Hans Dominik
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Von Minute zu Minute wuchs die Erregung unter den Gästen Ruggeros. Längst hatten sie gemerkt, daß etwas nicht in Ordnung ging, und das unvermutete Auftauchen des japanischen Strahlschiffes war nicht geeignet, sie zu beruhigen. Die Panik, die Oriola und Montuori mit allen Mitteln zu verhüten suchten, drohte trotz deren Bemühungen auszubrechen, als Villari im Passagierraum erschien und ihnen die befreiende Kunde zurief, daß das japanische Strahlschiff Rettung bringe.

Begierig wollten sie wissen, was eigentlich geschehen wäre. Vorsichtig sprach Villari nur von einem Defekt an der Steuerung und teilte ihnen weiter mit, daß es Hidetawa bereits durch ein geniales Manöver geglückt sei, den Übelstand zu beheben. Seine Worte ließen die allgemeine Zuversicht zurückkehren. Mit südländischem Temperament nahmen sie die erfreuliche Botschaft auf, und schnell schlug die eben noch so gedrückte Stimmung in ihr Gegenteil um. Man empfand den Zwischenfall jetzt als interessant. Manche machten sich wieder an ihre Berichte und schrieben von einem spannenden Abenteuer, durch das der Rundflug erst die richtige Würze bekommen habe. Villari war inzwischen in den Kommandostand zurückgekehrt. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, als die Maske von ihm abfiel, die er den Gästen Ruggeros gegenüber gezeigt hatte. Die Selbstbeherrschung verließ ihn; seine Stimme klang heiser, als er zu sprechen anfing.

»Ich habe sie noch einmal beruhigt, aber wie lange wird's vorhalten? Wie lange wird's noch dauern, bis sie da drüben auch die steigende Wärme merken . . . bis die Hitze unerträglich wird, bis das Entsetzen über sie kommt?«

Vergeblich wartete er auf die Antwort Ruggeros, während seine Gedanken weiterliefen. War das Unheil wirklich unabwendbar? Konnte Hidetawa nicht doch noch in letzter Minute Hilfe bringen? Der Drang, den Japaner noch einmal anzurufen, wurde übermächtig in ihm. Er schob die Kopfhörer wieder über, wollte seine Station auf Sendung stellen, als er Morsezeichen hörte. Was wollte Hidetawa von ihm? Hatte der Japaner doch noch einen Weg zu ihrer Rettung gefunden? Er lauschte und stutzte.

Nicht italienische, sondern deutsche Worte waren es, die sich aus den ankommenden Zeichen formten. Kurze knappe Fragen nach dem Standort und Kurs von Ruggeros Strahlschiff. Kaum vermochte er zu glauben, was ihm doch deutlich ins Ohr klang. Auch die neue deutsche Maschine war aufgestiegen und eilte zu ihrer Rettung herbei. Kaum war das Schlußzeichen des Funkspruchs verklungen, als er sein Gerät auf Senden herumwarf und Antwort gab:

»Stehen in siebzig Kilometer Höhe über der Südküste des Schwarzen Meeres. Sind etwas nach Norden abgetrieben. Vier Kilometer Sekundengeschwindigkeit. Temperatur im Schiff vierzig Grad.«

Während er die Station wieder auf Empfang stellte, hörte er die Stimme Ruggeros. Der atmete schwer, denn drückend warm wie in einem Backofen war es inzwischen im Kommandostand geworden. Stockend kamen die Worte von seinen Lippen:

»Es geht zu Ende, Villari. Hidetawa kann uns nicht retten. Mein Gott, wir sind verloren!«

Villari hatte einen der Hörer beiseitegeschoben. Mit einem Ohr hörte er, was Ruggero sprach, mit dem anderen, was aus dem Telephon klang.

»Noch nicht verloren, Professor Ruggero! . . . Das deutsche Strahlschiff ist dicht bei uns . . . Es wird versuchen, uns zu retten!« Ruggero hörte, was Villari ihm zurief, und machte eine müde Bewegung. Erst nach Minuten kam seine Antwort. »Unsere Strahlflächen sind verriegelt . . . der Deutsche kann uns auch nicht helfen.«

Villari antwortete nicht. Er hatte wieder beide Hörer übergeschoben und lauschte den Funksprüchen, die zwischen dem deutschen und dem japanischen Strahlschiff hin- und herflogen. Er vernahm die Standortangaben, die Hidetawa dank seiner besseren Instrumente den Deutschen genauer zu geben vermochte. Er hörte die Antwort Hegemüllers. Worte wie »fassen« und »in die Höhe ziehen« vernahm er, ohne zu begreifen, wie das deutsche Schiff das bewerkstelligen sollte, mußte sich den Schweiß aus dem Gesicht wischen, der ihm aus allen Poren strömte, und hörte weitere Worte, die Hoffnung in seinem Herzen aufkommen ließen.

