Hans Dominik
Der Wettflug der Nationen
Hans Dominik

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In der City von New York

John Sharp hatte den engeren Ausschuß des Kuratoriums zu einer Besprechung ins Reading-Haus gebeten.

»Meine Herren«, eröffnete er die Sitzung, »ich habe Ihnen einige Mitteilungen zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Der Aëro-Klub von Frankreich beabsichtigt, den Flughafen von Marseille als Start und Ziel für sein Rennen zu wählen. Als Gegenpunkt ergibt sich dafür die Ostküste der Insel Warekauri, östlich der Neuseeland-Gruppe. Es bieten sich dort gleichgute Gelegenheiten zum Wassern und zum Landen. Außerdem ist diese Insel nicht allzu weit von dem auf der Nordinsel der Neuseeland-Gruppe gelegenen englischen Kontrollpunkt entfernt. Wir könnten unsere Zeitnehmer mit dem gleichen Schiff zu den beiden Stellen schicken. Ich bin der Meinung, daß wir den französischen Vorschlag gutheißen.«

Ausnahmslos gaben die Anwesenden ihre Zustimmung. Schon wenige Minuten später flog die Antwort des Kuratoriums auf Ätherwellen nach Frankreich und John Sharp fuhr in seinem Bericht fort.

»Die Russen wollen in ihrem neuen sibirischen Industriezentrum starten. Als Startpunkt schlagen sie den Flugplatz von Udinsk südlich vom Baikal-See im Tale des Chilok-Flusses vor. Als Gegenstation ergibt sich für sie San José am Rio Gallegos, eine argentinische Niederlassung im südlichsten Zipfel des amerikanischen Festlandes. Ich schlage vor, daß wir auch diesem Antrag ohne weitere Debatte unsere Zustimmung erteilen.«

Ebenso schnell wie der französische wurde auch der russische Antrag vom Kuratorium genehmigt und die Entscheidung sofort nach Moskau gefunkt.

»Nun zu unseren eigenen Angelegenheiten«, sagte John Sharp, »die Arbeiten an unserer Kontrollstelle in Brasilien machen gute Fortschritte, wir können schon immer an die Festlegung unserer Flugroute denken. Am besten sehen wir uns die Sache gleich auf dem Globus an.«

Wieder standen die Mitglieder des Kuratoriums um den großen Globus herum und John Sharp spannte eine feine Schnur vom Startpunkt bei Manila um die Globuswölbung bis zum Gegenpunkt in Brasilien und über die andere Seite der Kugel weiter zurück bis zum Startpunkt. Während er die Schnur leicht hin und her schob, gab er seine Erklärungen.

»Ich schlage vor, daß wir das Rennen in West-Ost-Richtung fliegen und die Route über Hawai gehen lassen. Unsere Flieger finden dann eine ganze Reihe von Stützpunkten im Stillen Ozean. Sie könnten nötigenfalls noch auf den Galapagos-Inseln tanken, würden das südamerikanische Festland bei Kap Parina erreichen und in der Nähe von Porto Alegre wieder verlassen. Der Flug von dort bis zur Walfisch-Bay in Südafrika führt allerdings 5800 Kilometer weit über ein inselfreies Meer. Auf dieser Strecke werden wir wohl oder übel einige Tankschiffe als Stützpunkte einsetzen müssen. Dafür ist der Rest der Route über den Indischen Ozean wieder reichlich mit natürlichen Stützpunkten versehen.«

Die anderen Mitglieder des Kuratoriums waren den Ausführungen John Sharps mit Aufmerksamkeit gefolgt. Als er jetzt schwieg, versuchten sie selbst das Spiel auf dem Globus. Hin und her wurden die zwischen Punkt und Gegenpunkt gespannten Schnüre bewegt, aber bald mußten sie zugeben, daß John Sharps Vorschlag die beste Lösung bedeutete. Nur wenn man die natürlichen Stützpunkte im Stillen Ozean, darunter in erster Linie die Hawai-Inseln ausnutzte, könnte man hier ohne kostspielige Entsendung von Schiffen auskommen. Durch die Annahme der Stadt Kealakekua als eines dritten Punktes zu den beiden bereits gegebenen Punkten für Start und Kontrolle, war aber natürlich die Route für das ganze Rennen eindeutig festgelegt.

Geraume Zeit ging die Debatte über die Annahme dieser Fluglinie noch hin und her. Nur sehr schwer ließ sich Arthur Stangland, der Präsident des amerikanischen Aëro-Klubs von seiner Lieblingsidee abbringen, die amerikanische Route über die beiden Pole des Erdballs zu legen. Er verteidigte sein Projekt in einer temperamentvollen Rede, die in die Worte ausklang: »Ich betrachte es als eine besondere Fügung des Schicksals, Gentlemen, daß unser Rennen gerade auf die Zeit der Tag- und Nachtgleiche fällt. An beiden Polen würden unsere Flieger am 22. September Helligkeit und Sonnenlicht finden. Welche Ehrung wäre es für unseren unvergeßlichen Morgan Reading, welch neuer Ruhm für unsere glorreiche Nation, wenn wir diesem Winke der Vorsehung folgten und unser Rennen über die beiden Erdpole gehen ließen.«

Die Meinung der Versammlung schwankte, als Stangland seine Rede schloß. Nur allzu verlockend schien vielen seine kühne Idee. Es bedurfte sehr ernster Vorstellungen John Sharps, um die Anwesenden zu seinem eigenen Vorschlag zurückzubringen. Nur der schroffe Hinweis darauf, daß auch bei Tageslicht jeder Flieger und jedes Flugzeug, die in den Eiswüsten der Polarregionen notlanden müßten, rettungslos verloren seien, verschaffte seiner eigenen Ansicht wieder Geltung. Nach langem Hin und Her kam schließlich sein Antrag zur Annahme und wurde zur Nachprüfung dem meteorologischen Zentralbüro überwiesen. –

John Sharp saß wieder allein in seiner Office im Reading-Haus, als ihm der Legationssekretär Roberto Rapagnetta von der italienischen Botschaft gemeldet wurde.

»Führen Sie ihn herein«, sagte er dem Clerk, »und vergessen Sie nicht, mich in zehn Minuten an den Beginn einer wichtigen Konferenz zu erinnern!«

Signor Rapagnetta trat ein und begann seine Mission mit südländischer Lebhaftigkeit in einem brauchbaren Englisch vorzubringen. Allerdings wirkten seine Ausführungen in dem nüchternen anglosächsischen Idiom nicht so überzeugend, wie sie vielleicht in der Sprache seiner Heimat geklungen hätten.

»Italien, Signor Sharp, das Mutterland der lateinischen Kultur, Italien, von jeher führend im Flugwesen, wird seine bewährten Maschinen in das Reading-Rennen entsenden . . .«

John Sharp quittierte die Mitteilung mit einem kurzen »All right, Sir.« Der Italiener fuhr fort.

»Ziel und Start für unser Rennen soll die Hauptstadt unseres Landes sein. Nur die Paläste und Tempel der ewigen Roma können die würdige Umgebung für das große internationale Fest bilden, zu dem das Reading-Rennen auszugestalten unsere Regierung entschlossen ist. Die ragenden Säulen des foro romano, die ehrwürdigen Paläste unserer alten Kaiser, die gewaltigen Kuppeln des Pantheons und des Peterdoms sollen dem Sieger entgegenleuchten, wenn er dem Ziele zueilt . . .«

John Sharp hielt die Hand vor den Mund, um ein Hüsteln zu verbergen. »All right, Sir. Wo gedenken Sie Ihre Gegenstation zu errichten? Nach meiner Erinnerung – wir haben uns in letzter Zeit oft mit diesen Fragen befassen müssen – liegt der Gegenpunkt von Rom irgendwo im südlichen Teil des Stillen Ozeans. Haben Sie eine passende Insel gefunden?«

Einen Moment stockte der Italiener, dann hub er zu neuer Rede an.

