Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

 

Erstes Kapitel

Das Fest. Erster Teil

1

Das Fest hat natürlich doch stattgefunden, trotz aller erstaunlichen Vorfälle und Mißverständnisse des vorigen »Schpigulinschen« Tages. Ich glaube, selbst wenn Lembke in derselben Nacht noch gestorben wäre, so würde das Fest dennoch zustande gekommen sein, eine so hohe, besondere Bedeutung legte Julia Michajlowna dieser Veranstaltung bei. Leider blieb sie bis zum letzten Augenblick wie in Verblendung und hatte für die wirkliche Stimmung der Gesellschaft gar kein Verständnis. Schließlich glaubte kein Mensch mehr, daß der festliche Tag ganz ohne irgendein kolossales Ereignis vorübergehen würde, ohne die »Lösung des Knotens« zu bringen, wie manche sich ausdrückten, indem sie sich schon im voraus erwartungsvoll die Hände rieben. Viele bemühten sich allerdings, eine möglichst finstere, hochpolitische Miene aufzusetzen; aber im allgemeinen belustigt den Russen jede skandalöse Affäre, die sich in der Gesellschaft abspielt, ganz außerordentlich. Allerdings lag bei uns dieser Stimmung auch noch Ernsteres als bloße Skandalsucht zugrunde: es herrschte eine allgemeine Gereiztheit, die etwas unerbittlich Boshaftes in sich hatte; es schien allen alles schrecklich zuwider geworden zu sein. In der Stadt hatte sich ein allgemeiner, verworrener Zynismus verbreitet, ein Zynismus, den man übertrieb und zu dem man sich gewissermaßen zwang. Nur die Damen fühlten klar und unbeirrt, – allerdings auch nur in einem einzigen Punkte, nämlich in einem ohnmächtigen Haß gegen Julia Michajlowna. In diesem Punkt waren sich die Damen aller Richtungen vollkommen einig. Und die Ärmste ahnte noch gar nichts davon; bis zur letzten Stunde war sie der festen Überzeugung, sie sei immer noch »umringt«, und alle seien ihr »fanatisch ergeben«.

Ich habe schon angedeutet, daß bei uns allerlei zweifelhafte Subjekte aufgetaucht waren. In den unruhigen Zeiten der Schwankungen oder der Übergänge erscheinen überall und immer solche undefinierbare Subjekte. Ich spreche nicht von den sogenannten »fortschrittlichen Leuten«, die stets allen voraneilen (worin auch ihre Hauptsorge besteht) und dabei zwar sehr oft ein recht dummes, immerhin aber mehr oder weniger bestimmtes Ziel verfolgen. Nein, ich rede nur von dem Gesindel. In jeder Übergangszeit erhebt sich dieses Gesindel, das in jeder Gesellschaft vorhanden ist und nicht nur kein Ziel, sondern nicht einmal eine Spur von einem Gedanken hat und nur aus aller Kraft die allgemeine Unruhe und Ungeduld zum Ausdruck bringt. Dabei gerät dieses Gesindel, ohne es selbst zu merken, fast stets unter die Herrschaft jenes kleinen Häufchens »fortschrittlicher Männer«, die mit einem bestimmten Ziel im Auge handeln und diesen ganzen Kehricht dahin lenken, wohin es ihnen beliebt (wenn sie nur selbst nicht alle vollkommene Idioten sind, was allerdings ebenfalls vorkommt). Bei uns sagt man jetzt, da alles bereits vorüber ist, die Internationale hätte Piotr Stepanowitsch ihre Weisungen und Befehle gegeben, er – Julia Michajlowna, und diese regulierte dann schon auf sein Kommando die Tätigkeit des ganzen übrigen Gesindels. Die verständigsten Köpfe bei uns wundern sich jetzt über sich selbst und darüber, wie sie damals solche Fehlgriffe begehen konnten. Worin eigentlich das Wesen unserer unruhigen Zeit bestand, und welcher Art die Wandlung war, die sich bei uns zu vollziehen hatte, vermag ich nicht zu sagen, und das weiß, wie ich wohl annehmen darf, auch sonst niemand, außer etwa einigen fremden Leuten, die zu jener Zeit sich bei uns in der Stadt aufhielten. Indessen bekamen die zweifelhaften Subjekte auf einmal das Übergewicht und begannen laut an allem Heiligen Kritik zu üben, während sie früher überhaupt nicht den Mund aufzumachen gewagt hätten. Die allerersten Männer aber, die bis dahin so segensreich die Führung innehatten, fingen auf einmal an, auf sie zu hören und nichts zu erwidern. Einige hatten die Aufrührer sogar in ganz schmählicher Weise durch ihr Kichern ermutigt. Menschen wie Liamschin, Teliatnikow, Gutsbesitzer in der Art von Gogols Tentetnikow, die hausbackenen, rotznasigen Radistschews, melancholisch, aber hochmütig lächelnde Juden, Lachlustige, von auswärts kommende Reisende, Dichter, die die Richtung der Hauptstadt vertraten, Dichter, die statt einer Richtung und eines Talents ärmellose Jacken und Schmierstiefel zur Schau trugen, Majore und Obersten, die sich über die Abgeschmacktheit ihres Berufs lustig machten und für einen Rubel mehr Gehalt bereit waren, ihren Degen sofort abzulegen und Schreiber bei der Eisenbahn zu werden; Generale, die zur Advokatur übergelaufen waren, fortschrittlich gebildete Makler, sich weiter bildende kleine Kaufleute, unzählige Seminaristen, weibliche Personen, die die Frauenfrage sozusagen verkörperten – alles das gewann bei uns plötzlich die Oberhand – und über wen denn? Über den Klub, über die geachteten Würdenträger, über die Generale mit Stelzfüßen, über unsere so strenge, unnahbare Damenwelt. Denn wenn sogar schon Warwara Petrowna vor dem Eintritt der Katastrophe mit ihrem Söhnchen sich beinah zur Botenfrau dieses ganzen Gesindels herabgewürdigt hatte, dann ist einigen unserer andern Minerven ihre damalige überspannte Torheit gewissermaßen zu verzeihen. Jetzt wird alle Schuld, wie ich bereits gesagt habe, der Internationale in die Schuhe geschoben. Diese Idee hat dermaßen feste Wurzeln gefaßt, daß man sogar Fremden, die in unsere Stadt kommen, über die Vorgänge nur in diesem Sinne berichtet. Noch vor kurzem hat der Rat Kublikow, ein Herr von zweiundsechzig Jahren, mit einem Stanislausorden am Halse, öffentlich und unaufgefordert mit ergriffener Stimme erklärt, daß er drei Monate lang unzweifelhaft unter dem Einfluß der Internationale gestanden habe. Als man ihn aber mit aller seinen Jahren und seinen Verdiensten gebührenden Hochachtung aufforderte, sich deutlicher auszudrücken, da konnte er zwar gar keine schriftlichen und auch keine anderen Beweise dafür anführen, behauptete aber, »es mit allen seinen Gefühlen empfunden« zu haben und blieb hartnäckig bei seiner Behauptung, so daß man ihn nicht weiter befragte.

Ich wiederhole noch einmal. Es blieb bei uns ein ganz kleines Häufchen vorsichtiger Menschen, die sich gleich von Anfang an zurückgezogen und sogar abgeschlossen hatten, aber welches Türschloß kann sich gegen Naturgesetze bewähren? Selbst in den vorsichtigsten Familien gibt es heranwachsende junge Mädchen, die unbedingt von Zeit zu Zeit ein bißchen tanzen müssen. Und so kam es, daß selbst diese vorsichtigen Leute auch schließlich für das Fest zum Besten der Erzieherinnen gezeichnet hatten. Was aber den geplanten Ball anbetrifft, so gedachte man ihn ganz glänzend zu gestalten; man erzählte sich Wunderdinge; es verbreiteten sich Gerüchte über zugereiste Fürsten mit Lorgnetten, über zehn Festordner, lauter junge Kavaliere mit Schleifen auf der linken Schulter und über einige Herren aus Petersburg, in denen man führende Geister der Gegenwart sehen wollte. Man erzählte sich, daß Karmasinow zur Erhöhung der Einnahmen sich bereit erklärt habe, sein »Merci« im Kostüm einer Erzieherin aus unserem Gouvernement vorzulesen; daß es eine »Quadrille der Literatur« geben würde, ebenfalls vollständig in Kostümen, und daß jedes Kostüm eine bestimmte literarische Richtung versinnbildlichen werde. Schließlich erhielt man noch Kenntnis davon, daß außerdem irgendein »ehrenhafter, russischer Gedanke« einen Kostümtanz aufführen werde, und das war schon an sich eine vollkommene Neuheit. Wie sollte man da nicht subskribieren? Und alle taten es.