Dumpfer Lärm ließ ihn zusammenfahren. Das Geräusch kam von der Tür her. Mit den bloßen Fäusten und mit allem, was sie sonst zur Hand hatten, schlugen die Insassen des Passagierraumes gegen die metallene Pforte. Auf über vierzig Grad war dort das Thermometer gestiegen. Wilde Panik war unter den Gästen Ruggeros ausgebrochen. Sie glaubten zu ersticken, schrien nach Luft; hätten auch die Fenster zerschlagen und dadurch ihr sofortiges Ende herbeigeführt, wenn die Scheiben nicht unzerbrechlich gewesen wären. Immer stärker wurde das dröhnende Poltern, immer lauter das Geschrei, immer wilder, immer empörter die Rufe.

»Öffnen Sie die Tür!« befahl Ruggero.

Villari zögerte, antwortete stockend.

»Sie sind toll da draußen. Sie zerreißen uns, wenn wir öffnen.«

Ruggero sah, daß sein Gehilfe nicht gewillt war, seiner Anordnung zu folgen. Er erhob sich, ging wankend selbst zur Tür, griff nach der Klinke, als Villari ihn zurückriß.

»Nicht öffnen, Professor! Sie morden uns!«

Ein kurzes Ringen entstand, bei dem Villari als der Jüngere und Stärkere die Überhand gewann. Mit Gewalt schleifte er Ruggero zu seinem Platz zurück und drückte ihn dort nieder. Stand noch mit keuchenden Lungen über ihn gebeugt, als ein neues Geräusch aufklang. Hart, scharf und schneidend, wie wenn Metall sich an Metall reibt; wie wenn Metall und Metall aneinanderschleifen.

Ein jäher Ruck ging durch das italienische Schiff. Die schweren Trossenschleifen der deutschen Maschine hatten es gefaßt und an sich gefesselt. Ein gleichstarker Ruck traf in dem Augenblick, in dem die Kupplung der beiden Schiffe sich vollzog, auch die deutsche Maschine und hätte Dr. Hegemüller fast zum Straucheln gebracht.

»Gelungen, Berger! Wir haben die Italiener fest in den Schlaufen«, rief er seinem ersten Monteur zu, als er wieder auf festen Füßen stand. »Jetzt volle Kraft nach oben!«

Schon bewegte sich ein Steuerhebel in seiner Hand, und ein zweiter Ruck traf die beiden Schiffe. Noch stärker als schon zuvor spannten sich die schweren Trossen, die sie verbanden. Neuen Aufruhr brachte die Veränderung in die italienische Maschine. Mit einer Beschleunigung von fast fünf Meter in der Sekunde wurde sie von dem deutschen Schiff senkrecht nach oben gerissen; verdoppelt hatte sich im Moment das Körpergewicht der gegen die Tür des Kommandoraumes anstürmenden Fluggäste. In einem wirren Durcheinander stürzten sie zu Boden. Momentan verstummte der tobende Lärm. Plötzliche Stille herrschte im Passagierraum, herrschte auch im Kommandostand von Ruggeros Schiff.

Villari war es, der das Schweigen brach. »Wir sind gerettet, Professor Ruggero! Das deutsche Schiff hebt uns in eine dünnere Atmosphäre. Die Wärme wird bald nachlassen.«

Ruggero war noch benommen. Die seelischen Erschütterungen, das Ringen mit Villari, die drückende Hitze – noch immer herrschten fast vierzig Grad im Raume –, das alles zusammen war zuviel für ihn gewesen. In einem Schwächeanfall sank er zusammen, wäre aus dem Sessel gefallen und zu Boden gestürzt, wenn Villari ihn nicht im letzten Augenblick aufgefangen und gestützt hätte. Villari griff nach dem Puls des Professors, fühlte ihn matt und unregelmäßig gehen und erschrak.

