurst wären, so würde ich jetzt vielleicht ja sagen ... Wenn Sie nur ein klein wenig klüger wären ...«

»Ich bin zwar ein Hanswurst, aber ich will nicht, daß Sie, meine Haupthälfte, ein Hanswurst sind! Verstehen Sie mich!?«

Stawrogin verstand. Er war vielleicht überhaupt der einzige, der ihn verstand. Und Schatow war erstaunt, als Stawrogin zu ihm einmal gesagt hatte, daß in Piotr Stepanowitsch ein Enthusiasmus stecke.

»Scheren Sie sich jetzt von mir zum Teufel, und zu morgen werde ich schon irgend etwas aus mir herauspressen. Kommen Sie morgen wieder her.«

»Ja? Ja?«

»Wie soll ich denn das wissen! ... Scheren Sie sich, scheren Sie sich zum Teufel!«

Und er ging aus dem Saal hinaus.

»Und vielleicht ist es gerade so am besten«, murmelte Piotr Stepanowitsch vor sich hin, indem er den Revolver wieder einsteckte.

3

Nun eilte er Lisaweta Nikolajewna nach. Sie war noch nicht weit gegangen, kaum einige Schritte vom Hause entfernt, denn unterwegs hatte sie Alexej Jegorowitsch zurückzuhalten versucht. Er folgte ihr auch jetzt noch, dicht hinter ihr her, im Frack, ohne Hut in respektvoll vorgebeugter Haltung. Er flehte sie unaufhörlich an, den Wagen abzuwarten; er war ganz erschrocken und weinte beinahe.

»Geh, dein Herr will Tee haben, und da ist niemand, der ihn ihm bringen kann«, rief Piotr Stepanowitsch, indem er den Alten zurückstieß und ohne weiteres Lisaweta Nikolajewna unter den Arm faßte.

Sie riß ihren Arm nicht fort, war aber offenbar noch nicht ganz zur Besinnung gekommen.

»Erstens haben Sie den falschen Weg eingeschlagen,« stammelte Piotr Stepanowitsch, »wir müssen hier durchgehen und nicht an dem Garten vorbei, zweitens ist es jedenfalls ganz unmöglich, daß Sie zu Fuß gehen. Bis zu Ihrer Wohnung sind es drei Werst, und Sie haben ja nicht einmal Überkleider mit. Wenn Sie nur ein bißchen warten wollten. Ich bin doch mit einer leichten Droschke hergekommen, das Pferd steht hier auf dem Hofe, ich will sofort anspannen lassen, werde Sie hineinsetzen und nach Hause bringen, ohne daß es jemand gewahr wird.«

»Wie gut Sie sind ...« sagte Lisa freundlich.

»Aber ich bitte Sie, in solchem Falle würde jeder humane Mensch an meiner Stelle ebenso ...«

Lisa sah ihn an und war erstaunt.

»Ach, mein Gott, ich habe gedacht, es wäre immer noch der alte Mann.«

»Hören Sie, ich freue mich sehr, daß Sie die ganze Sache so auffassen, denn eigentlich handelt es sich ja doch nur um ein törichtes Vorurteil. Und wenn wir schließlich schon ganz offen reden, dann gestatten Sie mir die Frage, ob es nicht doch besser wäre, daß ich diesem Alten den Befehl gebe, die Equipage anspannen zu lassen? Das dauert nur zehn Minuten, und wir können inzwischen zurückkehren und an der Haustür warten, wie?«

»Ich will erst ... wo sind die Ermordeten?«

»Ei, das ist nun ein ganz phantastischer Einfall! Gerade das habe ich befürchtet ... Nein, diese Gräßlichkeiten wollen wir lieber beiseite lassen; und es ist auch gar nicht nötig, daß Sie sie sehen.«

»Ich weiß, wo sie sind, ich kenne dieses Haus.«

»Nun, was macht es, daß Sie das Haus kennen! Ich bitte Sie, es regnet, überall hängt Nebel ... (Da habe ich mir aber eine heilige Verpflichtung aufgebürdet! ...) Hören Sie, Lisaweta Nikolajewna, entweder Sie fahren mit mir in der Droschke, dann warten Sie und gehen Sie nicht weiter, denn wenn wir noch etwa zwanzig Schritte machen, dann wird uns Mawrikij Nikolajewitsch unfehlbar bemerken.«