»Mein Vaterland, Signor Sharp, so reich an Erfindungen und Erfindern, wird sich seinen Kontrollpunkt selbst schaffen, wo es ihn braucht. Wir werden . . .«

»Ah, das ist interessant«, unterbrach ihn John Sharp, »wie es scheint, beabsichtigen Sie im Stillen Ozean am Gegenpunkt eine Insel aufzuschütten. Besitzen Sie bereits Lotungen der Stelle? Der Ozean ist in jener Gegend ziemlich tief . . .«

»Ihre Annahmen treffen nicht zu, Signor Presidente«, unterbrach ihn Roberto Rapagnetta. »Wenn ich sagte, wir werden uns unseren Kontrollpunkt selber schaffen, so bitte ich Sie, das bildlich zu verstehen. Meine Regierung hat den Entschluß gefaßt, die beiden größten Flugzeugmutterschiffe unserer Kriegsmarine unter dem Geleit von vier Panzerkreuzern zu der als Gegenpunkt ermittelten Stelle zu schicken. Diese Flotte von sechs stolzen Schiffen, verankert, noch unter sich durch starke Kabel verbunden, soll dort den italienischen Boden bilden, auf dem unsere Piloten niedergehen und nach der Weisung der Rennleitung wieder aufsteigen werden.«

Schon während der letzten Worte des Italieners hatte John Sharp nach einem Schriftstück gegriffen und darin geblättert. Jetzt hielt er es dem Legationssekretär hin und deutete mit dem Finger auf einen Absatz.

»Wollen Sie bitte diese Stelle selbst lesen, Herr Rapagnetta? Wie Sie sehen, hat Morgan Reading ausdrücklich verfügt: ›Die Kontrollstelle ist am Antipodenpunkt der Startstelle auf festem Land zu errichten.‹ Ich kann, so leid es mir tut, dem Plan Ihrer Regierung nicht zustimmen. Als Testamentsvollstrecker bin ich gezwungen, mich wörtlich genau an die Verfügungen des Testators zu halten. Schon in Rücksicht auf die anderen Teilnehmer des Rennens muß ich es tun. Es würde sicher Einsprüche und wahrscheinlich sogar gerichtliche Klagen geben, wenn ich an einer einzigen Stelle davon abwiche. Sie müssen Ihr Ziel so wählen, daß auch der Kontrollpunkt der Forderung des Erblassers entsprechend auf festem Boden liegt.«

Vergeblich versuchte Signor Rapagnetta den Amerikaner von seinem Standpunkt abzubringen. Vergeblich wies er darauf hin, daß sich zu dem ganzen italienischen Stiefel kein Gegenpunkt auf festem Land finden ließe. John Sharp blieb unerschütterlich bei seiner Meinung. Geduldig ließ er den Redefluß des Italieners über sich ergehen, bis der Clerk in das Zimmer kam und ihn in nicht mißzuverstehender Weise an die wichtige Konferenz erinnerte. Unverrichteter Dinge mußte Rapagnetta das Reading-Haus verlassen.

Das Scheitern seiner Mission löste einen lebhaften Depeschenwechsel aus. Mit fanatischer Zähigkeit hielt Rom an seinem Plan fest und drohte, sich überhaupt nicht an dem Rennen zu beteiligen. Aber John Sharp hatte die besseren Karten in diesem Spiel, und der hohe Preis, um den das Rennen ging, war zu verlockend. Nach langem Hin und Her mußte sich Italien endlich doch entschließen, die amerikanischen Bedingungen anzunehmen, aber es versuchte sie auf geschickte Weise mit dem ursprünglichen Plan zu vereinigen, indem es die Flugroute über Rom gehen ließ.

Die Italiener wählten jetzt für Start und Ziel einen Punkt in ihrer Kolonie Tripolis unter 19 Grad östlicher Länge und 27 Grad nördlicher Breite etwa zweihundert Kilometer westlich von der großen Oase Audjila. Die gewählte Stelle lag unmittelbar neben der kleinen Oase Abunaim. Einige Palmengruppen und eine ergiebige Frischwasserquelle machten den Aufenthalt hier erträglich. Freilich mußten alle Materialien und Betriebsstoffe auf Raupenschleppern durch die Wüste angefahren werden.

Die Ortsbestimmung des italienischen Startpunktes mußte sehr genau erfolgen, denn den Gegenpunkt bildeten die Haymetklippen in der Südsee, weltverlassene öde Felsenriffe von nur geringer Ausdehnung. Man konnte dort zwar die Kontrollstation entsprechend den Bedingungen Morgan Readings auf festem Land errichten, den Flugzeugen bot sich jedoch nur Gelegenheit zum Wassern.

»Gott sei Dank und Lob, daß wir mit den zähen Dagos endlich einig sind«, seufzte John Sharp, als er die Annahme des italienischen Vorschlags durch das Reading-Kuratorium nach Rom funken ließ. »Bin nur neugierig, was uns die Japaner jetzt noch für Späne machen werden.«

Aber seine Befürchtung, daß es auch mit dem Reich im fernen Osten Schwierigkeiten geben würde, erwiesen sich als grundlos. Selbstverständlich wollten auch die Japaner wenigstens Start und Ziel im eigenen Lande haben. In Ermangelung eines trockenen Gegenpunktes zu den großen japanischen Inseln verlegten sie ihren Start nach der von ihnen als Mandat verwalteten Insel Jap in der Südsee. Als Gegenpunkt ergab sich dafür die Doppelstadt Petrolina-Joazeiro am Rio San Francisco in Brasilien. Alles für die Kontrollstation Erforderliche konnte dorthin sowohl auf dem Fluß wie auch von Bahia her auf der Bahn bequem transportiert werden.

Der Vorschlag war so klar und einwandfrei, daß das Kuratorium ihn ohne jede Debatte annahm. Nur John Sharp schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig, höchst merkwürdig«, brummte er vor sich hin, als er die Bestätigungsdepesche aufsetzte. »Das geht mir zu glatt. Ich fürchte, wir werden später um so mehr Scherereien mit ihnen haben.«

Es darf nicht verschwiegen werden, daß diese Ahnung John Sharps sich im weiteren Laufe der Ereignisse leider als richtig erweisen sollte.

*

Es ging in die zweite Februarwoche. Einer der in New York nicht seltenen lauen Vorfrühlingstage erfüllte die tiefen Straßenschluchten zwischen den Wolkenkratzern mit ein wenig Sonnenlicht und Wärme.

In Begleitung von Frank Kelly und Henrik Juve trat John Sharp durch das Portal des Reading-Hauses auf die Straße. Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und sog in tiefen Zügen die frische Luft ein.

»Es riecht nach Frühling, Juve. Wollte Gott, daß wir erst ein paar Monate weiter wären! Mir brummt der Schädel. Freund Reading hat uns da mit seinem Testament eine verdammt harte Nuß zum Knacken hinterlassen.«

Sie gingen die Straße entlang. Nach etwa fünfzig Schritt blieb er wieder stehen.

»Was ist denn da drüben los, Kelly? Eine neue Sache wie's scheint.« Er deutete nach einem Wolkenkratzer auf der anderen Straßenseite. »Die Buchstaben sehen so frisch aus, als ob sie erst kürzlich angebracht worden wären.«

In riesigen goldenen Lettern zog sich dort drüben in der Höhe des dritten Stockwerkes eine Firmeninschrift über die ganze Hausbreite hin: Harrow & Bradley, Bookmakers. Henrik Juve schüttelte seinen fleischigen roten Kopf.

»Merkwürdige Idee von den Leuten, auf dem teuersten Pflaster von New York eine ganze Etage für ein Wettbüro zu mieten. Zweifle stark, ob die Leute mit ihrer Spekulation auf die Kosten kommen.«

Frank Kelly hatte währenddes die Vorgänge vor dem Gebäude beobachtet. In dichten Scharen strömte das Publikum in das Haus hinein. Man konnte durch die offenen Türen sehen, wie sich die Menge vor zehn Fahrstühlen staute, die in kürzesten Pausen aufwärts und abwärts verkehrten. Zu anderen Türen strömte das Publikum wieder in hellen Scharen hinaus und es war auffällig, wie viele von ihnen Zettel in den Händen hielten, die sie auf der Straße erst noch mal durchlasen, bevor sie sie sorgfältig in ihre Taschen wegsteckten. Die meisten dieser Papiere waren weiß, aber auch lichtgrüne, grellrote und blaue Scheine waren dazwischen.

»Das Geschäft da drüben scheint ja blendend zu gehen«, wandte er sich an Sharp, »ich wette mit Ihnen 1:100, daß das alles Wettzettel sind, weiß der Teufel, was in das Volk gefahren ist?«

Von der gegenüberliegenden Straßenseite schlängelte sich ein Mensch geschickt durch die Kraftwagen hindurch und erreichte den Bürgersteig dicht neben Kelly. In der Hand hielt er noch einen roten Zettel.