Sollte diese Fahrt doch noch ein Opfer fordern? Sollte Ruggero, auf den die Wissenschaft Italiens mit Stolz blickte, nach Dr. Lee der zweite sein, der sein Leben für die neue Technik dahingeben mußte? Es durfte nicht sein. Mit allen Mitteln mußte das verhindert werden! Das waren die Gedanken, die Villari bewegten, als er die Tür zum Passagierraum aufriß, um deren Schließung er noch vor wenigen Minuten mit Ruggero gekämpft hatte. Nur von dem einen Wunsch beseelt, seinem Meister und Lehrer Hilfe zu bringen, achtete er kaum auf das, was sich hier seinen Blicken bot. Wo noch vor kurzem eine vor Angst und Verzweiflung halb irre Menge gerast hatte, fand er apathische, fast lethargische Menschen, die dahingestreckt lagen, wie der Stoß beim Einfangen des Strahlschiffes sie niedergeworfen hatte. Kaum daß der eine oder andere den Kopf nach ihm wandte, den Mund öffnete, eine Frage zu stellen versuchte. Villari stieg über die Liegenden hinweg, ging zur Bar, holte Eis und Alkohol und eilte damit in den Kommandostand zurück, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Alle seine Sorge galt nur Ruggero. Er rieb dem immer noch Ohnmächtigen Schläfen und Stirn mit Eis. Er flößte ihm mit Eisstückchen vermengten Weinbrand ein und fühlte nach bangen Minuten, wie der Puls Ruggeros kräftiger ging, sah, daß er die Augen aufschlug und seine Umgebung wieder erkannte.

Noch einmal war das Schlimmste vermieden worden.

»Was war das? Was ist geschehen?« Noch schwach kamen die Worte aus dem Mund Ruggeros.

»Wir sind gerettet, Herr Professor Ruggero!« wiederholte Villari die Worte, die er schon einmal gesprochen hatte. »Das deutsche Schiff hebt uns in die dünnere Atmosphäre.« Er unterbrach sich und sah auf das Thermometer. »Wir haben nur noch fünfunddreißig Grad im Schiff. Bald wird es noch kühler sein.«

Ruggero war den Blicken Villaris gefolgt. Er sah das Thermometer, sah daneben die Uhr, und seine Gedanken begannen wieder zu wandern. Halb wie im Traum sprach er die Worte vor sich hin.

»Landen . . . in zwanzig Minuten wollen wir in Rom landen. Werden wir die Zeit innehalten? Werden wir nicht zu spät kommen?«

»Wir werden zur rechten Zeit kommen. Das deutsche Schiff wird uns richtig dorthin bringen«, versuchte Villari ihn zu beruhigen.

Gerade als er diese Worte sprach, jagte das italienische Schiff im Schlepptau des deutschen in zweihundertfünfzig Kilometer Höhe über Rom dahin, weiter nach Westen. Dr. Hegemüller hatte ganze Arbeit gemacht. Er hatte es in eine Höhe gehoben, in der die Luftreibung nur noch minimal war, und die Folgen machten sich von Minute zu Minute fühlbar. Schon war die Temperatur auf dreißig Grad gesunken und fiel unablässig weiter.

Die Gefahr des Feuertodes war gebannt, doch eine andere Schwierigkeit blieb noch zu überwinden. Noch immer hatte Ruggeros Schiff eine Geschwindigkeit von fast vier Kilometer in der Sekunde, und die Möglichkeit, die rasende Fahrt durch den Strahlungsdruck abzubremsen, war infolge der Verriegelung seiner Treibflächen versperrt. Sorgenvoll überlegte Dr. Hegemüller, welche Mittel er wählen sollte, um das manövrierunfähige Schiff der Italiener zu einer sicheren Landung zu bringen.

Unablässig gingen die Funksprüche zwischen der deutschen Maschine und Hidetawa, der mit seinem Schiff in Sichtweite blieb, hin und her, und Villari hörte sie in seinem Empfänger mit.

»Gehen Sie unter die Heavyside-Schicht! Lassen Sie die Luftreibung als Bremse wirken!« hatte der Japaner soeben gemorst.

»Es würde zu lange dauern. Der Luftvorrat der Italiener ist begrenzt. Es befinden sich fünfzehn Mann an Bord«, funkte der Deutsche zurück. »Ich will versuchen, durch Trossenzug abzubremsen.«

»Seien Sie vorsichtig! Die hintere Trosse wird dabei abgleiten«, kam die Antwort Hidetawas und warf Dr. Hegemüller in neue Zweifel und Sorgen. Sicherlich hatte der Japaner mit seiner Warnung recht. Das italienische Schiff hatte ja die Form eines liegenden, nach vorn und hinten zugespitzten Zylinders. Die vordere Schlaufe würde bei dem Manöver, das Hegemüller beabsichtigte, bestimmt standhalten, sich sogar noch fester um den Schiffskörper legen. Die hintere aber würde aller Wahrscheinlichkeit nach abgleiten. Dann aber war die italienische Maschine nicht mehr in der vollen Gewalt der deutschen und die Gefahr ihres Absturzes bedrohlich nahe.

