Hans Dominik
Der Wettflug der Nationen
Hans Dominik

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Wieder in den Eggerth-Werken

Professor Eggerth hatte seine engsten Mitarbeiter zu einer Besprechung gebeten. Vor ihm lag das Protokoll über die letzten Dauerflüge der ›Seeschwalbe‹ mit den verbesserten Zweitaktmotoren, daneben ein Stoß Zeitungen und andere Schriftstücke. Hein Eggerth beugte sich zu ihm hin und tippte selbstbewußt mit dem Zeigefinger auf das Protokoll.

»Ich glaube, Vater, mit der ›Seeschwalbe‹ können wir jetzt zufrieden sein. Oder hast du etwa noch irgendeine neue große Überraschung für uns in petto?«

Der Professor deutete auf den Kalender. »Mein lieber Junge, wir schreiben heut den 15. Mai. Da ist für Überraschungen und Neukonstruktionen keine Zeit mehr. Unsere Arbeitspläne stehen fest. Außer den beiden Maschinen, mit denen ihr die Erprobungsflüge machtet, haben wir eine Serie von zehn Maschinen der gleichen Type im Bau. In demselben Tempo wie die Maschinen fertig werden, müssen sie eingeflogen werden. Abänderungen irgendwelcher Art gibt es jetzt nicht mehr.«

»Sie wären meiner Meinung nach auch absolut überflüssig, Vater. Ich denke, unsere Ziffern sprechen für sich selbst. Beim letzten Flug 9000 Kilometer in 20 Stunden . . . nicht der kleinste Zwischenfall . . . keine Spur einer Störung . . . die Motoren haben während der ganzen Zeit mit der Präzision eines Uhrwerkes gearbeitet . . .«

Während er sprach, blätterte der Professor in den Protokollen. An einer Stelle blieb sein Blick haften.

»Ihr habt den Betriebsstoff während des Fluges hier über unserem Platz von ›Seeschwalbe 2‹ auf ›Seeschwalbe 1‹ übernommen. Durchschnittlich immer nach 3000 Kilometern.«

»Ich hatte vorgeschlagen, in der Luft zu tanken, Herr Professor«, sagte Oberingenieur Vollmar. »Es ließ sich gut machen, weil wir die beiden völlig gleichen Maschinen zur Verfügung hatten.«

Der Alte nickte. »Ich habe das Überfüllen selbst mit angesehen. Mein Kompliment, meine Herren. Es klappte wirklich ganz wunderbar. Sobald Maschine 2 in gleichem Kurs über Maschine 1 flog, ging der Füllschlauch hinunter, und in fünf Minuten hatte Maschine 1 ihre Brennstoffladung für die nächsten 3000 Kilometer im Leib. In der Tat sehr schön und praktisch. Nur dürfen Sie nicht vergessen, daß sich solche Tankgelegenheiten während des Reading-Rennens nicht bieten werden. Da heißt es eben je nach den Umständen wassern und landen, wenn neuer Betriebsstoff genommen werden soll.«

»Ich könnte mir immerhin eine Organisation denken, Herr Professor«, sagte der Oberingenieur, »die auch während des Reading-Rennens selbst ein Tanken in der Luft ermöglicht. Es wäre dazu nur erforderlich, an unseren Betriebsstofflagern auf der Rennstrecke auch noch geeignete Flugzeuge zu stationieren.«

Professor Eggerth schüttelte den Kopf. »Ist ausgeschlossen, Herr Vollmar! Es würde die Organisation unnötig komplizieren und verteuern. Nein, meine Herren, das Problem liegt anders herum. Die Maschinen, die wir in das Rennen schicken, müssen imstande sein, mit denkbar größter Betriebssicherheit jederzeit zu landen oder wassern zu können. Die Zuverlässigkeit unserer neuen ›Seeschwalbe‹ in der Luft während des Dauerfluges haben wir erprobt. Unsere nächste Arbeit muß darauf gerichtet sein, die unvermeidlichen Zwischenlandungen ebenso zuverlässig zu gestalten.«

Bert Röge und Kurt Schmieden sahen den Professor fragend an. Hein Eggerth unterbrach das Schweigen. »Wie denkst du dir das, Vater?« Der Alte lachte.