»Hallo, Mr. Tredjakoff«, rief Kelly ihn an, »vermute, Sie waren drüben bei Harrow & Bradley. Darf man wissen, was Sie gewettet haben?«

»Gern, Herr Direktor«, der Russe reichte Kelly das Papier. Der überflog es und staunte. Der Schein trug den in den Vereinigten Staaten für Wettbescheinigungen gebräuchlichen Vordruck, aber er unterschied sich doch recht wesentlich von den für die Wetten bei Pferderennen oder Boxkämpfen üblichen Formularen.

»Sie gestatten, Mr. Tredjakoff«, er hielt den Zettel John Sharp hin. Der las und war nicht minder überrascht. Da stand: Harrow & Bradley, Buchmacher, bestätigen erhalten zu haben Dollar fünf von Mr. – der Name war mit Tintenstift ausgefüllt – Tredjakoff, für eine Wette auf 140 Stunden als die offizielle Zeit des Siegers beim Reading-Rennen, über die reine Stundenzahl hinausgehende Minuten und Sekunden sind nicht gewettet und bleiben unberücksichtigt. Harrow & Bradley verpflichten sich, dem Inhaber dieses Scheins den Betrag von Dollar 500 am Tage nach Beendigung des Rennens auszuzahlen, wenn die offizielle Zeit des Siegers mit 140 Stunden beginnt.

John Sharp rieb sich die Stirn. »Ist denn die ganze Welt verrückt geworden? Wir Reading-Leute haben noch keine blasse Ahnung, in welcher Zeit der Sieger das Rennen machen wird und hier wird schon auf die Stundenzahl gewettet . . . und offenbar in größtem Maßstabe . . .«, er wies auf das Haus gegenüber, in das die Menge nach wie vor hineinströmte, »By Jove, das könnte mich doch interessieren, Näheres über den Betrieb zu erfahren.«

Kelly machte den Russen mit Sharp und Juve bekannt. »Ich bin überzeugt, Mr. Sharp, daß Herr Tredjakoff uns gern seine Erfahrungen mitteilen wird. Wie wär's, wenn wir zusammen zum Lunch gingen?«

»Sehr liebenswürdig, Herr Direktor, aber ich habe meinen Freund Bunnin hier, er muß jeden Augenblick da drüben herauskommen.«

»All right, Mr. Tredjakoff«, unterbrach ihn Sharp, »wir nehmen Ihren Freund auch mit.« Noch während er sprach, kam Bunnin über den Fahrdamm. In der Hand hielt er mehrere Zettel verschiedener Farbe. Mit Vergnügen nahm er die Einladung John Sharps an.

»Um so besser«, lachte Sharp mit einem Blick auf die Zettel in Bunnins Hand, »da werden wir ja gute Informationen über den Betrieb der Herren Harrow & Bradley bekommen.«

Henrik Juve empfahl sich, er hatte noch an der Börse zu tun. Die anderen Herren gingen ein paar Straßenblocks weiter zu einem kleinen aber exquisiten Restaurant, in dem Sharp den Lunch zu nehmen pflegte. In einer gemütlichen Nische fanden sie Platz und machten ihre Bestellungen. John Sharp studierte derweilen die anderen Zettel, die ihm Bunnin bereitwillig überlassen hatte.

»Nun schießen Sie los!« sagte er, als der Kellner die ersten Gerichte auf den Tisch gestellt hatte, »ich verstehe diesen ganzen Wettschwindel nicht. Ich begreife vor allen Dingen nicht, wie die Herren Bradley & Harrow die Wetten zu dem wahnsinnigen Satz von 1:100 annehmen können. Ich habe überhaupt nur eine Erklärung, die Herrschaften werden mit den kassierten Einsätzen nach Kanada verduften, bevor es zum Auszahlen der Wetten kommt.«

Tredjakoff schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Mr. Sharp, Harrow & Bradley sind erfahrene und solide Buchmacher. Sie werden die Gewinne zur gegebenen Zeit auszahlen und dabei ein großes Geschäft machen.«

Sharp zuckte die Achseln. »Das geht über meinen Verstand.«

»Jeder Buchmacher gewinnt schließlich, wenn er es versteht, sein Buch rund zu machen«, warf Tredjakoff ein.

»Ist mir erst recht unverständlich«, brummte Sharp, »was heißt rundes Buch? Ich kenne nur Bücher mit vier Ecken.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen die Sache mathematisch wissenschaftlich zu erklären«, mischte sich Bunnin ins Gespräch.

»Also her mit der Mathematik und Wissenschaft«, seufzte Sharp.

»Wir müssen da zunächst die Frage stellen«, fuhr der Russe fort, »innerhalb welcher Grenzen man die Zeit des Siegers vernünftigerweise suchen darf . . .«

»Sehr richtig!« entfuhr es Kelly und Sharp fast gleichzeitig.

»Nehmen wir als denkbare Höchstleistung an, daß ein Monstre-Flugzeug die 40 000 Kilometer mit 1000 Kilometer Stundengeschwindigkeit bewältigt, so kommen wir auf 40 Stunden Rennzeit. Das würde wohl die unterste Grenze sein. Selbstverständlich . . . ich möchte das gleich nebenbei bemerken . . . sind die Herren Harrow & Bradley auch mit Vergnügen bereit, gegen jede kürzere Zeit zu wetten.«

»Kann ich mir denken«, warf Kelly ein, »da kommen sie bestimmt nicht in die Verlegenheit, auszahlen zu müssen.«

»Es bleibt nun die zweite Frage«, setzte Bunnin seine Erklärungen fort, »wie lange sich das Rennen bei ungünstigeren Verhältnissen hinziehen kann. Man muß dabei berücksichtigen, daß doch eine große Anzahl erstklassiger Flugzeuge und Piloten konkurrieren werden. Mögen auch viele davon während des Rennens ausscheiden oder durch Pannen stark aufgehalten werden, so darf man nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung doch annehmen, daß der Sieger von diesen Zwischenfällen nicht betroffen wird und das Rennen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 150 Stundenkilometern beendet. Das ergibt auf dem Weg von 40 000 Kilometern eine Zeit von 266 Stunden. Man darf die Stundenzahl des Siegers also in dem Intervall von 40 bis 266 als wahrscheinlich annehmen. Es stehen demnach 226 verschiedene Stundenzahlen als Möglichkeiten offen, von denen nur eine gewinnen kann. Die übrigen 225 müssen verlieren. Die Gewinnchance für die einzelne Stundenzahl beträgt nur 1:226. Sie werden jetzt begreifen, meine Herren, daß Harrow & Bradley ein vorzügliches Geschäft machen, wenn sie die Stundenwetten 1:100 legen.«

Frank Kelly nickte, John Sharp rieb sich die Stirn.

»Ich glaube, ich habe Ihre Ausführungen verstanden, Mr. Bunnin«, begann er zögernd. »Aber wenn es der Zufall will, daß die meisten Wetter gerade auf die Siegeszahl gesetzt haben, dann ist der Buchmacher ja doch bankerott.«

»Das war es ja, was ich vorhin meinte«, warf Tredjakoff ein, »als ich sagte, der Buchmacher muß sein Buch rund machen. Im vorliegenden Falle heißt das, daß er möglichst gleich hohe Wetten auf die verschiedenen als wahrscheinlich in Betracht kommenden Stundenzahlen abschließen muß. Wenn die Herren Harrow & Bradley beispielsweise Einsätze von je 10 000 Dollar auf jede der 226 möglichen Stundenzahlen bekommen, wäre ihr Buch vollkommen rund. Sie hätten dann eine Einnahme von 2,26 Millionen Dollar. Für die 10 000 Dollar, die auf die richtige Stundenzahl des Siegers gesetzt wurden, zahlen sie eine Million Dollar aus und können einen Reingewinn von 1,26 Millionen Dollar in die Tasche stecken. Wie Sie sehen, ist das für die Herren Harrow & Bradley ein sicheres Geschäft, ohne jedes Risiko.«

John Sharp stützte das Kinn in die Hand. »Sie meinen, Mr. Tredjakoff, daß Summen in dieser Höhe auf das Reading-Rennen gewettet werden?«