Dr. Hegemüller sah nur einen Ausweg. Man mußte die vordere Trosse stärker anziehen und dadurch verkürzen. Dann würde sie allein beansprucht, wenn er seine Strahlflächen bremsend wirken ließ, und die Gefahr des Abgleitens der hinteren Schlaufe war vermieden. Das Mittel, das allein helfen konnte, erkannte er klar; doch er sah keine Möglichkeit es anzuwenden. Schon flog das, was er soeben durchdacht hatte, auf Ätherwellen zu dem japanischen Schiff hinüber, und eine überraschende Antwort kam von dort zurück.

»Wir werden es von meinem Schiff aus versuchen«, funkte Hidetawa.

Das Staunen Hegemüllers über diese Mitteilung war begreiflich, denn manche der technischen Einrichtungen, die Hidetawa bei seiner Maschine vorgesehen hatte, waren ihm unbekannt. Er wußte nicht, daß Hidetawa, ebenso wie früher schon Dr. Lee, eine Luftschleuse eingebaut hatte, die es gestattete, das Schiff auch in einer verdünnten Atmosphäre zu verlassen oder zu betreten. Auch hatte er nichts davon erfahren, daß das japanische Schiff mehrere Skaphanderanzüge und Fallschirme an Bord hatte. So war es ihm völlig unmöglich, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was Hidetawa vorhatte.

Flüchtige Erinnerungen an japanischen Opfermut gingen ihm durch den Sinn. Sollten auch hier Männer der Besatzung von Hidetawas Schiff ihr Leben todesmutig in die Schanze schlagen, um Ruggero und seine Gäste zu retten? Solch Opfer wollte Dr. Hegemüller vermeiden und funkte seine Ansicht darüber an Hidetawa. Schnell kam die Antwort von dem zurück.

»Es handelt sich um kein Opfer. Es ist eine einfache technische Maßnahme.«

Immer näher hatte sich inzwischen das japanische Schiff herangeschoben. Kaum noch ein Meter entfernt lag es jetzt neben der deutschen Maschine, und dann sah Dr. Hegemüller etwas, das ihn den Atem anhalten ließ. Eine Tür öffnete sich an der dem deutschen Schiff zugewandten Seite der japanischen Maschine. Ein Wesen, das ungefähr einem Taucher in voller Ausrüstung glich, wurde sichtbar, wagte einen Sprung und war für den Deutschen nicht mehr sichtbar. War der Tollkühne aus der unendlichen Höhe abgestürzt, oder hatte er die vordere Trosse zu packen bekommen? Das war die Frage, die Hegemüller noch beschäftigte, als eine zweite ebenso gekleidete Gestalt der ersten folgte und das gleiche Schauspiel sich wiederholte. Aber diesmal konnte Hegemüller es deutlich sehen. Dieser zweite hatte sein Ziel verfehlt. In jähem Sturz verschwand er in der Tiefe.

»Doch ein Todesopfer!« durchzuckte es Hegemüller, während schon ein dritter von dem japanischen Schiff den grauenhaften Sprung wagte und anscheinend nicht fehlgriff.

Ein Scharren, Knirschen und Knarren ließ Hegemüller aufhorchen. Er fand nur eine Erklärung dafür. Die beiden Männer, die da draußen zwischen dem deutschen und dem italienischen Schiff in einer unvorstellbaren Höhe hingen, waren dabei, die vordere Trosse zu kürzen. Noch überlegte er, wie sie das Werk wohl zustande bringen möchten, als die beiden seinen Blicken wieder sichtbar wurden, und jetzt fiel es ihm auch auf, daß sie die schweren Windeisen, die vorher an ihrer Seite hingen, nicht mehr bei sich führten. So also hat Hidetawa das gemacht, ging's ihm durch den Kopf. Genial und einfach wie alle genialen Sachen.

Noch dichter hatte sich inzwischen Hidetawas Schiff herangeschoben. Fast berührte es jetzt die Wand der deutschen Maschine. Behend verschwanden die beiden Helfer wieder in der Luftschleuse. Die Tür des japanischen Schiffes wurde geschlossen; gleichzeitig kam ein neuer Funkspruch von dort.

»Ihre vordere Trosse ist gekürzt. Sie können mit Ihren Strahlflächen bremsen.«

Andere Morsezeichen folgten. Sie kamen von Villari, der seinem Dank in überströmenden Worten Ausdruck gab und es auch nicht unterließ, sein Beileid zu dem Absturz des einen der Retter auszusprechen. Ebenso wie Yatahira hörte auch Dr. Hegemüller den Funkspruch Villaris und schüttelte unwillkürlich den Kopf.