»Üben, mein Junge! Da heißt es einfach üben und immer wieder üben! Hier auf unserem Flugplatz landen, irgendwo auf der Elbe wassern, bis ihr alle Eigenheiten der ›Seeschwalbe‹ vollkommen kennt und beherrscht.«

»Aber erlaube, Vater! Bis jetzt hat noch keiner von uns Bruch mit der Maschine gemacht.« Röge und Schmieden nickten ihm beistimmend zu.

»Ist richtig, meine Lieben. Wenn ihr welchen gemacht hättet, würde ich's euch auch nicht übel genommen haben. Die Landungsschwierigkeiten bei derartig schnellen Maschinen sind groß. Das weiß ich ebenso gut wie ihr. Man muß vor dem Landen oder Wassern . . . das bleibt sich gleich . . . die Geschwindigkeit bis zu einem kritischen Punkt abdrosseln. Drosselt man ein wenig zu stark, so sackt das Flugzeug ab und fällt wie ein Stein zu Boden. Drosselt man zu wenig, so ist die Geschwindigkeit im Augenblick der Bodenberührung noch gefährlich hoch, es kann schweren Bruch und anderes Unglück geben.«

Die drei Piloten der ›Seeschwalbe‹ sahen sich verwundert an. Warum erzählte ihnen der Alte hier Dinge, die ihnen seit langem geläufig waren? Der fuhr unbeirrt fort: »Da heißt es also, sich durch fortgesetzte Übung . . . durch hundertmaliges . . . noch besser durch tausendmaliges Landen jenes feinste Fingerspitzengefühl für die richtige Landungsgeschwindigkeit zu erwerben. Das ist mit der Grund, weshalb ich zwölf Maschinen vom Seeschwalben-Typ bauen lasse. Du, Hein, und auch Sie, Herr Röge und Herr Schmieden, müssen während der nächsten Monate soviel Maschinen zur Verfügung haben, daß gelegentliches Kleinholz Ihre Übungen nicht stört.

Verstehen Sie mich richtig! Zweierlei will ich haben, wenn das Rennen beginnt. Erstens wenigstens ein halbes Dutzend vollkommen eingeflogener Maschinen, von denen ich mir im letzten Augenblick die beste für das Rennen aussuche, und zweitens einen Stab von Piloten, die mit diesen Maschinen absolut vertraut sind.«

Hein Eggerth nahm das Wort für die anderen.

»Ich glaube dich zu verstehen, Vater. Aber geht deine Vorsicht, fast möchte ich sagen, deine übertriebene Sorge in diesem Punkt nicht zu weit?«

Der Professor griff nach dem Stoß zu seiner Rechten und zog daraus eine englische Zeitung hervor.

»Bitte lies das, lies es laut vor! In den deutschen Blättern hat darüber noch nichts gestanden, man scheint die Nachricht von englischer Seite unterdrücken zu wollen.«

Hein Eggerth überflog die Notiz und gab sie dann verdeutscht wieder.

»Schwerer Flugzeugunfall an der Kanalküste, zwei Tote. Eine Rennmaschine von Fisher & Ferguson machte gestern Probeflüge zwischen der Insel Wight und Kap Portland. Es soll dabei eine Stundengeschwindigkeit von 820 Kilometern erreicht worden sein. Beim Wassern gab es einen Unfall. Die Maschine wurde vollkommen zerstört. Die beiden Piloten konnten nur als Leichen geborgen werden.«

Hein Eggerth ließ das Blatt sinken. »Nun ja, Vater. 820 und 450 Stundenkilometer, das ist ein gewaltiger Unterschied. Wir haben die ›Seeschwalbe‹ im Moment des Aufsetzens auf etwa 180 Kilometer abgedrosselt. Die verunglückte englische Maschine mußte doch mit wenigstens der doppelten Geschwindigkeit wassern.