»Mawrikij Nikolajewitsch! Wo? Wo ist er?«

»Nun, und wenn Sie mit ihm gehen wollen, dann will ich Sie meinetwegen noch ein bißchen begleiten und Ihnen zeigen, wo er sitzt, worauf ich mich selbst natürlich empfehlen werde; ich möchte mich ihm jetzt nicht nähern.«

»Er wartet auf mich! O Gott!« rief sie und blieb plötzlich stehen. Eine dunkle Röte übergoß ihr Gesicht.

»Aber ich bitte Sie, wenn er ein vorurteilsloser Mensch ist! Wissen Sie, Lisaweta Nikolajewna, das Ganze geht mich ja überhaupt nichts an; ich bin dabei ganz unbeteiligt, und Sie wissen das selbst; aber ich wünsche Ihnen dennoch nur Gutes ... Wenn es Ihnen mit unserem ›Nachen‹ nicht geglückt ist, wenn es sich herausgestellt hat, daß er nur ein alter, morscher Kahn ist, der nur noch den Abbruch wert ist ...«

»Ach, glänzend!« rief Lisa.

»Glänzend sagen Sie, und dabei fließen Ihnen nur so die Tränen aus den Augen. Hier müßte man tapfer sein. Sie dürfen in keiner Hinsicht hinter einem Mann zurückstehen. In unserem Zeitalter, da die Frau ... pfui, Teufel!« (Piotr Stepanowitsch hätte beinahe ausgespuckt!) »Die Hauptsache ist aber, daß Sie eigentlich gar keinen Grund haben, traurig zu sein und etwas zu bedauern: vielleicht wird sich alles noch vorzüglich gestalten. Mawrikij Nikolajewitsch ist ein Mensch, der ... na, kurz, Mawrikij Nikolajewitsch ist ein Mann von Gefühl, wenn er auch nicht sehr gesprächig ist, was übrigens ebenfalls gut ist, natürlich unter der Voraussetzung, daß er keine Vorurteile hat ...«

»Glänzend, fabelhaft!« lachte Lisa hysterisch.

»Aber, der Teufel ... Lisaweta Nikolajewna,« rief Piotr Stepanowitsch, der auf einmal beleidigt tat, »ich bemühe mich ja eigentlich nur in Ihrem Interesse ... mich persönlich geht es ja gar nichts an ... Ich habe Ihnen gestern einen Dienst geleistet, als Sie es selbst wollten und heute ... Na, von hier kann man Mawrikij Nikolajewitsch sehen; da sitzt er ja; er hat uns noch nicht bemerkt. Wissen Sie, Lisaweta Nikolajewna, haben Sie ›Polinka Sachs‹ gelesen?«

»Was ist das?«

»Es gibt so eine Novelle von Drushinin, sie heißt ›Polinka Sachs‹. Ich habe sie gelesen, als ich noch Student war ... Da wird geschildert, wie ein sehr vermögender Beamter, namens Sachs, seine Frau wegen Untreue in seiner Sommervilla einsperrt ... Ach, hol's der Teufel, zum Kuckuck damit! Sie werden selbst sehen, daß Mawrikij Nikolajewitsch, noch ehe Sie nach Hause kommen, Ihnen einen Heiratsantrag machen wird. Er sieht uns noch nicht.«

»Ach, er soll uns auch nicht sehen!« rief Lisa plötzlich wie eine Wahnsinnige. »Kommen Sie fort, kommen Sie fort von hier! In den Wald, aufs Feld!«

Und sie eilte zurück.

