Hans Dominik
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Hans Dominik

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Bauer Schanze war auf dem Wege zu seinen Äckern jenseits des Waldes. Während er unter den hohen Buchenstämmen dahinmarschierte, kam aus der Ferne Sirenengetön auf.

Ach so, heut ist Sonnabend; sie pfeifen Werkschluß. Schon zwei Uhr nachmittag? Er blieb stehen und holte seine etwas altertümliche Uhr aus der Tasche, um sie nach dem Sirenensignal zu stellen. Die haben's gut, können am Sonnabend früh nach Hause gehen, sinnierte er weiter vor sich hin und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Ein paar spielende Eichkatzen sprangen vor ihm über den Weg, jagten einander und huschten an den grauen Stammsäulen empor.

»Luderzeug, verdammtes!« knurrte Schanze vor sich hin, während sein Blick den Tieren folgte, bis sie in den Baumkronen verschwanden. »Habt mir letzten Herbst alle Haselnüsse gestohlen.«

Von neuem verhielt er den Schritt, zog eine Büchse hervor und schnitt sich ein Stück Kautabak ab, das er gemächlich in der Backentasche verstaute. Sah dabei auch an anderen Stellen Eichhörnchen um die Stämme spielen und brummte allerlei vor sich hin. »Wo das Teufelszeug nur alles herkommt? Was will das jetzt im Buchenwald, wo die Eckern noch längst nicht reif sind? Haben's wohl auf Vogelnester abgesehen; schade, daß man nicht drauf schießen darf . . .«

Bauer Schanze brach sein Selbstgespräch ab, weil ein ziemlich weit abseits stehender Baum seine Aufmerksamkeit erregte. In dessen Krone wurde es plötzlich lebendig. Äste bewegten sich, Zweige schwankten und schlugen rauschend gegeneinander.

»Nanu? Was ist das?« staunte Schanze. »Können doch die Eichhörnchen nicht machen. Was zum Deubel steckt da oben zwischen den Blättern?«

Im nächsten Augenblick sah er ein fuchsrotes Eichhörnchen aus dem Geäst nach unten fallen. Vergeblich versuchte das Tier noch einen rettenden Ast zu erhaschen. Es verfehlte ihn, stürzte aus der Höhe ab, schlug auf dem Waldboden auf und blieb regungslos liegen.

»Ist ja kaum möglich!« wunderte sich der Bauer. »Habe noch nie gehört, daß ein Eichkatz sich zu Tode gefallen hat . . . Da muß noch was anderes im Baum gesessen haben . . . ein Wiesel vielleicht? oder ein Marder . . . der ihm an die Kehle wollte.« Während Schanze so vor sich hin sinnierte, haftete sein Blick an dem gestürzten Tier. Er sah nicht, wie sich zwanzig Meter höher aus der Baumkrone ein zylindrischer Körper nach oben erhob, jetzt schon die obersten Baumzweige hinter sich ließ und in langsamem Flug senkrecht emporstieg.

Diesmal war es wirklich ein Tier gewesen, ein spielender Eichkater, der in jähem Sprung gegen die Strahlflächen von Hegemüllers Rakete geprallt war und sie dabei verstellt hatte. Nicht eben sehr viel, aber doch so viel, daß die Maschine wieder einen leichten Auftrieb bekam, ihren Stützpunkt verließ und in langsamem Flug nach oben strebte.

Von alledem aber sah der Bauer Schanze nichts, weil seine Blicke am Boden hafteten. Er trat an den Stamm heran, hob das Tier auf, überzeugte sich, daß es tot war, und steckte es in seinen Rucksack. Ich werd's zu Hause abledern, dachte er, während er rüstig weitermarschierte. Der Pelz ist gut. Gibt ein schönes Stück für den Winter.

Die Werksirenen waren verklungen; hinter den letzten Leuten der Gefolgschaft schlug der Pförtner das eiserne Gittertor zu; still und verlassen lagen die Bauten und Höfe des Werkes. Nur an zwei Stellen herrschten noch Leben und Betrieb in ihm.