»Ich wählte die Zahlen nur beispielsweise, Mr. Sharp, um Ihnen den Begriff des Rundmachens zu erklären. Ich vermute, daß die Summen in Wirklichkeit sehr viel höher sind. Die Wettzettel über einen Dollar sind weiß. Sie haben wohl die Tausende von Leuten gesehen, die dort mit weißen Zetteln herauskamen. Jeder kleine Angestellte, jede Stenotypistin in unserer Zehnmillionenstadt riskiert unbedenklich einen Dollar für die Chance, hundert Dollar zu gewinnen. Auch die roten Zettel über fünf Dollar waren noch recht stark vertreten. Das ist ja das glänzende Geschäft von Harrow & Bradley, daß sie für das Reading-Rennen die hohen Odds 1:100 bieten können, die bei Pferderennen oder Boxkämpfen natürlich niemals möglich sind. Seitdem sie ihre Office hier eröffneten, stürmten ihnen die Leute das Haus und das wird so weiter gehen, bis . . . ja zum mindesten, bis der Startschuß zum Rennen fällt.«

»Und während des Rennens selbst?« fragte John Sharp, »für Pferderennen werden meines Wissens noch Wetten angenommen während das Rennen schon gelaufen wird.«

Tredjakoff zögerte mit der Antwort. »Das ist eine etwas komplizierte Geschichte, Mr. Sharp. Die Dinge liegen beim Reading-Rennen anders als bei einem Pferderennen. Ich müßte etwas länger ausholen, um Ihnen das zu erklären. Wenn Sie es wünschen, bin ich gern bereit.«

Direktor Kelly hatte schon ein paarmal auf seine Uhr gesehen. Jetzt erhob er sich. »Lieber Sharp, es wird höchste Zeit für mich, wenn ich den Chikagoer Expreß noch erreichen will. Entschuldigen Sie mich für heut, Sie haben ja interessante Gesellschaft an den Herren hier.«

John Sharp schüttelte ihm die Hand. »All right, Kelly, kümmern Sie sich um Ihren Zug. Es bleibt bei unserer Verabredung, übermorgen sehe ich Sie in Bay City.« Während er zu Kelly sprach, entging es ihm, daß Bunnins Hand einmal wie spielend über sein Trinkglas hinfuhr.

Frank Kelly war gegangen. John Sharp hörte mit Interesse, was ihm die beiden Russen über die Schwierigkeiten der Buchmacher erzählten, auch noch während des großen Reading-Rennens ihre Bücher rund zu erhalten.

»Ganz recht, Mr. Tredjakoff. Ich verstehe Sie vollkommen. Wenn das Rennen schon hundert Stunden im Gange ist . . . fallen die Stundenzahlen von 40 bis 100 aus . . . die Odds müssen immer kleiner . . .«, nur noch mit Anstrengung hatte er die letzten Worte herausgebracht, als ob er mit schwerer Schläfrigkeit zu kämpfen hatte. Jetzt ließ er sich in den bequemen Sessel zurücksinken. Den Kopf an die Seitenlehne gestützt ließ er sich vom Schlaf überwältigen . . .

Ein schneller Blickwechsel zwischen den Russen. Im Augenblick stand Bunnin neben dem Schlummernden. Mit einer unbeschreiblichen Gewandtheit glitten seine langen geschickten Finger in dessen Kleidung. Kein Zweifel, es war ein Meister der Taschendiebe, der sich hier betätigte, ein Meister von hohen Graden. In wenigen Sekunden waren seine geschmeidigen, beweglichen Hände bis zu den Geheimtaschen John Sharps vorgedrungen. Eine Anzahl von Schlüsseln wurden abgedrückt. Eine Brieftasche wurde durchblättert. In fliegender Hast notierte Tredjakoff das Kennwort für einen Banksafe, das Bunnin ihm zuraunte. –

Mit einem tiefen Atemzug richtete John Sharp sich wieder im Sessel auf. Kaum eine Minute hatte er geschlafen. In sein Ohr drangen die Worte Tredjakoffs, der ihm die Schwierigkeiten auseinandersetzte, die Odds für die Wetten während des Reading-Rennens den veränderten Gewinnchancen anzugleichen.

»Ich weiß nicht, Mr. Tredjakoff . . . ich glaube, ich war einen Augenblick nicht ganz anwesend . . .«

»Oh, ein Unwohlsein, Mr. Sharp? . . . Vielleicht die ungewohnte Frühlingsluft heut? . . . Darf ich Ihnen etwas Eiswasser einschenken?«

Sharp trank aus dem dargebotenen Glase. In wenigen Minuten fiel die Müdigkeit von ihm ab. Er konnte den Mitteilungen der Russen wieder folgen. Mit leisem Zweifel hörte er, daß Bunnin die Summe, die in den Vereinigten Staaten voraussichtlich auf das Reading-Rennen gewettet werden würde, auf eine Milliarde Dollar schätzte. Als er sich von seinen Gästen trennte, nahm er die Erinnerung an eine höchst anregende und interessante Stunde mit.

*

An der Westseite der Bucht, der Bay City seinen Namen verdankt, liegen die Reading-Werke. Weit ausgedehnte Fabrikanlagen und Montagehallen, von denen aus der verstorbene Morgan Reading während vieler Jahre Amerika mit seinen Flugzeugen versorgte, wie es ähnlich Henry Ford vor der großen Wirtschaftskrise von Detroit aus mit Kraftwagen tat. Am laufenden Band wurden hier die kleinen Privatflugzeuge zusammengebaut, die besonders nach Kanada hin reißenden Absatz fanden. Andere Abteilungen der Werke beschäftigten sich mit der Serienfabrikation der großen mehrmotorigen Postflugzeuge, die für den Verkehr auf den offiziellen Luftlinien der Vereinigten Staaten bestimmt waren. Überall wurde nach den Methoden einer aufs höchste rationalisierten Fabrikation gearbeitet. Jede Minute dröhnte ein Glockenschlag und das breite Montageband, auf dem viele Dutzende der schimmernden Flugzeugrümpfe ruhten, rückte um einen Arbeitsakt vorwärts. Andere Transportbänder stießen aus den großen Seitenschiffen der großen Montagehalle rechtwinklig auf das Hauptband zu und brachten alle Einzelteile auf die Sekunde pünktlich so heran, wie sie im Gang der Montage benötigt wurden.

Jede Minute ein Arbeitsakt! Das bedeutete, daß jede Minute ein fertiges Flugzeug das Hauptband verlassen mußte. Sechzig Flugzeuge in der Stunde, 480 Flugzeuge im Verlauf des achtstündigen Arbeitstages waren das Ergebnis der konzentrierten Tätigkeit, die hier unter Zuhilfenahme aller technischen Mittel geleistet wurde. –

Wie oft hatte John Sharp in diesen Räumen geweilt und mit der Uhr in der Hand das präzise Ineinandergreifen der Arbeitsvorgänge verfolgt. Heut galt sein Interesse anderen Dingen. Mit Frank Kelly stand er vor den Montagehallen am Ufer des Lake Huron und ließ sich die Luft um die Stirn wehen. Ein kräftiger Südwest war über Nacht aufgekommen, hatte das Eis in der Bucht zerbrochen und in den offenen See hinausgetrieben. Tiefblau schimmernd und blitzend im Sonnenschein dehnte sich die wogende Wasserfläche, so weit das Auge reichte. Wie Scharen wilder Schwäne ließen sich die Flugzeuge, so wie sie aus der laufenden Fabrikation der Werke kamen, darauf nieder, stiegen wieder auf, flogen Runden, wasserten danach von neuem. Ein berückendes Bild war es, das sich hier bot, aber John Sharp hatte auch dafür kaum einen Blick übrig. Alle seine Gedanken kreisten um den Reading-Preis und die Möglichkeiten, ihn für die Reading-Werke zu gewinnen.

»Wir haben es mit einer schweren Konkurrenz zu tun, Kelly«, sagte er, »die letzten Nachrichten aus Europa machen mir Sorgen.«

Frank Kelly machte eine abwehrende Bewegung. »Ach was, Sharp! So leicht lassen wir uns hier in Bay City nicht ins Bockshorn jagen. Was sind denn das für Nachrichten, die Ihnen den Appetit verderben?«

John Sharp faßte ihn unter den Arm und schritt mit ihm den langen Landungssteg entlang, der vor den Werken in die Bucht hinausgebaut war.