2

Der festliche Tag zerfiel dem Programm zufolge in zwei Teile: in eine literarische Morgenfeier, die allerdings von Mittag bis vier Uhr nachmittags dauern sollte, und dann in einen Ball von zehn Uhr an bis zum nächsten Morgen. Aber selbst in dieser Anordnung lagen schon die Keime der Unordnung verborgen. Erstens verbreitete sich unter dem Publikum von vornherein das Gerücht, es werde gleich nach der literarischen Feier, oder schon während derselben, in einer extra dazu eingerichteten Pause ein Frühstück gereicht werden, natürlich umsonst, sozusagen als Teil des Programms, und zwar mit Champagner. Der außerordentlich hohe Preis der Eintrittskarten (drei Rubel) trug wesentlich zur Befestigung dieses Gerüchts bei. »Sonst hätte ich ja gar nicht subskribiert! Für das Fest ist ein ganzer Tag in Aussicht genommen, also muß man uns auch etwas zu essen geben. Die Leute werden ja sonst Hunger bekommen«, sagte man sich in der Stadt. Ich muß gestehen, daß Julia Michajlowna selbst durch ihre Leichtsinnigkeit die Entstehung dieses verwerflichen Gerüchts verschuldet hatte. Vor etwa einem Monat, als sie noch unter dem ersten Zauber ihres großen Planes stand, sprach sie über ihr Fest mit jedem ersten besten, der ihr in den Weg lief, und darüber, daß man bei ihr Toaste ausbringen werde, hatte sie sogar an eine der hauptstädtischen Zeitungen berichtet. Die Toaste reizten sie damals am meisten: sie selbst wollte sie ausbringen und beschäftigte sich in ungeduldiger Erwartung bereits mit ihrer Abfassung. Diese Tafelreden sollten sozusagen unsere Hauptfahne entrollen (Welche? – Ich möchte wetten, daß die arme Frau so gut wie überhaupt keine Ansprache zustande gebracht hätte), dann in Gestalt von Korrespondenzen in die hauptstädtischen Zeitungen übergehen, die höchsten Vorgesetzten entzücken und bezaubern und dann sich über alle Gouvernements verbreiten und überall Bewunderung und Nachahmung hervorrufen. Da aber zu Toasten notwendig auch Champagner gehört, und dieser nicht auf nüchternen Magen getrunken werden kann, so ergab sich von selbst, daß auch ein Imbiß erforderlich wurde. Später, als sich dann, dank ihrer Bemühungen, bereits ein Komitee gebildet hatte, und man der Sache ernster entgegentrat, da wurde ihr sofort unzweideutig bewiesen, daß, wenn man an Schmausereien denke, für die Erzieherinnen selbst bei reichsten Einnahmen nur sehr wenig übrigbleiben konnte. Es ergaben sich also demzufolge zwei Möglichkeiten: entweder ein balthasarischer Schmaus mit Toasten und etwa neunzig Rubeln für die Erzieherinnen oder eine bedeutende Einnahme für die letzteren, bei einem nur sozusagen pro forma gefeierten Feste. Das Komitee hatte übrigens damit nur versucht, ihr einen kleinen Schreck einzujagen und ersann schließlich noch eine dritte, vermittelnde und verständige Lösung der Frage, das heißt, es sollte ein in jeder Hinsicht anständiges Fest gegeben werden, jedoch ohne Champagner, so daß auch für die Erzieherinnen eine recht hübsche Summe, weit mehr als neunzig Rubel, bleiben würde. Aber Julia Michajlowna konnte sich damit nicht einverstanden erklären; ihr Charakter verachtete die kleinbürgerliche Mittelstraße. Sie entschied sofort, daß, wenn die erste Absicht undurchführbar sei, man sich unverzüglich in das entgegengesetzte Extrem stürzen, das heißt eine kolossale Einnahme zum Neid aller übrigen Gouvernements erzielen müsse. »Das Publikum muß doch schließlich begreifen,« schloß sie ihre flammende Rede im Komitee, »daß es weit wichtiger ist, allgemein menschliche Ziele zu erreichen, als sich leiblichen Genüssen von kurzer Dauer hinzugeben, daß ein Fest im Grunde nur die Verkündigung einer großen Idee ist und daß man sich daher mit einem ganz ökonomischen, in deutscher Art eingerichteten kleinen Balle begnügen muß, der lediglich eine Art von Allegorie sein wird, wenn man schon ohne einen solchen unausstehlichen Ball schlechterdings nicht auskommen kann!« Dermaßen haßte sie ihn auf einmal. Aber man beruhigte sie schließlich doch. Gerade damals hatte man die »Quadrille der Literatur« und alle anderen ästhetischen Dinge ausgedacht und vorgeschlagen, und zwar als einen Ersatz für die leiblichen Genüsse. Gerade damals erklärte sich auch Karmasinow, der bis dahin das Komitee nur mit langen und nicht ganz klaren Redensarten gequält hatte, endgültig bereit, sein »Merci« vorzulesen und schon dadurch den bloßen Gedanken an das Essen in den Köpfen unseres unenthaltsamen Publikums auszurotten. Auf diese Weise begann der Ball wieder eine herrliche Feier zu werden, wenn auch nunmehr in ganz anderer Art. Um sich aber nicht ganz in den Wolken zu verlieren, beschloß man, beim Beginn des Balles Tee mit Zitrone und kleinem, rundem Gebäck reichen zu lassen, später Orgeade und Limonade und dann gegen den Schluß sogar Gefrorenes, aber sonst nichts mehr. Für diejenigen jedoch, die unbedingt stets und überall Hunger und namentlich Durst verspüren, sollte am Ende der Zimmerflucht ein besonderes Büfett aufgestellt werden, wo Prochorytsch, der Oberkoch aus dem Klub, seines Amtes walten und, allerdings unter strengster Aufsicht des Komitees, den Gästen alle möglichen beliebigen Speisen und Getränke verabfolgen sollte, aber nur gegen besondere Bezahlung. Man beschloß sogar, ausdrücklich durch ein Plakat bekanntzugeben, daß das Büfett nicht im Programm eingeschlossen sei. Am Vormittag aber sollte das Büfett überhaupt nicht geöffnet sein, um eine Störung der Vorlesung zu vermeiden, obwohl es fünf Zimmer weit von dem weißen Salon entfernt war, in dem Karmasinow sein »Merci« vorzulesen eingewilligt hatte. Merkwürdig, daß diesem Ereignis, das heißt eben der Vorlesung des »Merci«, im Komitee anscheinend eine gar zu kolossale Bedeutung beigemessen wurde, und daß sogar ganz nüchterne Menschen ebenfalls diese Ansicht teilten. Was aber poetische Naturen anbelangt, so erklärte zum Beispiel die Frau Adelsmarschall Herrn Karmasinow, sie werde sofort nach der Vorlesung in die Wand ihres weißen Salons eine Marmortafel einfügen lassen mit einer goldenen Inschrift eines Inhalts, der die Erinnerung an diese Vorlesung verewigen werde. Das Publikum sollte bereits auf dem Balle, das heißt, kaum fünf Stunden nach dem Vortrag Karmasinows, an dieser Tafel lesen können, daß an dem und dem Tage und Jahre, an dieser Stelle der große russische und europäische Schriftsteller, nachdem er die Feder niedergelegt, sein »Merci« vorgelesen und somit zum ersten Male vom russischen Publikum in der Gestalt der Vertreter unserer Stadt Abschied genommen habe. Ich weiß zuverlässig, daß gerade Karmasinow darauf bestand, daß es am Vormittag kein Büfett geben sollte, wenigstens nicht während seiner Vorlesung, und zwar unter keinen Umständen. Er beharrte auf seiner Forderung auch dann, als ihn mehrere Komiteemitglieder darauf hinwiesen, daß dies nicht ganz mit unseren Sitten und Gewohnheiten übereinstimme.

Das war die Lage der Dinge, als man in der Stadt noch immer an einen balthasarischen Schmaus glaubte, das heißt an ein vom Komitee gestelltes, im Programm einbegriffenes freies Büfett. Man glaubte daran bis zur letzten Stunde. Sogar die jungen Damen träumten von einer Unmenge von Konfekt und Konfitüren und anderen, ganz unerhört schönen Dingen. Allen war bekannt, daß sehr viel Geld eingenommen war, daß sich die ganze Stadt dazu drängte, daß auch aus allen Kreisen sehr viele Menschen kommen wollten und daß die Eintrittskarten gar nicht ausreichten. Auch wußte man, daß über den festgesetzten Preis hinaus noch bedeutende Summen gespendet waren: so hatte zum Beispiel Warwara Petrowna dreihundert Rubel gezahlt und erklärte sich bereit, alle zur Ausschmückung des Saales nötigen Blumen aus ihren Gewächshäusern zu liefern. Die Frau Adelsmarschall, die dem Komitee als Mitglied angehörte, stellte ihr Haus zur Verfügung und gab die Beleuchtung her; der Klub sorgte für Musik und Bedienung und überließ für den ganzen Tag seinen Koch Prochorytsch. Es waren auch sonst noch andere, wenn auch nicht so beträchtliche Spenden eingegangen, so daß man zunächst sogar daran dachte, den ursprünglich auf drei Rubel festgesetzten Preis der Eintrittskarten auf zwei Rubel zu ermäßigen. Im Komitee hatte man tatsächlich anfangs die Befürchtung, daß bei drei Rubeln Eintrittsgeld die jungen Damen nicht kommen würden, und es tauchte sogar der Gedanke auf, Familienbilletts einzurichten, nämlich dergestalt, daß jede Familie nur für ein junges Mädchen bezahlen sollte, während alle übrigen zur Familie gehörenden jungen Damen, selbst wenn es zehn an der Zahl wären, freien Eintritt hätten. Aber alle Befürchtungen erwiesen sich als grundlos: im Gegenteil, gerade die jungen Damen erschienen als die ersten. Selbst die ärmsten Beamten brachten ihre jungen Töchter mit, und es war ganz klar, daß, wenn sie keine jungen Mädchen gehabt hätten, es ihnen gar nicht in den Sinn gekommen wäre, für arme Erzieherinnen zu zeichnen. Ein ganz kleiner Sekretär brachte seine sämtlichen sieben Töchter mit, seine Frau natürlich nicht mitgerechnet, und außerdem noch eine Nichte; und jede von diesen Damen hielt eine Eintrittskarte zu drei Rubeln in der Hand.

Man kann sich leicht vorstellen, in welchem Aufruhr sich unsere ganze Stadt befand! Man bedenke nur, daß angesichts der Tatsache, daß das Fest in zwei Teile zerfiel, auch für jede Dame zwei Toiletten erforderlich wurden: die eine für den Vormittag, für die Vorlesungen, und außerdem eine Balltoilette für den Tanz. Viele Familien aus dem Mittelstande versetzten, wie sich später herausstellte, zu diesem Tage alles, sogar die Familienwäsche, ja sogar die Bettlaken und beinah die Matratzen bei unseren Juden, von denen sich bei uns im Laufe der letzten zwei Jahre wie mit Absicht sehr viele eingenistet hatten, und deren Zahl durch Neuzureisende ständig im Anwachsen war. Fast alle Beamten ließen sich ihre Gehälter im voraus geben, einige Gutsbesitzer verkauften notwendiges Vieh, und das alles nur, damit ihre Damen wie Marquisen auftreten und nicht schlechter als die anderen aussehen sollten. Die Pracht der Toiletten war diesmal eine für unseren Ort ganz unerhörte. Die Stadt war schon zwei Wochen vor dem Fest voll von Familienanekdötchen, die alle sogleich von unseren Spöttern Julia Michajlowna zugetragen wurden. Karikaturen, in denen verschiedene Familien ins Lächerliche gezogen wurden, waren in Umlauf gesetzt. Ich selbst habe in Julia Michajlownas Album mehrere derartige Zeichnungen gesehen. Das alles wurde natürlich auch denjenigen Personen, die den Stoff für die Anekdötchen und Karikaturen geliefert hatten, nur zu gut bekannt; und dies ist wahrscheinlich der Grund, weshalb in der letzten Zeit ein so starker Haß gegen Julia Michajlowna herangewachsen war. Jetzt schimpfen alle auf sie und knirschen bei der Erinnerung an das Geschehene mit den Zähnen. Aber es war schon damals klar, daß, falls das Komitee irgendwie den Wünschen des Publikums nicht entgegenkäme, oder falls der Ball in irgendwelcher Hinsicht mißglückte, der Ausbruch der Empörung ganz unerhört sein würde. Deshalb erwartete schon jeder im stillen einen Skandal. Und wenn alle schon darauf gefaßt waren, wie hätte er da nicht eintreten sollen?