Auf dem Abstellplatz waren um den schimmernden Rumpf der neuen Rakete Lüdinghausen, Grabbe und Saraku versammelt. Die Tür des geräumigen Zylinders stand offen. Aus dem Innern klang das Klappern einer Morsetaste. Dr. Hegemüller war dabei, noch einmal die Funkeinrichtung zu überprüfen. Provisorisch hatte er sie an eine auf dem Hallendach befindliche Antenne angeschlossen. Die Antwort kam aus dem Turm des Verwaltungsgebäudes, in dem in der Funkstation des Werkes zwei Mann der Gefolgschaft vor ihren Apparaten saßen, bereit, den drahtlosen Verkehr mit der neuen Rakete für die folgenden Stunden aufrechtzuerhalten.

»Alles in Ordnung. Schluß vorläufig!« hämmerte Hegemüller in die Taste, legte die Kopfhörer ab und löste die Verbindung mit der Hallenantenne.

»Klar zum Start, Herr Professor«, meldete er Lüdinghausen.

Lüdinghausen blickte auf seine Uhr, während Hegemüller und Saraku bereits das Innere der Rakete betraten.

»Zwei Uhr zwölf Minuten«, wandte er sich an Grabbe. »Sie können um ein Viertel drei Uhr abfliegen. Bleiben Sie nicht länger als eine Stunde fort. Melden Sie sich unterwegs möglichst bald. Ich werde zu den Funkern im Turm gehen . . . und passen Sie auf Hegemüller auf«, rief er Grabbe noch nach, der auch schon in der Rakete stand.

»Wird geschehen, Herr Professor«, lachte der Chefingenieur und zog die Tür hinter sich zu.

Lüdinghausen hörte ein Geräusch von Werkzeugen. Die Schrauben, welche den Türverschluß luftdicht machten, wurden von innen angezogen. Er sah, wie die Strahlflächen sich allmählich auseinander bewegten, wie der Rumpf der Rakete unter einer leichten Erschütterung erzitterte, sah den schweren Körper sich Zoll um Zoll vom Boden abheben und senkrecht emporschweben. Eine kurze Weile noch verfolgte er ihn mit den Blicken. Dann wandte er sich um, ging zum Turm und stieg in den Funkraum hinauf.

An einem der Raketenfenster stand Grabbe. Langsamer als bei jenem kurzen Flug in der ersten Rakete stieg die neue Maschine. Dr. Hegemüller schien die Anweisungen, die ihm Professor Lüdinghausen am Vormittag noch unter vier Augen gegeben hatte, zu beherzigen. Der Chefingenieur sah die Landschaft vor seinen Blicken in die Tiefe sinken und sich stetig ausweiten.

Endlich scheint Freund Hegemüller vernünftig geworden zu sein, ging es ihm durch den Kopf, dann nahm ihn das sich ständig ändernde Landschaftsbild wieder in Anspruch. Schon lagen die Häuser von Gorla wie Kinderspielzeug vor seinen Blicken; Weiler und Dörfer sah er wie von einer spielerischen Riesenhand zwischen Äckern und Triften hier und dorthin verstreut; sah jetzt in blauer Ferne dunstig verschwommen auch den Kamm des Hochgebirges und konnte sich immer noch nicht von dem wechselvollen Bild losreißen.

Und doch hätte der Chefingenieur Grabbe besser daran getan, seine Aufmerksamkeit den Meßinstrumenten in der Rakete als der Landschaft draußen zuzuwenden, denn ein kleiner, aber nicht unwichtiger Umstand war ihm darüber entgangen. Die Rakete erfuhr bei der von Dr. Hegemüller gewählten Einstellung der Treibflächen zwar nur eine geringe Beschleunigung, doch diese Beschleunigung wirkte stetig weiter und ließ die Geschwindigkeit von Sekunde zu Sekunde wachsen. Kaum schneller als etwa ein Straßenbahnwagen von seiner Haltestelle abfährt, hatte die Rakete ihren Startplatz verlassen, aber mit rund hundert Meter in der Sekunde fegte sie schon nach einer Minute durch die Luft.

Während Grabbe in die Betrachtung der Landschaft versunken war und Hegemüller vor seinen Hebeln stand, hatte Saraku die Seilantenne ausgelassen, mit der die Funkstation der Rakete während des Fluges arbeiten mußte. Jetzt bewegte er die Taste und versuchte die Verbindung mit den Funkern des Werkes zu bekommen.