»Lisaweta Nikolajewna, das ist aber ein schrecklicher Kleinmut!« schrie Piotr Stepanowitsch und lief ihr nach. »Weshalb wollen Sie nur, daß er Sie nicht bemerke? Im Gegenteil, Sie müssen ihm jetzt gerade und stolz in die Augen sehen ... Wenn Sie sich etwa wegen der Sache genieren ... etwa der Jungfräulichkeit wegen ... so ist es ja so ein Vorurteil, eine so arge Rückständigkeit ... aber wohin laufen Sie denn, wohin laufen Sie denn? Ach, wie sie läuft! Kehren wir doch lieber zu Stawrogin zurück, dort ist meine Droschke, aber wo wollen Sie denn hin? Dort ist ja nur ein Feld, na, nun ist sie hingefallen! ...«

Er blieb stehen. Lisa flog geradezu wie ein Vogel, ohne zu wissen, wohin, und Piotr Stepanowitsch war schon fünfzig Schritte hinter ihr zurückgeblieben. Sie fiel, weil sie über eine Unebenheit des Bodens gestolpert war. In diesem Augenblick ertönte seitwärts hinter ihr ein schrecklicher Schrei. Es war Mawrikij Nikolajewitsch, der sie hatte laufen und fallen sehen. Nun eilte auch er quer über das Feld zu ihr hin. Piotr Stepanowitsch zog sich im Nu in das Tor des Stawroginschen Hauses zurück, um so schnell wie möglich in seine Droschke zu steigen.

Mawrikij Nikolajewitsch aber stand schon furchtbar erschrocken vor Lisa, die sich bereits erhoben hatte, neigte sich zu ihr und hielt ihre Hand in den seinigen fest. Die ganz unwahrscheinlichen Umstände dieser Begegnung hatten seine Denkkraft erschüttert, und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er hatte das Weib, das er vergötterte, sinnlos über das Feld laufen sehen, zu solcher Stunde, bei solchem Wetter, im bloßen Kleide, in jenem prächtigen Gewand, das sie seit gestern anhatte und das jetzt zerknittert und von dem Falle beschmutzt war ... Er vermochte kein Wort zu sagen, zog seinen Mantel aus und bedeckte ihr mit zitternden Händen damit die Schultern. Und plötzlich schrie er wieder auf, da er fühlte, daß sie mit den Lippen seine Hand berührte.

»Lisa!« rief er, »ich bin ein unfähiger Mensch, aber verstoßen Sie mich nicht!«

»O ja, kommen Sie schnell von hier weg, gehen Sie nicht von mir!« erwiderte sie, indem sie ihn selbst bei der Hand griff und hinter sich herzog. »Mawrikij Nikolajewitsch,« fuhr sie fort und ließ ihre Stimme ängstlich sinken, »ich habe dort immer den Helden gespielt, und jetzt fürchte ich mich vor dem Tode. Ich werde sterben, ich werde sehr bald sterben, aber ich fürchte mich, ich fürchte mich davor ...« flüsterte sie und drückte ihm stark die Hand.

»Oh, wenn nur jemand hier wäre!« rief er, indem er sich verzweifelt nach allen Seiten umschaute. »Wenn doch wenigstens jemand vorbeiführe! Sie werden nasse Füße kriegen, Sie ... werden den Verstand verlieren!«

»Macht nichts, macht nichts,« redete sie ihm ermutigend zu, »so ist's recht, wenn Sie bei mir sind, habe ich weniger Angst, halten Sie mich am Arm, führen Sie mich ... Wohin wollen wir jetzt gehen? Nach Hause? Nein, ich will jetzt zunächst die Ermordeten sehen. Man sagt, man hätte seine Frau ermordet, und er behauptet, es selbst getan zu haben; aber das ist doch nicht wahr, ist doch nicht wahr? Ich will sie selbst sehen ... die um meinetwillen ... Ermordeten ... denn ihretwegen hat er in dieser Nacht aufgehört, mich zu lieben ... Ich will sie sehen und werde dann alles erfahren! Rascher, rascher, ich kenne jenes Haus ... es hat da gebrannt ... Mawrikij Nikolajewitsch, mein Freund, verzeihen Sie mir nicht, der Ehrlosen! Weshalb sollten Sie mir verzeihen? Warum weinen Sie denn? Geben Sie mir eine Ohrfeige, und schlagen Sie mich hier auf dem Felde wie einen Hund tot!«

