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Sechstes Kapitel

Die Nacht voller Mühe

1

Wirginskij hatte im Laufe des Tages etwa zwei Stunden darauf verwandt, um bei allen »Unsrigen« vorzusprechen und ihnen mitzuteilen, daß Schatow bestimmt keine Anzeige erstatten würde, weil zu ihm seine Frau zurückgekehrt sei und ein Kind bekommen habe. »Auf Grund der Kenntnis des menschlichen Herzens« sei keineswegs anzunehmen, daß er in diesem Augenblick gefährlich sein könne. Aber zu seiner unangenehmen Überraschung hatte er fast niemand außer Erkel und Liamschin zu Hause angetroffen. Erkel hörte ihn schweigend an, sah ihm klar in die Augen und antwortete auf die direkte Frage, ob er nun um sechs Uhr hingehen werde oder nicht, mit dem heitersten Lächeln, daß er »selbstverständlich hingehen« werde.

Liamschin lag anscheinend sehr ernstlich erkrankt im Bett. Er hatte sich mit dem Kopf in die Decke eingehüllt. Als Wirginskij eintrat, erschrak er maßlos, und sobald dieser zu reden anfing, begann er, ihm mit den Händen unter der Decke hervor abwehrende Bewegungen zu machen und bat flehentlich, man möchte ihn in Ruhe lassen. Indessen hörte er die Nachrichten über Schatow aufmerksam an und war durch die Mitteilung, daß Wirginskij keinen zu Hause angetroffen hatte, aus irgendeinem Grunde sehr betroffen. Es stellte sich heraus, daß er (durch Liputin) bereits vom Tode Fedkas gehört hatte, und er erzählte nun Wirginskij eilig und stammelnd alles, was er über diesen Vorfall wußte, wodurch er ihn seinerseits überraschte. Auf die direkte Frage Wirginskijs aber: »Soll man nun hingehen oder nicht?« begann er wieder unter heftigem Händefuchteln zu flehen, man möge ihn, da er nichts wisse, »in Ruhe lassen«.

Als Wirginskij nach Hause zurückkehrte, befand er sich in starker Erregung und Niedergeschlagenheit. Es bedrückte ihn schwer, daß er die ganze Angelegenheit vor seiner Familie geheim halten mußte. Er war es gewohnt, seiner Frau alles mitzuteilen, und wenn in seinem entzündeten Gehirn in diesem Augenblick nicht ein neuer Gedanke, ein gewisser, neuer, versöhnender Plan für das weitere Vorgehen aufgeblitzt wäre, dann hätte er sich möglicherweise wie Liamschin ins Bett gelegt. Aber dieser neue Gedanke verlieh ihm wieder Kraft und noch mehr: er wartete jetzt geradezu mit Ungeduld auf das Kommen der festgesetzten Stunde und brach sogar früher, als es not tat, zum bezeichneten Ort auf.

Das war ein sehr düsterer Ort am Ende des riesigen Stawroginschen Parkes. Ich bin später einmal absichtlich dahingegangen, um ihn mir anzusehen. Welch finsteren und unheimlichen Eindruck mußte er an jenem rauhen Herbstabend gemacht haben! Hier begann der alte fiskalische Wald; riesige alte Fichten hoben sich als dunkle, undeutliche Flecke in der Finsternis ab. Diese Finsternis war so groß, daß man einander kaum auf zwei Schritt erkennen konnte. Aber Piotr Stepanowitsch, Liputin und dann auch Erkel brachten Laternen mit sich. Gott weiß aus welchem Grunde war hier vor undenklicher Zeit aus rohen, unbehauenen Steinen irgendeine ziemlich lächerlich aussehende Grotte errichtet worden. Der Tisch und die Bänke in ihrem Innern waren schon längst verfault und auseinandergefallen. In einer Entfernung von etwa zweihundert Schritten rechts von der Grotte endete der dritte Parkteich. Die drei Teiche, die im Stawroginschen Garten angelegt waren, zogen sich, einer nach dem andern über eine Werst weit hin bis dicht an das andere Ende des Parks. Es war kaum anzunehmen, daß irgendein Lärm, ein Schrei oder selbst ein Schuß zu den Bewohnern des fast verlassenen Stawroginschen Hauses hätte dringen können. Nachdem am vorhergehenden Tage Nikolaj Wsewolodowitsch abgereist war, und auch Alexej Jegorowitsch das Haus verlassen hatte, blieben im ganzen Gutsgebäude nur noch fünf oder sechs Bewohner von sozusagen invalider Beschaffenheit zurück. Jedenfalls konnte man mit der größten Wahrscheinlichkeit annehmen, daß, wenn auch einer von diesen einsamen Menschen einen Schrei oder einen Hilferuf hören sollte, dies in ihm doch nichts weiter als Furcht erregen würde, so daß man bestimmt damit rechnen durfte, daß keiner von ihnen sich vom warmen Ofen oder der ebenfalls warmen Ofenbank wegrühren würde, um dem Schreienden zu Hilfe zu eilen.

Zwanzig Minuten nach sechs waren fast alle mit Ausnahme des zu Schatow abkommandierten Erkel an Ort und Stelle. Piotr Stepanowitsch hatte dieses Mal nicht auf sich warten lassen; er kam mit Tolkatschenko. Dieser machte ein finsteres, ernstes Gesicht. Seine ganze gekünstelte, dreiste und prahlerische Entschlossenheit war vollkommen verschwunden. Er wich fast gar nicht von Piotr Stepanowitschs Seite und schien ihm mit einemmal grenzenlos ergeben zu sein. Er flüsterte ihm häufig und hastig etwas zu, aber Werchowenskij antwortete ihm entweder gar nicht oder murmelte nur ärgerlich etwas, um von ihm loszukommen.

Schigaliow und Wirginskij waren sogar etwas früher erschienen als Piotr Stepanowitsch und traten sogleich bei seinem Erscheinen in tiefem und offenbar absichtlichem Schweigen ein wenig zur Seite. Piotr Stepanowitsch hob seine Laterne in die Höhe und musterte sie mit ungenierter und beleidigender Aufmerksamkeit. »Sie wollen reden«, ging es ihm schnell durch den Kopf.

»Ist Liamschin nicht da?« fragte er Wirginskij. »Wer sagte doch, daß er krank sei?«

»Ich bin hier«, antwortete Liamschin, der plötzlich hinter einem Baume hervortrat. Er trug einen warmen Überzieher und hatte sich fest in ein Plaid gewickelt, so daß es selbst mit der Laterne sehr schwer war, sein Gesicht zu erkennen.

»Also fehlt nur noch Liputin?«

Aber auch Liputin trat jetzt schweigend aus der Grotte heraus. Piotr Stepanowitsch hob die Laterne wieder in die Höhe.

»Weshalb haben Sie sich da verkrochen? Warum sind Sie nicht gleich herausgekommen?«

»Ich nehme an, daß wir uns noch das Recht ... uns nach Gutdünken zu bewegen, bewahrt haben«, murmelte Liputin, ohne übrigens selbst recht zu wissen, was er sagen wollte.

»Meine Herren,« begann Piotr Stepanowitsch mit erhobener Stimme, indem er zum erstenmal das bisherige halbe Geflüster unterbrach und dadurch einen starken Eindruck hervorrief, »Sie wissen doch, glaube ich, recht wohl, daß wir jetzt keinen Grund mehr haben, noch lang und breit zu schwatzen. Gestern ist alles klar besprochen und wiederholt worden. Es klang eindeutig genug. Aber vielleicht hat jemand etwas zu sagen? Ich vermute das angesichts der Miene, die verschiedene von Ihnen machen. In diesem Falle bitte ich die Betreffenden, es möglichst schnell zu tun. Hol's der Teufel, wir haben wenig Zeit, Erkel kann jeden Augenblick mit ihm kommen ...«

»Er wird ihn unbedingt hierherbringen«, fügte Tolkatschenko aus irgendeinem Grunde hinzu.

»Wenn ich nicht irre, wird zuerst die Übergabe der Druckerei stattfinden?« erkundigte sich Liputin, der auch jetzt offenbar gar nicht zu wissen schien, warum er die Frage stellte.

»Aber selbstverständlich! Die Sachen dürfen doch nicht verloren gehen«, erwiderte Piotr Stepanowitsch, indem er wieder die Laterne hob und Liputins Gesicht beleuchtete. »Indessen sind wir ja gestern übereingekommen, daß die tatsächliche Übernahme nicht nötig ist. Er soll Ihnen nur den Fleck zeigen, wo er die Druckerei vergraben hat; ausgraben können wir sie dann selbst. Ich weiß, daß es hier irgendwo zehn Schritte von einer Ecke dieser Grotte entfernt ist ... Aber, hol's der Teufel, wie haben Sie das nur vergessen können, Liputin? Es war doch verabredet worden, daß Sie ihm allein entgegengehen und wir erst nachher herauskommen sollten! ... Es ist sonderbar, daß Sie eine solche Frage stellen. Oder tun Sie das mit irgendeiner Absicht?«

Liputin schwieg mit finsterer Miene. Alle verstummten. Der Wind schaukelte die Wipfel der Fichten.

»Ich hoffe jedenfalls, meine Herren, daß ein jeder seine Pflicht erfüllen wird«, rief Piotr Stepanowitsch heftig und ungeduldig.

»Ich weiß, daß zu Schatow seine Frau gekommen ist und ein Kind geboren hat«, erklärte auf einmal Wirginskij, sich überhastend, aufgeregt, kaum noch die Worte zu Ende sprechend und heftig gestikulierend. »Auf Grund der Kenntnis des menschlichen Herzens ... kann man überzeugt sein, daß er jetzt nicht denunzieren wird ... weil er glücklich ist ... Ich bin heute bei allen gewesen, habe aber keinen angetroffen ... so daß es jetzt vielleicht gar nicht mehr nötig ist ...«

Er hielt inne: sein Atem stockte und versagte.

»Wenn Sie, Herr Wirginskij, auf einmal glücklich geworden wären,« erwiderte Piotr Stepanowitsch, indem er auf ihn zutrat, »würden Sie dann – nicht die Denunziation, davon ist nicht die Rede – sondern irgendeine gewagte, von staatsbürgerlicher Moral getragene Heldentat aufschieben? Eine Tat, die Sie sich vor dem Eintreten Ihres Glücks vorgenommen und die Sie trotz der Gefahr, das Glück zu verlieren, für Ihre Pflicht und Schuldigkeit gehalten hätten?«

»Nein, ich würde sie nicht aufschieben! Unter keinen Umständen, für keinen Preis!« erwiderte mit einem furchtbar sinnlosen Eifer Wirginskij, der auf einmal ganz in Bewegung geriet.

»Sie hätten es vorgezogen, lieber wieder unglücklich als ein Schuft zu werden?«

»Ja, ja ... Ich würde sogar im Gegenteil ... lieber ein vollkommener Schuft sein wollen ... das heißt, nein ... allerdings gar nicht ein Schuft, sondern im Gegenteil, lieber vollkommen unglücklich, als ein Schuft.«

»Nun, so wissen Sie denn, daß Schatow diese Denunziation für eine von staatsbürgerlicher Moral diktierte Heldentat hält. Das ist seine höchste Überzeugung, und den Beweis dafür haben Sie darin, daß er vor der Behörde selbst zum Teil eine gewisse Gefahr läuft, obwohl man ihm natürlich für die Anzeige vieles verzeihen wird. So ein Mensch wird sich durch nichts von seinem Vorhaben abbringen lassen. Kein Glück wird seine Überzeugung überwinden und verdrängen können. Schon einen Tag später wird er die Unterlassung bereuen, sich Vorwürfe machen, hingehen und seine frühere Absicht doch ausführen. Außerdem sehe ich überhaupt kein Glück darin, daß seine Frau nach einer dreijährigen Trennung wieder zu ihm gekommen ist, um ihm ein Kind von Stawrogin zu gebären.«

»Aber niemand hat ja die abgefaßte Denunziation gesehen«, erklärte auf einmal mit großem Nachdruck Schigaliow.

»Ich habe sie gesehen,« rief Piotr Stepanowitsch, »sie ist vorhanden, und das ganze Gerede jetzt ist furchtbar dumm, meine Herren!«

»Und ich,« brauste plötzlich Wirginskij auf, »ich protestiere ... ich protestiere aus aller Kraft! ... Ich will ... Folgendes will ich: ich will, daß wir alle, sobald er kommt, heraustreten und ihn alle fragen. Wenn es wahr ist, und er bereut es und gibt uns sein Ehrenwort, dann müssen wir ihn loslassen. Jedenfalls aber verlange ich, daß wir ihn richten; wir wollen rechtmäßig vorgehen. Und nicht uns erst alle verstecken und dann über ihn herfallen.«

»Auf ein Ehrenwort hin den Erfolg der gemeinsamen Sache riskieren, das ist der Gipfel der Torheit! Hol's der Teufel, wie dumm ist das jetzt alles, meine Herren, und was für eine sonderbare Rolle Sie jetzt plötzlich auf sich nehmen, jetzt im Augenblick der Gefahr?«

»Ich protestiere, ich protestiere«, widerholte Wirginskij.