Die Turmstation meldete sich. Der Schreibhebel der Bordstation begann zu ticken und Punkte und Striche aufzuzeichnen. Saraku las die Worte von dem laufenden Papierstreifen halblaut ab.

»2 Uhr 17. Wie ist Ihr Flug? Wo befinden Sie sich?«

Unwillkürlich gingen die Blicke des Japaners zu der Borduhr, als er die Zeitangabe las. Es stimmte; eben erst zwei Minuten waren sie in Fahrt. »Wo befinden Sie sich?« Er schaute nach dem Höhenzeiger und wollte seinen Augen kaum trauen. Bei dem zwölften Kilometer stand der Zeiger des Instruments und war schon wieder um ein Kilometer weiter geklettert, bevor Sarakus Blicke von ihm zu dem Morseschreiber zurückgingen.

Dessen Hebel stand jetzt still. Die Werkstation hatte sich auf Empfang umgestellt und wartete auf Antwort. Er schaltete seinen Apparat auf Senden und ließ die Taste spielen.

»Gute Fahrt bisher. Stehen in . . .« Er sah nach dem Höhenzeiger und morste weiter »13 Kilometer«, verbesserte sich in der nächsten Sekunde, ». . . in 14 Kilometer Höhe«. Er ließ die Taste ruhen und griff sich mit der Rechten an die Stirn, während er automatisch seine Station wieder auf Empfang umlegte. Sein Kopf wollte nicht fassen, was seine Augen sahen, was die Meßinstrumente in der Wand ihm untrüglich zeigten. Was für ein rasender, wahnwitziger Flug war das! Schon Stratosphärenhöhe nach wenig mehr als zwei Minuten Fahrt! . . . Schon auf zwanzig Kilometer wies der Höhenzeiger jetzt. Er wollte etwas sagen, wollte Hegemüller anrufen, als Chefingenieur Grabbe sich umwandte und die gleiche Frage stellte wie vor kurzem die Werkstation.

»Wo stehen wir? Der Himmel hat sich verändert. Er ist tiefblau, fast schon violett geworden.«

Schweigend deutete der Japaner auf den Höhenzeiger. Grabbes Augen folgten der Richtung. Siebenundzwanzig Kilometer las er ab und war mit einem Sprung bei den Steuerhebeln.

»Sind Sie toll?« schrie er Hegemüller an. In seine letzten Worte hinein begann der Morseschreiber wieder zu ticken. »Befehl der Werkleitung«, las Saraku ab, »Beschleunigung negativ stellen. Auf zehn Kilometer Höhe zurückgehen. Melden, wenn befohlene Höhe erreicht. Lüdinghausen.«

Grabbe hatte inzwischen in das Steuerrad der Haupttriebflächen gegriffen. Langsam bewegte es sich unter seinen Händen, während er ein anderes Instrument, den Beschleunigungsmesser, scharf ins Auge faßte. Jetzt begann auch dessen Zeiger zu fallen; gemächlich wanderte er zur Null zurück. Das bedeutete, daß die Rakete jetzt weder nach oben noch nach unten eine Beschleunigung hatte. Der Auftrieb ihrer Strahlflächen reichte gerade hin, um die Erdanziehung zu kompensieren. Sie verhielt sich infolgedessen so, als ob sie sich weit von anderen Sternen entfernt irgendwo im leeren Weltraum befunden hätte, das heißt, sie stürmte mit der während der ersten Minuten ihres Fluges erreichten Geschwindigkeit von fast vierhundert Sekundenmeter, mit Granatengeschwindigkeit ungefähr, unaufhaltsam weiter nach oben.

Wieder begann der Morseschreiber zu spielen; »Beschleunigung negativ stellen!« las Saraku von dem Papierstreifen ab. Zwingend wirkte der zum zweitenmal gegebene Befehl auf Grabbe. Das Steuerrad in seinen Händen bewegte sich, der Zeiger des Beschleunigungsmessers schlug nach der negativen Seite aus.

Auch die Morsetaste in Sarakus Hand begann wieder zu klappern.

»Beschleunigung steht auf minus eins. Höhe fünfzig Kilometer«, funkte er in den Äther und warf seine Station wieder auf Empfang herum. Fast unmittelbar begann der Schreiber wieder zu ticken.