»Das sind zunächst die Meldungen der Italiener.«

Kelly schüttelte den Kopf. »Ah, bah, die Italiener! Sehen Sie sich nur ihre Flugroute an! Nur aus Prestigegründen haben sie diesen Weg gewählt. Es kann sie im Falle von Havarien teuer zu stehen kommen. Von Tripolis nach Rom. Weiter über Schottland, Grönland und Baffins-Land nach Vancouver. Danach der lange Seeflug nach den Haymet-Klippen und von dort der noch viel längere nach Lourenco Marques. Eine unsinnige Route! Mehr als der halbe Erdumfang ist Wasserweg ohne natürliche Stützpunkte.«

»Ich verstehe Sie nicht recht, Kelly. Was hat die Wahl dieses Weges mit dem italienischen Prestige zu tun?«

»Aber das ist doch vollkommen klar, Sharp. Sie berühren gleich im ersten Teil des Fluges ihre Hauptstadt, und wenn sie das Glück haben sollten, den Preis zu gewinnen, fliegen sie das kurze Stück von ihrem Ziel in Tripolis bis nach ihrer Hauptstadt weiter und veranstalten dort eine rauschende Siegesfeier. Die Idee ist gar nicht einmal ungeschickt, denn sie erfüllen dabei die Bedingungen Morgan Readings und können für sich selbst doch einen Flug herausrechnen, der Rom als Start und Ziel hat. Aber dafür müssen sie den langen Überseeflug in Kauf nehmen und das dürfte ihre Aussichten auf einen Sieg doch sehr stark verringern. Bei Notwasserungen sind die Chancen viel schlechter als bei Notlandungen. Ich glaube die Herrschaften werden ihren Entschluß noch bitter bereuen.«

»Und ich glaube, Kelly, daß Sie sich da in einem schweren Irrtum befinden. Die italienische Regierung beabsichtigt eventuell diese Überseestrecke mit mehreren hundert gecharterten Schiffen zu besetzen. Soviel ich gehört habe, soll der Abstand der einzelnen Schiffe voneinander nur hundert Kilometer betragen. Stellen Sie sich einmal vor, was das bedeuten würde. Etwa alle zwanzig bis dreißig Minuten fänden die italienischen Piloten ein Schiff ihres Landes mit allem Nötigen an Bord. Diese Seestrecke würde dadurch viel sicherer als die langen Landstrecken, die von anderen Nationen überflogen werden müssen. Mir sind geradezu Bedenken aufgestiegen, ob wir unsere eigene Rennstrecke sehr glücklich gewählt haben.«

Kelly überlegte einen Augenblick. »Nun ja, Sie mögen recht haben. Durch die Anlegung einer derartigen Etappenstraße verliert der Überseeflug viel von seinen Gefahren.«

»Ich sage Ihnen, Kelly, diese italienische Organisation wäre genial, und was ich über die Flugzeuge gehört habe, die Rom in das Rennen schicken will, kann mich auch nicht gerade heiter stimmen. Sechs Maschinen vom gleichen Typ. Die berühmten dreimotorigen Gamma-Romea-Flugzeuge. Gut und gern 350 Kilometer Stundengeschwindigkeit . . . die Maschinen sind so zuverlässig, daß wenigstens eine von ihnen das Rennen wohl sicher ohne Panne beenden dürfte. Ich halte die Italiener für unsere gefährlichsten Nebenbuhler. Aber auch das, was mir über die englischen und französischen Maschinen zu Ohren kam, läßt einen äußerst scharfen Kampf um den Reading-Preis erwarten.«

Frank Kelly zündete sich nachdenklich eine Zigarette an. »Hm . . . hm . . . 350 Stundenkilometer sollen die italienischen Maschinen leisten? Wissen Sie auch etwas über die Geschwindigkeiten der Engländer und Franzosen?«

»Nichts Definitives. Man munkelt von einer englischen Maschine mit 400 Stundenkilometer. 350 müßten wir auf jeden Fall in die Rechnung stellen. Ich wiederhole Ihnen, das wird ein schweres Rennen werden.«

Mit einem vergnügten Lächeln warf Kelly den Rest seiner Zigarette in den See. »Kommen Sie mit, Sharp, und sehen Sie sich den Eagle an. Das wird Sie auf bessere Gedanken bringen.« Er zog Sharp mit sich fort. Während sie zu einer der großen Hallen gingen, fragte der verwundert: »Eagle . . .? Adler . . .? Was soll das sein . . .?«

»Sie werden's gleich sehen. Vorher wird nichts verraten«, meinte Kelly geheimnisvoll. –

Und dann standen sie in der Halle vor einem funkelnden neuen Flugzeug, bei dessen Anblick John Sharp einen Ausruf der Überraschung nicht unterdrücken konnte. Mit Kenneraugen betrachtete er die wunderbar schnittigen Formen des ganz in Leichtmetall gehaltenen Apparates. Alles war hier zur Erzielung geringsten Luftwiderstandes in vollkommenen Stromlinien entwickelt und die vier mächtigen Propeller an den Stirnseiten der Schwingen verrieten, daß auch die nötige Maschinenkraft vorhanden war, um den mächtigen Metallvogel mit einer ganz außerordentlichen Geschwindigkeit durch die Lüfte zu reißen. ›The Eagle‹ stand in großen schwarzen Buchstaben auf dem Rumpf des Flugzeuges.

Lange Minuten stand John Sharp in Gedanken versunken davor, bis Kelly ihn anstieß.

»Nun? Was sagen Sie zu meinem Eagle, Sharp?«

»Fabelhaft . . . einfach fabelhaft . . . wenn die Maschine hält, was ihr Aussehen verspricht.«

»Wollen wir wetten, Sharp? Ich gebe Ihnen 100 Dollars für jeden Kilometer, den der Eagle unter 500 bleibt, Sie zahlen mir 100 Dollars für jeden Kilometer, den er darüber macht.«

»Angenommen, Kelly! Die Wette halte ich. Hoffentlich muß ich Ihnen recht viel zahlen.« Bekräftigend schlug er in die dargebotene Rechte Kellys.

»Ihr Scheckbuch haben Sie doch wohl bei sich«, fragte der trocken.

»Warum, Kelly?«

»Weil wir die Wette gleich austragen wollen.« Er trat zu einem Telephonapparat an der Hallenwand und gab Befehle. –

Automatisch gingen die gewaltigen Schiebetüren an der Stirnwand in der Halle auseinander. Dutzende eifriger Hände zogen und schoben den schimmernden Vogel ins Freie. Die Propeller wurden angeworfen, knatternd und fauchend setzte das Spiel der Motoren ein. Kelly gab neue Befehle. »Hobby und Pender sollen kommen. Probeflug mit dem Eagle!« . . .

Er wandte sich wieder an Sharp. »Es sind unsere besten Piloten. Ich beabsichtige sie mit dem Eagle in das Rennen zu schicken.«

Die Gerufenen erschienen und kletterten in den Führerstand der Maschine. Sharp und Kelly folgten ihnen nach. Schneller wirbelten die Propeller. Unter ihrem Zug rollte das Flugzeug über den Strand in das Wasser.

»Nehmen Sie Ihre Uhr in die Hand und merken Sie sich die Zeit, Sharp«, sagte Kelly. »Von hier quer über den See bis nach Mattawa drüben in Kanada sind es genau 500 Kilometer. Notieren Sie unsere Startzeit und nachher die Minute, in der wir über Mattawa wenden.«

Noch einen kurzen Befehl an die Piloten. Im Augenblick ging das Knattern der Motoren in ein wildes Dröhnen und Donnern über. Schnell und immer schneller glitt der Eagle über den See. Schon hoben sich seine Schwimmer aus dem Wasser. Jetzt lag er frei in der Luft, schoß mit einer phantastischen Geschwindigkeit vorwärts und stieg dabei unablässig. ›Ein Uhr drei Minuten gestartet‹ notierte sich John Sharp mit einem Bleistift auf seiner Manschette. Als er damit fertig war, lag der Seespiegel tief unter ihnen. In tausend Meter Höhe raste das Flugzeug auf Nordostkurs durch die Lüfte. Schon waren die Reading-Werke weit hinter ihnen. Kelly wies mit der Hand nach Steuerbord.