»Was hilft dem Unglücklichen das Beileid?« murmelte er vor sich hin. »Er ist längst zerschellt. Mit mehr als einem Kilometer Sekundengeschwindigkeit mußte sein Leib aufschlagen. Bei solcher Geschwindigkeit verhält sich auch das Wasser wie ein starrer Körper. Auch wenn er ins Meer abstürzte, mußte er zerschmettert werden.« Er schwieg und horchte auf das, was jetzt in dem Hörer tickte. Es war die Antwort aus der japanischen Maschine.

»Wir hoffen, daß Yoshika sich retten kann. Wir nehmen an, daß er mit seinem Fallschirm die Ostküste Spaniens erreichen wird.«

. . . Fallschirm?! . . . die Ostküste Spaniens? . . . Hegemüller griff sich an den Kopf . . . Einen Fallschirm hatte der Abgestürzte bei sich . . . das konnte Rettung bringen bei einem Absprung aus zwölf Kilometer, aber doch nicht aus hundertundzwanzig Kilometer Höhe. Der Schirm würde sich in der so unendlich dünnen Atmosphäre hier oben nicht entfalten. Wie ein Stein mußte der Mann erst viele Meilen abstürzen, bevor er dichtere Luftschichten erreichte. Ins Riesenhafte mußte dabei seine Sturzgeschwindigkeit wachsen, und wenn der Schirm sich endlich doch öffnete, würde es einen plötzlichen Ruck, eine so jähe Bremsung geben, daß der Unglückliche schon dadurch getötet würde . . .

Dr. Hegemüller konnte die Hoffnung der Japaner auf eine Rettung ihres Gefährten nicht teilen. Aber – so überlegte er weiter – selbst wenn der Fallschirm richtig wirkt, muß der Mann doch mitten in das Meer zwischen Italien und Spanien fallen, über dem die Maschinen sich im Augenblick des Absturzes befanden. Wie sollte er jemals die noch so viele Meilen entfernte spanische Küste erreichen? Halt! Doch! Das war möglich! verbesserte Dr. Hegemüller seinen Gedankengang. Der Mann hatte ja in dem Moment, in dem er sich von dem japanischen Strahlschiff trennte, dieselbe Geschwindigkeit wie dieses. Mit rund vier Sekundenkilometer mußte auch sein Körper weiter nach Westen treiben, bis die Luft in geringerer Höhe die Bewegung abbremste. Vollauf mußte dieser Schwung, wie es Dr. Hegemüller jetzt überschlug, genügen, um ihn über das Meer und vielleicht sogar noch ein gutes Stück landeinwärts nach Spanien zu tragen.

Der Schwung! . . . Der Gedanke daran ließ ihn in die Wirklichkeit zurückkehren. Auch er hatte ja noch Schwung abzubremsen, mußte die lebendige Kraft nicht nur des eigenen, sondern auch des italienischen Schiffes durch Strahldruck aufzehren lassen, wenn die tolle Jagd um den Erdball nicht unaufhörlich weitergehen sollte. Er griff in die Steuerung und bewegte sie vorsichtig. Ein Knirschen und Klingen, das von außen kam, antwortete der Bewegung. Die vordere Trosse spannte sich und hielt die Maschine Ruggeros fest, die ohne dies Hindernis unverändert weiter nach Westen gestürmt wäre. Nur behutsam bewegte er den Steuerhebel weiter, überlegte und berechnete dabei im Kopf, wieviel er der einen Trosse zumuten durfte, an der jetzt das Schicksal der Italiener hing, und kam zu dem Schluß, daß er eine Verzögerung von fünf Sekundenmeter wagen dürfe. Wenig später lief ein Funkspruch des japanischen Strahlschiffes ein, daß das Manöver gelungen sei. Die verkürzte vordere Trosse nahm den gesamten Bremsdruck auf, die hintere Tröste blieb unbeansprucht, und ihre Schlaufe lag unverändert an der alten Stelle.

»Wir wollen unter die Heavyside-Schicht gehen und Nachricht nach unten geben. Man wird dort in Sorge um uns sein«, funkte Hidetawa weiter. Zustimmende Antwort kam von der deutschen Maschine. In gleichmäßigem Fall sanken die drei Schiffe hinab und durchstießen die Schicht, die ihre Verbindung mit der Erde so lange unterbunden hatte.