»Verzögerung noch mehr verstärken! Erdgravitation mit halber Kraft wirken lassen!« las Saraku einen neuen Befehl ab, und der Chefingenieur drehte das Steuerrad, bis der Beschleunigungsmesser fünf Strich unter Null anzeigte.

Ein eigenartiges Gefühl überkam die drei Männer in dem Metallzylinder. Nur noch halbes Gewicht hatten ihre Körper plötzlich, denn nur noch mit der halben Stärke wirkte die Anziehungskraft der Erde auf sie. Unsicher waren zunächst ihre Bewegungen und Schritte. Grabbe behielt seinen Platz am Steuerrad und begann mit geschlossenen Augen zu rechnen. Rund achtzig Sekunden würde es dauern, dann würde die Erdanziehung der Rakete ihre Geschwindigkeit geraubt haben. Einen Moment würde sie dann in der Stratosphäre stillstehen, und danach würde der Sturz nach unten beginnen . . . würde schnell und immer schneller werden, wenn man den Fall nicht rechtzeitig abbremste. Er öffnete die Augen wieder, ließ seine Blicke zwischen der Borduhr und den Meßinstrumenten hin- und hergehen, bereit, neue Steuermanöver zu machen, sobald der Augenblick dafür gekommen war.

Verdrossen war Hegemüller inzwischen an eins der von der Sonne abgewandten Fenster gegangen und schaute hinaus. Fast schon schwarzviolett erschien hier der Himmel, und einzelne Sterne wurden an ihm sichtbar. Ein eigenartig schöner Anblick war es, doch Dr. Hegemüller hatte keine rechte Freude daran. Er hatte den Flug in der Hoffnung begonnen, wenigstens ein paar hundert Kilometer in die unbekannte Höhe vorstoßen zu können, und nun zwang man ihn schon so frühzeitig zur Umkehr. Er verwünschte den Japaner mit seiner Morserei, verfluchte Lüdinghausen, der die Rakete von seiner Turmstation aus kontrollierte und kommandierte, und tröstete sich schließlich mit dem Gedanken an spätere Flüge.

Mit mäßiger, gleichbleibender Geschwindigkeit sank die Rakete nach unten. Schon hatte sie wieder die tieferen Schichten der Atmosphäre erreicht. Der Himmel zeigte nicht mehr die fremdartig düstere Färbung der höchsten Stratosphäre, sondern erstrahlte wieder in lichtem Blau.

Chefingenieur Grabbe trat zu Saraku, wollte eben selber die Morsetaste nehmen, um Lüdinghausen Bericht über die durchgeführten Manöver zu geben, als ein Ruf Hegemüllers ihn aufhorchen ließ. Der hatte sein Gesicht dicht an das Fenster gedrückt und starrte angestrengt durch die starke Kristallglasscheibe.

Grabbe ging zu ihm hin, wollte ihn fragen, als Dr. Hegemüller schon losbrach.

»Eine zweite Rakete! Sehen Sie!« Er zog ihn dicht zu sich heran und wies ihm mit dem Finger die Richtung. Der Chefingenieur strengte seine Augen an. Scharf spähte er aus, und jetzt – täuschte er sich oder war es wirklich so? –, flimmernd, silbrig vom Sonnenlicht angestrahlt, sah er am Firmament sich etwas bewegen. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, und die letzten Zweifel schwanden. Nichts anderes als eine Rakete konnte es sein, was sich dort bewegte.

Eine andere Rakete! Eine zweite Rakete? Wo kam sie her? Wer hatte sie gebaut? Wer steuerte sie? Im Bruchteil einer Sekunde überstürzten sich Gedanken und Fragen im Hirn des Chefingenieurs.

»Wir müssen ihr nach!« keuchte Hegemüller, und seine Erregung sprang auf Grabbe über. Vergessen waren alle Weisungen Lüdinghausens. Er sprang zu den Steuerrädern, gab der Maschine neuen Auftrieb. Er ließ die Seitensteuerung wirken, daß ihre Rakete Richtung auf das blanke Stäubchen im Äther nahm. Er sprang wieder zum Fenster hin, um die Wirkungen seines letzten Manövers zu beobachten. Hörte dazwischen Hegemüller allerlei sagen und rufen, ohne überhaupt recht zu fassen, was der wollte und meinte.