»Niemand darf Sie jetzt richten,« erwiderte Mawrikij Nikolajewitsch in festem Ton, »Gott möge Ihnen verzeihen, ich aber kann am allerwenigsten Ihr Richter sein!«

Es wäre sonderbar, wenn ich versuchen würde, ihr Gespräch wiederzugeben. Indessen gingen sie beide Hand in Hand dahin, schnell, eilig, wie halb von Sinnen. Sie begaben sich geradeswegs nach der Brandstätte hin. Mawrikij Nikolajewitsch gab immer noch die Hoffnung nicht auf, unterwegs wenigstens einem Bauernwagen zu begegnen, aber kein Mensch ließ sich sehen. Ein dünner, feiner Regen erfüllte die ganze Gegend, verschlang jeden Lichtblick und jede Farbenschattierung und verwandelte alles in eine neblige, bleifarbene, gleichartige Masse. Die Nacht war schon längst vorüber, und doch schien es immer noch nicht Tag geworden zu sein. Und plötzlich tauchte aus diesem dunstigen, kalten Nebel eine sonderbare, lächerliche Gestalt auf, die ihnen entgegenkam. Wenn ich jetzt darüber nachdenke und mir den Mann vorstelle, so glaube ich, ich hätte meinen eigenen Augen nicht getraut, wenn ich an Lisaweta Nikolajewnas Stelle gewesen wäre; indessen aber schrie sie freudig auf und erkannte den sich ihr nähernden Menschen sofort. Es war Stepan Trofimowitsch. Wie er fortgegangen war, und auf welche Weise er seine wahnwitzige Hauptidee der Flucht hatte ausführen können, – darüber später. Ich will nur erwähnen, daß er an diesem Morgen bereits fieberte; aber selbst die Krankheit konnte ihn nicht zurückhalten; festen Schrittes ging er über den feuchten Erdboden dahin; es war klar, daß er sich sein Unternehmen wohl überlegt hatte, und zwar so gut er es als vollkommen unerfahrener Stubengelehrter eben konnte. Gekleidet war er »wandermäßig«, das heißt, er trug einen Mantel mit Ärmeln, um den Leib einen breiten, lackierten Ledergurt mit einer Schnalle und dazu hohe, neue Stiefel, in deren Schäfte er die Beinkleider hineingesteckt hatte. Wahrscheinlich war er schon seit langem zu dieser Vorstellung von einem Wanderer gekommen. Der Gurt aber und die hohen Stiefel mit den glänzenden Husarenschäften mußte er wohl bereits seit einigen Tagen angeschafft haben. Ein breitkrempiger Hut, ein wollener, fest um den Hals gewickelter Schal, ein Stock in der rechten Hand und in der linken eine außerordentlich kleine, aber übermäßig vollgestopfte Reisetasche vervollständigten seine äußere Erscheinung. Überdies trug er in derselben rechten Hand noch einen aufgespannten Regenschirm. Diese drei Gegenstände: der Regenschirm, der Stock und die Reisetasche waren ihm schon bei der ersten Werst recht unbequem gewesen und von der zweiten Werst an fiel ihm das Tragen sogar schwer.

»Sind Sie das wirklich, Stepan Trofimowitsch?« rief Lisa, indem sie ihn mit einem traurigen Erstaunen betrachtete, das ihren ersten, unwillkürlichen Freudenausbruch verdrängt hatte.