Hidetawa hatte Grund zu seiner Mahnung, denn in der Tat war die Aufregung dort unten nicht gering. Man hatte die Notrufe der Italiener empfangen. Dann war die Verbindung geraume Zeit mit ihnen gestört, während von dem japanischen Schiff die Nachricht kam, daß es zu Hilfe eile. Man hatte für kurze Zeit befreit aufgeatmet, bis neue dringendere Rufe von den Italienern kamen, die von einer unerträglich werdenden Glut sprachen. Dann war die Verbindung zum zweitenmal abgerissen, und schon hielt man das italienische Schiff für verloren, fürchtete, daß seine Insassen irgendwo im Raum verbrannt oder erstickt wären. Immer aufregender wurden die Nachrichten, die an hundert Stellen der Erde aus den Antennen der großen Sender fluteten. So sehr überschlugen sich wilde Vermutungen und schlimme Befürchtungen, daß man darüber eine andere Nachricht fast überhörte. Auch das deutsche Schiff war, wie der Sender aus Gorla meldete, zur Hilfeleistung aufgestiegen.

Es war nur eine vage Vermutung, die der Chefingenieur Grabbe funken ließ; denn tatsächlich wußte er ja nichts über die Absichten und das Ziel Dr. Hegemüllers. Er hatte es auf gut Glück hin getan und zufällig das Richtige getroffen. Innerlich verwünschte er dabei Hegemüller bis in die tiefste Hölle und nahm sich vor, ihm einen Empfang zu bereiten, der ihm die Lust zu derartigen Eigenmächtigkeiten ein für allemal austreiben sollte. Doch vorläufig sah es nicht so aus, als ob er dazu bald eine Gelegenheit haben würde; denn von dem deutschen Schiff kam überhaupt keine Nachricht. Seit seinem Start schien es verschollen zu sein.

Zweierlei Gründe gab es dafür. Über dem Schwarzen Meer hatte Dr. Hegemüller gefunkt, um den Italienern zu melden, daß er ihnen zu Hilfe eile. Das war noch unterhalb der Heavyside-Schicht geschehen, aber in Anbetracht der großen Nähe des italienischen Schiffes hatte er die Ausstrahlung seiner Antenne so schwach gehalten, daß die Wellen in Gorla nicht mehr empfangen werden konnten. Kurz danach aber, sobald er das andere Strahlschiff sicher in den Trossen hatte, war er nach oben durch die Heavyside-Schicht gestoßen, womit natürlich jede Erdverbindung aufhörte. So wartete Chefingenieur Grabbe vergebens auf ein Lebenszeichen Hegemüllers, und in seinen Ärger mischte sich allmählich Sorge um das deutsche Schiff und seine Besatzung. Er hielt es nun doch für angebracht, Professor Lüdinghausen von dem Geschehenen Mitteilung zu machen, und eilte zu ihm. Ruhig hörte der Professor Grabbes Bericht an, nickte ein paarmal zustimmend, schüttelte den Kopf, wenn der Chefingenieur gelegentlich seinem Ärger über Hegemüller Luft machte.

»Es ist das einzig Richtige, was Doktor Hegemüller getan hat«, sagte er, nachdem Grabbe geendet hatte. »Es mußte unbedingt geschehen. Wie würden wir dastehen, wenn von unserer Seite nichts unternommen worden wäre? Stellen Sie sich die Lage klar vor: Das italienische Schiff in Not. Hidetawa jagt ihm um den halben Erdball nach, um ihm zu helfen, und wir stehen tatenlos beiseite. Einerlei, ob die Rettung gelingt oder nicht, unser Ansehen hätte einen schweren Schlag erlitten. Bestenfalls würde man unser Verhalten mit einem ›Nichtkönnen‹, im schlimmeren Fall mit einem ›Nichtwollen‹ erklären. Beides wäre wenig rühmlich für uns.«

Ungeduldig hatte Chefingenieur Grabbe Professor Lüdinghausen aussprechen lassen. »Hegemüller riskiert Kopf und Kragen«, brach er jetzt los. »Unser Schiff war für ein derartiges Unternehmen noch nicht startfähig. Es haben noch keine Probeflüge stattgefunden. Die Maschinerie ist noch nicht in kleineren Flügen erprobt worden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ihm ein ähnliches Schicksal blüht wie den Italienern.«

Während Grabbe noch sprach, griff Lüdinghausen zum Telephon und gab der Funkstation Auftrag, mit allen Mitteln eine Verbindung mit dem deutschen Strahlschiff zu versuchen.

»Zwecklos, Herr Professor Lüdinghausen«, knurrte Grabbe dazwischen. »Alle drei Schiffe treiben irgendwo über der Heavyside-Schicht. Vielleicht sind alle drei schon verloren.«

Trotz der ernsten Lage mußte Lüdinghausen lächeln.