Mit schlagenden Pulsen sah Grabbe, wie das verfolgte Objekt allmählich größer wurde. Nicht allzu lange mehr, und man würde Einzelheiten erkennen können, würde das Rätsel zu lösen vermögen, das ihnen hier so unerwartet aufgegeben wurde.

Nur Saraku hatte bisher seine Ruhe bewahrt. Wohl hatte auch er aufgehorcht, als von Hegemüllers Lippen das Wort »Rakete« fiel, aber unbewegt war seine Miene geblieben. Nur ein sehr scharfer Beobachter hätte aus seinen Augen vielleicht etwas wie eine Erwartung . . . eine Hoffnung . . . einen Triumph herauslesen können.

Doch nun übermannte auch ihn die Erregung. Er überließ den Morseapparat sich selber, holte ein scharfes Glas, sprang zu einem der Fenster, suchte, visierte und bekam sein Ziel in das Gesichtsfeld. Wohl eine Minute starrte er durch das Glas, dann ließ er es wieder sinken. Enttäuschung malte sich in seinen Zügen. Das, was er zu sehen erwartete, hatte das Glas ihm nicht gezeigt.

*

In der Turmstation ließ Professor Lüdinghausen sich in einem Sessel nieder und setzte seine erloschene Zigarre in Brand. »Die Herrschaften haben wir wieder am Bändel«, meinte er zu Dr. Thiessen. »Hätte eine schöne Bescherung geben können, wenn sie gleich bei ihrem ersten Flug in den Weltraum vorgestoßen wären.«

Thiessen zuckte die Achseln. »Überschäumender Tatendrang des Kollegen Hegemüller. Ich wundere mich nicht darüber, Herr Professor.«

»Aber es ist mir unverständlich, daß Grabbe ihm nicht von Anfang an scharf auf die Finger gesehen hat, Herr Doktor Thiessen.«

»Es waren nur zwei Minuten, Herr Professor«, versuchte Thiessen den Chefingenieur zu entschuldigen. »Die ungewohnten Eindrücke des ersten Fluges . . . da verstreicht die Zeit schneller, als man es ahnt . . .«

»Schon gut, lieber Thiessen«, winkte Lüdinghausen ab. »Hauptsache ist, daß jetzt alles ordnungsgemäß von statten geht. Ich bin recht froh, daß unser Japaner mit an Bord ist; auf den kann man sich verlassen.«

Die gute Meinung über Saraku, der Lüdinghausen soeben Ausdruck gegeben hatte, fand auch weiterhin ihre Bestätigung. Prompt lief auf jede neue Anweisung der Turmstation von der Bordstation die Meldung ein, daß man das befohlene Manöver ausgeführt habe, und unverzüglich wurde jede Frage nach dem jeweiligen Standort beantwortet.

»Mit einem guten Glas müßte man die Rakete jetzt schon sehen können«, sagte Thiessen. Lüdinghausen schüttelte den Kopf.

»Zwecklos, Herr Doktor . . . schnell bewegtes Objekt . . . viel zu klein. Warten wir ab, bis wir sie mit unbewaffnetem Auge erblicken. Fragen Sie nach dem Standort«, fuhr er zu dem Funker gewandt fort.

Zweimal, dreimal gab die Turmstation die Anfrage in den Äther. Vergeblich wartete der Telegraphist auf eine Antwort.

»Nun, was ist?« fragte Lüdinghausen ungeduldig.

»Keine Antwort, Herr Professor. Die Bordstation meldet sich nicht.«

»Meldet sich nicht?« Während Lüdinghausen es sagte, überflog er die Zahlen auf einem Blatt Papier in seiner Hand. »Wie ist das möglich? Die Rakete müßte jetzt in nächster Nähe sein! Man müßte sie schon sehen können. Fragen Sie noch einmal an.«

Wieder ließ der Funker die Taste klappern. Warf danach seine Station auf Empfang herum, und nun begann auch der Schreibhebel zu arbeiten. Punkte und Striche zeichneten sich auf dem Papierstreifen ab.

»Wir stehen acht Kilometer über Gorla, wo sollen wir landen?« las der Funker die Worte ab, wie sie kamen.