»Lise!« schrie nun auch Stepan Trofimowitsch auf und stürzte ebenfalls beinahe wie irrsinnig auf sie zu. »Chère, chère, ist es denn möglich, daß auch Sie ... bei solchem Nebel? Sehen Sie: der Widerschein des Feuers! Vous êtes malheureuse, n'est-ce pas? Ich sehe, ich sehe schon, erzählen Sie nichts, aber fragen Sie auch mich nicht aus. Nous sommes tous malheureux; mais il faut les pardonner tous. Pardonnons, Lise, und lassen Sie uns frei für immer sein. Um sich mit der Welt abzufinden und völlig frei zu werden, il faut pardonner, pardonner et pardonner!«

»Aber weshalb fallen Sie denn auf die Knie?«

»Nur weil ich, da ich nun Abschied von der Welt nehme, in Ihrer Person auch meiner ganzen Vergangenheit Lebewohl sagen will!« – Er brach in Tränen aus und führte ihre beiden Hände an seine verweinten Augen. »Ich knie vor allem, was schön war in meinem Leben, küsse es und danke! Jetzt habe ich mich in zwei Hälften auseinandergeschlagen: – dort – ein sinnloser Tor, der davon träumte, in den Himmel zu fliegen, vingt-deux ans! Hier – ein zerschmetterter, durchfrorener Greis, ein Erzieher ... chez ce marchand, s'il existe pourtant ce marchand ... Aber wie durchnäßt Sie sind, Lise!« rief er und sprang auf, da er fühlte, daß auch seine Knie auf der nassen Erde feucht wurden. »Und wie ist das möglich: Sie in einem solchen Kleid? ... Und zu Fuß ... und im freien Felde ... Sie weinen? Vous êtes malheureuse? Ach ja, ich habe etwas läuten hören ... Aber woher kommen Sie denn jetzt?« fragte er mit ängstlicher Miene immer hastiger, indem er mit tiefem Staunen Mawrikij Nikolajewitsch betrachtete. »Mais savez-vous l'heure qu'il est?«

»Stepan Trofimowitsch, haben Sie vielleicht irgend etwas über Leute gehört, die ermordet sein sollen ... Ist das wahr? Ist das wahr?«

»Diese Menschen! Ich habe die Brandröte ihrer Taten die ganze Nacht über gesehen. Bei ihnen hätte es anders gar nicht abgehen können ...« (Seine Augen fingen an zu funkeln.) »Ich flüchte aus dem Alp, ich flüchte aus dem Fiebertraum, ich entfliehe, um Rußland zu suchen, existe-t-elle, la Russie? Bah, c'est vous, cher capitaine! Ich habe nie daran gezweifelt, daß ich Ihnen irgendwo bei einer hochherzigen Heldentat begegnen werde ... Aber nehmen Sie bitte meinen Schirm, und – warum gehen Sie denn durchaus zu Fuß? Ich bitte Sie, um Gottes willen, wenigstens den Schirm anzunehmen, denn ich werde mir sowieso irgendwo einen Wagen mieten. Ich gehe ja nur deshalb zu Fuß, weil Stasie (das heißt Nastasia) sonst Gott weiß wie laut geschrien haben würde, wenn sie erfahren hätte, daß ich wegfahre. So bin ich ihr denn möglichst inkognito entwischt. Ich weiß nicht recht, in der ›Stimme‹ schreibt man jetzt von überall vorkommenden Räubereien; aber ich glaube doch nicht, daß es möglich ist, daß sofort, sobald ich auf die Landstraße komme, ein Räuber erscheint? Chère Lise, Sie haben, glaube ich, gesagt, es hätte jemand einen Mord begangen? O, mon Dieu, Ihnen ist nicht wohl!«

»Kommen Sie, kommen Sie!« rief Lisa wie in einem hysterischen Anfall, indem sie Mawrikij Nikolajewitsch wieder hinter sich herzog. »Warten Sie, Stepan Trofimowitsch«, fügte sie hinzu, wobei sie sich plötzlich wieder an ihn wandte. »Warten Sie, Sie Ärmster, ich will Sie noch bekreuzen. Vielleicht wäre es das beste, Sie zu binden, aber ich werde Sie dennoch lieber bekreuzen. Beten Sie auch ein wenig für die ›arme‹ Lisa, aber nicht zu viel, bemühen Sie sich nicht zu sehr. Mawrikij Nikolajewitsch, geben Sie diesem Kinde seinen Regenschirm zurück, geben Sie ihn unbedingt zurück. So ist es recht! Und nun wollen wir gehen! So kommen Sie doch!«