»Schreien Sie wenigstens nicht so, sonst werden wir das Signal nicht hören. Schatow, meine Herren ... (weiß der Teufel, wie ausgesprochen dumm das jetzt ist)! Ich sagte Ihnen bereits, daß Schatow Slawophile ist, das heißt einer der dümmsten Menschen ... Übrigens, zum Kuckuck, das ist ja ganz gleichgültig und wir können darauf pfeifen! Sie verwirren mich nur ganz! ... Schatow, meine Herren, war ein verbitterter Mensch, und da er immerhin, ob er es wollte oder nicht, zum Bunde gehörte, so habe ich bis zum letzten Augenblick gehofft, daß man ihn schließlich doch noch einmal zum Besten der gemeinsamen Sache verwenden können werde, und zwar gerade durch die Ausnutzung seiner Verbitterung. Ich habe ihm kein Haar gekrümmt, ich habe ihn geschont, trotz der unzweideutigsten Vorschriften ... ich habe ihn hundertmal mehr geschont, als er es verdiente! Aber nun hat er uns zu guter Letzt doch noch denunziert; na ja, hol's der Teufel, erledigt! ... Aber versuche jetzt einer von Ihnen, sich zu drücken! Keiner von Ihnen ist berechtigt, die andern im Stich zu lassen! Sie können ihn küssen, wenn Sie wollen, aber ihm auf sein Ehrenwort hin die gemeinsame Sache ausliefern, das dürfen Sie keinesfalls! Dazu haben Sie gar kein Recht! So handeln nur Schweine und von der Regierung bestochene Spitzel!«

»Wer ist denn hier von der Regierung bestochen?« zischte Liputin durch die Zähne.

»Vielleicht auch Sie. Sie würden besser tun zu schweigen, Liputin. Sie reden ja nur, weil Sie gewohnt sind zu reden. Bestechlich, meine Herren, sind alle diejenigen, die angesichts der Gefahr feige werden. Aus Furcht findet sich immer ein Dummkopf, der im letzten Augenblick hinläuft und schreit: ›Ach, verzeiht mir, ich werde euch alle andern verkaufen!‹ Aber Sie müssen wissen, meine Herren, daß man Sie jetzt für keine Denunziation mehr begnadigen wird. Wenn man Ihnen auch gerichtlich eine Milderung der Strafe um zwei Grade bewilligen sollte, so bleibt einem jeden von Ihnen der Weg nach Sibirien doch nicht erspart, und außerdem werden Sie auch dem anderen Schwerte nicht entrinnen. Und das andere Schwert ist viel schärfer als das der Regierung.«

Piotr Stepanowitsch war wütend und hatte manches Überflüssige gesagt. Schigaliow trat fest drei Schritte an ihn heran.

»Seit dem gestrigen Abend habe ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen«, begann er überzeugt und methodisch, wie er immer sprach. (Ich glaube, wenn unter ihm die Erde eingestürzt wäre, so hätte er auch dann den Ton seiner Stimme nicht verstärkt und keine einzige Note in der Methodik seiner Ausführungen abgeändert.) »Nach reiflicher Überlegung kam ich zu der Überzeugung, daß der geplante Mord nicht nur allein einen Verlust kostbarer Zeit bedeutet, die zur Erreichung wichtiger und näherliegender Ziele verwendet werden könnte. Nein, überdies stellt dieser Mord noch jenes verderbliche Abweichen von dem normalen Wege dar, das bekanntlich der Sache stets den größten Schaden zugefügt und ihren Erfolg auf Jahrzehnte hinausgeschoben hat, da man sie dem Einflusse leichtfertiger Menschen und politischer Ränkespinner auslieferte, statt sie von reinen Sozialisten leiten zu lassen. Ich bin hierhergekommen, einzig und allein, um gegen das beabsichtigte Unternehmen zu protestieren, Sie alle zu belehren und mich dann diesem Augenblick, den Sie, ich weiß nicht warum, den Augenblick Ihrer Gefahr nennen, zu entziehen. Ich entferne mich nicht aus Furcht vor dieser Gefahr und nicht aus Sympathie für Schatow, den ich ganz und gar nicht küssen möchte, sondern einzig und allein, weil dieses ganze Unternehmen von Anfang bis zu Ende meinem Programm buchstäblich entgegengesetzt ist. Was nun eine Denunziation oder eine Bestechung meiner Person durch die Regierung anbetrifft, so können Sie ganz beruhigt sein: es wird meinerseits keine Denunziation erfolgen.«

Er drehte sich um und ging davon.

»Hol's der Teufel, er wird den beiden begegnen und Schatow warnen!« rief Piotr Stepanowitsch und zog seinen Revolver heraus. Man hörte das Knacken des aufgespannten Hahnes.

»Sie können überzeugt sein,« erwiderte Schigaliow, sich noch einmal umwendend, »daß ich, wenn ich Schatow wirklich begegnen sollte, ihn vielleicht noch einmal grüßen, ihn aber nicht warnen werde.«

»Wissen Sie aber, daß Sie dieses Verhalten möglicherweise zu büßen haben werden, Sie, Herr Fourier?«

»Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich nicht Fourier bin. Indem Sie mich mit diesem süßlichen, abstrakten Trottel in einen Topf werfen, beweisen Sie nur, daß Ihnen mein Manuskript, obwohl Sie es in den Händen gehabt haben, doch völlig unbekannt geblieben ist. Und was Ihre Rache anbetrifft, so will ich Ihnen sagen, daß Sie den Hahn ganz zwecklos gespannt haben. In diesem Augenblick wäre das für Sie durchaus nicht vorteilhaft. Wenn Ihre Drohung aber für morgen oder für übermorgen gilt, so werden Sie dadurch, daß Sie mich erschießen, wiederum nichts weiter für sich gewinnen als überflüssige Sorgen und Mühen. Denn wenn Sie mich auch töten, so werden Sie über kurz oder lang doch auf mein System zurückgreifen. Leben Sie wohl.«

In diesem Augenblick ertönte in einer Entfernung von etwa zweihundert Schritten von der andern Seite des Teiches her ein Pfiff. Liputin antwortete der gestrigen Verabredung gemäß sofort ebenfalls mit einem gleichen Laut. (Zu diesem Zwecke hatte er sich, da er sich auf seinen ziemlich zahnlosen Mund nicht verlassen konnte, schon am Morgen auf dem Markt für eine Kopeke eine Tonpfeife gekauft.) Erkel hatte Schatow unterwegs bereits darauf aufmerksam gemacht, daß gepfiffen werden würde, so daß dieser auf keinen argwöhnischen Gedanken kam.

»Seien Sie unbesorgt, ich werde um die beiden herumgehen, und sie werden mich überhaupt nicht bemerken«, erklärte Schigaliow in nachdrücklichem Flüsterton und begab sich dann ohne Eile, und ohne seinen Schritt zu beschleunigen, durch den dunklen Park endgültig nach Hause.

Jetzt ist es vollständig bis in die kleinsten Einzelheiten hinein bekannt, wie dieses schreckliche Ereignis sich abgespielt hatte. Zuerst trat Liputin dem ankommenden Erkel und Schatow dicht an der Grotte entgegen. Schatow grüßte ihn nicht und reichte ihm auch die Hand nicht, sondern sagte sofort eilig und laut:

»Nun, wo ist denn Ihr Spaten, und haben Sie denn nicht noch eine zweite Laterne mitgebracht? Aber haben Sie doch keine Angst, hier herum ist keine Menschenseele, und in Skworeschniki würde man nichts hören, selbst wenn hier Kanonen schießen sollten! Hier ist es, hier, an dieser Stelle! ...«

Und er stieß mit dem Fuß auf die Erde, wirklich genau zehn Schritte von einer hinteren Ecke der Grotte, die dem Walde am nächsten lag. In diesem Augenblick nun stürzte sich Tolkatschenko, hinter einem Baum hervorspringend, von hinten auf ihn und Erkel packte ihn, ebenfalls von hinten, an den Ellbogen. Liputin griff von vorne an. Alle drei warfen ihn zu Boden und drückten ihn auf die Erde nieder. Nun sprang auch Piotr Stepanowitsch mit seinem Revolver hinzu. Es wird erzählt, daß Schatow noch die Möglichkeit gehabt habe, den Kopf zu ihm hinzuwenden, ihn zu sehen und zu erkennen. Drei Laternen beleuchteten die Szene. Schatow stieß plötzlich einen kurzen und verzweifelten Schrei aus; aber man ließ ihn nicht viel Lärm schlagen: Piotr Stepanowitsch setzte ihm den Revolver ruhig und fest gerade gegen die Stirn und – drückte ab. Der Schuß war, wie es scheint, nicht so laut, jedenfalls hatte man in Skworeschniki nichts gehört. Vernommen hatte ihn (ebenso wie auch den Schrei) nur Schigaliow, der kaum dreihundert Schritte weggegangen war. Aber er hatte sich seinen eigenen späteren Aussagen zufolge nicht umgedreht und war auch nicht einmal stehengeblieben. Der Tod trat fast augenblicklich ein. Die volle Handlungsfähigkeit, – kaum aber auch die Kaltblütigkeit, – bewahrte sich gleich darauf nur Piotr Stepanowitsch. Er kauerte sofort neben dem Toten nieder und untersuchte eilig, aber mit fester Hand seine Taschen. Geld fand er nicht, denn das Portemonnaie war unter dem Kopfkissen Maria Ignatjewnas liegengeblieben. Was er hervorholte, waren nur zwei oder drei vollkommen wertlose Papiere: ein Zettel mit Kontornotizen, das Titelblatt irgendeines Buches und eine alte, ausländische Wirtshausrechnung, die der Ermordete Gott weiß weshalb zwei volle Jahre in der Tasche aufbewahrt hatte. Diese Papiere nahm Piotr Stepanowitsch an sich. Da er nun plötzlich bemerkte, daß alle vollkommen tatenlos dastanden und nur den Leichnam anstarrten, begann er wütend und unhöflich zu schimpfen und sie anzutreiben. Tolkatschenko und Erkel kamen als erste zur Besinnung, setzten sich in Bewegung und brachten im Nu aus der Grotte zwei Steine, die sie dort schon am Vormittag bereitgelegt hatten. Jeder der Steine wog an die zwanzig Pfund und war bereits zurechtgemacht, das heißt fest und haltbar mit Stricken umwunden. Da man die Absicht hatte, die Leiche nach dem nächsten, also dem dritten Teiche zu tragen und sie dort zu versenken, so machte man sich daran, ihr die Steine an den Hals und an die Füße zu binden. Eigentlich tat es nur Piotr Stepanowitsch, während Tolkatschenko und Erkel nur die Steine und Stricke hielten und sie ihm nach und nach hinreichten. Erkel gab ihm seinen Stein als erster, und während Piotr Stepanowitsch brummend und schimpfend mit einem Stricke die Beine des Ermordeten zusammenschnürte und an ihnen diesen ersten Stein befestigte, hielt Tolkatschenko den seinen ziemlich lange Zeit in den Händen. Er beugte sich dabei stark und wie respektvoll mit dem ganzen Körper nach vorn, um ihn unverzüglich beim ersten Verlangen zu reichen, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, seine Last inzwischen auf die Erde zu legen. Als endlich beide Steine angebunden waren und Piotr Stepanowitsch sich aufrichtete, um die Gesichter der Anwesenden zu mustern, da geschah etwas ganz Seltsames, völlig Unerwartetes, etwas, was fast alle ungemein überraschte.

Wie ich schon gesagt habe, standen mit Ausnahme von Erkel und Tolkatschenko alle da, ohne etwas zu tun. Wirginskij war zwar, als alle sich auf Schatow stürzten, ebenfalls hinzugelaufen, hatte aber Schatow nicht angefaßt und nicht geholfen, ihn festzuhalten. Liamschin jedoch erschien erst nach dem Schuß wieder bei der Gruppe. Dann schienen sie alle auf einmal, während die Leiche zurechtgemacht wurde, was wohl zehn Minuten dauerte, einen Teil ihres Verstandes verloren zu haben. Sie gruppierten sich um den Ermordeten herum und schienen in erster Linie weder irgendeine Unruhe oder Aufregung, sondern beinahe nur Erstaunen zu empfinden. Liputin stand ganz vorn, dicht bei dem Leichnam. Wirginskij, der sich hinter ihm befand, sah ihm mit einer besonderen Art von Neugier, fast wie ein Unbeteiligter über die Schulter; er hob sich sogar auf die Fußspitzen, um besser sehen zu können. Liamschin aber versteckte sich hinter Wirginskij, schaute nur selten und furchtsam hinter ihm hervor und zog sich dann sofort wieder zurück. Als jedoch die Steine bereits angebunden waren und Piotr Stepanowitsch aufstand, begann Wirginskij auf einmal wie Espenlaub zu zittern, schlug die Hände zusammen und rief betrübt und schmerzerfüllt mit lauter Stimme:

»Das ist ja nicht das Richtige, nein, nein! Nein, das ist ja ganz verkehrt!«

Er hätte vielleicht zu seinem so spät kommenden Ausruf noch etwas hinzugefügt, aber Liamschin ließ ihn nicht zu Ende sprechen; auf einmal umfaßte er ihn, preßte ihn aus aller Kraft von hinten zusammen und begann dann auf eine ganz unnatürliche, unglaubliche Art zu kreischen. Es gibt Augenblicke eines heftigen Erschreckens, wo der Mensch plötzlich mit einer ganz fremdartigen Stimme aufschreit, mit einer Stimme, wie man sie bei ihm vorher gar nicht vermuten konnte, und das macht mitunter einen geradezu furchtbaren Eindruck. Die Laute, die Liamschin hervorstieß, waren fast gar nicht menschlich, sondern von irgendeiner tierischen Art. Immer fester und fester preßte er in einem krampfhaften Anfall Wirginskij von hinten mit beiden Armen zusammen und kreischte ununterbrochen mit weit aufgerissenem Mund, wobei er alle wie irrsinnig anstarrte und mit den Füßen auf die Erde trampelte, wie wenn er auf ihr einen Trommelwirbel ausführen wollte. Wirginskij war so erschrocken, daß er selbst wie ein Wahnsinniger aufschrie und in einer so wütenden Raserei, wie man sie bei ihm gar nicht hätte erwarten können, sich von Liamschin zu befreien versuchte. Er kratzte ihn und schlug ihn auch, soweit er ihn von hinten zu erreichen vermochte. Erkel half ihm endlich, Liamschin loszuwerden. Als aber Wirginskij in seiner Angst zehn Schritte zur Seite gesprungen war, erblickte Liamschin plötzlich Piotr Stepanowitsch, heulte von neuem auf und stürzte sich nun auf diesen. Er stolperte aber über die Leiche, fiel über sie hinweg auf Piotr Stepanowitsch, drückte sich mit dem Kopfe gegen seine Brust und umfaßte ihn so fest mit seinen Armen, daß in den ersten Sekunden weder Piotr Stepanowitsch, noch Tolkatschenko, noch Liputin etwas dagegen machen konnte. Piotr Stepanowitsch schrie, schimpfte und schlug Liamschin mit den Fäusten auf den Kopf. Endlich gelang es ihm mit Mühe und Not, sich loszureißen. Sofort ergriff er seinen Revolver und richtete ihn gerade auf den offenen Mund des immer noch heulenden Liamschin, den nun Tolkatschenko, Erkel und Liputin bereits fest an den Armen gepackt hatten; aber selbst der Revolver vermochte Liamschin nicht zum Schweigen zu bringen. Schließlich stopfte ihm Erkel sein bedrucktes, seidenes Taschentuch, das er in aller Eile zusammengeballt hatte, geschickt in den Mund hinein, so daß dem Schreien auf diese Weise ein Ende gemacht wurde. Inzwischen hatte Tolkatschenko mit einem übriggebliebenen Ende Seil Liamschins Hände zusammengebunden.

»Das ist sehr sonderbar«, sagte Piotr Stepanowitsch und betrachtete unruhig und erstaunt den Verrückten.

Er war offenbar sehr verblüfft.

»Ich hatte mir von ihm eine ganz andere Meinung gemacht«, fügte er nachdenklich hinzu.

Einstweilen ließ man bei Liamschin Erkel. Man mußte sich mit dem Toten beeilen: es war soviel Lärm gemacht worden, daß es doch irgendwo gehört sein konnte. Tolkatschenko und Piotr Stepanowitsch hoben die Laterne in die Höhe und faßten die Leiche unter den Kopf. Liputin und Wirginskij griffen nach den Beinen. Der Ermordete wurde fortgetragen. Mit den beiden Steinen war die Last ziemlich schwer, und die Entfernung betrug mehr als zweihundert Schritte. Der Stärkste von allen war Tolkatschenko. Er gab den Rat, man möge Schritt halten; aber niemand antwortete ihm und jeder ging so, wie es sich gerade traf. Piotr Stepanowitsch marschierte rechts und trug ganz gebückt den Kopf des Toten auf seiner Schulter, während er mit der linken Hand von unten den Stein hielt. Da Tolkatschenko auf der ganzen ersten Hälfte des Weges nicht auf den Gedanken gekommen war, ihm beim Halten des Steines zu helfen, begann Piotr Stepanowitsch schließlich auf ihn laut zu schimpfen. Dieses plötzliche Schreien drang allein durch die Stille der Nacht und blieb ohne Widerhall; alle gingen schweigend weiter, und erst dicht am Teiche rief Wirginskij, der bis dahin unter der Last gebeugt dahingeschritten und wahrscheinlich müde geworden war, auf einmal genau so wie vorhin mit lauter, weinerlicher Stimme aus:

»Das ist ganz verkehrt! Ganz, ganz verkehrt!«

Am Ende des dritten, ziemlich großen Teiches von Skworeschniki, nach dem man den Ermordeten hingetragen hatte, war eine der ödesten und am wenigsten besuchten Stellen des Parkes. In dieser Jahreszeit schien sie es noch im erhöhten Maße zu sein. Der Teich war an diesem Ende beim Ufer mit Gras überwuchert. Die Träger stellten die Laternen hin, hielten die Leiche fest, brachten sie in Schwung und warfen sie ins Wasser. Es erscholl ein dumpfer, lange nachhallender Ton. Piotr Stepanowitsch hob die Laterne in die Höhe, und hinter ihm reckten sich neugierig auch alle anderen, um zu sehen, wie der Tote untergehen würde. Aber sie erblickten nichts, denn die mit den Steinen beschwerte Leiche war sofort versunken. Die breiten Kreise, die über den Spiegel des Teiches dahinliefen, erstarben bald. Die Sache war erledigt.

»Meine Herren,« wandte sich Piotr Stepanowitsch an alle, »jetzt werden wir auseinandergehen. Ohne Zweifel empfinden Sie nunmehr jenen freien Stolz, der mit der Erfüllung einer freiwilligen Pflicht verknüpft ist. Sollten Sie aber augenblicklich zu meinem Bedauern für dieses Gefühl zu sehr aufgeregt sein, so werden Sie es ohne Zweifel morgen kennenlernen, wo es schon geradezu eine Schande sein würde, es nicht zu empfinden. Die gar zu schmachvolle Aufregung Liamschins will ich gerne als Fieberwahn ansehen, um so mehr, als er auch in der Tat, wie mir gesagt wurde, schon seit dem Vormittag krank ist. Ihnen aber, Wirginskij, wird ein Augenblick unbefangener Überlegung deutlich zeigen, daß man im Interesse der gemeinsamen Sache nicht auf ein Ehrenwort bauen durfte, sondern genau so handeln mußte, wie wir es getan haben. Die Folgen werden Ihnen deutlich vor Augen führen, daß eine Denunziation tatsächlich vorgelegen hat. Ich bin bereit, Ihre Ausrufe zu vergessen. Was eine Gefahr anbetrifft, so ist eine solche nicht vorauszusehen. Es wird keinem Menschen in den Sinn kommen, einen von Ihnen zu verdächtigen, besonders wenn Sie selbst es verstehen werden, sich richtig zu benehmen. Die Hauptsache also hängt immerhin von Ihnen selbst ab und von Ihren eigenen Überzeugungen, die sich in Ihnen, wie ich hoffen darf, schon morgen festigen werden. Deshalb haben Sie sich ja übrigens auch zu einer freien Vereinigung von Gesinnungsgenossen zusammengeschlossen, um sich im gegebenen Augenblick zum Besten der gemeinsamen Sache gegenseitig energisch zu helfen und, wenn nötig, einer den andern zu beobachten und zu kontrollieren. Jeder von Ihnen ist zur genauesten Rechenschaft vor den höheren Stellen verpflichtet. Sie sind berufen, eine altgewordene Sache, die vor Stillstand zu stinken begonnen hat, zu erneuern; halten Sie sich das zur Belebung Ihres Mutes stets vor Augen. Ihr ganzes Tun muß vorläufig darauf gerichtet werden, daß alles zusammenstürze, sowohl der Staat als auch seine Moral. Nur wir werden dann übrigbleiben, wir, die wir uns von vornherein zur Übernahme der Gewalt bestimmt haben. Die Klugen und Verständigen können wir zu uns aufnehmen, auf den Dummen aber werden wir herumreiten. Das darf Sie keineswegs genieren. Wir müssen eine ganze Generation durch Erziehung umbilden, um sie der Freiheit würdig zu machen. Es stehen uns noch viele Tausende solcher Schatows bevor. Wir organisieren uns, um die Leitung und Führung zu übernehmen, und wir müßten uns schämen, wenn wir nicht einfach mit der Hand nach dem greifen würden, was so brach liegt und uns dazu mit aufgesperrtem Maule geradezu einladet. Gleich von hier gehe ich zu Kirillow, und gegen Morgen werden wir bereits jenes Schriftstück haben, in dem er kurz vor seinem Tode in Gestalt einer an die Regierung gerichteten Erklärung alles auf sich nehmen wird. Nichts kann dann wahrscheinlicher sein als diese Kombination. Erstens war er mit Schatow verfeindet; sie lebten beide in Amerika und hatten also genügend Zeit gehabt, sich zu zanken. Es ist bekannt, daß Schatows frühere Anschauungen sich geändert haben. Also beruhte ihre Feindschaft auf Verschiedenheit der Anschauungen und auf der Furcht vor Denunziationen. Sie war also somit unversöhnlicher Art. Das alles wird Kirillow genau so darlegen, wie ich es sage. Außerdem wird er noch erwähnen, daß bei ihm im Filippowschen Hause auch Fedka gewohnt hat. Auf diese Weise, meine Herren, dürfte das alles den Verdacht von Ihnen völlig fernhalten, da es alle diese Schafsköpfe ganz verwirren wird. Morgen können wir uns nicht mehr sehen, denn ich muß für eine ganz kurze Zeit in den Kreis verreisen. Aber übermorgen werden Sie von mir Mitteilungen erhalten. Ich würde Ihnen eigentlich raten, den morgigen Tag ganz ruhig zu Hause zu bleiben. Und jetzt wollen wir uns alle paarweise auf verschiedenen Wegen entfernen. Sie, Tolkatschenko, bitte ich, sich Liamschins anzunehmen und ihn nach Hause zu bringen. Versuchen Sie, auf ihn einzuwirken und setzen Sie ihm vor allen Dingen auseinander, wie sehr er in erster Linie sich selbst durch seinen Kleinmut schaden kann. An Ihrem Verwandten Schigaliow, Herr Wirginskij, wie auch an Ihnen selbst, will ich nicht zweifeln: er wird uns nicht verraten. Sein Verhalten bleibt natürlich bedauerlich; indessen hat er immerhin noch nicht erklärt, daß er aus unserem Bunde ausscheide, und es ist daher noch zu früh, ihn zu begraben. Nun, jetzt rasch auf den Heimweg, meine Herren; mögen die andern auch Schafsköpfe sein, aber Vorsicht kann doch nicht schaden ...«

Wirginskij ging zusammen mit Erkel fort. Bevor Erkel Liamschin der Obhut Tolkatschenkos anvertraute, gelang es ihm noch einmal, den armen Teufel zu Piotr Stepanowitsch heranzuführen und zu erklären, daß Liamschin bereits zur Besinnung gekommen sei, sein Verhalten bereue, um Verzeihung bitte und sich sogar nicht mehr erinnern könne, was mit ihm eigentlich vorgegangen sei. Piotr Stepanowitsch trat den Heimweg allein an, schlug einen Umweg ein und ging auf der anderen Seite der Teiche am Parke entlang. Er hatte auf diese Weise die längste Strecke zurückzulegen. Aber zu seiner Verwunderung holte ihn etwa auf halbem Wege Liputin ein.

»Piotr Stepanowitsch, ich glaube, Liamschin wird doch denunzieren!«

»Nein, er wird sich eines Besseren besinnen und sich sagen, daß er im Falle einer Denunziation als erster nach Sibirien kommen wird. Jetzt wird keiner denunzieren. Auch Sie werden es nicht tun.«

»Und Sie?«

»Ich bringe Sie ohne Zweifel alle ins Loch, sobald Sie nur Miene machen, Verrat zu begehen, und das wissen Sie sehr wohl. Aber Sie werden schon keinen Verrat begehen. Sind Sie mir deshalb zwei Werst nachgelaufen?«

»Piotr Stepanowitsch, Piotr Stepanowitsch, wir werden uns vielleicht nie wiedersehen!«

»Wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?«

»Sagen Sie mir nur das eine, nur eins ...«

»Was denn? Ich wünsche übrigens, daß Sie sich von mir scheren.«

»Nur eine, nur eine Antwort, aber sie soll wahr sein! Sind wir das einzige Fünferkomitee auf der Welt, oder ist es wirklich wahr, daß es einige Hunderte solcher Komitees gibt? Ich frage vom höchsten Gesichtspunkte aus, Piotr Stepanowitsch.«

»Das sehe ich schon daran, daß Sie so ganz aus dem Häuschen sind. Wissen Sie, Liputin, daß Sie bei weitem gefährlicher sind als Liamschin?«

»Ich weiß, ich weiß es, aber – Ihre Antwort, Ihre Antwort!«

»Sie dummer Mensch! Jetzt könnte es Ihnen doch wohl gleichgültig sein, ob es nur ein Fünferkomitee gibt oder tausend!«

»Also nur eins! Das habe ich doch gewußt!« rief Liputin. »Ich habe es die ganze Zeit über gewußt, bis zu diesem Augenblick ...«

Und ohne eine andere Antwort abzuwarten, machte er kehrt und verschwand rasch in der Dunkelheit.

Piotr Stepanowitsch wurde ein wenig nachdenklich.