Lüdinghausen warf Thiessen einen fragenden Blick zu. »Verstehen Sie das, Doktor? Waren zuletzt drei Kilometer hoch; stehen jetzt fünf Kilometer höher? Fragen an, wo sie landen sollen. Scheinen alle drei übergeschnappt zu sein . . . einfach unbegreiflich . . .«

»Vielleicht haben sie den Hahn der Sauerstoffflasche ein bißchen zu weit aufgedreht, Herr Professor. Wäre immerhin möglich und könnte einen kleinen Sauerstoffrausch erklären.«

»Zum Teufel nochmal!« Lüdinghausen war aufgesprungen. »Das könnte uns gerade fehlen. Was soll man tun?«

»Ich würde ihnen funken lassen, Herr Professor, daß sie wieder auf dem Abstellraum neben Halle IV landen sollen, von dem sie abgeflogen sind. Möglichst präzis und bestimmt würde ich den Befehl geben. Es ist das einzige, was wir im Augenblick von hier aus unternehmen können.«

Funker Schmidt hatte das Gespräch zwischen Thiessen und Lüdinghausen nicht ohne stilles Vergnügen mit angehört. Daß einer sich einen Sauerstoffrausch holen könne, war ihm neu, aber er verstand sich einigermaßen auf den Verkehr mit Leuten, die zuviel des Guten in Alkohol getan hatten. Ohne erst einen neuen Befehl abzuwarten, ließ er von sich aus die Taste spielen und spritzte eine Anweisung in den Äther, die den Landungsplatz und seine Lage im Werk so haargenau beschrieb, als ob sie für Leute bestimmt wäre, die noch niemals in Gorla gewesen waren.

»Besten Dank für Ihre Mitteilung. Wir werden uns danach richten«, kam eine Minute später die Antwort zurück. Kopfschüttelnd überflog Lüdinghausen sie.

Thiessen war inzwischen zu einem der Fenster gegangen und spähte hinaus.

»Wir werden bald wissen, was eigentlich passiert ist«, wandte er sich jetzt an Lüdinghausen. »Ich sehe die Rakete . . .« Noch während er sprach, war Lüdinghausen an seine Seite geeilt. »Sehen Sie das silberne Pünktchen dort, Herr Professor?« fuhr Thiessen fort. »Nichts anderes als unsere Rakete kann das sein. Ich schätze die Höhe auf etwa drei Kilometer. Einzelheiten sind noch nicht zu erkennen, aber man merkt, daß sie näherkommt.«

An der Beobachtung Thiessens war nicht zu zweifeln, denn zusehends war während der kurzen Zeit, die sie zusammen am Fenster standen, das helle Pünktchen am blauen Firmament größer geworden.

»Ich denke, Herr Professor, in etwa drei Minuten werden sie . . .«

»Kommen Sie, Herr Doktor Thiessen!« unterbrach ihn Lüdinghausen, »wir wollen zum Landungsplatz gehen und sie empfangen.«

Während sie die Stufen der Turmtreppe hinabstiegen, schaute Thiessen den Professor mehrmals von der Seite an. Ich fürchte, Freund Hegemüller, ging's ihm durch den Kopf, als er die tiefe Falte auf Lüdinghausens Stirn sah, daß dieser Empfang für dich mit einem gehörigen Donnerwetter verbunden sein wird. Kann dir gar nichts schaden, hast es reichlich verdient.

Sie hatten inzwischen den Ausgang erreicht und schritten über den Werkhof auf Halle IV zu, als Thiessen plötzlich stehenblieb und auch Lüdinghausen festhielt.

»Sehen Sie! Da ist sie!« rief er nach oben deutend. »Höchstens noch 1500 Meter entfernt . . .«

»Kommen Sie«, unterbrach ihn Lüdinghausen und zog ihn mit sich fort. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig zur Landung kommen wollen.«

Und dann standen sie auf dem Abstellplatz und starrten senkrecht in die Höhe, aus der die Rakete langsam niederschwebte. Nur ihr Boden war jetzt für Lüdinghausen und Dr. Thiessen noch sichtbar. Wie ein silbrig blinkender Kreis hob er sich vom Blau des Himmels ab. Wie zwei henkelartige Ansätze an diesem Kreise erschienen die Treibflächen. Jetzt mochte das Gebilde sich schon in der Höhe des Hallendaches befinden. Immer schwächer wurde sein Fall, immer langsamer sank es hinab. Wie fasziniert starrte Lüdinghausen nach oben, öffnete den Mund zum Sprechen, wollte Thiessen etwas zurufen, da setzte die Rakete schon sanft und stoßlos auf dem Boden auf.