Punkt zwölf Uhr setzt das Spiel des Orchesters ein. Da ich zu den Festordnern gehörte, das heißt einer von jenem Dutzend »junger Männer mit Schleifen« war, so habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie dieser festliche Tag, schmählichen Angedenkens, begann. Es fing an mit einem unbeschreiblichen Gedränge am Eingang. Wie kam es nur, daß alles gleich vom Anbeginn an so mißglückte, alles, selbst die Maßnahmen der Polizei? Dem eigentlichen Publikum mache ich keinen Vorwurf: die Familienväter, auch die hochgestellten, suchten sich nicht durchzudrängen und drängten niemand; im Gegenteil, sie gerieten sogar, wie man sagt, schon auf der Straße in Verlegenheit, als sie den für unsere Stadt ungewöhnlichen Auflauf bemerkten, denn die Menge belagerte das Portal und ging nicht etwa einfach hinein, sondern lief geradezu im Sturmangriff vor. Unterdessen kamen fortwährend Equipagen angefahren und versperrten schließlich die ganze Straße. Jetzt, da ich das niederschreibe, habe ich sichere Unterlagen, um behaupten zu können, daß mehrere Vertreter des gemeinsten Gesindels in unserer Stadt einfach von Liputin und Liamschin ohne Billette hereingelassen wurden. Und vielleicht tat desgleichen noch ein dritter, der genau so wie ich und diese beiden zu den Ordnern gehörte. Wenigstens erschienen ganz unbekannte Menschen, die wahrscheinlich aus dem Kreise und anderswoher hergekommen waren. Kaum hatten diese Rohlinge den Saal betreten, als sie sich sofort einmütig, wie auf Verabredung oder auf Kommando, nach dem Büfett erkundigten und, sowie sie erfuhren, daß keins da sei, ohne allen Anstand und mit einer bis dahin bei uns noch nie dagewesenen Dreistigkeit zu schimpfen begannen. Allerdings waren einige von ihnen bereits angeheitert erschienen. Wieder andere dieser Subjekte waren wie Wilde von der Pracht des Saales der Frau Adelsmarschall überrascht, da sie noch nie etwas Ähnliches gesehen hatten. Diese verstummten beim Eintritt ein Weilchen und blickten sich zuerst erstaunt und mit weit aufgesperrtem Mund um. Der große, weiße Saal war trotz seines Alters und des nicht mehr modernen Stils seiner Ausführung in der Tat ganz prächtig: er war von gewaltigem Umfang, zwei Stockwerke hoch, mit einer in altertümlichem Stil gemalten und mit Vergoldung geschmückten Decke, mit Galerien, mit Wandspiegeln, mit rot auf weißem Grunde gehaltenen Draperien, mit Marmorstatuen, die vielleicht nicht allzu schön, immerhin aber Statuen waren und mit schweren, noch aus der napoleonischen Zeit stammenden Möbeln, weiß mit Gold und mit rotem Samt überzogen. Zum Fest wurde in einem Ende des Saales eine Bühne für die Literaten errichtet, die etwas vorlesen sollten, und der ganze Saal war wie das Parkett eines Theaters dicht mit Stühlen vollgestellt, wobei nur breite Durchgänge für das Publikum gelassen waren. Aber nach den ersten Augenblicken des Erstaunens begannen die sinnlosesten Fragen und Bemerkungen: »Wir wollen vielleicht noch gar keine Vorlesung ... Wir haben Geld bezahlt ... Das Publikum ist in einer schamlosen Weise betrogen worden ... Wir sind die Herren hier und nicht Lembkes ...« Kurz, diese Leute benahmen sich so, als ob man sie nur zu diesem Zwecke hereingelassen hätte. Besonders erinnere ich mich an einen Zusammenstoß, bei dem sich der fremde junge Fürst auszeichnete, der auch am Vormittage des vorhergehenden Tages bei Julia Michajlowna gewesen war, ganz gewaltige Vatermörder getragen und den Eindruck einer Holzpuppe gemacht hatte. Auch er erklärte sich ebenfalls auf ihre dringende Bitte hin bereit, sich eine Schleife an die linke Schulter anstecken zu lassen und mit uns zusammen das Amt eines Festordners zu versehen. Nun stellte es sich heraus, daß diese hohe, stumme Figur auf Federn, wenn auch nicht zu reden, so doch in ihrer Art zu handeln verstand. Als ein pockennarbiger pensionierter Hauptmann von ganz kolossalem Umfange, gestützt auf einen ganzen sich hinter ihm drängenden Schwarm von allerlei Gesindel, ihm gar zu arg mit der Frage zuzusetzen begann, wo man hier zum Büfett komme, da winkte er einem Polizisten. Seiner Weisung wurde unverzüglich Folge geleistet, und der Polizist beförderte den betrunkenen Hauptmann trotz all seines Schimpfens aus dem Saal. Unterdessen begann auch endlich das »wirkliche« Publikum zu erscheinen und zog in drei langen Reihen durch die drei Durchgänge zwischen den Stühlen hin. Das unordentliche Element beruhigte sich allmählich; aber auch das Publikum, selbst das »feinste«, machte unzufriedene und erstaunte Gesichter; einige Damen waren geradezu erschrocken.

Schließlich hatten alle Platz genommen. Nun verstummte auch die Musik. Man begann sich zu schneuzen und sich umzusehen. Man wartete mit gar zu feierlicher Miene, was schon an sich stets ein schlimmes Vorzeichen ist. Aber »die Lembkes« waren noch nicht da. Seide, Samt und Brillanten glänzten und leuchteten von allen Seiten; die Luft war von Wohlgerüchen erfüllt. Die Männer hatten alle ihre Orden angelegt, und die Alten unter ihnen kamen sogar in Uniform. Endlich erschien auch die Frau Adelsmarschall, begleitet von Lisa. Noch nie war Lisa so blendend schön gewesen, wie an diesem Vormittag und in dieser prächtigen Toilette. Ihr Haar war in Locken frisiert, ihre Augen funkelten, und auf ihrem Gesicht strahlte ein Lächeln. Sie machte offenbar einen starken Eindruck: man sah sich nach ihr um, man flüsterte sich etwas über sie zu. Man sagte sich, sie suche mit den Augen nach Stawrogin, aber weder Nikolaj Wsewolodowitsch noch Warwara Petrowna waren anwesend. Ich konnte mir damals Lisas Gesichtsausdruck gar nicht erklären und wußte nicht, warum es soviel Glück und Freude, soviel Energie und Kraft zeigte. Ich erinnerte mich an die Geschehnisse des vorangegangenen Tages und war völlig verblüfft. Aber – »die Lembkes« kamen immer noch nicht. Das war schon ein Fehler. Später erfuhr ich, daß Julia Michajlowna bis zum letzten Augenblick auf Piotr Stepanowitsch gewartet hatte, ohne den sie in der letzten Zeit fast keinen Schritt mehr tun konnte, obwohl sie sich das selbst nie gestand. In Klammern will ich hier bemerken, daß Piotr Stepanowitsch in der letzten, entscheidenden Komiteesitzung es abgelehnt hatte, die Schleife eines Festordners anzulegen, worüber die Gouverneurin so sehr betrübt war, daß sie sogar Tränen vergoß. Zu ihrer Verwunderung, die sich schließlich in eine außerordentliche Bestürzung verwandelte (was ich bereits im voraus erwähne), blieb er den ganzen Vormittag unsichtbar und erschien auch nicht zu der Morgenfeier, so daß ihn bis zum Abend überhaupt niemand zu sehen bekam. Schließlich begann das Publikum deutlich seine Ungeduld zu bekunden. Auf dem Podium zeigte sich auch noch kein Mensch. In den hinteren Reihen fing man plötzlich an, wie im Theater zu klatschen. Die alten Herren und die Damen machten finstere Gesichter und meinten: »Lembkes bilden sich offenbar doch schon zuviel ein.« Selbst im besseren Teil des Publikums flüsterte man sich zu, daß die Feier vielleicht wirklich nicht stattfinden würde, Lembke vielleicht tatsächlich ernstlich erkrankt sei, und so weiter. Aber Gott sein Dank erschienen die Lembkes endlich doch: er führte sie am Arm. Ich muß gestehen, daß auch ich schon in Sorge war, ob sie überhaupt kommen würden. Aber nun schwanden alle Märchen, und die Wahrheit trat in ihr Recht. Das Publikum atmete gewissermaßen auf. Lembke selbst schien vollkommen gesund zu sein, wie auch, ich erinnere mich noch sehr gut daran, alle von ihm diesen Eindruck gewannen, und man kann sich leicht denken, wie viele Blicke auf ihn gerichtet waren. Zur Charakteristik des Ganzen will ich nur angeben, daß es im Kreise unserer höchsten Gesellschaft überhaupt nur sehr wenige Menschen gab, die annahmen, daß etwas mit Lembke nicht ganz richtig sei; seine Handlungsweise aber fand man vollkommen ordnungsmäßig und normal, genau so, wie man auch die gestrigen, »Schpigulinschen« Vorgänge nur beifällig aufgenommen hatte. »So hätte er nur gleich von Anfang an verfahren sollen«, sagten unsere Würdenträger. »Aber da kommen die Herren als reine Philanthropen hierher und müssen schließlich doch zu den alten Methoden greifen, ohne es zu merken, daß gerade diese um der Philanthropie willen notwendig sind!« So urteilte man wenigstens im Klub. Man tadelte nur, daß Lembke dabei nicht ganz kaltblütig geblieben war: »In solchen Fällen darf man nicht so hitzig sein; na ja, er ist ja auch noch nicht lange in seinem Amte«, meinten die Sachverständigen. Mit derselben Neugier richteten sich alle Blicke auch auf Julia Michajlowna. Natürlich kann niemand von mir, dem Erzähler, über einen gewissen Punkt sehr eingehende Einzelheiten verlangen: es handelt sich da um ein Geheimnis, um eine Frau! Aber ich weiß nur eins: am Abend des vorangegangenen Tages trat sie in das Arbeitszimmer Andrej Antonowitschs und blieb bei ihm bis nach Mitternacht. Andrej Antonowitsch erhielt Verzeihung und wurde getröstet. Die beiden Ehegatten einigten sich in allem, alles war vergessen und vergeben, und als zum Schluß der Aussprache Herr von Lembke sich mit Schrecken an die vorhergegangene Nacht erinnerte und vor seiner Frau auf die Knie fiel, da das reizende Händchen und nach dieser auch die Lippen der Gattin den Flammenerguß der reuigen Worte des ritterlich zartfühlenden, aber vor Rührung schwach gewordenen Mannes hemmte. Nun konnten alle in ihren Zügen nur Glück wahrnehmen. Sie schritt mit offener Miene und in ganz prächtiger Toilette einher. Sie schien auf den Gipfel ihrer Wünsche gelangt zu sein: das Fest, das die Krone und das Ziel ihrer Politik bildete, war Wirklichkeit geworden. Während nun die Lembkes zu ihren dicht am Podium befindenden Plätzen gingen, verneigten sie sich beide nach allen Seiten und erwiderten die Grüße des Publikums. Sie wurden sofort umringt ... Die Frau Adelsmarschall erhob sich und kam ihnen entgegen ... Aber hier geschah ein garstiges Mißverständnis: das Orchester begann nun auf einmal einen schmetternden Tusch zu spielen, nicht etwa einen Marsch, sondern eben einen Tusch, wie bei uns im Klub, wenn bei einem Diner auf jemandes Gesundheit getrunken wird. Ich weiß jetzt, daß dieser Tusch von Liamschin, der auch zu den Festordnern gehörte, angeordnet war, und zwar, um damit den eintretenden »Lembkes« eine Ehre zu erweisen. Natürlich konnte er sich immer damit herausreden, er hätte es aus Dummheit oder aus Übereifer getan ...

Leider wußte ich damals noch nicht, daß diese ganze vermaledeite Gesellschaft sich um Entschuldigungen überhaupt keine Sorge mehr machte und mit diesem Tage alles zum Abschluß zu bringen gedachte. Mit dem Tusch war die Sache noch nicht zu Ende. Während das Publikum noch ärgerlich staunte und lächelte, erscholl plötzlich am Ende des Saales und auf den Galerien ein Hurra, das ebenfalls zu Ehren des Gouverneurpaars ausgebracht zu sein schien. Es riefen nicht viele Stimmen; aber es dauerte doch eine ziemliche Weile, bis sie wieder verstummten. Julia Michajlowna wurde dunkelrot, und ihre Augen fingen an zu funkeln. Lembke blieb an seinem Platz stehen, wandte sich nach den Schreienden um und ließ einen strengen, majestätischen Blick über den Saal schweifen ... Man veranlaßte ihn, sich schleunigst hinzusetzen. Und wieder bemerkte ich mit Schrecken auf seinem Gesicht jenes gefährliche Lächeln, mit dem er gestern im Salon seiner Gemahlin gestanden und Stepan Trofimowitsch angesehen hatte, ehe er an ihn herangetreten war. Es schien mir, daß auch jetzt sein Gesicht einen unheilverkündenden und, was das Allerschlimmste war, zugleich einen etwas komischen Ausdruck annahm, den Ausdruck eines Geschöpfs, das sich in Gottes Namen selbst zum Opfer brachte, nur um den höheren Zielen seiner Gemahlin zu dienen ... Julia Michajlowna winkte mich hastig zu sich heran und flüsterte mir zu, ich möchte so schnell wie möglich zu Karmasinow laufen und ihn dringend bitten, mit der Vorlesung zu beginnen. Aber kaum hatte ich mich umgedreht, um ihren Auftrag auszuführen, als eine andere Abscheulichkeit geschah, die noch weit garstiger war als die erste.