»Nein, es wird doch keiner von ihnen denunzieren«, sagte er sich schließlich fest und entschieden. »Und die Gruppe muß eine Gruppe bleiben und mir gehorchen, oder aber ich werde sie ... Was sind das aber im Grunde genommen für jämmerliche Gesellen!«

2

Vor allen Dingen ging er zu sich nach Hause und packte dort sorgsam und ohne Hast seinen Koffer. Um sechs Uhr morgens ging ein Sonderzug, der nur einmal in der Woche fuhr und erst kürzlich, zunächst nur probeweise, eingesetzt worden war. Obwohl Piotr Stepanowitsch den »Unsrigen« gesagt hatte, daß er nur auf eine kurze Zeit und nicht weiter als in den Kreis verreisen möchte, so hatte er doch, wie sich in der Folgezeit herausstellte, ganz andere Absichten gehabt. Nachdem er mit dem Koffer fertig geworden war, rechnete er mit der von ihm im voraus benachrichtigten Wirtin ab und fuhr dann in einer Droschke zu Erkel, der nicht weit vom Bahnhof wohnte. Und erst von dort aus, kurz vor ein Uhr nachts, begab er sich zu Kirillow, zu dem er sich wieder auf Fedkas geheimem Wege hindurchschlich.

Piotr Stepanowitsch war in einer furchtbar schlechten Stimmung. Außer anderen für ihn sehr wichtigen Unannehmlichkeiten (er hatte immer noch nichts über Stawrogin zu erfahren vermocht) hatte er, wie es scheint, – denn bestimmt kann ich es nicht behaupten, – im Laufe des Tages von irgendwoher, am wahrscheinlichsten aus Petersburg, einen Brief erhalten mit einer geheimen Mitteilung über eine ihm demnächst drohende Gefahr. Natürlich sind jetzt bei uns in der Stadt gerade über diese Zeit sehr viele Legenden im Umlauf, indessen aber, wenn auch tatsächlich etwas wirklich Sicheres bekannt sein sollte, so wissen es doch wohl nur diejenigen, die Kenntnis davon von Amts wegen erhalten mußten. Ich nehme aber an, daß Piotr Stepanowitsch sehr wohl auch außerhalb unserer Stadt irgendwelche Geschäfte haben und von dort aus auch tatsächlich eine Benachrichtigung erhalten konnte. Ich bin sogar überzeugt, daß trotz der zynischen und der Verzweiflung entspringenden Zweifel Liputins Piotr Stepanowitsch allenfalls noch zwei oder drei Fünferkomitees außer dem unsrigen hatte, so zum Beispiel in den Hauptstädten. Und wenn er dort auch nicht Fünferkomitees ins Leben gerufen hatte, so wird er doch wohl seine Verbindungen und Beziehungen und sogar solche von sehr sonderbarer Art gehabt haben. Nicht später als drei Tage nach seiner Abreise kam zu uns aus der Hauptstadt der Befehl, ihn sofort zu verhaften, nur weiß ich nicht, ob für die Verbrechen, die er bei uns begangen hat oder für andere Dinge. Dieser Befehl kam gerade zur rechten Zeit, um jenes erschütternde Gefühl einer beinah mystischen Angst noch zu steigern, einer Angst, die sich plötzlich unserer Obrigkeit und unserer bis dahin so leichtsinnigen Gesellschaft beim Bekanntwerden der geheimnisvollen und vielbedeutenden Ermordung des Studenten Schatow bemächtigt hatte. Dieser Mord hatte besonders durch seine außerordentlich rätselhaften Begleitumstände das Maß der in der Stadt begangenen Sinnlosigkeiten mit dem Schlage vollgemacht. Aber der Befehl war zu spät gekommen: Piotr Stepanowitsch befand sich bereits in Petersburg, und zwar unter einem fremden Namen. Dort gelang es ihm, auszuspüren, wie die Sache in Wirklichkeit bereits stand, und er entwischte im Nu ins Ausland ... Übrigens habe ich sehr weit vorgegriffen.

Er trat bei Kirillow mit böser und ärgerlicher Miene ein. Es war, als ob er mit ihm, abgesehen von der Hauptsache, noch persönlich ein Hühnchen pflücken, sich an ihm für etwas rächen wollte. Kirillow schien über sein Kommen erfreut zu sein. Offenbar hatte er schon sehr lange und mit schmerzlicher Ungeduld auf ihn gewartet. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß und der Blick der schwarzen Augen starr und unbeweglich.

»Ich dachte schon, Sie würden gar nicht kommen«, sagte er mit dumpfer Stimme von seiner Sofaecke aus, rührte sich aber nicht vom Fleck, um den Gast zu begrüßen. Piotr Stepanowitsch ging dicht an ihn heran, blieb vor ihm stehen und sah ihm, ehe er überhaupt ein Wort erwiderte, forschend ins Gesicht.

»Also ist alles in Ordnung, und wir treten von unserem Vorhaben nicht zurück? Sie sind ein braver Mensch!« meinte er endlich mit einem beleidigenden, gönnerhaften Lächeln. »Was macht es schon,« fügte er mit einem boshaften Scherz hinzu, »daß ich mich ein wenig verspätet habe? Nicht Sie sollten sich doch darüber beklagen: ich habe Ihnen ja dadurch drei Stunden geschenkt.«

»Ich will von Ihnen keine Stunden geschenkt haben, und du kannst mir überhaupt nichts schenken ... Dummkopf!«

»Wie?« fuhr Piotr Stepanowitsch auf, bezwang sich aber sofort wieder. »Ist das eine Empfindlichkeit! Ei, wir sind ja, scheint es mir, wütend?« fuhr er langsam und deutlich fort, immer noch mit derselben Miene beleidigenden Hochmuts. »In einem solchen Augenblick würde wohl Ruhe mehr am Platze sein. Das beste wäre jetzt, wenn Sie sich für einen Kolumbus hielten und auf mich wie auf eine Maus herabblickten, die Sie gar nicht kränken kann. Das habe ich Ihnen schon gestern empfohlen.«

»Ich will nicht auf dich wie auf eine Maus herabblicken.«

»Was soll denn das bedeuten? Soll es ein Kompliment sein? Übrigens ist bei Ihnen auch der Tee kalt, – also geht bei Ihnen alles drunter und drüber. Nein, es scheint bei Ihnen da etwas nicht ganz in Ordnung zu sein. Bah!« (Er trat ans Fenster heran.) »Da sehe ich etwas auf dem Fensterbrett auf einem Teller! ... Oho, ein gekochtes Huhn mit Reis! ... Aber weshalb ist denn davon noch nichts gegessen worden? Also haben wir uns in einer solchen Stimmung befunden, daß wir selbst ein Huhn ...«

»Ich habe gegessen, und es geht Sie gar nichts an; schweigen Sie!«

»Oh, natürlich, und es ist ja auch schließlich einerlei. Aber mir ist es jetzt durchaus nicht gleichgültig: denken Sie sich nur, ich habe fast gar nichts zu Mittag gegessen und deshalb, wenn nun dieses Huhn, wie ich annehme, hier überflüssig ist ... Wie?«

»Essen Sie, wenn Sie können.«

»Meinen besten Dank dafür, und dann möchte ich auch Tee trinken.«

Er richtete sich im Nu am Tische in einer anderen Sofaecke ein und machte sich mit außerordentlicher Gier an das Essen, wobei er aber gleichzeitig unaufhörlich sein Opfer beobachtete. Kirillow sah ihm mit so wütendem Widerwillen und so starr und unverwandt zu, wie wenn er gar nicht imstande wäre, seinen Blick von ihm loszureißen.

»Indessen,« rief plötzlich Piotr Stepanowitsch, ohne jedoch mit dem Essen aufzuhören, »indessen wollen wir aber auch zur Sache kommen? Also wir treten nicht zurück, wie? Und das Schriftstück?«

»Ich habe heute nacht festgestellt, daß es mir einerlei ist. Ich werde es schreiben. Wohl über die Flugblätter?«

»Ja, auch darüber. Ich werde es Ihnen übrigens diktieren. Ihnen dürfte es ja schließlich ganz gleichgültig sein. Oder könnte Sie in einem solchen Augenblick der Inhalt wirklich irgendwie beunruhigen?«

»Geht dich nichts an.«

»Das stimmt natürlich. Übrigens handelt es sich nur um ein paar Zeilen des Inhalts, daß Sie mit Schatow Flugblätter verbreitet haben, unter anderem auch mit Beihilfe Fedkas, der sich in Ihrer Wohnung verborgen gehalten hatte. Dieser letzte Punkt über Fedka und die Wohnung ist sehr wichtig, er ist sogar der wichtigste. Sie sehen, ich spreche mit Ihnen ganz offen.«

»Mit Schatow? Was soll denn Schatow hiermit zu tun haben? Über Schatow schreibe ich unter keinen Umständen etwas.«

»Na, sowas! Warum denn? Sie können ihm ja doch nicht mehr schaden.«

»Seine Frau ist zu ihm gekommen. Sie ist vorhin erwacht und sandte zu mir, um zu fragen, wo er sei.«

»Sie hat sich bei Ihnen nach ihm erkundigen lassen? Hm ... das ist nicht gut. Da wird sie womöglich noch einmal hierher schicken; und es darf niemand wissen, daß ich hier bin ...«

Piotr Stepanowitsch geriet in Unruhe.

»Sie wird es nicht erfahren, sie schläft schon wieder. Die Hebamme ist bei ihr, Arina Wirginskaja.«

»Das ist es ja, und ... Sie wird es wohl nicht hören, glaube ich? Wissen Sie, Sie sollten eigentlich die Haustür zuschließen.«

»Sie wird nichts hören. Und wenn Schatow hierher kommt, dann kann ich Sie ja in einem anderen Zimmer verstecken.«

»Schatow wird nicht kommen. Und Sie werden schreiben, daß Sie mit ihm wegen seines Verrats und seiner Denunziation in Streit geraten wären ... heute abend ... und daß Sie an seinem Tode schuld seien.«

»Er ist gestorben!« rief Kirillow und sprang vom Sofa auf.

»Heute um acht Uhr abends oder besser gesagt, gestern um acht Uhr abends, da es jetzt schon ein Uhr ist.«

»Du, du hast ihn ermordet! ... Und ich habe das gestern schon geahnt!«

»Das war nicht schwer zu ahnen! Mit diesem Revolver da«, erwiderte Piotr Stepanowitsch und zog die Waffe heraus, anscheinend, um sie zu zeigen. Aber er steckte sie nicht wieder ein, sondern behielt sie, wie für alle Fälle schußbereit, in der rechten Hand. »Sie sind doch wirklich ein sonderbarer Mensch, Kirillow,« fuhr er dann fort, »Sie haben doch selbst gewußt, daß es mit diesem dummen Menschen so ein Ende nehmen mußte. Was war denn da noch viel zu ahnen? Ich habe Ihnen das schon so oft vorgekaut. Schatow bereitete eine Denunziation vor, ich habe ihn beobachtet und das ausgespürt; ich konnte mich unter keinen Umständen verraten lassen. Und auch Ihnen war ja befohlen worden, ihn zu beobachten; Sie haben mir selbst vor etwa drei Wochen mitgeteilt ...«

»Schweig! Das hast du nur deshalb getan, weil er dir in Genf ins Gesicht gespuckt hat!«

»Deswegen, und auch aus anderen Gründen. Aus vielen anderen Gründen; übrigens ohne jeden persönlichen Groll. Was ist denn dabei so Aufregendes? Was sollen die Posen? Aha! So meinen wir das! ...«

Er sprang auf und hob die Waffe vor sich in die Höhe. Die Sache war nämlich die, daß Kirillow plötzlich seinen schon am Vormittag in Bereitschaft gesetzten und geladenen Revolver vom Fensterbrett genommen hatte. Piotr Stepanowitsch stellte sich in Positur und richtete seine Waffe auf Kirillow. Dieser lachte höhnisch auf.

»Gestehe nur, du Schuft, daß du deinen Revolver nur deshalb hervorgeholt hast, weil du dachtest, ich würde dich erschießen ... Aber ich werde dich nicht erschießen ... obwohl ... obwohl ...«

Und er richtete seine Waffe wieder gegen Piotr Stepanowitsch, wie wenn er sich nicht den Genuß versagen könnte, sich vorzustellen, wie er ihn erschießen würde. Piotr Stepanowitsch wartete immer noch in Positur, wartete bis zum letzten Augenblick, ohne den Hahn loszudrücken, obwohl er dabei riskierte, selbst zuerst eine Kugel in die Stirn zu bekommen. Von diesem »Komödianten« konnte er das sehr wohl erwarten. Aber der »Komödiant«, der nur noch mühsam atmete, zitterte und kaum noch imstande war zu sprechen, ließ endlich die Hand sinken.

»Nun haben Sie genug gespielt«, sagte Piotr Stepanowitsch, der ebenfalls die Waffe sinken ließ. »Ich wußte ja, daß Sie nur spielten; aber wissen Sie, Sie haben dabei doch ein großes Risiko auf sich genommen: ich konnte ja losdrücken.«

Und er setzte sich ziemlich ruhig auf das Sofa und goß sich Tee ein, wobei seine Hände allerdings ein wenig zitterten. Kirillow legte seinen Revolver auf den Tisch und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Ich werde nicht schreiben, daß ich Schatow ermordet habe, und ... ich werde jetzt überhaupt nichts schreiben! Es wird kein Schriftstück geben!«

»Nicht?«

»Nein.«

»Wie gemein und wie dumm!« rief Piotr Stepanowitsch, der vor Ärger ganz grün wurde. »Ich habe das übrigens geahnt. Glauben Sie ja nicht, daß Sie mich damit überrumpeln. Indessen können Sie tun, was Sie wollen. Wenn ich Sie mit Gewalt dazu zwingen, könnte, würde ich es tun. Sie sind übrigens ein Lump«, fuhr Piotr Stepanowitsch, der immer mehr und mehr die Herrschaft über sich verlor, fort. »Sie haben uns damals um Geld gebeten, haben uns Berge von Versprechungen gemacht ... Aber ich werde doch nicht ergebnislos fortgehen, ich will wenigstens mit ansehen, wie Sie sich selbst den Schädel zertrümmern werden.«

»Ich will, daß du sofort hinausgehst«, sagte Kirillow in festem Ton und stellte sich ihm gegenüber.