Nehmen wir für den Moment des Aufsetzens mal 360 Stundenkilometer an. Das sind hundert Meter in der Sekunde, etwa Büchsenkugelgeschwindigkeit. Solchen Geschwindigkeiten gegenüber verhält sich ja das Wasser fast wie ein starrer Körper. Nur ein wenig zu hart aufgesetzt, und die Maschine muß zu Bruche gehen. Ich begreife nicht, wie Fisher & Ferguson sich auf derartig gefährliche Sachen überhaupt einlassen konnten.«

Während der junge Eggerth sprach, suchte der Professor ein Schriftstück aus dem Stapel heraus und blätterte darin. Jetzt unterbrach er seinen Sohn:

»Du mußt die Engländer nicht für so töricht halten, Hein. Es ist ja für jeden Menschen, der etwas von der Sache versteht, vollkommen klar, daß sich eine Geschwindigkeit von 820 Stundenkilometern in der dichten Atmosphäre nur mit äußerst stark reduzierten Tragflächen erreichen läßt. Mit Tragflächen, die jedenfalls ein einigermaßen sicheres Aufsteigen und Landen nicht mehr gestatten. Das war den Herren Fisher & Ferguson natürlich auch bekannt.

Ich habe hier einen Bericht unseres Londoner Vertreters, der ziemlich genauen Aufschluß über den Unfall gibt. Das englische Flugzeug war mit ausschiebbaren Hilfsschwingen ausgerüstet . . .«

Oberingenieur Vollmar pfiff durch die Zähne. »Wenn das so leicht wäre«, murmelte er vor sich hin. »Da können wir ja auch ein Lied von singen.«

»Unser Vertreter schreibt«, fuhr Professor Eggerth fort, »daß die ausgeschobenen Hilfsschwingen sich während des Aufstieges etwas verbogen haben müssen. Es gelang zwar, sie einzuholen, als sie aber vor der Wasserung wieder ausgeschoben werden sollten, versagte der Mechanismus. Offenbar ist er in Unordnung geraten, als die unter vollem Luftdruck stehenden Hilfsschwingen mit übermäßiger Gewalt eingezogen wurden. Jedenfalls steht das Ergebnis fest, daß es nicht möglich war, sie im kritischen Moment wieder auszuschieben. Die Piloten mußten infolgedessen mit einer überhohen Geschwindigkeit wassern und die Katastrophe war unvermeidlich. Der Rumpf der englischen Maschine wurde buchstäblich in Fetzen zerrissen, die Leiber der Piloten beim Aufschlag auf die See zerschmettert . . . Der Bericht schließt mit der Mitteilung, daß Fisher & Ferguson nach diesem Unglück nicht mehr die Absicht haben, ihre ultraschnellen Flugzeuge mit ausreckbaren Hilfsschwingen in das Rennen zu schicken.«

Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Der jähe Fliegertod der englischen Kameraden ging den jungen Piloten der Eggerth-Werke nahe.

»Ikariden-Schicksal«, sprach der Professor vor sich hin. »Unser Vertreter nahm an der Beisetzung der verunglückten Flieger teil und hat für unser Werk einen Kranz niedergelegt . . .«, er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, »lassen wir die Toten ruhen. Der Kampf geht weiter. Ich glaube, daß wir mit der neuen ›Seeschwalbe‹ gute Aussichten auf einen Erfolg haben.«

»Sollen unsere St-Maschinen dem Rennen fernbleiben?« fragte Georg Berkoff. Der Professor warf ihm einen Blick zu.

»Die Entscheidung darüber, Herr Berkoff, behalte ich mir bis zur Nennung unserer Maschinen für den Reading-Preis vor. Es wird ganz davon abhängen, mit was für Maschinen unsere Konkurrenten antreten. Das kann ich Ihnen aber schon heute sagen, fernbleiben werden unsere drei Maschinen der St-Type dem Rennen nicht. Unter allen Umständen würde ich sie auf unserer Strecke als Hilfsschiffe einsetzen, um unsere im Rennen befindlichen Flugzeuge jederzeit unterstützen zu können.