»Sie trauen unserm Freund Hegemüller wenig zu«, meinte er. »Ich halte mehr von ihm. Wenn eine Rettung der Italiener noch möglich ist, wird er's schaffen. Unser Schiff wird er bestimmt wieder nach Hause bringen. Das ist meine feste Überzeugung.« Die Glocke des Telephons klang dazwischen. Die Funkstation rief an: »Wir haben Verbindung mit unserm Strahlschiff. Doktor Hegemüller meldet sich. Er hat das italienische Schiff fest in den Trossen und bremst den Flug mit seinen Strahlflächen ab.«

»Also, da haben wir's!« rief Lüdinghausen. »Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, unser Hegemüller schafft es.« Er sprach wieder in das Telephon zur Funkstation. »Rufen Sie Doktor Hegemüller an! Ich lasse ihn bitten, das italienische Schiff hierher nach Gorla zu bringen. Die Reparatur kann hier schnell erledigt werden, und es werden unnötige Aufregungen und überflüssiges Geschwätz in Rom vermieden.«

»Was sagen Sie dazu, Berger?« fragte Hegemüller nach dem Empfang von Lüdinghausens Funkspruch. »Wir sollen die Italiener nach Gorla einschleppen.«

»Feine Idee von unserm Professor, Herr Doktor! Fragt sich nur, ob die Italiener damit einverstanden sind.«

Die Frage des Monteurs Berger war berechtigt. Auch Villari hatte den Funkspruch gehört und Ruggero mitgeteilt. Der deutsche Vorschlag kam beiden so unerwartet, daß sie in ihrer Verblüffung zunächst keine Worte fanden. Dann aber begannen sie über ihn zu debattieren, Gründe und Gegengründe vorzubringen.

»Was werden unsere Gäste dazu sagen, wenn wir nicht in Rom, sondern in Deutschland landen?« war die erste Frage Ruggeros.

»Sie werden froh sein, daß sie überhaupt gesund landen können«, warf Villari dagegen ein.

»Aber es geht gegen unsere Ehre und gegen unser Ansehen«, verteidigte Ruggero seinen Standpunkt.

»Unser Ansehen gewinnt auch nicht, wenn uns das deutsche Schiff nach Rom schleppt«, meinte dagegen wieder Villari. So ging Rede und Gegenrede zwischen den beiden noch hin und her, als Hegemüller sie anrief. Kurz und bündig teilte er ihnen mit, daß er aus technischen Gründen gezwungen wäre, zunächst in Gorla zu landen. In zwanzig Minuten würde man dort sein; alles Weitere würde sich da schnell finden.

Während der wenigen Minuten, die vergangen waren, seitdem Dr. Hegemüller die Strahlflächen bremsend wirken ließ, hatten die beiden Schiffe, das deutsche und das italienische, schon den größten Teil ihrer Geschwindigkeit verloren. Nur noch mit tausend Kilometer in der Stunde flogen sie in knapp zwanzig Kilometer Höhe dahin. In weitem Bogen hatte Dr. Hegemüller den Westkurs verlassen und war auf einen Nordostkurs abgeschwenkt, der ihn geradeswegs nach Gorla bringen mußte. In kurzer Zeit war damit das japanische Schiff außer Sichtweite gekommen. Mit nur wenig verringerter Geschwindigkeit jagte es weiter nach Westen, während Funksprüche zwischen Yatahira und Hegemüller hin- und hergingen.

»Wir werden etwas später nach Gorla kommen«, funkte der Japaner. »Erst müssen wir Yoshika suchen.«

Ihr könnt leichter die berühmte Stecknadel in einem Heuschober finden als euren Yoshika, dachte sich Hegemüller, während er die Morsetaste klappern ließ und den Japanern Wünsche für einen guten Erfolg funkte. Höflich bleiben die Bewohner des Fernen Ostens in allen Lebenslagen, dachte er weiter, als Hidetawa seinen Dank für die guten Wünsche funken ließ. Aber er stutzte, als weitere Zeichen aus dem Hörer tickten.