»Nein, das geht schon ganz und gar nicht«, erwiderte Piotr Stepanowitsch und griff wieder nach dem Revolver. »Jetzt kommt Ihnen womöglich aus Feigheit und Bosheit der Gedanke, alles aufzuschieben und morgen hinzugehen und zu denunzieren, um wieder etwas Geld zu bekommen, denn dafür würde man Ihnen ja bezahlen. Hol's der Teufel; solche Kerle wie Sie sind zu allem fähig! Aber seien Sie unbesorgt, ich habe alles vorausgesehen: ich werde nicht weggehen, bevor ich Ihnen mit einer Kugel aus diesem Revolver den Schädel zertrümmert habe wie dem Schuft Schatow, wenn Sie selbst zu feige sind und Ihr Vorhaben aufgeben sollten, daß Sie der Teufel hole!«

»Du willst unbedingt auch mein Blut sehen?«

»Ich grolle ja nicht, begreifen Sie das doch; mir ist es ja ganz gleichgültig. Ich will es ja nur, um für unsere Sache ruhig sein zu können. Auf einen Menschen kann man sich nie verlassen, das sehen Sie selbst. Ich verstehe ja nichts von Ihrer phantastischen Idee, derzufolge Sie sich töten wollen. Aber nicht ich habe sie Ihnen ersonnen, sondern Sie selbst, und zwar noch vor der Bekanntschaft mit mir! Und Sie haben auch anfangs nicht mir, sondern unseren Mitgliedern im Auslande Mitteilung davon gemacht. Und vergessen Sie nicht, daß niemand von ihnen Sie ausgehorcht hat, ja, niemand hat Sie dort überhaupt gekannt. Nein, Sie sind selbst aus Übermaß an Gefühlen zu ihnen gegangen und haben ihnen Ihr Herz ausgeschüttet. Was sollen wir denn jetzt tun, wenn gerade auf Grund Ihres Vorschlags (merken Sie sich das: auf Grund Ihres Vorschlags) gleich damals schon ein gewisser Plan für unsere Tätigkeit hier am Ort festgelegt wurde, ein Plan, der jetzt nicht mehr abgeändert werden kann? Inzwischen haben Sie schon gar zuviel von unseren Geheimnissen erfahren. Wenn Sie nun plötzlich Angst kriegen und morgen hingehen und denunzieren, so wird es doch für uns wahrscheinlich gar nicht vorteilhaft sein, meinen Sie nicht auch? Nein, mein Herr, Sie haben sich verpflichtet, Sie haben Ihr Wort gegeben; Sie haben Geld genommen. Das können Sie keineswegs leugnen ...«

Piotr Stepanowitsch hatte sich sehr in Eifer geredet, aber Kirillow hörte ihm schon längst nicht mehr zu. In seine eigenen Gedanken versunken ging er wie vorhin auf und ab durch das Zimmer.

»Mir tut Schatow leid«, sagte er, indem er wieder vor Piotr Stepanowitsch stehenblieb.

»Er tut ja auch mir vielleicht leid, und ist denn wirklich ...«

»Schweig, du Schuft!« brüllte Kirillow und machte eine furchtbare und unzweideutige Bewegung. »Ich schlage dich tot!«

»Na, na, na, ich gebe zu, ich habe gelogen, er tut mir gar nicht leid, nun lassen Sie es gut sein, genug, genug!« rief Piotr Stepanowitsch, indem er ängstlich aufsprang und, wie um sich zu schützen, die Hand vorstreckte.

Kirillow wurde plötzlich wieder ganz ruhig und begann von neuem, auf und ab zu gehen.

»Ich werde es nicht aufschieben; gerade jetzt will ich mich töten: alle sind Schufte!«

»Na, sehen Sie, das ist ein Gedanke! Natürlich sind alle Schufte, und da es für einen ordentlichen Menschen ekelhaft sein muß, auf der Welt zu leben, so ...«

»Dummkopf, ich bin genau so ein Schuft wie du und alle andern! Ich bin auch kein anständiger Mensch. Einen anständigen hat es überhaupt nirgends gegeben.«

»Nun ist er endlich dahintergekommen! Haben Sie es denn wirklich bis jetzt trotz Ihres Verstandes nicht begriffen, Kirillow, daß alle aus demselben Holz geschnitzt sind, daß es weder schlechtere noch bessere Menschen gibt, sondern nur klügere und dümmere, und daß, wenn alle Schufte sind (was übrigens Unsinn ist), es auch keine Nicht-Schufte geben darf?«

»Ah! Du machst dich also wirklich nicht lustig über mich?« rief Kirillow und sah ihn dabei einigermaßen verwundert an. »Du sprichst mit Eifer und schlicht ... Haben denn wirklich Leute wie du auch Überzeugungen?«

»Kirillow, ich habe es nie begreifen können, weshalb Sie sich töten wollen. Ich weiß nur, daß es bei Ihnen einer Überzeugung entspringt ... einer festen Überzeugung. Wenn Sie aber das Bedürfnis fühlen, sozusagen Ihr Inneres auszuschütten, so stehe ich gern zu Ihren Diensten ... Wir müssen nur die Zeit nicht aus den Augen lassen ...«

»Wie spät ist es denn?«

»Oho, schon Punkt zwei Uhr«, erwiderte Piotr Stepanowitsch, nachdem er nach der Uhr gesehen hatte, und zündete sich eine Zigarette an.

»Es scheint mir, daß eine Einigung doch noch möglich sein wird«, dachte er bei sich.

»Ich habe dir nichts zu sagen«, murmelte Kirillow.

»Ich erinnere mich, daß es etwas mit Gott war ... Sie haben mir das bereits einmal erklärt, zweimal sogar ... Wenn Sie sich erschießen, so werden Sie ein Gott werden, so war es doch, glaube ich?«

»Ja, ich werde ein Gott sein.«

Piotr Stepanowitsch lächelte nicht einmal; er wartete ab. Kirillow sah ihn verschmitzt an.

»Sie sind ein politischer Betrüger und Ränkespinner, Sie wollen mich auf die Philosophie bringen, auf meine Begeisterung, um eine Versöhnung herbeizuführen, um meinen Zorn zu verscheuchen und dann, wenn ich mich beschwichtigen lasse, doch noch zu versuchen, von mir die schriftliche Aussage zu bekommen, daß ich Schatow getötet habe.«

Piotr Stepanowitsch antwortete mit fast natürlicher Offenherzigkeit und Einfalt:

»Na, mag ich auch so ein Lump sein, aber ist Ihnen das in den letzten Augenblicken wirklich nicht ganz gleichgültig, Kirillow? Weswegen zanken wir uns eigentlich, sagen Sie selbst? Sie sind ein Mensch von einer Art, und ich von einer anderen. Was ist denn schon dabei? Überdies sind wir alle beide ...«

»Schufte.«

»Ja, vielleicht auch das. Sie wissen ja, daß es nur Worte sind.«

»Ich habe mein ganzes Leben lang nicht gewollt, daß es nur Worte seien. Ich habe nur deshalb gelebt, weil ich das immer nicht wollte. Auch jetzt will ich noch jeden Tag, daß es nicht nur Worte seien!«

»Nun, ein jeder sucht eben nach einem Ort, wo er es am besten hat. Der Fisch ... das heißt, ein jeder sucht sich seine Art von Komfort; und weiter nichts. Das ist schon seit jeher bekannt.«

»Komfort, sagst du?«

»Na, wir wollen uns doch der Worte wegen nicht streiten.«

»Nein, das hast du gut gesagt; bleiben wir beim ›Komfort‹. Gott ist unbedingt notwendig, und darum muß er sein.«

»Na ja, ausgezeichnet.«

»Aber ich weiß, daß es keinen Gott gibt und keinen geben kann.«

»Das ist noch richtiger.«

»Verstehst du denn nicht, daß ein Mensch mit diesen zwei Gedanken nebeneinander nicht unter den Lebenden bleiben kann?«

»Soll er sich also erschießen, wie?«

»Verstehst du denn nicht, daß man sich schon allein deshalb eine Kugel in den Schädel jagen kann? Verstehst du denn nicht, daß es einen solchen Menschen geben kann, einen unter euren Tausendmillionen, einen, der es nicht will, der es nicht ertragen kann?«

»Ich begreife nur, daß Sie, soviel ich sehe, offenbar wieder schwanken ... das ist sehr schlimm.«

»Stawrogin ist auch von einer Idee verschlungen worden«, sagte Kirillow, der die Bemerkung Piotr Stepanowitschs gar nicht gehört hatte und mit finsterer Miene im Zimmer auf und ab ging.

»Wie?« fragte Piotr Stepanowitsch und spitzte die Ohren. »Welche Idee? Hat er Ihnen etwas davon gesagt?«

»Nein, ich habe es selbst erraten: wenn Stawrogin glaubt, so glaubt er nicht, daß er glaubt. Wenn er aber nicht glaubt, so glaubt er nicht, daß er nicht glaubt.«

»Na, Stawrogin hat wohl auch noch andere Dinge im Kopfe, die klüger sind ...« erwiderte Piotr Stepanowitsch brummig und verfolgte mit Unruhe die neue Wendung des Gesprächs und das blasse Gesicht Kirillows.

»Hol's der Teufel, am Ende wird er sich nicht erschießen«, dachte er. »Das habe ich immer schon geahnt; es war bei ihm nichts weiter als ein verdrehtes Hirngespinst; was für ein Lumpenpack sind doch die Kerle!«

»Du bist der letzte, der mit mir ist: ich möchte nicht im bösen von dir scheiden«, sagte auf einmal Kirillow in einem Ton, wie wenn er ihn beschenkte.

Piotr Stepanowitsch antwortete nicht sogleich. »Verflixt noch einmal, was hat er nun schon wieder?« dachte er von neuem.

»Sie können mir wirklich glauben, Kirillow, daß ich gegen Sie als Menschen persönlich wirklich nichts habe und immer ...«

»Du bist ein Schuft und ein verlogener Kopf. Aber ich bin genau so wie du und werde mich erschießen. Du aber wirst am Leben bleiben.«

»Das heißt, Sie wollen sagen, ich sei so gemein, daß es mich danach verlangen wird, unter den Lebenden zu bleiben?«

Er war sich noch nicht im klaren, ob es vorteilhaft oder unvorteilhaft sei, in einem solchen Augenblick ein derartiges Gespräch fortzusetzen und beschloß, sich »den Umständen anzupassen«. Aber der Ton der Überlegenheit und der unverhohlenen Verachtung, den Kirillow gegen ihn stets an den Tag gelegt und der ihn schon früher immer geärgert hatte, reizte ihn jetzt aus irgendeinem Grunde noch viel mehr als je zuvor, vielleicht auch nur deshalb, weil ihm Kirillow, dem es bevorstand, nach etwa einer Stunde zu sterben (das ließ Piotr Stepanowitsch immerhin nicht aus dem Auge), ihm gewissermaßen nur noch als ein halber Mensch erschien, als irgendein Etwas, dem man den Hochmut schon keineswegs gestatten durfte.

»Sie scheinen vor mir damit zu prahlen, daß Sie sich erschießen werden?«

»Ich habe mich schon immer darüber gewundert, daß die andern alle am Leben bleiben«, sagte Kirillow, der seine Bemerkung nicht gehört hatte.

»Hm! Das ist allerdings ein Gedanke, aber ...«

»Du Affe, du stimmst mir bei, um mich unterzukriegen. Schweig, du wirst davon nie etwas verstehen können. Wenn es keinen Gott gibt, so bin ich ein Gott.«

»Sehen Sie, diesen Punkt habe ich bei Ihnen nie verstehen können. Warum sind Sie ein Gott?«

»Wenn es einen Gott gibt, so ist aller Wille sein, und ich kann nichts ohne seinen Willen tun. Wenn er aber nicht existiert, so habe ich meinen freien Willen und bin verpflichtet, meinen Eigenwillen zu bekunden.«

»Eigenwillen? Aber warum sind Sie dazu verpflichtet?«

»Weil aller Wille mein geworden ist. Wird es denn wirklich niemand auf dem ganzen Planeten wagen, nachdem er mit Gott ein Ende gemacht und an seine persönliche Eigenmächtigkeit zu glauben begonnen hat, diese seine Eigenmächtigkeit voll und ganz, selbst in dem wichtigsten Punkte, zu bekunden? Das ist, wie wenn ein armer Mensch eine Erbschaft gemacht hätte und sich nun fürchten und nicht wagen würde, an den Geldsack heranzugehen, in der Meinung, er sei zu schwach, um ihn zu besitzen. Ich will meine Eigenmächtigkeit bekunden. Mag ich auch der Einzige sein, aber ich werde es tun.«

»Na, dann tun Sie es.«

»Ich bin verpflichtet, mich zu erschießen, weil der wichtigste, uneingeschränkteste Punkt meiner Eigenmächtigkeit eben darin besteht, daß ich mir mein Leben selbst nehme.«

»Aber Sie sind doch nicht der Einzige, der sich tötet, es gibt doch viele Selbstmörder.«

»Die haben Gründe, Ursachen. Aber ohne jeden Grund, ohne jede Ursache, nur um seiner Eigenmächtigkeit willen, – da bin ich der Einzige.«

»Er wird sich nicht erschießen«, zuckte es Piotr Stepanowitsch wieder durch den Kopf.