»Da rechts voraus muß bald Port Austin am Ausgang der Saginaw-Bucht in den Lake Huron in Sicht kommen. Notieren Sie die Zeit, wenn wir es überfliegen. Es ist gerade hundert Kilometer von Bay City entfernt.«

›Ein Uhr sechzehn Minuten‹ kritzelte John Sharp auf seine Manschette, als die Häuser von Port Austin hinter dem Eagle zurückblieben. Dann begann er zu rechnen. »Hundert Kilometer in dreizehn Minuten . . . in einer Minute den dreizehnten Teil . . . in sechzig Minuten sechzigmal soviel . . . Kelly, das sind ja nur 460 Stundenkilometer! 40 zu wenig. Ich glaube, Sie sind mir 4000 Dollar schuldig.«

Kelly lachte. »Erst abwarten und dann Tee trinken! Wir werten die Zeit zwischen unserem Abflug und unserer Rückkunft in Bay City für die Streckenlänge von tausend Kilometern.«

»Aber immerhin, Kelly, bis jetzt, ich muß dabei bleiben, bis jetzt waren's nur 460 Stundenkilometer.«

»Nach Ihrer Messung, Sharp. Aber Sie haben die Zeit von Port Austin erst genommen, als wir das Nest schon im Rücken hatten. Sie müssen weiter bedenken, daß der Eagle erst tausend Meter steigen mußte. Das bedeutet natürlich Geschwindigkeitsverlust. Sie müssen schließlich berücksichtigen, daß die Tanks der Maschine im Augenblick Betriebsstoff für 3000 Kilometer enthalten. Die große Last drückt auch auf die Geschwindigkeit. Aber mit jedem Kilometer, den wir weiter kommen, wird der Eagle durch den Brennstoffverbrauch leichter und schneller.«

»Wir werden sehen, Kelly. Sie dürfen sicher sein, daß ich Ihnen nach unserer Rückkehr mit Vergnügen jede Summe bezahlen werde. Je höher, desto lieber.« –

Der Eagle hatte inzwischen eine Höhe von 2000 Metern erklommen und jagte in pfeilgeradem Kurs über den See. Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, da kam voraus Land in Sicht. Eine schmale Halbinsel, welche die Georgian-Bay vom Huronen-See trennt. Noch einmal ein Wasserflug von zehn Minuten, dann schoß der Eagle über die kanadische Ebene dahin, machte über dem Flecken Mattawa eine scharfe Schleife und raste den gleichen Kurs zurück, auf dem er hierher gekommen war. Im Moment der Wendung zeigte Sharps Chronometer genau zwei Uhr. Wieder begann er zu rechnen. 500 Kilometer in 57 Minuten . . . er dividierte und multiplizierte angestrengt . . . »Alle Wetter, Kelly, das macht ja 526 Stundenkilometer. Mir scheint's, jetzt bin ich Ihnen 2600 Dollar schuldig.«

Kelly schmunzelte vergnügt. »Ich hoffe, daß es bis Bay City noch etwas mehr werden. Jetzt ist der Eagle erst so recht in Schuß. Ich hoffe, die Wette wird Sie allerlei kosten.«

Er griff zum Telephon und sprach zu den Piloten. Und dann heulten die Motoren des großen Vogels noch stärker, wirbelten seine Propeller noch schneller. Schon lag der See wieder unter ihnen, schon kam die Saginaw-Bucht wieder in Sicht. Dann lagen die Reading-Werke wieder vor ihnen.

›Zwei Uhr 49 Minuten 30 Sekunden‹ las John Sharp vom Zifferblatt seines Chronometers ab, als die Schwimmer des Eagle den Seespiegel berührten. Eifrig begann er zu rechnen. Frank Kelly klopfte ihm auf die Schulter. »Unnötige Mühe, lieber Freund. Ich habe das Resultat schon. Mit durchschnittlich 560 Stundenkilometern hat der Eagle den Flug gemacht. 6000 Dollars dürfte Sie der Spaß kosten.«

»Mit Vergnügen, Kelly, mit größtem Vergnügen.« John Sharp zog sein Scheckbuch und füllte ein Blatt daraus auf den Betrag aus. –

Während sie zusammen über den Werkplatz schritten, rechnete er weiter. Sprach dabei: »560 Stundenkilometer . . . wenn ich richtig gerechnet habe, Kelly, macht das eine reine Flugzeit von 71 Stunden und 30 Minuten für den Weg um den Erdball . . . wenn's beim Rennen ebenso klappt. Rechnen wir zehn Zwischenlandungen für Betriebsstoffaufnahme mit zusammen etwa sieben bis zehn Stunden dazu . . . Ich glaube, Kelly, man könnte jetzt die Stundenzahlen von 80 bis 85 mit einiger Aussicht auf Gewinn bei den Herren Harrow & Bradley wetten.«

»Kann sein, daß Sie recht haben. Trotzdem möchte ich Ihnen dringend davon abraten.« John Sharp sah ihn verwundert an.

»By Jove, Kelly, ich verstehe Sie nicht, warum soll ich nicht ebenso wetten können wie jeder andere Bürger der Vereinigten Staaten?«

»Weil Sie der Präsident des Reading-Kuratoriums sind. Wenn Sie . . . sei es persönlich, sei es durch Mittelmänner . . . eine Wette bei Harrow & Bradley legen, würde es schneller bekannt werden, als Sie ahnen. Unsere Konkurrenten würden aus den von Ihnen gesetzten Zahlen sofort ihre Rückschlüsse auf die Geschwindigkeit unserer Maschinen ziehen und danach ihre Maßnahmen treffen.«

John Sharp strich sich über die Stirn.

»Sie haben recht, Kelly. Das darf nicht sein. Die Leistungen des Eagle müssen geheim bleiben, bis der Startschuß zum Rennen fällt.«

»Durchaus geheim, lieber Sharp. Ich gehe noch weiter und sage sogar, die Existenz des Eagle und seiner beiden Schwestermaschinen muß der Welt bis zum Beginn des Rennens verborgen bleiben. Die Reading-Werke werden mit zwei dieser Maschinen in das Rennen gehen und . . . hoffentlich den Preis gewinnen.« –

Während dies Gespräch vor der großen Montagehalle der Reading-Werke stattfand, stand im European-Hotel in Mattawa Herr Hidetawa am Fernsprecher und telephonierte mit Yoshika in Bay City.

»Das neue Viermotorenflugzeug der Reading-Werke hat Mattawa um zwei Uhr überflogen und gewendet.«

Yoshika notierte die Zeitangabe zu anderen Ziffern auf einem Block, auf dem das Wort Eagle zu lesen war.

*

Je weiter die Zeit vorschritt, um so stärker nahm das kommende Reading-Rennen das allgemeine Interesse in Anspruch. Auch bei dem Empfang, den der französische Generalkonsul in New York, Monsieur Gérardin, am 15. März in seinen Gesellschaftsräumen des Konsulates abhielt, war reichlich viel davon zu spüren.

Eben drangen noch die Klänge eines Tango aus dem Lautsprecher, nach dessen Rhythmus sich elegante Paare auf dem Parkett des großen Gesellschaftssaales bewegten. Jetzt verstummten sie und Worte flatterten aus der Membrane:

»Nachricht vom Reading-Rennen: Gestützt auf die Erfahrungen des Herrn von Gronau hat sich die deutsche Regierung entschlossen, für Start und Ziel einen Punkt an der Ostküste Grönlands unter 35 Grad westlicher Länge zu wählen. Die Stelle liegt auf dem nördlichen Polarkreis in der Schreckensbucht. Der Gegenpunkt liegt in Claryland am Rand des antarktischen Kontinents. Die deutsche Regierung hat sich zu dieser Wahl entschlossen, weil an beiden Stellen schon seit längerer Zeit deutsche meteorologische Stationen bestehen und zum Teil bereits überwintert haben. Sie gedenkt die wissenschaftlichen Niederlassungen für die Organisation der Rennstrecke nutzbar zu machen.«

Die Meldung war beendet und wurde durch die Melodie eines English Waltz abgelöst. Unter den Gästen wurde die Nachricht lebhaft besprochen. ›Poor Germany!‹ konnte man an mehr als einer Stelle hören, ›das arme Deutschland muß mit seinen Stationen in die Fremde gehen . . .‹

Monsieur Gérardin nahm ein Glas mit Eissorbet von dem Tablett, das ein livrierter Diener anbot.