Auf der Bühne, auf der leeren Bühne, die bis jetzt die Blicke und Erwartungen aller auf sich gezogen hatte, und auf der man nur einen kleinen Stuhl und vor ihm einen Tisch mit einem Glas Wasser auf einem silbernen Präsentierteller sehen konnte – auf dieser leeren Bühne erschien plötzlich die riesenhafte Gestalt des Hauptmanns Lebiadkin im Frack und mit weißer Halsbinde. Ich war so überrascht, daß ich meinen eigenen Augen nicht trauen wollte. Der Hauptmann war offenbar verlegen und blieb für einen Augenblick im Hintergrund der Bühne stehen. Plötzlich rief jemand aus dem Publikum: »Lebiadkin! bist du das?« Die dumme, rote Fratze des Hauptmanns, der total betrunken war, verzog sich bei diesem Anruf zu einem breiten, stumpfsinnigen Lächeln. Er hob die Hand, rieb sich die Stirn, schüttelte seinen struppigen Kopf und trat dann, wie wenn er nunmehr zu allem entschlossen wäre, zwei Schritte vor. Und da, da brach er plötzlich in ein prustendes Lachen aus, das nicht laut war, aber helltönend, langgezogen und glückselig, in ein Lachen, bei dem sich die ganze wuchtige Masse seines Körpers zu schütteln begann und die kleinen Augen sich zusammenzogen. Das ernste Publikum wechselte finstere Blicke untereinander. Indessen dauerte das Ganze nicht länger als eine halbe Minute. Beim Anblick des Hauptmanns begann fast die Hälfte der Anwesenden zu lachen, und etwa zwanzig Menschen klatschten sogar Beifall. Auf die Bühne lief jetzt plötzlich Liputin hinauf, der eine Festordnerschleife hatte. Ihm folgten zwei Diener. Diese faßten den Hauptmann behutsam unter die Arme, und Liputin flüsterte ihm etwas zu. Der Hauptmann runzelte die Stirn, murmelte: »Na, meinetwegen, wenn dem so ist«, machte eine verzichtende Handbewegung, wandte dem Publikum seinen gewaltigen Rücken zu und verschwand mit seinen Begleitern. Aber schon einen Augenblick später tauchte Liputin wieder auf der Bühne auf. Um seine Lippen spielte die süßeste Sorte von seinem gewöhnlich zur Schau getragenen Lächeln, das meistens an Essig mit Zucker erinnerte, und in der Hand hielt er ein Blatt Briefpapier. Mit kleinen, aber hastigen Schritten trat er an den vorderen Rand der Bühne heran.

»Meine Herrschaften,« wandte er sich an das Publikum, »leider ist uns ein etwas komisches Mißverständnis widerfahren, das jetzt bereits beseitigt ist. Aber voller Hoffnung habe ich den Auftrag und die tiefe, ehrerbietige Bitte eines unserer einheimischen Dichter übernommen ... Durchdrungen von dem humanen und hohen Ziele ... trotz seines Zustandes ... von demselben Ziele, das uns hier alle vereinigt hat ... die Tränen der armen, gebildeten Mädchen unseres Gouvernements zum Versiegen zu bringen ... würde dieser Herr, das heißt, ich wollte sagen, dieser hiesige Dichter ... trotz des Wunsches, sein Inkognito zu bewahren ... es sehr gern sehen, wenn sein Gedicht vorgelesen würde, und zwar noch vor dem Beginn des Balles, das heißt, ich wollte sagen, vor dem Beginn der Vorlesungen. Obwohl dieses Gedicht im Programm nicht vorgesehen ist ... weil es erst vor einer halben Stunde eingereicht wurde ... so schien es uns dennoch« (wem denn: »uns«? Ich führe seine unzusammenhängende und verworrene Rede vollkommen unverändert, also wörtlich an), »daß angesichts der bemerkenswerten Naivität des Gefühls, das sich mit einer gleichfalls bemerkenswerten Heiterkeit vereinigt, dieses Gedicht vorgelesen werden könne, natürlich nicht als etwas Ernstes, sondern nur als etwas, was zum Feste paßt ... Kurz, zur Idee ... um so mehr, da es nur einige Zeilen sind ... Und so wollte ich dazu die Erlaubnis des wohlgeneigten Publikums erbitten.«

»Lesen Sie es!« brüllte jemand vom Ende des Saales.

»Also soll ich es vorlesen?«

»Lesen Sie, lesen Sie!« riefen viele Stimmen.

»Dann werde ich es mit Erlaubnis des Publikums vortragen«, sagte Liputin und verzog sein Gesicht wieder zu demselben zuckersüßen Lächeln. Indessen schien er sich doch nicht recht dazu entschließen zu können, und ich hatte sogar den Eindruck, daß er sehr aufgeregt sei. Bei aller Dreistigkeit solcher Menschen stolpern sie dennoch mitunter. Übrigens wäre der Seminarist wahrscheinlich doch nicht gestolpert, und Liputin gehörte immerhin noch zur alten Gesellschaft.

»Ich bemerke im voraus, das heißt, ich habe die Ehre, im voraus zu bemerken, daß dies Gedicht immerhin keine Ode ist, wie man sie früher zu Festen geschrieben hatte, sondern sozusagen beinah ein Scherz, allerdings von unzweifelhaftem Gefühl, das sich mit der sprudelndsten Heiterkeit vereinigt, und zwar im Rahmen einer sozusagen außerordentlich realistischen Wahrheit.«

»Vorlesen, vorlesen!«

Er entfaltete den Briefbogen. Selbstverständlich hielt ihn keiner davon zurück. Überdies war er ja mit seiner Festordnerschleife erschienen. Nun begann er mit helltönender Stimme zu deklamieren:

»Der vaterländischen Gouvernante der hiesigen Gegend von einem Dichter am Festtage gewidmet:

Sei gegrüßt, du Gouvernantchen,
Freue dich, empfinde tief!
Ob du rot bist wie George-Sandchen,
Oder ganz konservativ!«

»Das ist ja von Lebiadkin! Aber natürlich hat das Lebiadkin gemacht!« riefen mehrere Stimmen. Es erscholl ein Lachen, und einige, wenn auch nicht viele, klatschten sogar Beifall.

»Ach, Französisch und Manieren
Bringst verrotzten Gören bei,
Selbst den Küster zu poussieren
Bist bereit, daß er dich frei'?«

»Hurra! Hurra!«

»Doch in unsrer Zeit, du Flinke,
Nimmt dich selbst ein Küster nicht,
Heute heißt es: ›Hast du Pinke?
Nicht? Dann schufte, armer Wicht!‹«

»Eben, eben! Sehr richtig! Das ist wirklicher Realismus! Ohne ›Pinke‹ kommt man heute nicht vom Fleck!«

»Doch da wir jetzt tanzend, schmausend,
Sammelten ein Kapital
Und die Mitgift, ei Potztausend!
Senden dir aus diesem Saal.

Ob du rot bist wie George-Sandchen,
Oder älterer Manier –
Du hast Mitgift, Gouvernantchen!
Pfeif auf alles! Jubilier! ...«

Ich muß gestehen, ich traute meinen eigenen Ohren nicht. Das Ganze war eine so offenkundige Frechheit, daß man Liputin nicht einmal mit Dummheit entschuldigen konnte. Die Absicht war klar, wenigstens für mich: es schien, als wollte man sobald wie möglich eine Unordnung heraufbeschwören. Einige Verse dieses idiotischen Gedichts, so zum Beispiel der letzte, waren derart, daß keine Dummheit in der Welt sie hätte ermöglichen können. Liputin hatte offenbar auch selbst die Empfindung, daß er gar zuviel auf sich genommen hatte; nach Vollbringung seiner Heldentat bekam er über seine eigene Dreistigkeit einen solchen Schreck, daß er nicht einmal von der Bühne herunterging, sondern stehen blieb, wie wenn er noch etwas hinzufügen wollte. Er hatte wahrscheinlich angenommen, daß die Sache einen ganz anderen Ausgang nehmen würde, aber selbst das Häufchen der Rowdys, das während dieses Streichs applaudiert hatte, schwieg jetzt auf einmal ebenfalls erschrocken. Am dümmsten war, daß viele von diesen Herrschaften das ganze Gedicht pathetisch aufgefaßt hatten, das heißt, nicht als ein Schmählied, sondern tatsächlich als eine tendenziöse Dichtung, die wirklich die Wahrheit über die Gouvernanten sagen sollte. Aber die übermäßige Ungeniertheit der Verse machte schließlich auch sie stutzig. Was aber das gesamte Publikum anbelangt, so war der ganze Saal nicht nur empört, sondern offensichtlich beleidigt. Ich irre mich nicht, wenn ich den allgemeinen Eindruck in diesem Lichte wiedergebe. Julia Michajlowna sagte später, daß sie, falls die Sache noch einen Augenblick gedauert hätte, unvermeidlich in Ohnmacht gefallen wäre. Einer unserer achtungswertesten alten Herren half seiner Gattin aufzustehen, und beide verließen den Saal, verfolgt von den unruhigen Blicken des Publikums. Wer weiß, ob dieses Beispiel nicht noch viele andere zur Nachahmung bewogen hätte, wenn nicht gerade da Karmasinow selbst auf der Bühne erschienen wäre. Er war im Frack und weißer Binde und hatte ein Heft in der Hand. Julia Michajlowna richtete einen geradezu entzückten Blick auf ihn und sah in ihm wahrscheinlich ihren Retter ... aber ich war bereits hinter die Kulissen gegangen, ich mußte mit Liputin sprechen.

»Das haben Sie mit Absicht getan!« sagte ich, indem ich ihn entrüstet an der Hand ergriff.

»Ich habe, weiß Gott, nicht denken können, daß es so kommt«, erwiderte er sofort, krümmte sich zusammen, begann zu lügen und stellte sich ganz unglücklich. »Die Verse sind soeben gebracht worden, und ich habe wirklich gedacht, daß sie als ein heiterer Scherz ...«

»Das haben Sie gar nicht gedacht. Können Sie denn so einen abgeschmackten Unsinn für einen heiteren Scherz halten?«

»Ja, das tue ich.«

»Sie lügen einfach, und die Verse sind Ihnen gar nicht eben erst gebracht worden. Sie haben dieses Gedicht selbst zusammen mit Lebiadkin verfaßt, vielleicht noch gestern, nur um einen Skandal hervorzurufen. Der letzte Vers ist unbedingt Ihr Erzeugnis, ebenso wie das, was vom Küster gesagt ist. Weshalb ist denn Lebiadkin im Frack auf die Bühne gekommen? Das deutet doch klar darauf hin, daß alles dazu vorbereitet war, damit er das Gedicht selbst vorlese, und er würde es auf Ihr Anraten hin auch getan haben, wenn er sich nicht betrunken hätte!«

Liputin sah mich kalt und spöttisch an.

»Was geht denn Sie das an?« fragte er plötzlich mit sonderbarer Ruhe.

»Wie meinen Sie das? Natürlich geht mich das etwas an! Sie tragen doch ebenfalls diese Schleife ... Wo ist Piotr Stepanowitsch?«

»Ich weiß nicht; er wird wohl hier irgendwo sein. Warum fragen Sie nach ihm?«

»Ich frage, weil ich jetzt alles durchschaue. Das ist einfach eine Verschwörung gegen Julia Michajlowna, um das Fest zu stören und die Feier in einen Skandal umzuwandeln ...«

Liputin sah mich wieder von der Seite an.

»Was geht denn Sie das an?« sagte er lächelnd, zuckte mit den Achseln und ging von mir.

Es überlief mich kalt. Alle meine bösen Ahnungen hatten sich als richtig erwiesen. Und ich hatte noch zu hoffen gewagt, daß ich mich irre! Was sollte ich nun tun? Ich dachte schon daran, Stepan Trofimowitsch um Rat zu fragen, aber dieser stand vor einem Spiegel, probierte verschiedene Arten des Lächelns und sah jeden Augenblick auf einen Zettel, den er mit Notizen bedeckt hatte. Er mußte gleich nach Karmasinow auftreten und war nicht mehr imstande, mit mir ein Gespräch zu führen. Sollte ich zu Julia Michajlowna laufen? Aber dazu war es noch zu früh, sie mußte noch eine weit stärkere Lehre erhalten, um vollkommen von der Einbildung kuriert zu werden, derzufolge sie sich »umringt« fühlte und unerschütterlich glaubte, daß alle ihr »fanatisch ergeben« seien. Sie würde mir noch nicht geglaubt und mich für einen Gespensterseher gehalten haben. Und wie hätte sie auch Abhilfe schaffen können? »Ach,« dachte ich, »was geht es mich denn in der Tat an? Ich werde einfach meine Schleife abmachen und, sobald es losgeht, nach Hause gehen.« Und ich erinnere mich ganz fest, diesen Ausdruck »sobald es losgeht« tatsächlich gebraucht zu haben.