»Wissen Sie was,« bemerkte er gereizt, »ich hätte an Ihrer Stelle meine Eigenmächtigkeit damit bekundet, daß ich einen andern töten würde und nicht mich selbst. Auf diese Weise könnten Sie sich sogar nützlich machen. Wenn Sie keine Furcht haben, kann ich Ihnen sogar jemand zeigen. In diesem Falle brauchen Sie sich meinetwegen heute nicht zu erschießen. Wir können uns einigen.«

»Einen andern zu töten, das würde der niedrigste Punkt meiner Eigenmächtigkeit sein, das würde ganz zu dir passen. Ich bin nicht du: ich will den höchsten Punkt und werde nur mich töten.«

»Endlich ist er selbst darauf gekommen«, murmelte Piotr Stepanowitsch boshaft vor sich hin.

»Ich bin verpflichtet, meinen Unglauben zu bekunden«, sprach Kirillow weiter, indem er immer noch im Zimmer auf und ab ging. »Für mich gibt es keinen höheren Gedanken als den, daß Gott nicht existiert. Für mich spricht die ganze Geschichte der Menschheit. Der Mensch hat nie etwas anderes getan, als sich immer und immer wieder einen Gott erfunden, um eben leben zu können, ohne sich zu töten; daraus besteht die ganze Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Ich bin in der Weltgeschichte der Erste und der Einzige, der sich keinen Gott hat erfinden wollen. Mag man es ein für allemal erfahren.«

»Er wird sich nicht erschießen«, dachte Piotr Stepanowitsch beunruhigt.

»Wer soll das schon erfahren?« stachelte er ihn auf. »Das sind Sie und ich und sonst niemand. Oder soll es etwa Liputin erfahren?«

»Alle sollen und alle werden es auch erfahren. Es gibt nichts Geheimes, das nicht offenbart werden wird. Das hat Er gesagt.«

Und er wies in fieberhafter Ekstase nach dem Bilde des Erlösers, vor dem ein Lämpchen brannte. Piotr Stepanowitsch wurde ganz wütend.

»An Ihn glauben Sie also immer noch und haben sogar ein Lämpchen angezündet? Oder haben Sie das vielleicht ›für alle Fälle‹ getan?«

Kirillow gab ihm keine Antwort.

»Wissen Sie was? Meiner Ansicht nach glauben Sie womöglich noch mehr als ein Pope.«

»An wen? An Ihn? Höre, du«, sagte Kirillow, indem er stehenblieb und mit einem starren, verzückten Blick vor sich hinsah. »Vernimm einen großen Gedanken! Es war auf der Erde ein Tag und in der Mitte der Erde standen drei Kreuze. Einer der Gekreuzigten glaubte so fest, daß er zu einem der anderen sagte: ›Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.‹ Der Tag ging zu Ende, beide starben, vergingen und fanden weder das Paradies noch eine Auferstehung. Das Gesagte wurde nicht Wahrheit. Höre also. Dieser Mensch war das Höchste auf der ganzen Erde. Er bildete das Ziel, zu dessen Erreichung sie leben sollte. Der ganze Planet, mit allem, was auf ihm ist, ist ohne diesen Menschen nichts als ein Wahnsinn. Weder vor Ihm noch nach Ihm gab es einen ebensolchen wie Er. Nie, nie, so daß es sogar ein Wunder ist. Denn gerade darin besteht ein Wunder, daß es einen Menschen wie Ihn nie gegeben hat und nie geben wird. Wenn dem aber so ist, wenn die Naturgesetze nicht einmal Diesen, nicht einmal ihr eigenes Wunderwerk schonen wollten, sondern auch Ihn gezwungen haben, inmitten der Verlogenheit zu leben und einer Lüge wegen zu sterben, dann ist also der ganze Planet nur eine Ausgeburt der Lüge und beruht auf Verlogenheit und dummer Verhöhnung. Also sind auch die Gesetze des Planeten selbst nichts als Lüge und eine vom Teufel ersonnene Komödie. Wozu soll man also leben? Antworte, wenn du ein Mensch bist?«

»Jetzt geben Sie der Sache eine ganz andere Wendung. Es scheint mir, daß Sie da zwei grundverschiedene Ursachen durcheinandergemischt haben; und das ist sehr unzuverlässig. Aber gestatten Sie: wie nun, wenn Sie tatsächlich ein Gott sind? Wie, wenn die Lüge ein Ende genommen hat, und Sie es richtig erraten haben, daß die ganze Lüge nur der Existenz des früheren Gottes entsprang?«

»Endlich hast du es begriffen!« rief Kirillow begeistert. »Also kann man es doch begreifen, wenn selbst ein solcher Mensch wie du es begriffen hat! Verstehst du nun, daß die ganze Rettung für alle darin besteht, daß man allen diesen Gedanken klarmacht? Aber wer wird das tun? Ich! Ich fasse es gar nicht, wie bisher ein Atheist wissen konnte, daß es keinen Gott gibt, ohne sich dann sofort zu töten. Die Erkenntnis, daß es keinen Gott gibt, wenn man nicht zugleich erkannt hat, daß man selbst ein Gott geworden ist, ist nichts als ein Unsinn, denn sonst würde man sich unbedingt sofort selbst töten. Hat man es erkannt, dann ist man ein Herrscher und tötet sich nicht mehr selbst, sondern lebt in Pracht und in Herrlichkeit. Aber einer, derjenige, der der Erste ist, der muß sich unbedingt töten, denn wer wird denn sonst den Anfang machen und es beweisen? Und so werde ich mich unbedingt töten, um eben den Anfang zu machen und den Beweis darzubringen. Ich bin jetzt nur noch wider meinen Willen ein Gott und ich bin unglücklich, weil ich verpflichtet bin, meine Eigenmacht zu bekunden. Der Mensch war bisher nur deshalb so unglücklich, weil er sich fürchtete, seinen Eigenwillen in dem Hauptpunkte zu zeigen, und er war nur in Nebendingen eigenmächtig wie ein Schulknabe. Ich bin furchtbar unglücklich, weil ich schreckliche Angst habe. Die Furcht ist der Fluch der Menschheit ... Ich werde meine Eigenmächtigkeit bekunden, ich bin verpflichtet zu glauben, daß ich nicht glaube. Ich werde den Anfang machen und das Ende herbeiführen und die Tür öffnen. Ich werde der Retter sein. Nur dies allein wird alle Menschen erlösen und sie gleich in der folgenden Generation physisch umgestalten! Denn in seiner jetzigen physischen Gestalt vermag der Mensch, soweit ich das beurteilen kann, ohne den früheren Gott schlechterdings nicht zu existieren. Drei Jahre lang habe ich nach dem Attribut meiner Gottheit gesucht und habe es endlich gefunden: das Attribut meiner Gottheit ist die Eigenmächtigkeit! Durch nichts anderes kann ich meinen Ungehorsam und meine neue, furchtbare Freiheit im Hauptpunkte bekunden. Denn diese Freiheit ist sehr furchtbar. Ich töte mich, um meinen Ungehorsam und meine neue, furchtbare Freiheit zu zeigen.«

Sein Gesicht war unnatürlich blaß, sein Blick unerträglich starr. Er war wie im Fieber. Piotr Stepanowitsch fürchtete schon, daß er im nächsten Augenblick umfallen würde.

»Her mit der Feder!« rief Kirillow plötzlich ganz unerwartet in entschiedener Begeisterung. »Diktiere! Ich werde alles niederschreiben. Auch daß ich Schatow getötet habe. Diktiere, solange mir das alles noch lächerlich ist! Ich fürchte mich nicht vor dem Urteil hochmütiger Sklaven! Bald wirst du selbst einsehen, daß alles Geheime offenbart werden wird! Aber du wirst erdrückt und zerschmettert werden ... Ich glaube! Ich glaube!«

Piotr Stepanowitsch sprang von seinem Platz auf, reichte ihm im Nu Tinte und Papier und begann, den günstigen Augenblick benutzend, zitternd und um den Erfolg bangend, zu diktieren.

»Ich, Alexej Kirillow, erkläre hiermit ...«

»Halt! Ich will nicht! Wem erkläre ich das?«

Kirillow bebte wie vom Fieberfrost. Dieses »erkläre« und irgendein neuer, plötzlicher Gedanke, der sich daran knüpfte, schienen ihn auf einmal ganz überwältigt zu haben, wie wenn da ein Ausweg wäre, nach dem sein gequälter Geist wenigstens für einen Augenblick ungestüm hinstürzte.

»Wem erkläre ich das? Ich will wissen, wem?«

»Keinem Menschen, allen, dem ersten besten, der es liest. Wozu die Bestimmtheit? Die Abgrenzung? Der ganzen Welt!«

»Der ganzen Welt? Bravo! Und daß da keine Reue vorkommt! Ich will nichts bereuen und will mich nicht an die Obrigkeit wenden!«

»Aber nein. Das ist ja gar nicht nötig! Die Obrigkeit mag der Teufel holen! Schreiben Sie doch, wenn Sie es ernst meinen! ...« rief Piotr Stepanowitsch beinah hysterisch.

»Halt! Ich will darüber eine Fratze mit herausgestreckter Zunge zeichnen.«

»Ach Unsinn!« erwiderte Piotr Stepanowitsch ärgerlich. »Das kann man ja auch ohne Zeichnungen, allein schon durch den bloßen Ton zum Ausdruck bringen.«

»Durch den Ton? Das ist gut. Ja, durch den Ton, durch den Ton! Diktiere es mit dem Ton!«

»Ich, Alexej Kirillow,« begann Piotr Stepanowitsch fest und gebieterisch, indem er sich über Kirillow beugte und jeden Buchstaben, den dieser mit seiner vor Erregung zitternden Hand hinschrieb, mit den Augen verfolgte, »ich, Kirillow, erkläre, daß ich heute, am ...ten Oktober, um acht Uhr abends, den Studenten Schatow wegen Verräterei und wegen einer Denunziation im Park getötet habe. Die Denunziation betraf die verbreiteten Flugblätter und Fedka, der bei uns beiden im Filippowschen Hause zehn Tage lang gewohnt und genächtigt hat. Ich töte mich heute selbst mit einem Revolver, nicht etwa, weil ich Reue empfinde oder mich vor jemand fürchte, sondern weil ich es schon im Auslande beabsichtigt habe, meinem Leben ein Ende zu machen.«

»Und weiter nichts?« rief Kirillow erstaunt und entrüstet.

»Kein Wort mehr!« versetzte Piotr Stepanowitsch mit einer abwehrenden Handbewegung und suchte ihm das Schriftstück zu entreißen.

»Halt!« rief Kirillow und legte seine Hand fest auf das Blatt. »Halt! Unsinn! Ich will angeben, mit wem ich ihn ermordet habe. Wozu Fedka? Und die Feuersbrunst? Ich will alles auf mich nehmen und will sie dann noch beschimpfen, durch den Ton, durch den Ton!«

»Genug, Kirillow, ich versichere Ihnen, daß es wirklich genug ist!« erwiderte Piotr Stepanowitsch beinah flehend, da er befürchtete, Kirillow könnte das Blatt zerreißen, und vor Angst davor förmlich zitterte. »Damit es glaubhaft erscheint, muß es möglichst dunkel gehalten sein, genau so, wie Sie es geschrieben haben, gerade mit bloßen Andeutungen. Man darf nur ein Zipfelchen der Wahrheit zeigen, nur so viel, daß es diese Leute reizt. Dann werden sie sich selbst weit mehr belügen, als wir es tun könnten und werden natürlich sich selbst viel mehr Glauben schenken als uns. Und gerade das ist ja das Wünschenswerte, das Allerbeste, das Allerbeste! Geben Sie es her! Auch so ist es vorzüglich! Geben Sie her, geben Sie her!« Und er bemühte sich immer noch, ihm das Blatt zu entreißen.

Kirillow hörte ihm mit weit aufgerissenen Augen zu und versuchte offenbar die Sache zu begreifen. Aber allem Anschein nach hatte er aufgehört, überhaupt irgend etwas zu verstehen.

»Ach, der Teufel auch!« rief Piotr Stepanowitsch auf einmal wütend, »er hat es ja noch gar nicht unterschrieben! Warum reißen Sie so die Augen auf? Unterschreiben Sie doch!«

»Ich will sie noch beschimpfen ...« murmelte Kirillow, nahm indessen die Feder und setzte seinen Namen darunter. »Ich will sie noch ausschimpfen ...«

»Schreiben Sie noch: Vive la république! und genug!«

»Bravo!« Kirillow war so entzückt, daß er beinah brüllte. »Vive la république démocratique, sociale et universelle ou la mort! ... Nein, nein, so nicht! Liberté, égalité, fraternité ou la mort. Ja, das ist schon besser, das ist schon besser!« rief er und schrieb die französischen Worte unter seinen Namenszug.

»Genug, genug«, wiederholte Piotr Stepanowitsch.

»Halt, noch ein bißchen ... Weißt du, ich werde es noch einmal französisch unterschreiben: ›de Kirilloff; gentilhomme russe et citoyen du monde.‹ Hahaha!« brach er plötzlich in ein lautes Gelächter aus. »Nein, nein, nein, halt! Ich habe noch etwas viel Besseres gefunden, heureka: gentilhomme-séminariste russe et citoyen du monde civilisé! Ja, das ist besser als alles andere! ...« rief er, sprang dann plötzlich vom Sofa auf, griff mit einer hastigen Handbewegung nach dem am Fenster liegenden Revolver, lief mit ihm in das andere Zimmer und machte die Tür hinter sich fest zu. Piotr Stepanowitsch stand eine Minute wie in Gedanken versunken da und blickte nach der Tür hin.