»Ja, mein lieber Tredjakoff«, sagte er mit einem etwas boshaften Lächeln zu seinem Gegenüber, »so kann es kommen, wenn man seine Kolonien verloren hat. Die Schreckensbucht . . . ich finde, das ist nicht gerade ein sehr ermutigender Name für Start und Ziel eines solchen Rennens.«

Der Russe schüttelte den Kopf. »Die Deutschen sind nicht abergläubisch, Herr Generalkonsul. Sie werden sich die Sache sehr genau überlegt haben. Zufälligerweise sind mir die Verhältnisse an der Ostküste Grönlands ein wenig bekannt. Es gibt da unmittelbar an der Küste vielfach eisfreies ruhiges Meer. Die deutsche meteorologische Station liegt auf einem völlig ebenen, allerdings vergletscherten Plateau. Die Bedingungen dürften für ein Wassern oder Landen gleich gute sein. Ich glaube, der Platz ist sogar recht geschickt ausgesucht worden.«

»Sapristi! Ist das wirklich Ihre Meinung, Herr Tredjakoff? Haben wir es da vielleicht mit einem besonderen Trick der Deutschen zu tun?«

»Das will ich nicht sagen, Herr Gérardin. Aber betrachten Sie die Lage. Genau genommen ist ja Deutschland ohne seine Kolonien bei diesem Rennen in einer günstigeren Situation als alle anderen Staaten. Es braucht keine Rücksichten auf irgendwelche Prestigegründe zu nehmen, sondern kann sich seine Punkte überall auf dem Erdball suchen, wie es ihm am günstigsten scheint. Manchmal, mein verehrter Herr Generalkonsul, ist der ärmste Mann der reichste.«

Sichtlich verstimmt schlürfte Monsieur Gérardin seinen Sorbet.

»Man hört auffallend wenig über die Rennvorbereitungen in Ihrem alten Vaterland, Herr Tredjakoff«, sagte er nach einer Weile. »Es wäre doch wichtig, irgend etwas darüber zu erfahren. Ich weiß nicht, ob Sie noch Beziehungen dorthin haben . . .«

Tredjakoff machte eine abwehrende Bewegung. »Ich habe mit den Mördern in Moskau keine Beziehungen, Herr Gérardin. Nur gelegentlich kam mir durch andere Emigranten, denen es in letzter Zeit gelang, aus der bolschewistischen Hölle zu fliehen, das eine oder andere über die russischen Vorbereitungen zu Ohren. Ich weiß nicht, ob diese Nachrichten authentisch sind, aber ich muß sagen, daß sie sich auffallend mit meinen eigenen Anschauungen decken.«

»Oh, das interessiert mich, Herr Tredjakoff. Würden Sie mir verraten, was das für Anschauungen und für Nachrichten sind?«

»Warum nicht? Nach meiner Ansicht wird das Reading-Rennen für Rußland eine grandiose Blamage werden. Das ist übrigens auch die Meinung meines Freundes Bunnin, der sich heut die Ehre gab, Ihrer Einladung zu folgen. Er wird es Ihnen gern bestätigen.«

Monsieur Gérardin zuckte die Achseln. »Ich begreife, Herr Tredjakoff, Sie sind kein Freund der Sowjets. Aber ist Ihre Anschauung nicht doch ein wenig voreingenommen?«

»Ich kann nur sagen, daß sie durch das Wenige, was mir aus Moskau und Udinsk zugetragen wurde, unterstützt wird. Die Sowjets beabsichtigen mit sechs Paradestücken ihrer neuen sibirischen Industrie in das Rennen zu gehen. Sie werden bis zum letzten Moment bestrebt bleiben, das Schönste und Beste und Schnellste in die Konkurrenz zu schicken. Aber gerade dadurch werden sich ihre Chancen verderben, denn logischerweise müssen das unerprobte Maschinen sein.«

Der Konsul nickte. »Es klingt nicht unwahrscheinlich, mein lieber Tredjakoff. Bis jetzt hat man wirklich noch nichts von irgendwelchen hervorragenden Leistungen der neuen russischen Industrie vernommen. Hörten Sie zufälligerweise auch etwas von den japanischen Absichten?«

»Nur wenig, Herr Gérardin, und das Wenige ohne Gewähr. Es ist Ihnen ja auch bekannt, wie verschlossen die Herrschaften aus dem fernen Osten sind und wie sie ihre Geheimnisse zu wahren wissen. Gerüchtweise hieß es einmal, daß die Japaner zwei Flugzeuge modernster Art von den deutschen Eggerth-Werken gekauft haben und dabei sind, nach diesen Vorbildern eigene, noch bessere Maschinen zu entwickeln. Aber wer weiß, ob diese Nachricht nicht schon wieder überholt ist. Die Herren in Tokio haben ihre Agenten wahrscheinlich überall in der Welt und werden sicherlich redlich bemüht sein, aus den Erfindungen und Arbeiten der anderen das Beste für sich selbst zu machen.« –

Mr. Owens, Korrespondent der New Yorker Morning-Post, der mit zwei anderen Herren an einem Nachbartisch saß, wunderte sich über die plötzliche Zerstreutheit seiner Tischgenossen. Noch bis vor kurzem hatten die Herren Hidetawa und Yoshika seinen Ausführungen über die Wahlaussichten der New Yorker Demokraten interessiert zugehört. Jetzt schien ihre ganze Aufmerksamkeit dem Tisch des Generalkonsuls zu gehören. Angespannt versuchten sie kein Wort von dem zu verlieren, was dort gesprochen wurde. Es dauerte mehrere Minuten, bevor der Mann von der Morning-Post wieder Gehör für seine politischen Weisheiten bei ihnen fand . . . oder doch wenigstens scheinbar fand, denn in Wirklichkeit waren die Gedanken der Herren Hidetawa und Yoshika ganz wo anders.

Was war das für ein Russe da bei Monsieur Gérardin, der sich als Emigrant ausgab und sich so merkwürdig genau über die japanischen Absichten informiert zeigte? Möglicherweise ein Agent der Sowjets, der hier unter zaristischer Maske seine Geschäfte betrieb? Konnte man es vielleicht versuchen, den Mann zu kaufen? . . .

Während Mr. Owens kurze Zeit mit einem Vorbeigehenden sprach, wechselten sie hastig japanische Worte. Wurden sich im Moment einig, daß der Versuch gemacht werden müsse. –

Der Empfang im Konsulat ging seinem Ende zu. In größeren und kleineren Gruppen verabschiedeten die Gäste sich von Monsieur Gérardin, um zu den Garderoben zu gehen. Gerade als er den Herren Tredjakoff und Bunnin die Hand zum Abschied drückte, trat auch Hidetawa hinzu und hatte noch Gelegenheit, ihre Namen aus dem Munde des Konsuls zu hören. Wie von selbst machte es sich, daß Hidetawa auch neben ihnen stand, als sie ihre Garderobe in Empfang nahmen. Ein besonderes Glück war es freilich, daß der Wagen des Japaners in dem Gewühl des New Yorker Straßenverkehrs demjenigen der Russen bis zum Buchanan-Hotel in der 43. Straße folgen konnte. –

Es war um die Mittagszeit des folgenden Tages. Im Restaurant des Buchanan-Hotels saßen Tredjakoff und Hidetawa zusammen. Sie hatten sich einen Tisch in einer Wandnische ausgesucht, wo sie vor unerwünschten Zuhörern sicher, ungestört miteinander sprechen konnten. Schon eine Stunde währte ihre Unterhaltung.

Tredjakoff konnte eine gewisse Aufregung und Beunruhigung nicht unterdrücken. Das Gesicht des Japaners war unbewegt und gleichmütig. Der stereotype Schimmer eines Lächelns verbarg alle Gedanken und Gefühle, die er etwa hegen mochte. Es arbeiteten aber mancherlei Gedanken hinter dieser Maske.

›. . . Unter den Sowjets sind die Russen ebenso käuflich wie unter der Zarenherrschaft‹, dachte der Japaner. ›Man bekommt alles von ihnen, was man haben will, man muß ihnen nur den richtigen Preis bieten. Mit dem hier werde ich auch einig werden.‹

Die Gedanken Tredjakoffs waren von anderer Art. Wie hatte der verfluchte Hund es nur herausbekommen, daß er und Bunnin Sowjetagenten waren? Wie hatte er ihn an dem Tisch hier Schritt für Schritt in die Enge getrieben! Er verwünschte sich selbst, daß er gestern dem Generalkonsul auch über die japanischen Vorbereitungen gesprochen hatte. Dadurch hatte er den andern erst auf die richtige Spur gebracht. Jetzt war er in einer fatalen Zwangslage. Bekamen seine Auftraggeber in Moskau von diesen Dingen Wind, dann war seine Rolle hier ausgespielt. Dann würde er als unfähig zurückgerufen, hatte Untersuchung, Gefängnis, eine Kugel ins Genick zu erwarten . . . Sollte er auf das Anerbieten des anderen eingehen, ein doppeltes Spiel spielen? . . . Die Lage wurde dadurch vielleicht noch gefährlicher . . . aber die Gefahr einer sofortigen Entdeckung wurde geringer . . . Und der Preis, den der Japaner bot . . . verlockend hoch war der . . .