Aber nun wollte ich Karmasinow hören. Als ich mich zum letztenmal hinter den Kulissen umsah, bemerkte ich, daß sich dort ziemlich viel fremdes Volk umhertrieb. Es waren darunter auch Weiber. Diese Leute gingen und kamen.

Dieses »Hinter-den-Kulissen« war ein ziemlich enger Raum, der vom Publikum durch einen Vorhang vollständig abgeschlossen und nach hinten zu, durch einen Korridor, mit den übrigen Zimmern verbunden war. Hier warteten unsere Vortragenden die Zeit ihres Auftretens ab. Aber am meisten überraschte mich in diesem Augenblick der Herr, der gleich nach Stepan Trofimowitsch vorzulesen hatte. Ich weiß auch jetzt noch nicht ganz genau, was er eigentlich war, aber ich glaube, er hatte irgendwo eine Art von Professorstellung bekleidet, war nach einem Studentenkrawalle freiwillig von der betreffenden Lehranstalt abgegangen und hielt sich aus irgendeinem Grunde seit einigen Tagen in unserer Stadt auf. Auch er war Julia Michajlowna von auswärts empfohlen worden, und so hatte sie ihn mit Ehrfurcht aufgenommen. Ich weiß jetzt, daß er nur ein einziges Mal vor der Vorlesung bei ihr gewesen war, den ganzen Abend geschwiegen, über die Scherze und den Ton der Gesellschaft, die sich um die Gouverneurin scharte, zweideutig gelächelt und auf alle durch sein hochmütiges, gleichzeitig aber bis zur Schreckhaftigkeit empfindliches Wesen einen ziemlich unangenehmen Eindruck gemacht hatte. Zum Vorlesen hatte ihn Julia Michajlowna selbst angeworben. Jetzt ging er genau so wie Stepan Trofimowitsch von einer Ecke in die andere und flüsterte ebenfalls etwas vor sich hin, wobei er aber nicht in den Spiegel, sondern zu Boden blickte. Er probierte auch nicht, ob dieses oder jenes Lächeln ihm am besten stehe, obwohl er ziemlich häufig und sinnlich lächelte. Ich hatte den deutlichen Eindruck, daß man auch mit ihm nicht reden konnte. Er war von kleinem Wuchs, etwa vierzig Jahre alt, kahlköpfig, mit einem kleinen, grauen Bart und anständig gekleidet. Aber am meisten fiel mir auf, daß er bei jeder Wendung die rechte Faust in die Höhe hob, sie drohend über seinem Kopfe schüttelte und dann auf einmal niedersausen ließ, wie wenn er einen Gegner zu Boden schmetterte. Dieses Kunststückchen machte er alle Augenblicke. Ein unruhiges Angstgefühl bemächtigte sich meiner. Ich lief so schnell wie möglich fort, in den Saal, um Karmasinow zu hören.

3

Dort schien wieder Unheil in der Luft zu hängen. Ich erkläre im voraus: ich verehre ehrfurchtsvoll die Größe eines Genies; aber warum benehmen sich denn unsere Herren Genies am Ende ihrer ruhmvollen Jahre mitunter ganz und gar wie kleine Knaben? Was hatte es schon für einen Sinn, daß Karmasinow mit einer Miene auftrat, deren Wichtigkeit und Feierlichkeit für fünf Kammerherren ausgereicht hätte? Kann man denn das Interesse eines solchen Publikums, wie es das unsrige ist, durch einen einzigen Aufsatz eine ganze Stunde lang fesseln? Ich habe überhaupt die Beobachtung gemacht, daß man, selbst wenn man ein Erzgenie ist, bei einer öffentlichen, leichten literarischen Vorlesung das Publikum nicht länger als zwanzig Minuten ungestraft mit seiner eigenen Persönlichkeit beschäftigen darf. Allerdings begrüßte man das große Genie bei seinem Auftreten mit außerordentlichem Respekt: sogar die gestrengsten alten Herrn bekundeten Wohlgefallen und Interesse, und die Damen gaben sogar ein gewisses Entzücken zu erkennen. Das Händeklatschen, das Karmasinow begrüßte, war indessen nur von kurzer Dauer und sozusagen uneinheitlich und verwirrt. Dafür aber wurde auch in den hinteren Reihen bis zu dem Augenblicke, da Herr Karmasinow zu sprechen begann, kein einziger dummer Streich gespielt und keine Ausschweifung begangen; und auch dann geschah eigentlich nichts Schlimmes, sondern nur etwas, was man sehr gut als Mißverständnis ausdeuten könnte. Ich habe schon früher wiederholt erwähnt, daß er eine sehr kreischende, sogar einigermaßen weibliche Stimme hatte und dabei in echt vornehmer, hochfeudaler Weise lispelte. Kaum hatte er einige Worte ausgesprochen, als sich plötzlich jemand erlaubte, laut zu lachen; wahrscheinlich war es irgendein unerfahrener Dummkopf, der noch nie einen Blick in das Leben der höheren Gesellschaftskreise geworfen hatte und obendrein von angeborener Lachlust war. Aber es sollte keineswegs eine Demonstration sein, denn man hatte im Gegenteil gerade diesen Dummkopf durch Zischen zum Schweigen veranlaßt, so daß er gleichsam vollkommen verschwand. Aber nun erklärte Herr Karmasinow affektiert und die Worte pointierend, daß er »anfangs um keinen Preis« lesen wollte. (Wozu mußte er denn so eine Erklärung abgeben?) »Es gibt«, sagte er, »solche Gedanken und Gefühle, die dermaßen aus dem tiefsten Herzen sprudeln, daß man es einfach nicht beschreiben kann, so daß es einfach unzulässig ist, dieses Heiligtum vor das Publikum zu bringen.« (Nun, warum tat er es denn?) »Da man ihn aber dringend gebeten habe,« sagte er, »so gab er schließlich nach, und da er obendrein die Feder für immer niederlegen wolle und sich geschworen habe, künftig um keinen Preis mehr etwas zu schreiben, so habe er in Gottes Namen diese letzte Schrift abgefaßt; und da er sich geschworen habe, für nichts in der Welt wieder jemals etwas dem Publikum vorzulesen, so wolle er nun, in Gottes Namen, dieses letzte Werk noch dem Publikum vorlesen,« und so weiter, immer in dieser Art.

Aber das alles wäre noch nicht das Schlimmste. Wer kennt nicht die Vorreden der Herren Autoren? Obwohl ich bemerken muß, daß bei dem geringen Bildungsgrad unseres Publikums und bei der leichten Reizbarkeit der Leute in den hinteren Reihen dies alles eine peinliche Wirkung hätte ausüben können. Wäre es nicht wirklich besser gewesen, eine kleine Novelle vorzulesen, eine winzige Erzählung von der Art, wie er sie früher geschrieben hatte, das heißt ein kleines Werk, das zwar gar zu geschliffen und affektiert, aber dennoch mitunter geistreich war? Dadurch hätte er alles retten können. Aber nein, es kam ganz anders! Es begann eine erbauliche Ansprache! Mein Gott, was war da nicht alles darin! Ich behaupte ganz entschieden, daß selbst ein Publikum aus der Hauptstadt dadurch zur Erstarrung gebracht werden konnte und nicht nur das unsrige. Man stelle sich nur fast zwei Druckbogen voll des geziertesten und nutzlosesten Geschwätzes vor; überdies las dieser Herr noch etwas von oben herab, mit gleichsam trübsinniger Miene, wie etwa aus Gnade und Barmherzigkeit, so daß es beinah auf eine Beleidigung unseres Publikums herauskam. Das Thema ... Aber wer konnte daraus klug werden, was es für einen Inhalt hatte? Das klang wie ein Bericht über irgendwelche Empfindungen und irgendwelche Erinnerungen. Aber über was für Erinnerungen und Empfindungen? Wie sehr sich unsere Provinzstirnen während der ganzen ersten Hälfte des Vortrags auch in Falten legten, so konnten wir doch nicht daraus klug werden, und so kam es, daß die zweite Hälfte nur noch aus Höflichkeit angehört wurde. Allerdings war da viel von Liebe die Rede, von der Liebe des Genies zu irgendeiner Person, aber ich muß gestehen, das kam alles etwas ungeschickt heraus. Die Erzählung vom ersten Kuß paßte meiner Ansicht nach nicht recht zu dieser kleinen, umfangreichen Figur des genialen Schriftstellers ... Und was wiederum kränkte, war die Tatsache, daß diese Küsse in einer ganz anderen Weise zustande kamen als bei der ganzen übrigen Menschheit. Da mußte unbedingt ringsumher Ginster wachsen (gerade Ginster oder ein anderes derartiges Kraut, über das man sich erst in botanischen Büchern erkundigen mußte). Dabei mußte der Himmel unfehlbar irgendwie violett gefärbt sein, was natürlich noch kein Sterblicher je beobachtet hatte; das heißt, es haben diese Erscheinung zwar alle gesehen, aber eben nicht verstanden, sie zu beobachten, und da klang es aus seinem Bericht gewissermaßen: »Ich aber habe diese Färbung genau studiert und beschreibe sie jetzt euch Dummköpfen wie etwas ganz Gewöhnliches.« Der Baum, unter dem das interessante Paar Platz nahm, war unbedingt von einer Art Orangefarbe.

Nun sitzen sie irgendwo in Deutschland. Plötzlich sehen sie Pompejus oder Cassius am Vorabend einer Schlacht, und beide überläuft ein kalter Schauer des Entzückens. Irgendeine Waldnymphe kreischt im Gebüsch. Gluck spielt im Schilfrohr auf der Geige. Das Stück, das er vorträgt, heißt ›En toutes lettres‹, ist aber keinem unter den Anwesenden bekannt, so daß man es nur in einem musikalischen Nachschlagewerk ausfindig machen kann. Inzwischen aber ballt sich ein Nebel zusammen, so dicht, so fest, daß er mehr einer Million von Kissen als einem Nebel gleicht. Und plötzlich verschwindet alles, und das große Genie setzt im Winter bei Tauwetter über die Wolga. Zweieinhalb Seiten lang dauert die Überfahrt, und dennoch verschwindet das Genie im Eisloch. Das Genie geht unter! Glauben Sie, daß es ertrinkt? Es denkt gar nicht daran! Das alles wird nur beschrieben, um zu sagen, daß, als das Genie schon dem Untergange nahe war und Wasser schluckte, vor ihm plötzlich ein Eisstückchen aufschimmerte, ein ganz winziges Eisstückchen, kaum größer als eine Erbse, aber rein und durchsichtig »wie eine gefrorene Träne« und daß in diesem Eisstückchen sich Deutschland widerspiegelte oder besser gesagt, der Himmel Deutschlands. Diese Widerspiegelung ruft durch ihr regenbogenartiges Farbenspiel dem Genie eben jene Träne ins Gedächtnis zurück, die, »weißt du noch, aus deinem Auge rann, als wir unter dem smaragdenen Baum saßen, und du freudig ausriefst: ›Es gibt kein Verbrechen!‹ – ›Ja,‹ sagte ich unter Tränen, ›aber wenn dem so ist, dann gibt es ja auch keine Gerechten.‹ Wir schluchzten und trennten uns für immer.« – Sie begibt sich irgendwohin an das Gestade des Ozeans, er in irgendwelche Höhlen; und nun steigt er hinab, immer tiefer und tiefer; drei Jahre lang steigt er in Moskau unter dem Sucharewturme immer weiter und weiter hinab und findet plötzlich in der innersten Tiefe der Erde in einer Höhle ein Lämpchen, das vor einem Heiligenbild brennt, und vor dem Lämpchen einen Einsiedler. Der Einsiedler betet. Das Genie drückt sich an ein winziges, vergittertes Fensterchen und hört auf einmal einen Seufzer. Sie glauben wohl, daß der Einsiedler geseufzt hat? Ja, Kuchen, was schert ihn der Einsiedler? Nein, die Sache liegt ganz anders! Bei diesem Seufzer erinnerte er sich einfach an »ihren« ersten Seufzer, den sie vor siebenunddreißig Jahren getan hatte, damals, als »weißt du noch, in Deutschland, wie wir unter dem achatfarbenen Baume saßen, und du mir sagtest: ›Wozu lieben? Siehe, ringsumher wächst Ocker, und ich liebe; aber der Ocker wird verblühen, und meine Liebe wird aufhören.« Hier ballt sich wieder der Nebel zusammen, es zeigt sich Hoffmann, eine Waldnymphe pfeift eine Chopinsche Melodie, und plötzlich erscheint mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupt aus dem Nebel über den Dächern Ancus Marcius. »Ein Wonneschauer lief uns über den Rücken, und wir trennten uns für immer«, und so weiter.