Die Ankunft der beiden bei dem Unglückshause erfolgte gerade zu dem Zeitpunkte, als die dichte Menge, die sich vor dem Hause zusammendrängte, schon genug von Stawrogin und darüber, was für einen Nutzen er aus der Ermordung seiner Frau ziehen könne, gehört hatte. Ich wiederhole aber, daß immerhin die überwiegende Mehrzahl schweigend und ganz regungslos zuhörte. Es ereiferten sich nur einige betrunkene Schreihälse und ein paar sich »losreißende«, also jähzornige Menschen, wie etwa jener mit den Armen herumfuchtelnde Kleinbürger. Alle kannten ihn als einen sonst sogar sehr ruhig zu nennenden Menschen. Wenn er sich aber aufregte, dann war es stets, als wenn er sich losgerissen hätte und irgendwohin blind darauflosstürmte. Wie Lisa und Mawrikij ankamen, sah ich nicht. Zum erstenmal erblickte ich starr vor Entsetzen Lisaweta Nikolajewna, als sie schon weit von mir entfernt in der Menge war, und Mawrikij Nikolajewitsch habe ich anfangs überhaupt übersehen. Ich glaube, es geschah, gerade in einem Augenblick, da er wegen des Gedränges ein paar Schritte von ihr zurückbleiben mußte, oder da man ihn von ihr weggeschoben hatte. Lisa, die ohne etwas um sich zu sehen oder wahrzunehmen, wie eine Fiebernde, wie eine aus dem Krankenhaus Entsprungene sich durch die Masse hindurchzudrängen versuchte, zog natürlich nur allzubald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Nun begannen die Leute laut zu werden und dann mit einemmal brüllten sie auf. Da rief jemand: »Das ist die Stawroginsche!« Und von einer anderen Seite kam der Zuruf: »Nicht genug, daß sie morden, sie kommen noch her, um sich alles anzusehen!« Und da sah ich plötzlich, daß über Lisas Kopfe von hinten ein Arm erhoben und wuchtig niedergesenkt wurde; sie fiel zu Boden. Ein furchtbarer Schrei erscholl. Es war Mawrikij Nikolajewitsch, der zur Hilfe herbeistürzte und mit aller Kraft einen Menschen beiseite stieß, der zwischen ihm und Lisa stand. Aber im selben Augenblick umfaßte ihn jener Kleinbürger mit beiden Armen von hinten. Eine Zeitlang war es in dem entstandenen Handgemenge ganz unmöglich, etwas zu unterscheiden. Es scheint, daß Lisa sich erhoben hatte, aber, von einem zweiten Schlag getroffen, wieder niederfiel. Plötzlich trat die Menge auseinander, und es bildete sich ein kleiner Kreis um die daliegende Lisa. Der blutende, fast wahnsinnig gewordene Mawrikij Nikolajewitsch aber stand über sie gebeugt da, schrie, weinte und rang die Hände. Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie sich die Sache weiter abspielte; ich erinnere mich nur, daß Lisa auf einmal fortgetragen wurde. Ich lief hinter ihr her; sie war noch am Leben und vielleicht sogar noch bei Bewußtsein. Aus der Menge verhaftete man gleich darauf den Kleinbürger und noch drei Menschen. Diese drei bestreiten bis jetzt noch, sich irgendwie an der Übeltat beteiligt zu haben und behaupten hartnäckig, man hätte sie irrtümlicherweise festgenommen; vielleicht sind sie im Recht. Der Kleinbürger aber, der zwar klar überführt ist, kann indessen als Mensch ohne rechten Verstand das Geschehene bis heute noch keineswegs aufklären. Auch ich mußte, da ich, wenn auch nur aus der Ferne, Augenzeuge gewesen war, bei der Untersuchung meine Aussage machen. Ich erklärte, daß alles im höchsten Grade Zufällen zuzuschreiben sei und daß die Tat von Leuten begangen wurde, die zwar vielleicht aufgehetzt, aber betrunken waren, gar nicht mehr wußten, was sie taten und jedes Maß verloren hatten. Und derselben Meinung bin ich auch heute noch.


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