Für die Stratosphärenschiffe gilt das gleiche wie für die Maschinen vom Typ der ›Seeschwalbe‹. Sie müssen bis zum 22. September gut eingeflogen und vollkommen in der Hand ihrer Piloten sein. Herr Berkoff und Herr Schmieden und die übrigen Führer der Stratosphärenschiffe werden ebenso unablässig zu üben haben wie die Bemannungen der anderen Typen. Dabei muß ich Ihnen immer wieder größte Vorsicht ans Herz legen. Sie dürfen nur bei Dunkelheit von unserem Platz aufsteigen und auch nur bei Dunkelheit irgendwo wassern. Es hat sich zwar leider nicht vermeiden lassen, daß über die Existenz unserer Stratosphärenschiffe allerlei bekannt wurde. Ihre wirklichen Leistungen aber müssen bis zum Augenblick unbedingt geheim bleiben.«

»Danach handeln wir selbstverständlich, Herr Professor«, erwiderte Georg Berkoff, »wir waren gestern mit ›St 1‹ über der Schreckensbucht. Da wird es ja jetzt überhaupt nicht mehr recht dunkel. In zehn Kilometer Höhe haben wir ein paar Schleifen über der Bucht geflogen und die meteorologische Station mit der Tele-Kamera aufgenommen. Kein Mensch hat da unten auch nur eine Spur von uns gemerkt. Die Aufnahmen habe ich übrigens bei mir, wenn es Sie interessiert«, er reichte dem Professor einige Photos. Der betrachtete sie mit Interesse.

»Der Platz sieht ja ganz manierlich aus, Herr Berkoff. Soviel sich erkennen läßt, weithin eisfreies Wasser. Das Plateau mit der Station . . . es scheint ziemlich eben zu sein . . . trotzdem werden wir uns hier und überall dort, wo es angängig ist, nur auf Wassern einlassen. Doch davon wird später noch zu reden sein. Ich gedenke unseren Piloten für das Rennen genaue Anweisungen mitzugeben, entsprechend etwa den Segelanweisungen für die Wasser-Schiffahrt . . .«

Das Klingeln des Telephons unterbrach ihn. Er griff zum Hörer.

»Wie? . . . Was sagen Sie da, Wulicke? . . . In flagranti abgefaßt . . . Sie haben den Kerl doch richtig festgesetzt? . . . Im Sicherheitsraum der Werkzeugausgabe? . . . Da dürfte er in Numero Sicher sein . . . Sie haben ihn gründlich revidiert und ihm alles abgenommen . . . kommen Sie mit den Sachen gleich zu mir ins Konferenzzimmer.« Er legte den Hörer wieder auf und wandte sich den anderen zu.

»Schöne Schweinerei, meine Herren. Da hat Meister Wulicke einen unserer Leute beim Skizzieren erwischt . . .«

Oberingenieur Vollmar fuhr zusammen. »Meister Wulicke?! Das heißt in der Montage der St-Schiffe. Mein Gott, wie ist so etwas möglich?«

Der Professor machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Gedulden Sie sich, Herr Vollmar! Wir werden es gleich hören.«

Noch während sie sprachen, klopfte es an die Tür. Meister Wulicke kam herein. Er war noch außer Atem. Sein Haar war in Unordnung, eine frische Schramme auf seiner linken Wange verriet, daß es bei der Festnahme des Übeltäters nicht ganz friedlich zugegangen sein mochte.

Der Professor deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich, Meister, und berichten Sie uns.«

»Ja also, Herr Professor, da, jetzt eben in der Mittagpause . . . manche von den Leuten gehen ja in die Kantine, aber manche bleiben auch in der Werkstatt und essen da ihr Mitgebrachtes . . . also da sehe ich doch, wie der Schlosser Schulze 3 mit seinem Stullenpaket nach der Nordwestecke der Halle geht. Ich denke mir, der Mann wird sich da auf die Feilbank setzen wollen und achte nicht weiter darauf. Nach zehn Minuten gucke ich mal zufällig aus meiner Bude raus. Ich kann durch die Scheiben auch die Feilbänke übersehen, aber da sitzt kein Schulze 3.