»Wir hoffen Yoshika noch in der Luft fassen zu können . . .«

Yoshika noch in der Luft fassen zu können? . . . Dr. Hegemüller griff sich an die Stirn. War denn das überhaupt möglich? Er sah nach der Uhr. Knapp zehn Minuten waren seit dem Absturz des Japaners verstrichen. War es denkbar, daß der sich noch in der Luft befand? Dr. Hegemüller fand keine Antwort auf seine Frage. Es hing ja alles von der Art der Fallschirme ab, mit denen Hidetawa seine Leute ausgerüstet hatte. Daß bei einem Absprung oder Absturz aus mehreren hundert Kilometer Höhe ganz besondere Verhältnisse herrschten, darüber war sich der Deutsche schon vorher klar geworden. Jetzt kam ihm auch die Erkenntnis, daß man diesen Verhältnissen durch eine besondere Konstruktion der Schirme Rechnung tragen müsse, und wie er Hidetawa kannte, war er überzeugt, daß der das auch getan hatte . . . Yoshika noch in der Luft abfangen? Er war gespannt, wie das Unternehmen wohl ausgehen möge; doch im Augenblick nahm die Führung des Schiffes seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch.

Auf dem Tisch des Chefingenieurs Grabbe klingelte das Telephon. Professor Lüdinghausen rief an.

»Hegemüller bringt das italienische Schiff hierher. In fünf Minuten gedenkt er zu landen. Lassen Sie alles vorbereiten! Ich komme zur Halle.«

»Jawohl, Herr Lüdinghausen, wird gemacht«, rief Grabbe zurück und warf den Hörer auf die Gabel. Vergessen waren in diesem Augenblick sein Ärger und sein Zorn. Der Chefingenieur Grabbe dachte nicht mehr daran, seinem eigenmächtigen Untergebenen den Kopf zu waschen. Freude und Stolz erfüllten ihn darüber, daß es dem deutschen Strahlschiff und damit auch dem Gorla-Werk geglückt war, die italienischen Kameraden zu retten.

So schnell ihn seine Füße trugen, eilte er nach der großen Halle, gab den Befehl, das zweiteilige Dach aufzuklappen, rief dann die geschicktesten Leute der Abteilung zusammen und hatte mit ihnen eine hastige Besprechung, während die Minuten verrannen und der Zeitpunkt der Landung immer näher heranrückte.

Dr. Hegemüller hatte mit seiner Vermutung recht, daß Hidetawa seine Fallschirme den veränderten Verhältnissen des Weltraumfluges besonders angepaßt habe. Der japanische Gelehrte hatte, als er diesem Problem nähertrat, sofort die Gefahr erkannt, daß ein fallender Körper in den obersten, dünnsten Schichten der Atmosphäre eine verderbliche Sturzgeschwindigkeit annehmen könnte, und danach seine Maßnahmen getroffen. Zu einem Vielfachen der sonst üblichen Größe breiteten sich die von ihm konstruierten Schirme aus. Sie bremsten den Fall dadurch bereits in Höhen, in denen die andern Schirme noch unwirksam blieben. Je nach Bedarf konnte der Fallschirmspringer in den tieferen Luftschichten den Schirm durch einfache Schnurbewegungen verkleinern; er konnte es aber auch unterlassen und schwebte dann noch wesentlich langsamer als das leichteste Baumblatt in die Tiefe.

»Er wird wissen, daß wir ihm so bald wie möglich nachfolgen; er wird danach handeln«, sagte Hidetawa, während das japanische Schiff auf Westkurs dahinstürmte. Yatahira nickte und rechnete auf einem Schreibblock, sprang dann auf und betätigte die Steuerung so, daß das Schiff stark abgebremst wurde.

»Wir müssen ihn in zehn Kilometer Höhe suchen«, sprach er dabei weiter. »Wenn er so gehandelt hat, wie wir es von ihm erwarten.«

»Suchen Sie, Yatahira!« war alles, was Hidetawa darauf erwiderte.

Schweigend arbeitete Yatahira an der Steuerung, verstellte hier einen Hebel und dort einen anderen, während seine Augen bald zu den Meßinstrumenten gingen, bald scharf durch das Bugfenster spähten. In zehn Kilometer Höhe flog jetzt das japanische Schiff und sank, während seine Geschwindigkeit ständig abnahm, allmählich noch tiefer. Weit voraus kam Land in Sicht; eine gebirgige Küste, die Bucht von Valencia. Noch angestrengter als bisher starrte Yatahira nach vorn, während seine Hände an den Steuerhebeln lagen. Stärker bremste er jetzt den Flug, noch tiefer ließ er das Schiff sinken, dabei unentwegt einen weißen Punkt im Auge behaltend, der bald in dem schimmernden Blau des Äthers sichtbar war, auf Sekunden zu verschwimmen schien, und dann von neuem auftauchte.

Minuten hindurch währte das Spiel, dann sprach Yatahira:

»Wir haben Yoshika gefunden, Herr Hidetawa.«

*


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