Kurz, ich gebe es vielleicht nicht ganz richtig wieder und verstehe mich vielleicht nicht darauf, aber der Sinn des ganzen Geschwätzes war eben von dieser Art. Und schließlich muß ich sagen: welch erstaunliche Leidenschaft haben unsere hervorragenden Geister für Witze und Wortspiele »im höheren Sinne«! Große europäische Philosophen, berühmte Gelehrte, hervorragende Erfinder, Märtyrer und Sklaven der Arbeit – alle diese Mühseligen und Beladenen schienen für unser russisches Genie nicht mehr zu sein als etwas wie Köche in seiner Küche. Er ist der vornehme und reiche Herr, und sie erscheinen vor ihm barhaupt und erwarten seine Befehle. Allerdings lacht er auch über Rußland, und er scheint nichts lieber zu tun, als den Bankrott Rußlands vor den vollkommenen Geistern Europas zu erklären. Was aber ihn selbst anbelangt, so trifft das für ihn natürlich nicht zu, denn er selbst ist all diesen großen Geistern Europas schon weit überlegen; sie alle sind nichts weiter, als Material für seine Glossen. Er nimmt eine fremde Idee, verflicht damit ihre Antithese, und schon ist ein Witz fertig. Es gibt ein Verbrechen, es gibt kein Verbrechen; es gibt kein Recht, es gibt keine Gerechten; Atheismus, Darwinismus, Moskauer Glocken ... Aber ach, leider glaubt er schon nicht mehr an die Moskauer Glocken; Rom, Lorbeeren ... Aber er glaubt nicht einmal mehr an die Lorbeeren ... Hier folgt der obligate Anfall Byronschen Weltschmerzes, eine Grimasse aus Heine, etwas, was an Lermontows Petschorin erinnert – und nun geht es los, nun geht es los, so daß es nur so pfeift und raucht ... »Übrigens lobt mich nur, lobt mich nur; das habe ich doch furchtbar gern; ich sage ja nur so, daß ich die Feder niederlege; wartet nur, ich werde euch noch dreihundertmal zum Halse heraushängen, ihr werdet es müde werden, mich zu lesen ...«

Selbstverständlich konnte das Ganze kein gutes Ende nehmen. Aber schlimm war, daß gerade er, Karmasinow, dazu den Anlaß gab. Schon längst hatte Scharren, Schneuzen, Husten und alles sonstige begonnen, was stets einsetzt, wenn bei einer literarischen Vorlesung der Vortragende, wer er auch sei, das Publikum mehr als zwanzig Minuten lang für sich in Anspruch nimmt. Aber der geniale Schriftsteller merkte nichts davon, er fuhr fort zu lispeln und an den Worten zu kauen, ohne die geringste Rücksicht auf das Publikum zu nehmen, so daß alle schließlich in Erstaunen gerieten. Da plötzlich erscholl aus den hintersten Reihen eine einzelne, aber laute Stimme:

»Mein Gott, was für ein Unsinn!«

Der Ausruf entrang sich ganz unwillkürlich, und ich bin fest davon überzeugt, daß damit keine Demonstration beabsichtigt war. Der betreffende Mensch war einfach müde geworden. Aber Herr Karmasinow hielt inne, warf einen spöttischen Blick auf das Publikum und lispelte plötzlich mit der Miene eines beleidigten Kammerherrn:

»Sie sind wohl meiner bereits ziemlich überdrüssig geworden, meine Herrschaften?«

Und gerade darin besteht eben seine Schuld, denn damit, daß er als erster sozusagen ein Gespräch begonnen und gewissermaßen zu einer Antwort aufgefordert hatte, gab er doch allem anwesenden Gesindel die Möglichkeit, sofort mitzureden und sogar sozusagen mit Fug und Recht, während sonst, wenn er nicht auf den Zuruf eingegangen wäre, diese Leute sich wahrscheinlich noch immer weiter geschneuzt hätten und die ganze Sache irgendwie in Ruhe verlaufen wäre ... Vielleicht hatte er ein Beifallsklatschen als Antwort auf seine Frage erwartet; aber es fiel keinem etwas Derartiges ein; im Gegenteil, alle hatten gewissermaßen einen Schreck bekommen, krümmten sich zusammen und schwiegen.

»Sie haben Ancus Marcius überhaupt nie gesehen, das sind ja alles nur hohle Worte!« erscholl plötzlich eine gereizte, ja beinah schmerzerfüllte Stimme.

»Ganz recht!« fiel sofort eine andere ein. »Heute gibt es keine Gespenster mehr, sondern nur Naturwissenschaften. Vergleichen Sie Ihr Gerede mit naturwissenschaftlichen Ergebnissen.«

»Meine Herrschaften, derartige Einwände hatte ich am allerwenigsten erwartet«, erwiderte Karmasinow aufs höchste verblüfft. Das große Genie hatte sich in Karlsruhe vollständig von seinem Vaterlande entwöhnt.

»In unserem Zeitalter ist es eine Schande, wenn man sagt, daß die Welt auf drei Fischen ruhe! Das sind Volksmärchen!« ratterte plötzlich ein junges Mädchen los. »Es ist ganz unmöglich, Karmasinow, daß Sie in eine Höhle zu einem Einsiedler hinabgestiegen sind. Und wer spricht jetzt überhaupt noch von Einsiedlern?«

»Meine Herrschaften, am meisten wundert mich, daß Sie das so ernst sagen. Übrigens ... übrigens haben Sie vollkommen recht. Niemand kann die Wirklichkeit und realistische Wahrheit höher schätzen als ich ...«

Er lächelte zwar ironisch, war aber doch sehr überrascht. Sein Gesichtsausdruck schien deutlich zu besagen: »Ich bin ja gar nicht so, wie ihr denkt, ich stehe ja ganz auf eurer Seite; nur lobt mich, lobt mich, soviel ihr könnt, denn das habe ich furchtbar gern ...«

»Meine Herrschaften,« rief er endlich aufs tiefste gekränkt, »ich sehe, daß meine arme Dichtung nicht das Richtige getroffen hat. Und auch ich habe wohl fehlgeschossen.«

»Er hat auf eine Krähe gezielt und eine Kuh getroffen«, rief aus vollem Halse irgendein wahrscheinlich betrunkener Dummkopf, und diesen hätte man am besten überhaupt nicht beachten sollen. Allerdings ließ sich ein respektloses Lachen vernehmen.

»Eine Kuh, sagen Sie?« fiel Karmasinow statt zu schweigen sofort ein. Seine Stimme wurde immer kreischender. »Über Krähen und Kühe zu reden ist etwas, dessen ich mich enthalten möchte, meine Herrschaften. Ich achte zu sehr jedes Publikum, um mir Vergleiche, wenn auch unschuldigster Art, zu erlauben; aber ich hatte geglaubt ...«

»Aber mein Herr, Sie sollten doch nicht gar zu sehr ...« rief jemand aus den hinteren Reihen.

»Indessen habe ich angenommen, daß man mich anhören würde, wenn ich die Feder niederlege und vom Leser Abschied nehme ...«

»Nein, nein, wir wollen zuhören, wir wollen hören!« ertönten endlich einige Stimmen aus den ersten Reihen.

»Lesen Sie, lesen Sie!« fielen einige begeisterte Damenstimmen ein, und schließlich brach auch ein Beifallsklatschen aus, das allerdings nur dünn und schwach war. Karmasinow lächelte schief und erhob sich von seinem Platz.

»Seien Sie überzeugt, Karmasinow, daß alle es sich sogar zur Ehre anrechnen ...« konnte sich selbst die Frau Adelsmarschall nicht enthalten zu bemerken.

»Herr Karmasinow«, erscholl auf einmal eine sehr frische, jugendliche Stimme aus der Tiefe des Saales. Der Rufer war ein sehr junger Lehrer der Kreisschule, ein hübscher, ruhiger und anständiger junger Mensch, der noch nicht lange in der Stadt wohnte. Er war sogar von seinem Platz aufgestanden. »Herr Karmasinow, wenn ich das Glück hätte, mich so zu verlieben, wie Sie das eben geschildert haben, dann hätte ich wahrhaftig nichts über meine Liebe in eine zum öffentlichen Vorlesen bestimmte Schrift aufgenommen ...«

Er wurde sogar ganz rot.

»Meine Herrschaften,« kreischte Karmasinow, »ich schließe. Ich lasse den Schluß fort und entferne mich. Erlauben Sie mir nur, die sechs letzten Zeilen vorzulesen.

»Ja, mein Freund, mein Leser, lebe wohl!« begann er sofort aus seinem Manuskript vorzutragen, ohne sich noch einmal in den Sessel zu setzen. »Lebe wohl, Leser! Ich dringe nicht einmal so sehr darauf, daß wir als Freunde voneinander scheiden: wozu sollte ich dich in der Tat belästigen? Schimpfe sogar über mich, oh, schimpfe soviel, wie du willst, wenn es dir nur irgendein Vergnügen macht. Das beste aber wäre, wenn wir einander für immer vergäßen. Und wenn Sie alle, alle, meine lieben Leser, jetzt vor mir auf die Knie fielen und mich mit Tränen in den Augen bitten würden: ›Schreibe, o schreibe für uns, Karmasinow – um des Vaterlandes willen, um der Nachwelt willen, um der Lorbeerkränze willen!‹ so würde ich auch dann, natürlich nach einem mit aller Höflichkeit ausgesprochenen Dank, Ihnen erwidern: ›Nein, genug haben wir uns schon miteinander abgemüht, meine lieben Landsleute, merci! Es ist Zeit, daß wir alle unseres Weges gehen! Merci, merci, merci!‹«

Karmasinow machte eine zeremonielle Verbeugung und begab sich, ganz rot, wie wenn man ihn abgekocht hätte, hinter die Kulissen.

»Es wird überhaupt keinem Menschen einfallen, vor dem auf die Knie zu fallen; eine wunderliche Phantasie!«

»Ist der eitel!«

»Das ist nur Humor«, versuchte ein Vernünftigerer aufzuklären.

»Nein, verschonen Sie uns mit solchem Humor!«

»Aber das ist doch eine Dreistigkeit, meine Herrschaften!«

»Na, wenigstens hat er jetzt endlich aufgehört.«

»Was die für eine Langeweile über uns bringen!«

Aber alle diese groben und von einem Mangel an Verständnis zeugenden Ausrufe der hinteren und nicht nur allein der hinteren Reihen wurden nun übertönt durch das Beifallklatschen des übrigen Publikums. Man rief Karmasinow hervor. Einige Damen, mit Julia Michajlowna und der Frau Adelsmarschall an der Spitze, drängten sich an der Bühne zusammen. In den Händen Julia Michajlownas erschien ein prächtiger Lorbeerkranz auf einem weißen, von einem anderen Kranz aus frischen Rosen umrahmten Samtkissen.