Ih! denke ich mir, wo ist denn der geblieben? Und da habe ich doch so eine Ahnung, als ob da was nicht stimmt, und sage mir, du mußt doch mal sehen, wo Schulze 3 geblieben ist. Ich pirsche mich also vorsichtig durch den Mittelgang an die Feilbänke ran. Der Herr Professor wissen, zwischen dem Mittelgang und den Feilbänken steht der Rumpf von ›St 3‹. Ganz vorsichtig schleiche ich an dem Rumpf lang und was soll ich Ihnen sagen, da hat sich's doch mein Schulze da drin bequem gemacht und seine Stullen ausgepackt. Ich will gerade rangehen und ihn da mit einem Donnerwetter rausjagen, da denke ich doch plötzlich, der Schlag soll mich treffen. Hat der Kerl seine Stullen ausgewickelt, hat das weiße Stullenpapier vor sich . . . Herr Professor können hier noch die Fettflecken sehen . . .« Bei diesen Worten legte Meister Wulicke einige Blatt weißen Papiers auf den Tisch, denen ihre frühere Verwendung als Einwickelpapier für ein ziemlich fettes Frühstück deutlich anzumerken war.

»Also da hat doch der Kerl«, fuhr der Meister fort, »das Papier vor sich, fingert da mit dem Zollstock an den Motoren rum und skizziert auf Deibelkommraus.

Na, ich duckte mich gleich wieder weg. Er hatte mich noch nicht gemerkt. Ich hole mir schnell zwei von unseren Leuten. Die beiden von der einen Seite ran an Schulze 3, ich von der andern Seite, na, und da hatten wir dann ja den Musjö. Mit der einen Hand hielt ich ihn am Kragen, mit der anderen hatte ich ihm sein Papier weggenommen. Aber gewehrt hat sich der Mensch. Mir hat er doch erst noch eine reingehauen, ehe wir ihn dann richtig beim Wickel hatten und in dem Sicherheitsraum verstauten . . .«

Schon während des letzten Teiles von Wulickes Worten hatte der Professor sich in die Zeichnungen auf dem Einwickelpapier vertieft. Kopfschüttelnd betrachtete er sie, hielt sie ein paarmal gegen das Licht. Jetzt unterbrach er den Meister.

»Sitzt der Kerl auch wirklich sicher fest?«

»Aber der Herr Professor wissen doch. Der Sicherheitsraum der Werkzeugausgabe. Da kommt so leicht keiner rein. Also denke ich, da wird auch keiner rauskommen.«

Professor Eggerth hatte inzwischen das Papier mit einer Lupe betrachtet, und war dabei immer nachdenklicher geworden.

»Meine Herren«, sagte er jetzt, »die Sache liegt ernster, als es auf den ersten Blick scheint. Wir haben hier in Bleistift eine ziemlich harmlose Skizze, wie sie sich wohl ein wißbegieriger Schlosser machen kann. Daneben entdecke ich aber Linien und Zahlen, die mit irgendeinem chemischen Stift, dem Auge kaum sichtbar, aufgezeichnet sind, und die, meine Herren, verraten die Hand eines sachkundigen Ingenieurs, der ganz genau weiß, worauf es ankommt. Wir werden diese Linien mit geeigneten Chemikalien besser sichtbar machen. Ich denke, das wird unsere Forschungsanstalt wohl können . . .