»Wenn er es gleich macht, dann erschießt er sich wirklich, wenn er aber erst anfängt nachzudenken, dann wird nichts daraus werden.«

Er nahm vorläufig das daliegende Schriftstück, setzte sich hin und las es von neuem durch. Der Wortlaut der Erklärung gefiel ihm auch jetzt wieder.

»Was ist denn vorläufig erforderlich? Nun, nichts weiter, als sie alle für eine gewisse Zeit lang vollkommen zu verwirren und sie dadurch von der richtigen Spur abzulenken. Der Park? In der Stadt gibt es keinen Park, also werden sie allmählich von selbst darauf kommen, daß es in Skworeschniki geschehen ist. Bis sie es erraten, wird Zeit vergehen, während sie suchen – ebenfalls, und sobald sie dann den Leichnam gefunden haben werden, wird es heißen, daß Kirillow die Wahrheit geschrieben hat und folglich auch alles andere wahr ist. Auch das über Fedka. Und was bedeutet ihnen Fedka? Nun, Fedka, das ist die Brandstiftung und die Ermordung der Lebiadkins: also ist alles von hier, von dem Filippowschen Hause aus, geleitet worden, und sie haben nichts bemerkt, haben alles vollkommen übersehen, – das wird ihnen den Kopf nun vollends schwindlig machen! Dann werden sie gar nicht auf den Gedanken kommen, die ›Unsrigen‹ zu verdächtigen! Sie haben dann Schatow und Kirillow und Fedka und Lebiadkin. Und warum sie sich einander getötet haben, das wird für sie eine neue schöne Nuß zum Knacken sein. Aber zum Teufel, es ist ja immer noch kein Schuß zu hören! ...«

Er las zwar und freute sich über den Wortlaut des Schriftstücks, horchte aber doch alle Augenblicke in quälender Unruhe auf und – wurde auf einmal wütend. Erregt blickte er nach der Uhr. Es war schon ziemlich spät, und seitdem Kirillow im Nebenzimmer verschwunden war, waren auch schon etwa zehn Minuten vergangen ... Er nahm die Kerze und begab sich zu diesem Nebenzimmer hin. Als er dicht an der Tür stand, dachte er auf einmal daran, daß die Kerze schon sehr weit heruntergebrannt war und in höchstens zwanzig Minuten ganz ausgehen würde, während er eine andere nicht mehr hatte. Er faßte die Klinke und horchte vorsichtig nach dem Zimmer. Aber er konnte nicht das geringste Geräusch vernehmen. Da machte er plötzlich die Tür ein wenig auf und hob das Licht in die Höhe. Aber im selben Augenblick brüllte etwas auf und stürzte auf ihn los. Aus aller Kraft schlug er die Tür zu und drückte sich an sie, aber alles war wieder ruhig geworden, und es herrschte von neuem Totenstille.

Lange stand er unentschlossen mit der Kerze in der Hand. In der Sekunde, als er die Tür geöffnet hatte, gelang es ihm sehr wenig zu unterscheiden, aber es war ihm doch möglich gewesen, flüchtig das Gesicht Kirillows zu sehen, der im Hintergrund am Fenster stand. Auch seine Wut, mit der er sich plötzlich auf ihn losgestürzt hatte, hatte er bemerkt. Piotr Stepanowitsch zuckte zusammen, stellte schnell die Kerze auf den Tisch, machte seinen Revolver schußbereit und sprang auf Zehenspitzen in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers, so daß, wenn jetzt Kirillow die Tür aufmachen und mit der Waffe in der Hand auf den Tisch zueilen würde, er noch früher als dieser zielen und abdrücken konnte.

An den Selbstmord glaubte Piotr Stepanowitsch jetzt gar nicht mehr.

»Er stand mitten im Zimmer und dachte nach«, ging es ihm wie ein Wirbelwind durch den Kopf. »Und dazu das dunkle, unheimliche Zimmer ... er brüllte auf und wollte sich auf mich stürzen ... Da sind zwei Möglichkeiten: entweder habe ich ihn gerade in dem Augenblick gestört, wo er den Hahn abdrücken wollte, oder aber ... oder er stand da und sann darüber nach, wie er mich töten könnte. Ja. Das war es wohl, darüber hat er wohl nachgedacht ... Er weiß, daß ich nicht fortgehen werde, ohne ihn umgebracht zu haben, wenn er es selbst mit der Angst bekommen sollte ... Also muß er mich zuerst töten, damit ich ihn nicht erschieße ... Und schon wieder diese Stille dort! Es ist geradezu unheimlich: auf einmal kann er die Tür aufmachen ... Die Schweinerei besteht darin, daß er an Gott noch fester glaubt als ein Pope ... Er wird sich unter keinen Umständen erschießen! ... Solcher Leute, die ›selbst dahinter gekommen sind‹, gibt es jetzt eine ganze Menge. Gesindel! Pfui, Teufel, die Kerze, die Kerze! In einer Viertelstunde wird sie ganz bestimmt zu Ende gebrannt sein ... Es muß ein Ende gemacht werden, unbedingt, um jeden Preis ... Nun, jetzt könnte ich ihn sehr gut töten ... Nach Bekanntwerden dieses Schriftstücks wird es keinem Menschen einfallen, in mir den Mörder zu suchen. Ich könnte ihn so auf den Fußboden legen, mit dem abgeschossenen Revolver in der Hand, und zwar in solcher Positur, daß man unbedingt glauben würde, er habe selbst ... Aber zum Teufel, wie soll ich ihn denn töten? Wenn ich jetzt die Türe aufmache, wird er wieder auf mich losstürzen und die Waffe noch früher abdrücken als ich. Ach was, hol's der Henker, er wird mich selbstverständlich verfehlen!«

So quälte er sich und zitterte förmlich angesichts der Unvermeidlichkeit der Ausführung dieses Vorhabens und infolge seiner Unentschlossenheit. Schließlich nahm er die Kerze und ging wieder zur Tür, wobei er seinen Revolver schußbereit in die Höhe hob; mit der linken Hand aber, in der er die Kerze hielt, drückte er auf die Türklinke. Aber das kam sehr ungeschickt heraus: die Klinke schnappte und knarrte ziemlich laut. »Er wird ohne weiteres auf mich schießen!« ging es blitzartig durch Piotr Stepanowitschs Hirn. Aus aller Kraft stieß er mit dem Fuß die Tür auf und streckte den Revolver vor; aber es erfolgte weder ein Schuß noch ein Schrei ... Es war niemand mehr im Zimmer.

Er zuckte zusammen. Kirillow hatte sich ja in kein Durchgangszimmer begeben. Dieses hier hatte keinen anderen Ausgang, und von hier konnte er schlechterdings nirgendwohin entfliehen! Piotr Stepanowitsch hob die Kerze noch mehr in die Höhe und sah noch einmal sehr aufmerksam in das Dunkel hinein: es war wirklich kein Mensch da. Halblaut rief er Kirillow beim Namen, dann zum zweiten Male lauter; niemand antwortete ihm.

»Ist er denn wirklich durch das Fenster entflohen?«

In der Tat war an einem der Fenster die Luftklappe geöffnet. »Unsinn, er konnte doch nicht durch die Luftklappe hindurchkriechen!« Piotr Stepanowitsch ging durch das ganze Zimmer zum Fenster hin. »Nein, das konnte er wirklich nicht.« Plötzlich wandte er sich rasch um, und etwas ganz Ungewöhnliches ließ ihn erschaudern.

Rechts von der Tür an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Schrank. Rechts von diesem Schrank, in dem Winkel, der von der Wand und dem Schrank gebildet wurde, stand Kirillow, und zwar in einer ganz sonderbaren Art: regungslos, gerade aufgerichtet, mit den Händen an der Hosennaht und mit erhobenem Kopf. Er hatte sich fest an die Wand gedrückt, stand ganz aufrecht in dem Winkel und hatte anscheinend den Wunsch, sich vollständig zu verbergen und möglichst unsichtbar zu machen. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß er sich da verstecken wollte, und doch war es aus irgendeinem Grunde kaum zu glauben. Piotr Stepanowitsch stand ihm etwas schräg gegenüber und bekam nur die hervorragenden Teile seiner Gestalt sehen. Er konnte sich immer noch nicht dazu entschließen, weiter nach rechts zu treten, um den ganzen Kirillow ins Auge zu fassen und den Kern des Rätsels zu begreifen. Sein Herz begann heftig zu schlagen ... Und plötzlich bemächtigte sich seiner eine vollständige Raserei: er riß sich von seinem Platz los, schrie auf und stürzte, mit den Füßen aufstampfend, zu der schrecklichen Stelle hin.

Als er aber schon ziemlich nahe herangekommen war, blieb er, von einem noch größeren Schrecken ergriffen, plötzlich wie angewurzelt stehen. Es überraschte ihn ganz besonders die Tatsache, daß die Gestalt trotz seines Aufschreis und seines wütenden Ansprungs sich gar nicht bewegte und auch nicht mit einem einzigen Gliede rührte, gerade so, wie wenn sie versteinert oder von Wachs wäre. Die Blässe des Gesichts war ganz unnatürlich, die vollkommen starren, schwarzen Augen schienen nach irgendeinem Punkt im leeren Raum zu blicken. Piotr Stepanowitsch fuhr mit dem Lichte von oben nach unten und dann wieder nach oben, so daß er dieses Gesicht von allen Seiten beleuchtete und betrachtete. Dabei bemerkte er plötzlich, daß Kirillow, obwohl er auch irgendwohin geradeaus vor sich hinblickte, ihn doch von der Seite ansah und ihn vielleicht beobachtete. Da kam ihm der Gedanke, die Kerze gerade an das Gesicht »dieses Schurken« heranzuhalten, es anzusengen und zu sehen, was dieser dann tun werde. Plötzlich schien es ihm, als ob Kirillow sich bewegte und als ob ein spöttisches Lächeln über dessen Lippen dahinglitte, gerade so, wie wenn er seine Absicht erraten hätte. Ein Zittern lief über seinen Körper und ohne zu wissen, was er tat, packte er Kirillow fest an der Schulter.

Und da geschah etwas dermaßen Rasches und Häßliches, daß Piotr Stepanowitsch später schlechterdings nicht imstande war, seine Erinnerungen an diese Augenblicke in irgendeine Ordnung zu bringen. Kaum hatte er Kirillow berührt, als dieser plötzlich den Kopf niederbeugte und ihm dann ebenfalls mit dem Kopf die Kerze aus der Hand schlug. Der Leuchter flog klirrend auf den Fußboden, und die Kerze erlosch. Im selben Augenblick fühlte Piotr Stepanowitsch einen furchtbaren Schmerz im kleinen Finger seiner linken Hand. Er schrie auf und erinnerte sich später nur daran, daß er außer sich geriet und Kirillow, der sich an ihn gedrückt hatte und ihn in den Finger biß, dreimal aus voller Kraft mit dem Revolver auf den Kopf schlug. Schließlich gelang es ihm, seinen Finger herauszureißen, und nun stürzte er Hals über Kopf davon, um, im Dunkeln den Weg suchend, aus dem Hause hinauszugelangen. Hinter ihm her erscholl aus dem Zimmer ein furchtbares Geschrei:

»Sofort, sofort, sofort, sofort! ...«

Wohl an die zehnmal. Aber er lief immer weiter und war schon auf den Flur hinausgelangt, als plötzlich ein lauter Schuß ertönte. Da blieb er wie angewurzelt im Dunkeln stehen und dachte etwa fünf Minuten nach. Endlich kehrte er wieder in die Wohnung zurück. Vor allen Dingen mußte er die Kerze wieder haben. Er brauchte nur rechts bei dem Schranke auf dem Fußboden den ihm aus der Hand geschlagenen Leuchter zu suchen; aber wie sollte er denn den Lichtstumpf anzünden? In seinem Kopfe tauchte plötzlich eine dunkle Erinnerung auf: er besann sich darauf, daß er am vorhergehenden Tage, als er in die Küche gelaufen war, um sich dort auf Fedka zu stürzen, in der Ecke auf einem Wandbrett etwas wie eine rote, große Streichholzschachtel flüchtig bemerkt hatte. Tastend wandte er sich nach links zur Küchentür, fand sie, durchschritt den dunklen Vorraum und stieg die Stufen hinunter. Auf dem Wandbrett, gerade an der Stelle, an die er sich soeben erinnert hatte, fand er im Dunkeln eine volle, noch nicht angebrauchte Schachtel Streichhölzer. Ohne sie zu benutzen, kehrte er im Dunkeln hastig nach oben zurück, und erst bei dem Schranke, gerade an der Stelle, wo er mit dem Revolver nach dem ihn beißenden Kirillow geschlagen hatte, erinnerte er sich auf einmal an seinen gebissenen Finger und empfand in ihm im selben Augenblick einen fast unerträglichen Schmerz. Er preßte die Zähne zusammen. Dann zündete er mit Mühe und Not das Lichtstümpfchen an, steckte es wieder in den Leuchter hinein und sah sich um. Bei dem Fenster mit der geöffneten Luftscheibe lag, mit den Füßen nach der rechten Zimmerecke zu, der Leichnam Kirillows. Er hatte den Schuß gegen seine rechte Schläfe gerichtet, und die Kugel war an der linken Seite oben wieder herausgegangen, nachdem sie den Schädel durchschlagen hatte. Piotr Stepanowitsch bemerkte auch Spritzer von Blut und Gehirn. Den Revolver hielt der Selbstmörder immer noch in der zu Boden gesunkenen Hand. Der Tod war wohl sofort eingetreten. Nachdem Piotr Stepanowitsch alles mit der größten Genauigkeit angesehen hatte, richtete er sich auf, ging auf den Zehen hinaus, machte die Tür zu, stellte die Kerze auf den Tisch im ersten Zimmer, dachte eine Weile nach und beschloß, sie nicht zu löschen, in der Erkenntnis, daß sie keinen Brand verursachen konnte. Nun warf er noch einen letzten Blick auf das immer noch auf dem Tisch liegende Schriftstück, lächelte mechanisch und ging dann, aus irgendeinem Grunde immer noch auf den Fußspitzen, aus dem Hause. Er kroch wieder durch Fedkas Schlupfgang hindurch und fügte das Brett hinter sich sorgfältig wieder ein.