»Lorbeeren!« sagte Karmasinow mit einem feinen und etwas boshaften Lächeln. »Ich bin natürlich gerührt und nehme diesen im voraus fertiggestellten und noch nicht verwelkten Kranz mit lebhaftem Gefühl des Dankes an, aber ich versichere Ihnen, mesdames, ich bin auf einmal ein solcher Realist geworden, daß ich der Ansicht bin, die Lorbeeren wären in unserem Zeitalter in den Händen eines geschickten Koches weit mehr am Platz als in den meinigen ...«

»Ja, ein Koch ist nützlicher«, rief plötzlich jener Seminarist, der auch an der Sitzung bei Wirginskij teilgenommen hatte. Die Ordnung war gestört. Viele sprangen von ihren Plätzen auf, um die Zeremonie mit dem Lorbeerkranz besser sehen zu können.

»Für einen Koch würde ich jetzt noch drei Rubel zulegen«, fiel eine andere Stimme laut ein, sogar sehr laut und mit starkem Nachdruck.

»Ich auch!«

»Ich auch!«

»Ja, gibt es hier denn wirklich kein Büfett?«

»Meine Herren, das ist einfach Betrug ...«

Übrigens muß ich gestehen, daß alle diese zügellosen Subjekte sich immer noch stark vor unseren Würdenträgern und vor dem im Saale anwesenden Polizeikommissar fürchteten. Mit Mühe und Not gelang es in etwa zehn Minuten, wieder alle zu bewegen, sich ruhig hinzusetzen. Aber die frühere Ordnung war nicht wiederherzustellen.

Und gerade in dieses beginnende Chaos geriet der arme Stepan Trofimowitsch hinein ...

4

Ich war jedoch noch einmal zu ihm hinter die Kulissen gelaufen und teilte ihm dort außer mir in aller Hast mit, daß meiner Meinung nach alles vorloren sei und er am besten tun würde, überhaupt nicht aufzutreten, sondern sofort nach Hause zu fahren. Ich schlug ihm vor, diese plötzliche Abreise etwa mit einem Cholerineanfall zu begründen und erbot mich, meine Schleife abzulegen und mit ihm wegzugehen. Er war in diesem Augenblick bereits auf dem Wege zur Bühne begriffen, blieb plötzlich stehen, sah mich hochmütig von oben bis unten an und sagte feierlich:

»Aus welchem Grunde halten Sie mich denn, mein Herr, einer solchen unwürdigen und gemeinen Handlungsweise für fähig?«

Ich trat zurück. So sicher, wie zweimal zwei vier ist, war ich auch davon überzeugt, daß er von dort nicht ohne Katastrophe wieder zurückkommen würde. Während ich in vollkommener Niedergeschlagenheit dastand, fiel mir wieder die Gestalt des fremden Professors in die Augen, der nach Stepan Trofimowitsch auftreten sollte und vorhin immer die Faust in die Höhe gehoben und sie mit voller Wucht hatte niedersausen lassen. Er ging immer noch genau so auf und ab, war in Gedanken versunken und murmelte mit einem boshaften, triumphierenden Lächeln etwas vor sich hin. Irgendwie ganz ohne jede Absicht (wie wenn mich der Teufel geritten hätte) trat ich auch an ihn heran.

»Wissen Sie,« sagte ich, »viele Beispiele beweisen, daß, wenn ein Vortragender das Publikum mehr als zwanzig Minuten in Anspruch nimmt, kein Mensch mehr zuhört. Selbst Berühmtheiten können sich nicht eine halbe Stunde lang behaupten ...«

Er blieb plötzlich stehen und schien so beleidigt zu sein, daß er förmlich zu zittern begann. Ein maßloser Hochmut malte sich auf seinem Gesicht.

»Seien Sie unbesorgt«, murmelte er verächtlich und ging an mir vorbei. In diesem Augenblick erscholl im Saal die Stimme Stepan Trofimowitschs.

»Ach, mag euch alle der Teufel holen!« dachte ich und eilte in den Zuhörerraum.

Stepan Trofimowitsch hatte sich schon in den Sessel gesetzt, während die entstandene Unordnung noch nicht beigelegt war. Die Herrschaften in den vordersten Reihen empfingen ihn offenbar mit unfreundlichen Blicken. (Im Klub hatte man ihn in der letzten Zeit aus irgendeinem Grunde nicht mehr so gern und schätzte ihn bedeutend weniger als früher.) Übrigens war auch das schon ein Glück, daß nicht gezischt wurde. Seit dem gestrigen Tage hatte ich einen seltsamen Gedanken: ich glaubte, man würde ihn gleich bei seinem Erscheinen auspfeifen. Indessen wurde aber infolge der noch fortdauernden Unordnung nicht einmal sein Erscheinen sofort bemerkt. Und worauf konnte denn dieser Mensch überhaupt noch hoffen, wenn die Zuhörer sogar mit Karmasinow so umgesprungen waren? Er sah blaß aus; seit zehn Jahren schon hatte er nicht mehr zu einem großen Publikum gesprochen. Aus seiner Erregung und aus allen anderen Anzeichen, die mir an ihm so gut bekannt waren, begriff ich gleich mit vollständiger Klarheit, daß er sein jetziges Auftreten auch selbst als etwas wie eine Entscheidung seines Schicksals ansah. Und gerade das befürchtete ich am meisten. Dieser Mensch war mir teuer. Wie wurde mir aber zumute, als er den Mund auf tat, und ich seinen ersten Satz vernahm!

»Meine Herrschaften!« begann er plötzlich, wie wenn er sich zu allem entschlossen hätte, und dabei doch mit fast versagender Stimme. »Meine Herrschaften! Noch heute früh lag vor mir eins von jenen neuerdings hier verbreiteten gesetzwidrigen Blättchen, und zum hundertsten Male legte ich mir die Frage vor: worin besteht ihr Geheimnis?«

Der ganze Saal war mit einem Schlage still geworden, alle Blicke wandten sich zu ihm und manches Gesicht drückte sogar Angst aus. Man mußte es ihm lassen: er hatte es verstanden, gleich vom ersten Wort an das Interesse zu fesseln. Selbst hinter den Kulissen streckten sich Köpfe hervor; Liputin und Liamschin hörten beinah gierig zu. Julia Michajlowna winkte mich wieder mit der Hand zu sich heran.

»Bringen Sie ihn zum Schweigen, halten Sie ihn um jeden Preis zurück!« flüsterte sie mir erschrocken und aufgeregt zu. Ich zuckte nur mit den Achseln. War es denn überhaupt möglich, einen Menschen zurückzuhalten, der »sich entschlossen hatte«? Ach, ich habe Stepan Trofimowitschs Absicht verstanden!

»Aha, er spricht von den Flugblättern«, flüsterte man im Publikum; der ganze Saal geriet in unruhige Bewegung.

»Meine Herrschaften, ich habe dieses Rätsel gelöst. Das ganze Geheimnis ihrer Wirkung liegt in ihrer Dummheit!« (Seine Augen funkelten.) »Ja, meine Herrschaften! Wäre das eine beabsichtigte, aus Berechnung gekünstelte Dummheit – dann wäre das Ganze sogar genial! Aber man muß ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie imitieren nichts. Das ist die nackteste, einfältigste, kurzsichtigste Dummheit – c'est la bêtise dans son essence la plus pure, quelque chose comme un simple chimique. Wäre das alles auch nur um eine Spur verständiger ausgedrückt worden, so würde jedermann sofort die ganze Armseligkeit dieser kurzsichtigen Dummheit in den Flugblättern erkennen. Aber jetzt stutzen alle erstaunt: kein Mensch mag glauben, daß diese Blättchen wirklich so ursprünglich dumm sind. ›Es kann nicht sein, daß nichts weiter dahintersteckt‹, sagt ein jeder und sucht nach einem Geheimnis, möchte es zwischen den Zeilen finden – und schon ist die gewünschte Wirkung erzielt! Oh, noch nie war die Dummheit so großartig belohnt worden, obwohl sie es schon des öfteren verdient hätte ... Denn, en parenthèse, die Dummheit ist den Geschicken der Menschheit genau so nützlich wie das höchste Genie ...«

»Das sind Witze aus den vierziger Jahren!« erscholl eine übrigens ziemlich bescheidene Stimme. Aber gleich darauf brach ein Sturm los; es wurde gelärmt und geschrien.

»Meine Herrschaften, hurra! Ich schlage einen Toast vor, einen Toast für die Dummheit!« rief Stepan Trofimowitsch, der nun in vollständiger Raserei den ganzen Saal herausforderte.

Ich lief zu ihm hin, wie wenn ich ihm Wasser eingießen wollte.

»Stepan Trofimowitsch, lassen Sie das, Julia Michajlowna bittet Sie dringend ...«

»Nein, lassen Sie mich, Sie müßiger junger Mann!« schrie er mich aus voller Kehle an. Ich lief davon. »Messieurs!« fuhr er fort. »Wozu die Aufregung, wozu die Entrüstungsschreie, die ich höre: Ich bin mit dem Ölzweige hergekommen! Ich bringe Ihnen das letzte Wort, denn ich habe in dieser Sache das letzte Wort zu sagen, und wir werden uns versöhnen.«

»Schluß! Raus!« riefen die einen.

»Still, lassen Sie ihn doch reden, lassen Sie ihn sich aussprechen!« brüllte der andere Teil der Zuhörer. Besonders aufgeregt war der junge Lehrer, der, nachdem er einmal den Mut zum Reden gefunden hatte, jetzt offenbar nicht mehr aufhören konnte.

»Messieurs! Das letzte Wort in dieser Sache ist: Allverzeihung. Ich bin ein alter Mann, der sein Leben bereits hinter sich hat, und ich erkläre hier feierlichst, daß der Geist des Lebens heute genau so wie früher weht, und die lebendige Kraft in der jungen Generation nicht versiegt ist. Der Enthusiasmus der modernen Jugend ist ebenso rein und leuchtend wie die Begeisterung unserer Zeiten. Es geschah nur eins: die Ziele haben sich geändert; eine Schönheit ist durch eine andere ersetzt worden! Der ganze Zweifel hegt nur darin: was ist schöner: Shakespeare oder ein Paar Stiefel, ein Raffael oder Petroleum?«

»Das ist eine Denunziation!« brummten einige unter den Zuhörern.

»Kompromittierende Fragen!«

»Agent-provocateur!«

»Ich aber erkläre,« kreischte Stepan Trofimowitsch, der auf dem Gipfel der Erregung angelangt war, »ich erkläre, daß Shakespeare und Raffael höher stehen als die Bauernbefreiung, höher als die Nationalität, höher als der Sozialismus, höher als die junge Generation, höher als die Chemie, höher fast als die ganze Menschheit, denn sie sind die Frucht, die wahre Frucht der ganzen Menschheit und vielleicht die höchste Frucht, die erzielt werden kann! Sie sind eine bereits erreichte ideale Form der Schönheit, ohne die, wenn sie nicht erreicht wäre, ich vielleicht nicht einmal würde leben mögen ... O mein Gott!« rief er und schlug die Hände zusammen, »vor zehn Jahren rief ich genau so wie jetzt in Petersburg von einem Podium dieselben Worte, und genau so wie jetzt hat man mich nicht verstanden und gelacht und gezischt! Kurzsichtige Menschen, woran mangelt es euch, daß ihr kein Verständnis dafür aufbringen könnt? Ja, wißt ihr denn, wißt ihr denn, daß die Menschheit ohne die Engländer sehr wohl bestehen kann, und auch ohne Deutschland und bestimmt auch ohne Rußland und ohne Wissenschaften und selbst ohne Brot – nur ohne die Schönheit nicht, denn dann wäre auf der Welt überhaupt nichts mehr anzufangen! Hier liegt das ganze Geheimnis, hier liegt die ganze Geschichte! Selbst die Wissenschaft kann nicht einen Augenblick lang ohne die Schönheit bestehen, – wißt ihr das, ihr, die ihr lacht? – Ohne die Schönheit verwandelt sich diese Wissenschaft in Lakaientum, und dann kann man nicht einmal eine Nadel erfinden! ... Ich gebe nicht nach!« rief er zusammenhangslos zum Schluß und schlug aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

Aber während er so sinnlos und beinah verworren kreischte, wurde auch die Ordnung im Saal immer mehr und mehr gestört. Viele sprangen von ihren Plätzen auf, und manche hatten sich nach vorn, näher zur Bühne herangedrängt. Alles das ging viel schneller vor sich, als ich es beschreibe, und es war keine Zeit da, um Maßregeln zu ergreifen. Und vielleicht wollte man es auch nicht.