Aber was ist das für ein Mensch, dieser Schulze 3? Wie lange ist der bei uns? Wie sind Sie an den gekommen?«

Meister Wulicke tauschte einen Blick mit Oberingenieur Vollmar. Der nickte leicht. »Sprechen Sie nur ganz offen, Meister. Das wird für alle Teile am besten sein.«

»Ja, also, Herr Professor, wir brauchten doch neue Leute, als wir ›St 3‹ auf Stapel legten. Da habe ich mich an den Städtischen Arbeitsnachweis gewandt. Allzuviele Bewerber mit guten Erfahrungen im Flugzeugbau waren nicht da. Etwa ein Dutzend kamen in Betracht. Von denen habe ich mir die Papiere geben lassen und Herrn Oberingenieur vorgelegt.«

Vollmar nickte bestätigend. »Das ist richtig, Herr Professor. Die Papiere der neueingestellten Leute haben mir vorgelegen. Ich erinnere mich, daß dieser Schulze ganz ausgezeichnete Zeugnisse über eine mehrjährige Tätigkeit in den Berka-Werken hatte.«

Professor Eggerth zuckte die Achseln. »Die Berka-Werke haben leider vor einem halben Jahr zugemacht. Da konnte man natürlich keine Erkundigungen mehr einziehen.«

»So ist es, Herr Professor, aber ich habe die Unterschriften auf den Originalzeugnissen mit gleichen Unterschriften in unserer Korrespondenz verglichen. Wenn die gefälscht sind, dann gibt es überhaupt keinen Schutz mehr gegen Fälschungen.«

Professor Eggerth zwang sich zu einem Lächeln. »Wer kann das wissen, mein lieber Herr Vollmar. Vielleicht sind die Unterschriften sogar echt und der Schulze, den wir hier erwischt haben, ist gefälscht. Vielleicht hat ein Dritter dem echten Schulze während seiner Arbeitslosigkeit die Zeugnisse abgekauft oder gestohlen. Seit wann ist der Mensch bei uns beschäftigt, Meister?«

Wulicke rechnete an den Fingern. »Seit neun Tagen, Herr Professor.«

»Hm . . . hm! Neun Tage! In neun Tagen kann schon viel Malheur passiert sein. Wir müssen die Kriminalpolizei benachrichtigen und Haussuchung halten lassen. Vielleicht kann man doch noch einiges sicherstellen, obgleich . . .« der Professor schüttelte den Kopf, »meistens geben solche Leute alles belastende Material sofort an zweite und dritte Hände weiter. Wollen Sie die Güte haben, Herr Vollmar, gleich alles Nötige bei der Polizei zu veranlassen.« –

Sechs starke Arme hatten den immer noch Widerstand leistenden Flugzeugschlosser Schulze 3 mit kräftigem Schwung in den Sicherheitsraum der Werkzeugausgabe gestoßen. Die mit Stahlblech beschlagene Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er hörte, wie der Schlüssel zweimal umgedreht wurde. Es war stockdunkel in dem Raum.

Eine Weile befühlte der Eingeschlossene seine verschiedenen Körperteile. Es schmerzte ihn hier und dort. Besonders die Maulschelle, die ihm Meister Wulicke noch zum Abschied verpaßt hatte, war nicht von schlechten Eltern gewesen.

Verfluchte Geschichte, daß er von dem Meister beim Skizzieren erwischt worden war! Da hatte er sich eine böse Suppe eingebrockt. Wie verheißungsvoll hatte die Sache vor drei Wochen in Straßburg ausgesehen, als der Japaner Kyushu zu ihm kam und ihm so verlockende Vorschläge machte. Einen falschen Paß und prima Zeugnisse hatte ihm der gegeben, hatte ihm gleichzeitig eine Summe in die Hand gedrückt, die ein Vielfaches von dem war, was er als Flugzeugingenieur in Straßburg während eines Jahres verdienen konnte . . . und jetzt saß er hier eingesperrt in einem finsteren Loch. Wie lange würde es noch dauern, dann kam die Polizei. Man würde ihn verhaften, vor Gericht stellen . . . verurteilen . . . es gab jetzt in Deutschland saftig Zuchthaus für solche Dinge . . .