3

Genau zehn Minuten vor sechs Uhr gingen an der sich auf dem Bahnhof ziemlich lang hinziehenden Reihe von Waggons Piotr Stepanowitsch und Erkel auf und ab. Piotr Stepanowitsch reiste fort, und Erkel nahm von ihm Abschied. Das Gepäck war aufgegeben und die Reisetasche in einem Wagen zweiter Klasse auf einen ausgewählten Platz gelegt. Das erste Glockenzeichen war bereits gegeben, und sie warteten auf das zweite. Piotr Stepanowitsch sah sich offen nach allen Seiten um und beobachtete die in den Zug einsteigenden Reisenden. Aber es war keiner von seinen näheren Bekannten darunter; nur zweimal mußte er jemand mit dem Kopf zunicken: einem Kaufmann, den er ganz flüchtig kannte, und dann noch einem jungen Dorfgeistlichen, der zu seiner zwei Stationen weiterliegenden Gemeinde fuhr. Erkel hatte offenbar große Lust, in den letzten Minuten von etwas Wichtigerem zu reden, obwohl er eigentlich vielleicht selbst nicht wußte, wovon. Aber er wagte immer noch nicht, anzufangen. Es war ihm, als ob Piotr Stepanowitsch seine Gesellschaft lästig sei und als ob er ungeduldig auf die beiden letzten Glockenzeichen warte.

»Sie sehen alle so offen an«, bemerkte er endlich etwas schüchtern, wie wenn er ihn warnen wollte.

»Weshalb denn nicht?« erwiderte Piotr Stepanowitsch, »Ich darf mich noch nicht verstecken. Es ist noch zu früh. Seien Sie unbesorgt. Ich fürchte nur, daß der Teufel diesen Liputin herführt; wenn er etwas wittert, kommt er hergelaufen.«

»Piotr Stepanowitsch, die Leute sind unzuverlässig«, sagte Erkel im entschiedenen Tone.

»Liputin?«

»Alle, Piotr Stepanowitsch.«

»Unsinn, jetzt sind sie durch das Gestrige gebunden. Es wird keiner von ihnen Verrat begehen. Wer wird sich denn so von selbst ins Verderben stürzen, wenn er nicht den Verstand verloren hat?«

»Piotr Stepanowitsch, sie werden ja alle den Verstand verlieren.«

Dieser Gedanke war wohl auch Piotr Stepanowitsch selbst in den Kopf gekommen, und deshalb ärgerte ihn die Bemerkung Erkels noch mehr.

»Haben Sie etwa auch schon Angst, Erkel? Auf Sie setze ich mehr Vertrauen als auf alle andern. Ich habe jetzt deutlich genug gesehen, was ein jeder wert ist. Teilen Sie den Leuten gleich heute alles mündlich mit; ich vertraue die Gruppe ausdrücklich Ihnen an. Gehen Sie heute vormittag schon bei ihnen umher. Meine schriftlichen Instruktionen lesen Sie ihnen morgen oder übermorgen vor; berufen Sie zu diesem Zwecke eine Versammlung, sobald die Leute wieder fähig sind, zuzuhören ... aber Sie können mir glauben, daß sie morgen schon dazu fähig sein werden, da sie furchtbar feige sind. Und Sie werden sie alle so nachgiebig finden wie Wachs ... Die Hauptsache ist, daß Sie selbst den Kopf nicht hängen lassen.«

»Ach, Piotr Stepanowitsch, es wäre viel besser, wenn Sie nicht wegführen!«

»Aber ich reise ja nur auf einige Tage fort, ich komme sehr bald wieder zurück.«

»Piotr Stepanowitsch,« sagte Erkel vorsichtig, aber im festen Ton, »und wenn Sie selbst nach Petersburg reisten? Versteh ich denn etwa nicht, daß Sie nur das tun, was für die gemeinsame Sache notwendig ist?«

»Weniger hatte ich von Ihnen auch nicht erwartet, Erkel. Wenn Sie erraten haben, daß ich nach Petersburg fahre, so werden Sie verstehen, daß ich den andern gestern in jenem Augenblick keineswegs sagen konnte, daß ich so weit verreise, um sie dadurch nicht noch mehr zu erschrecken. Sie haben ja selbst gesehen, in welcher Verfassung sie alle gestern waren. Aber Sie begreifen doch, daß ich um der Sache willen verreise, um der großen und wichtigen Sache willen, um unserer gemeinsamen Sache willen und nicht, um mich einfach aus dem Staube zu machen, wie sich das irgendein Liputin denkt.«

»Piotr Stepanowitsch, und wenn Sie auch ins Ausland führen, so würde ich das auch verstehen. Ich begreife ja, daß Sie Ihre Person der Sache erhalten müssen, denn Sie sind alles und wir nichts. Ich verstehe es ja, Piotr Stepanowitsch.«

Dem armen Jungen zitterte sogar die Stimme.

»Ich danke Ihnen, Erkel ... Au, Sie sind an meinen schlimmen Finger gekommen.« (Erkel hatte ihm ungeschickt die Hand gedrückt, an der der verletzte Finger schön sauber mit schwarzem Taft umwickelt war.) »Aber ich sage Ihnen ausdrücklich noch einmal, daß ich nach Petersburg reise, lediglich, um zu sehen, wie dort die Dinge stehen. Ich bleibe dort vielleicht nur vierundzwanzig Stunden und komme dann gleich wieder zurück. Nach meiner Rückkehr werde ich um des äußeren Scheins willen auf dem Lande bei Gaganow wohnen. Wenn den Unsrigen irgendeine Gefahr droht, so werde ich diese dann an der Spitze als erster teilen. Wenn ich aber auch in Petersburg länger bleiben sollte, so werde ich Sie schon benachrichtigen ... auf dem bekannten Wege; und Sie können es dann weiter mitteilen.«

Es erscholl das zweite Glockenzeichen.

»Ah, es bleiben also nur noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Wissen Sie, ich möchte nicht, daß die hiesige Gruppe sich auflöst. Ich habe ja keine Angst. Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen: ich habe genug solcher Knoten im allgemeinen Netz und brauche über jeden einzelnen nicht zu zittern. Aber ein Knoten mehr kann durchaus nicht schaden. Übrigens bin ich mir für Ihre Person ganz sicher, obgleich ich Sie fast allein mit diesen Mißgeburten zurücklasse. Aber seien Sie unbesorgt: die Leute werden nicht denunzieren, sie werden es nicht wagen ... Aha, auch Sie reisen heute?« rief er plötzlich mit ganz anderer, fröhlicher Stimme einem sehr jungen Manne zu, der vergnügt auf ihn herantrat, um ihn zu begrüßen. »Ich wußte gar nicht, daß auch Sie den Sonderzug benutzen wollten. Wohin geht denn die Reise? Zu Mamachen?«

Das Mamachen des jungen Mannes lebte als eine sehr reiche Gutsbesitzerin im Nachbargouvernement, der junge Mensch aber war ein entfernter Verwandter von Julia Michajlowna und hatte sich in unserer Stadt besuchsweise annähernd vierzehn Tage aufgehalten.

»Nein, ich fahre weiter. Ich will nach R. Etwa acht Stunden werde ich im Eisenbahnwagen wohl oder übel verbringen müssen. Und Sie reisen nach Petersburg?« fragte der junge Mensch lachend.

»Wie kommen Sie zu der Vermutung, daß ich gerade nach Petersburg will?« versetzte Piotr Stepanowitsch und lachte noch offenherziger.

Der junge Mann drohte ihm mit seinem behandschuhten Finger.

»Nun ja, Sie haben es erraten«, flüsterte ihm Piotr Stepanowitsch geheimnisvoll zu. »Ich habe Briefe von Julia Michajlowna bei mir und muß dort drei oder vier Leute aufsuchen, Sie können sich wohl denken, wen ich meine. Offengesagt, könnte sie alle meinetwegen der Kuckuck holen. Eine ganz teuflische Obliegenheit!«

»Aber sagen Sie nur, warum ist sie denn auf einmal so ängstlich geworden?« fragte der junge Mann nun ebenfalls im Flüsterton. »Sie hat nicht einmal mich gestern zu sich gelassen. Meiner Ansicht nach braucht sie sich ihres Mannes wegen gar keine Sorgen zu machen; im Gegenteil: er ist ja bei der Feuersbrunst in einer für ihn recht vorteilhaften Weise zu Fall gekommen, indem er sozusagen sein Leben opferte.«

»Na ja, versuchen Sie, ihr das auseinanderzusetzen«, erwiderte Piotr Stepanowitsch lachend. »Sie fürchtet offenbar, daß von hier bereits dorthin geschrieben worden ist ... Das heißt, seitens einiger Herren ... Mit einem Wort: es ist hier in der Hauptsache Stawrogin verwickelt; das heißt der Fürst K. Ach, das ist eine ganze, lange Geschichte; ich werde Ihnen meinetwegen unterwegs einiges davon erzählen – soweit es mir die Ritterlichkeit erlaubt ... Das ist ein Verwandter von mir, Fähnrich Erkel, aus dem Kreise.«

Der junge Mann, der Erkel von der Seite ansah, hob seine Hand flüchtig zum Rande des Hutes; Erkel erwiderte den Gruß.

»Wissen Sie was, Werchowenskij: acht Stunden im Eisenbahnwagen, das ist ein gräßliches Schicksal. Da fährt mit demselben Zuge in der ersten Klasse ein Oberst Berestow, ein sehr komischer Herr, mein Gutsnachbar: seine Frau ist eine geborene Garina (née de Garine) und wissen Sie, er ist ein sehr anständiger Mensch. Er hat sogar Ideen. Er hat sich hier nur zwei Tage aufgehalten. Er spielt leidenschaftlich gerne Whist; wollen wir eine Partie machen, wie? Einen vierten Mann habe ich auch bereits im Auge; es ist Pripuchlow, ein bärtiger Kaufmann aus unserem T., ein Millionär, das heißt, ein wirklicher Millionär, darauf können Sie sich verlassen ... Ich werde Sie bekanntmachen ... Er ist ein höchst interessanter Geldsack, wir werden genug Stoff zum Lachen haben.«

»Ich bin stets mit dem größten Vergnügen zu einem Whistspiel bereit und besonders gern in der Eisenbahn, aber ich fahre ja leider zweiter Klasse.«

»Ach was, reden Sie nicht, das ist doch kein Grund! Setzen Sie sich zu uns. Ich werde sofort Ihren Übergang in die erste Klasse anordnen. Der Zugführer wird mir gehorchen. Was haben Sie? Eine Reisetasche, ein Plaid?«

»Gut, glänzend, gehen wir!«

Piotr Stepanowitsch nahm seine Tasche, sein Plaid und sein Buch und siedelte sogleich mit der größten Bereitwilligkeit in die erste Klasse über. Erkel half ihm dabei. Es ertönte das dritte Glockenzeichen.

»Nun, Erkel,« sagte Piotr Stepanowitsch mit einer geschäftigen Miene und streckte ihm seine Hand zum letztenmal eilig aus dem Wagenfenster hinaus, »da setze ich mich mit den Herren zum Kartenspiel.«

»Aber wozu erklären Sie mir das, Piotr Stepanowitsch, ich begreife es ja, ich begreife ja alles!«

»Nun also. Auf ein angenehmes Wiedersehen!« versetzte Werchowenskij und wandte sich plötzlich hastig ab. Der junge Mann hatte ihn nämlich angerufen, um ihn den Mitspielern vorzustellen.

Und Erkel sah seinen Piotr Stepanowitsch nie wieder!

Als er nach Hause zurückkehrte, war er sehr niedergeschlagen. Nicht, daß er etwa Furcht empfand, weil Piotr Stepanowitsch sie alle so plötzlich verlassen hatte, aber ... aber er hatte sich beim ersten Anruf jenes jungen Stutzers so schnell von ihm abgewandt, und ... er hätte ihm doch auch etwas anderes sagen können, als nur dieses »Auf ein angenehmes Wiedersehen!« oder ... oder er hätte ihm wenigstens fester die Hand drücken können ...

Und dieses Letzte war gerade die Hauptsache. Etwas ganz Neues begann jetzt an seinem armen Herzchen zu nagen, etwas, was er selbst noch nicht verstand und was entschieden mit dem gestrigen Abend in Verbindung stand.


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