»Ihr habt gut reden, ihr Glückspilze, da ihr alles fertig habt und fertig bekommt!« brüllte dicht vor der Bühne der bereits erwähnte Seminarist und fletschte vergnügt die Zähne gegen Stepan Trofimowitsch. Dieser bemerkte ihn und sprang an den Rand heran.

»Habe ich nicht soeben selbst erklärt, daß der Enthusiasmus bei der jungen Generation ebenso rein und leuchtend ist, wie er früher war, und daß sie nur deshalb zugrunde geht, weil sie sich über die Formen des Schönen irrt? Genügt euch das nicht? Und wenn ihr bedenkt, daß dies alles ein gebeugter, schwer gekränkter Vater gesagt hat, kann man dann wirklich, o ihr Kurzsichtigen – kann man da wirklich, was Unparteilichkeit und Ruhe der Anschauung anbetrifft, einen höheren Standpunkt einnehmen? ... Ihr Undankbaren ... Ihr Ungerechten ... Weshalb, weshalb wollt ihr euch mit mir nicht versöhnen? ...«

Und er begann plötzlich krampfhaft zu schluchzen. Mit bloßen Fingern wischte er sich die herabrinnenden Tränen weg ... Seine Schultern und seine Brust bebten und zitterten ... Er hatte alles in der Welt vergessen.

Ein entschiedener Schreck ergriff das Publikum; fast alle erhoben sich von ihren Plätzen. Auch Julia Michajlowna sprang hastig auf, faßte ihren Gemahl unter den Arm und hob ihn aus seinem Sessel ... Der Skandal war ungeheuerlich groß.

»Stepan Trofimowitsch!« brüllte lustig der Seminarist. »Hier in der Stadt und in der Umgegend treibt sich jetzt der Sträfling Fedka umher, der aus Sibirien entwichen ist. Er raubt und hat erst kürzlich wieder einen Mord begangen. Gestatten Sie die Frage, wenn Sie ihn vor fünfzehn Jahren nicht zum Militär verkauft hätten, um eine Spielschuld zu bezahlen, das heißt, wenn Sie ihn nicht einfach im Kartenspiel verloren hätten, wäre er auch dann ins Zuchthaus geraten? Würde er auch dann Menschen morden, wie er es jetzt im Kampfe ums Dasein tut? Was können Sie mir darauf erwidern, Herr Ästhetiker?«

Ich lehne es ab, die Szene zu schildern, die nun diesen Worten folgte. Zunächst erscholl ein rasendes Beifallklatschen. Es applaudierten nicht alle, sondern nur etwa der fünfte Teil der im Saale Anwesenden. Aber diese klatschten eben wie toll. Das ganze übrige Publikum strömte dem Ausgange zu; aber da der applaudierende Teil der Anwesenden immer noch nach vorn zur Bühne hindrängte, so entstand eine allgemeine Verwirrung. Die Damen kreischten, einige junge Mädchen fingen an zu weinen und baten, man sollte sie nach Hause bringen. Lembke stand neben seinem Sessel und blickte sich immer wieder und wieder mit ganz wunderlichem Gesichtsausdruck um. Julia Michajlowna hatte nun vollends jede Fassung verloren – zum ersten Male seit ihrem Auftreten in unserer Stadt. Was aber Stepan Trofimowitsch anbetrifft, so schien er im ersten Augenblick von den Worten des Seminaristen buchstäblich niedergeschmettert zu sein; aber auf einmal hob er beide Arme in die Höhe, wie wenn er sie über das Publikum hinstrecken wollte und heulte auf:

»Ich schüttle den Staub von meinen Füßen und verfluche ... Schluß ... alles zu Ende ...«

Und er wandte sich um und lief hinter die Kulissen, wobei er noch mit den Fäusten herumfuchtelte und drohte.

»Er hat die Gesellschaft beleidigt! ... Werchowenskij! ... Her mit ihm! ...« brüllten die Rasenden. Man wollte ihm sogar nachstürzen und ihn einholen. Die Leute zu beruhigen war unmöglich, wenigstens in diesem Augenblick. Da plötzlich schlug die endgültige Katastrophe wie eine Bombe in die Versammlung ein und explodierte in deren Mitte: der dritte Vorleser, eben jener Mensch, der hinter den Kulissen immer die Faust geschwungen hatte, kam plötzlich auf die Bühne gelaufen.

Er machte nun vollends den Eindruck eines Verrückten. Mit einem breiten, triumphierenden Lächeln voll maßlosen Selbstbewußtseins sah er in den aufgeregten Saal hinunter und schien sich selbst über die Unordnung zu freuen. Es berührte ihn gar nicht, daß er in einem solchen Wirrwarr lesen sollte; im Gegenteil: er hatte offenbar sein Vergnügen daran. Das war so offensichtlich, daß er sofort die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

»Was ist denn das schon wieder?« erschollen Fragen. »Wer ist das? Was will er sagen? Still!«

»Meine Herrschaften!« schrie der ganz am Rande der Bühne stehende Redner aus voller Kehle und fast mit einer ebenso kreischenden Stimme wie Karmasinow, nur ohne das feudale Lispeln: »Meine Herrschaften! Vor zwanzig Jahren, am Vorabend eines Krieges mit halb Europa, stand Rußland in den Augen aller Staatsgeheimräte als ein Ideal da! Die Literatur tat Dienst in der Zensur; auf den Universitäten wurde der Paradeschritt beigebracht, die Armee hatte sich in ein Ballett verwandelt, das Volk aber zahlte Steuern und schwieg unter der Knute der Leibeigenschaft. Der Patriotismus war nichts mehr als die Erpressung von Schmiergeldern von Lebenden und Toten. Wer sich nicht bestechen ließ, galt als Rebell, er störte die Harmonie. Ganze Birkenhaine wurden vernichtet, um für den Ordnungsdienst benutzt zu werden. Europa zitterte. Aber noch niemals war Rußland im Laufe der ganz verfahrenen tausend Jahre seines Bestehens so tief gesunken und in solcher Schmach und Schande gewesen ...«

Er hob die Faust in die Höhe, fuchtelte damit wild und drohend über seinem Kopfe und ließ sie dann auf einmal wie rasend niederfallen, wie wenn er einen Gegner niederschmetterte. Ein unbeschreibliches Geheul erscholl von allen Seiten, und ein ohrenbetäubendes Händeklatschen erfüllte den Saal. Nun applaudierte schon beinah die Hälfte der Anwesenden; selbst die Harmlosesten ließen sich hinreißen: Rußland wurde hier öffentlich vor allem Volke in Schmutz und Staub gezogen, wie sollte man da nicht vor Entzücken brüllen?

»Das ist richtig! Das ist was anderes! Hurra! Nein, das ist schon keine Ästhetik mehr!«

Der Redner fuhr begeistert fort:

»Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Die Universitäten sind geöffnet und ihre Zahl hat sich vergrößert. Der Paradeschritt ist zur Legende geworden, der Armee fehlen Tausende von Offizieren. Die Eisenbahnen haben alle Kapitalien verschlungen und Rußland wie mit einem Spinngewebe überzogen, so daß man in etwa fünfzehn Jahren vielleicht wirklich irgendwohin wird fahren können. Die Brücken brennen nur selten ab, während die Städte ihre Feuersbrünste regelmäßig erleben, der Reihe nach in festgesetzter Ordnung und nur während einer bestimmten Saison. In den Gerichten werden salomonische Urteile gefällt, und die Geschworenen nehmen nur im Kampfe ums Dasein Schmiergelder an, nämlich dann, wenn sie am Hungertuche nagen. Die ehemaligen Leibeigenen sind freigelassen und werden jetzt, anstatt von Gutsbesitzern, von den eigenen Standesgenossen geprügelt. Ganze Meere und Ozeane von Branntwein werden zur Unterstützung des Budgets ausgetrunken und in Nowgorod ist gegenüber der alten, nutzlosen Sophienkathedrale feierlich eine kolossale Bronzekugel aufgestellt worden zur Erinnerung an das tausendjährige Jubiläum der Unvernunft und Unordnung. Europa macht wieder ein finsteres Gesicht und beginnt von neuem, unruhig zu werden ... Fünfzehn Jahre der Reformen! Und doch war Rußland noch nie, selbst nicht in den lächerlichsten Zeiten seines Tohuwabohus, so tief gesunken ...«

Die letzten Worte waren bereits im Gebrüll der Menge untergegangen. Man sah nur, wie der Redner wieder die Faust in die Höhe hob und sie nochmals siegreich niedersausen ließ. Das Entzücken und die Begeisterung überschritten alle Grenzen: man heulte, klatschte, und manche Damen riefen sogar: »Genug! Etwas Besseres können Sie gar nicht mehr sagen!« Man war wie berauscht. Der Redner überblickte sie alle und schmolz gewissermaßen im Gefühl seines Triumphs. Ich sah flüchtig, daß Lembke in unbeschreiblicher Aufregung jemandem irgendeinen Befehl gab. Julia Michajlowna, ganz blaß, redete hastig auf den Fürsten ein, der sich ihr im Laufschritt genähert hatte ... Aber in diesem Augenblick kam eine ganze Schar von etwa sechs Männern, von mehr oder weniger amtlichem Charakter, aus den Kulissen auf die Bühne gestürzt; sie ergriffen den Redner und zogen ihn mit sich aus dem Saal fort. Ich verstehe gar nicht, wie es ihm möglich war, sich von ihnen loszureißen; aber es gelang ihm. Er sprang noch einmal bis an den Rand der Bühne vor und nahm die Gelegenheit wahr, um noch einmal, so laut er konnte, unter kraftvollem Faustschwingen, auszurufen:

»Indessen war Rußland noch nie so tief gesunken ...«

Aber da zog man ihn schon von neuem fort. Ich sah, wie etwa fünfzehn Mann hinter die Kulissen eilten, um ihn zu befreien. Aber sie liefen nicht über die Bühne, sondern von der Seite, wobei sie die leichte Barriere zerbrachen, so daß diese schließlich auch umfiel ... Ich sah dann noch (und traute meinen Augen nicht), daß plötzlich von irgendwoher die Studentin, die Schwester Wirginskijs auf die Bühne sprang. Sie war noch ebenso gekleidet, noch ebenso rot, noch ebenso wohlgenährt und hielt noch dieselbe Papierrolle unter dem Arm. Zwei oder drei Frauen umgaben sie, und ihr folgte ihr Todfeind, der Gymnasiast. Ich hatte gerade noch Zeit, den ersten Satz zu hören, den sie ausrief. Sie schrie:

»Meine Herrschaften, ich bin hergekommen, um von den Leiden der unglücklichen Studenten zu sprechen und sie überall zum Protest aufzurufen.«

Aber ich lief schon fort. Meine Schleife steckte ich in die Tasche und gelangte durch einen mir bekannten hinteren Ausgang aus dem Hause auf die Straße. Vor allem begab ich mich natürlich zu Stepan Trofimowitsch.


 << zurück weiter >>