Die eigentliche große Aufgabe, die Beschaffung der Reading-Pläne . . . die mußte natürlich vollkommen geheim bleiben. Aber mancherlei andere wertvolle Nachrichten über die Vorbereitungen der Konkurrenten für das Rennen . . . warum sollte man die den Japanern nicht zu möglichst hohen Preisen verkaufen . . .? Es würde sich niemals feststellen lassen, von wem die Gegenpartei ihre Informationen hatte . . .

Die Stimme Hidetawas riß ihn aus seinem Grübeln.

»Haben Sie sich meinen Vorschlag überlegt, Herr Tredjakoff? Ich zahle Ihnen sofort fünftausend Dollar, wenn Sie noch eine Stunde hier mit mir sitzenbleiben und alle meine Fragen nach bestem Wissen beantworten. Eine Quittung über diese Summe verlange ich nicht von Ihnen. Unsere ferneren Beziehungen würden sich ganz nach dem größeren oder geringeren Wert entwickeln, den Ihre jetzigen Mitteilungen für mich haben.«

Während Hidetawa sprach, hatte er ein Bündel Banknoten aus der Tasche gezogen und ließ die einzelnen Scheine wie spielend durch die Finger gleiten. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete er dabei, wie die Blicke des Russen nach dem Notenbündel schielten.

Der raffte sich jetzt zur Antwort auf. »Meinetwegen, Mr. Hidetawa. Wenn Sie meinen, daß meine Mitteilungen diesen Wert für Sie haben könnten . . .«

Der Japaner schob ihm das Notenbündel hin, das schnell in Tredjakoffs Tasche verschwand.

»Denken Sie daran, Mr. Tredjakoff, wenn Sie mir jetzt meine Fragen beantworten, daß Sie diese Summe noch öfter verdienen können. Es wird alles vom Wert Ihrer Antworten abhängen.«

Tredjakoff warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich habe mich Ihnen für eine Stunde verpflichtet. Bitte stellen Sie Ihre Fragen, Mr. Hidetawa.«

»Meine erste Frage lautet: Was wissen Sie über die Vorbereitungen der Amerikaner für das Rennen?«

Tredjakoff überlegte einen Augenblick. Dann begann er.

»Unter den amerikanischen Bewerbern stehen die Reading-Werke an erster Stelle. Sie werden mit zwei Maschinen der neuen Eagle-Type in das Rennen gehen . . .«

Mit keiner Miene verriet der Japaner, daß ihm die Existenz des Eagle bereits bekannt war, aber er machte sich eifrig Notizen, als Tredjakoff ihm jetzt eine Fülle von Konstruktionsdaten dieser Type mitteilte. Stärke und Zylinderzahl der Motoren, Hub, Bohrung, Umdrehungszahlen, Kompression und noch vieles andere mehr rasselte der herunter, als ob er es auswendig gelernt hätte. Hidetawa schrieb und staunte, wie die Russen sich diese Daten verschafft haben mochten. Schon jetzt schienen ihm die fünftausend Dollar ein recht gut angelegtes Kapital zu sein. Aber der Russe war mit seiner Antwort noch längst nicht zu Ende. Er berichtete weiter von den beiden Maschinen der Liberty-Werke in Ohio, von der Goodyear-Maschine und von denjenigen der Rexton-Werke in Saint-Louis. Bei jeder Type gab er eine Fülle von Konstruktionszahlen, als ob er die betreffenden Pläne lange studiert hätte. Nur mit Mühe konnte Hidetawa alle Zahlen zu Papier bringen. Endlich war der Russe damit fertig.

»So, Mr. Hidetawa«, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung, »jetzt bin ich leer wie ein umgekippter Schubkarren. Was ich von Amerika weiß, wissen Sie jetzt auch. Sind Sie mit meiner Antwort zufrieden?«

Hidetawa machte ihm eine leichte Verbeugung. »Ich bewundere Ihren Nachrichtendienst, Mr. Tredjakoff. Ihr Material ist lückenlos. Ich glaube, Sie haben Ihre Vertrauensleute in allen amerikanischen Flugzeugwerken.«

›Bleibe nur bei deinem Glauben‹, dachte Tredjakoff für sich. ›Ein Glück, daß du die Zahlen nicht kontrollieren kannst.‹ Laut fuhr er fort:

»Was hätten Sie weiter zu fragen, Mr. Hidetawa?«

»Wissen Sie Näheres über die deutschen Vorbereitungen?«

»Da bedaure ich Ihnen nur wenig sagen zu können. Die Eggerth-Werke sollen dabei sein, die Maschinenstärke ihres ›Seeschwalbe-Typs‹ noch bedeutend zu erhöhen. Man munkelt von einer neuen Erfindung Professor Eggerths auf dem Gebiet des Zweitaktmotors. Bei sonst gleichbleibenden Verhältnissen und Gewichten soll die ›Seeschwalbe‹ dadurch auf fast 500 Stundenkilometer gebracht worden sein . . .« Hidetawas Lächeln wurde bei dieser Mitteilung etwas säuerlich. Tredjakoff, der um den Kauf der Japaner in den Eggerth-Werken wußte, konnte sich den Grund dafür unschwer denken.

»Aber das sind natürlich nur unsichere Informationen«, fuhr er fort, »Mitteilungen, die man uns aus Moskau gab, um einen gewissen Maßstab für unsere eigenen Ermittlungen hier in Amerika zu haben. Dazu gehören auch die Gerüchte um ein Stratosphärenflugzeug der Eggerth-Werke. Es darf heut als fast sicher gelten, daß Professor Eggerth dies Flugzeug nicht in das Rennen schicken wird, weil es noch nicht genügend entwickelt ist. Aus dem gleichen Grunde verzichten die Rabe-Werke darauf, ihre Schwingenflieger an der Konkurrenz teilnehmen zu lassen. Deutschland wird ausschließlich durch Ganzmetalleindecker mit Geschwindigkeiten zwischen 300 und 500 Stundenkilometern in dem Rennen vertreten sein.«

Im Anschluß an diese Mitteilung gab der Russe wiederum eine Reihe von Konstruktionsdaten zum besten, die der Japaner sich eifrig notierte. Dann fehlten noch zehn Minuten an der ausgemachten Stunde, und Hidetawa benutzte sie, um noch möglichst viel über die englischen und französischen Vorbereitungen zu erfahren. Aber was ihm Tredjakoff darüber erzählen konnte, ging an keiner Stelle über dasjenige hinaus, was die japanischen Agenten schon selbst in diesen Ländern ermittelt hatten. In der Hauptsache galt hier das gleiche wie für Deutschland. Weder die Engländer noch die Franzosen dachten daran, ihre ultraschnellen Sportmaschinen in das lange Rennen zu schicken, weil sie die Gefahrpunkte dieser Typen zur Genüge kannten. Was nutzte es denn, mit Rekordmaschinen von 800 Stundenkilometern in das Rennen zu gehen, wenn man mit ziemlicher Sicherheit bei der ersten Wasserung Kleinholz erwarten mußte. –

Tredjakoff nahm seine Uhr vom Tisch. »Mr. Hidetawa, unsere Stunde ist um. Sind Sie mit meinen Nachrichten zufrieden?«

»Durchaus, Mr. Tredjakoff! Meine Adresse ist Ihnen bekannt. Ich bitte Sie zu mir zu kommen, sobald Sie neues Material haben.« –

Nach langem Überlegen entschloß sich Tredjakoff, seinen Mitarbeitern Bunnin und Perow nichts von den eben so schnell verdienten Dollars zu erzählen. Verschwiegenheit schien ihm bei solchen etwas dunklen Geschäften das Gegebene, und in diesem besonderen Falle enthob ihn sein Schweigen der Notwendigkeit, die Summe mit zwei anderen zu teilen.

 


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