Er fuhr zusammen. Das durfte nicht sein. Weg von hier . . .! Erst mal sehen, wo er war . . . er tastete sich zur Tür zurück, fand den Lichtschalter und drehte ihn an. Aha! . . . In die Werkzeugausgabe hatten die ihn eingesperrt. Ein höhnisches Lächeln ging über seine Züge . . . nicht besonders schlau von Meister Wulicke, ihn gerade hierhin zu stecken. Was er etwa an Werkzeug für einen Ausbruch benötigte, war hier jedenfalls bequem zu finden.

Er suchte, sich in Gedanken über die Örtlichkeit klar zu werden. Die Werkzeugausgabe lag, wie er sich jetzt erinnerte, in der Südwestecke der großen Halle, nur wenige Meter von der Umfassungsmauer des Werkes entfernt . . . Die beiden Fenster dort mußten auf den schmalen Streifen zwischen Halle und Mauer hinausgehen . . . Fenster? . . . ja, da waren zwar Fenster . . . aber sie waren innerhalb des Raumes selbst durch Läden aus schwerem Stahlblech verschlossen. Starke stählerne Querbalken davor verstärkten noch die Sicherung. Die Leitung der Eggerth-Werke hatte alles Erdenkliche getan, um sich gegen einen Einbruch in das Lager wertvoller Spezialwerkzeuge zu schützen. Daß freilich jemand einmal den Drang haben könnte, auch aus diesem Raum auszubrechen, daran hatte sie nicht gedacht und hatte mit Fug und Recht auch nicht daran zu denken brauchen . . .

Der Gefangene sah sich die Querbalken des einen Fensters genau an. Dann ging er zu einem der Werkzeugregale. Mit einer kräftigen Schraubenkluppe kehrte er zu dem Fenster zurück. Er steckte sie in die Öse eines Vorhängeschlosses. Ein Rucken und Wuchten an der langen Kluppenstange, ein Knirschen und Krachen. Das Schloß war frei. Der Querbalken ließ sich fortnehmen.

Noch zweimal das gleiche Manöver und die Läden waren frei. Vorsichtig zog er den einen Flügel etwas zurück. Da lag im Mittagssonnenschein dicht vor ihm die Umfassungsmauer. Soweit er blicken konnte nirgends ein Mensch zu sehen. Die mochten wohl alle in der großen Halle stecken und über seine Gefangennahme schwatzen.

Jetzt nur schnell raus und weg! . . . Aber wie über die drei Meter hohe Mauer kommen? . . . Er musterte die Werkzeugregale. Da in einem Fach lagen Flaschenzüge von allen Arten und Größen. Ein Seilzug . . . ein rettendes Seil, das ihm über die Mauer helfen konnte . . .

Es war nicht ganz leicht, einen Halt für das Seil zu finden. Ein Glück, daß die Mauerkrone zum Schutz gegen ungebetene Gäste mit Glasscherben gepflastert war. In dem Zement der Kronenabdeckung staken neben unzähligen kleineren Scherben auch zur Hälfte abgeschlagene Champagnerflaschen. Ein dutzendmal wurde die Seilschlinge vergeblich geworfen. Dann fing sie sich um eine solche Flasche. Und dann war der Mann, der unter dem Namen Schulze 3 eine kurze Gastrolle in den Eggerth-Werken gegeben hatte, auf der anderen Seite der Mauer und lief querfeldein davon. –

»Na, denn wollen wir den Kerl mal rausholen!« sagte Kriminalwachtmeister Kunze zu Wulicke.

»Sehen Sie sich aber vor, Herr Wachtmeister, der Mensch ist zu allem fähig«, meinte Wulicke, während er die Tür zum Sicherheitsraum aufschloß. Es war dunkel darin und nichts rührte sich.

»Kommen Sie raus, Mann!« rief Kunze und machte seine Pistole schußfertig. Derweil hatte Meister Wulicke das Licht angedreht. Ein Blick auf die zerbrochenen Schlösser zeigte, was geschehen. Der verdächtige Vogel war ausgeflogen. Alle Versuche, ihn wiederzufangen, blieben erfolglos.

 


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