»Das ist doch nicht . . . Doktor Thiessen . . . das ist doch nicht unsere . . .« kam es abgerissen aus Lüdinghausens Mund.

Thiessen verstand nicht, was der Professor meinte, und hatte auch keine Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn schon öffnete sich die Tür der Rakete, und jetzt hatte auch Thiessen Grund zum Staunen. Ein Japaner trat aus der Tür ins Freie, aber es war nicht Saraku, sondern Yatahira.

Mit einer höflichen Verneigung begrüßte er Lüdinghausen, der ihn entgeistert anblickte, mit einem Händedruck den nicht minder fassungslosen Thiessen; und während Lüdinghausen noch vergeblich nach Worten rang, begann Yatahira zu sprechen.

»Darf ich mir die Ehre geben, Herr Professor, Sie mit meinem verehrten Lehrer bekannt zu machen. Herr Hidetawa hat als Ziel für den ersten Flug seiner Rakete das Gorlawerk gewählt, um Ihnen, Herr Professor, als erstem seine Konstruktion vorzuführen.«

Lüdinghausen hörte die Worte Yatahiras, ohne sie voll zu erfassen; allzu sehr liefen seine Gedanken umeinander . . . die Japaner mit ihrer eigenen Rakete hier . . . nach einem glücklichen Flug um den halben Erdball von Tokio bis nach Gorla; ein Erfolg, der die kühnsten Erwartungen übertraf. Als die ersten erfolgreichen Pioniere des Raketenfluges würden sie in die Geschichte der Technik eingehen. Um wenige, aber entscheidende Stunden war Gorla mit seiner Maschine zu spät auf dem Plan erschienen . . . mit der eigenen Maschine . . .

Sprunghaft gingen die Gedanken Lüdinghausens zu dieser zurück.

Was war Grabbe und seinen Leuten zugestoßen? . . . Warum gaben sie keine Nachricht? Warum waren sie nicht schon längst wieder gelandet?

Drei Fragen, auf die Lüdinghausen keine Antwort wußte . . . Fragen, die ihn mit schwerer Sorge erfüllten.

Während Yatahira noch sprach, war der Mann, von dem seine Worte berichteten, langsam nähergetreten. Nun stand er dicht vor Lüdinghausen, die Gestalt trotz des Alters noch straff und ungebeugt, das von schneeweißem Haar umwallte Haupt dem Professor zugewandt.

»Ich freue mich, im fremden Land Freunde begrüßen zu dürfen, die an der gleichen Aufgabe arbeiten wie wir«, begann er in flüssigem Deutsch und streckte Lüdinghausen die Hand entgegen. Der ergriff sie mit festem Druck. Für Sekunden trafen sich die Blicke der beiden Männer, und ohne daß Worte gewechselt wurden, fühlte jeder der beiden, daß ihm ein Ebenbürtiger gegenüberstand. Wie ein magisches Fluidum strömte es zwischen ihnen hin und her, so stark wurde die geistige Verbindung, daß jeder der beiden mitempfand, was der andere dachte.

Fast eine Minute verstrich, bis Hidetawa zu sprechen begann.

»Sie sind in Sorge um Ihre eigene Maschine, Herr Professor Lüdinghausen. Verfügen Sie bitte über mich. Was in meinen Kräften steht, will ich tun, um Ihnen zu helfen.«

Während er es sagte, ließ Hidetawa die Hand Lüdinghausens los, und der hatte das Gefühl, als ob ein Band sich löste, als ob er aus einem Traum erwachte. Er brauchte Sekunden, um sich zu sammeln, formte stockend Sätze, die einen Glückwunsch zu dem japanischen Erfolg erhielten, und kam dann auf die letzten Worte des andern zurück.

»Sie haben recht, Herr Hidetawa. Ich bin in Sorge um unsere Maschine. Sie stieg vor einer Stunde zu ihrem ersten Flug auf. Seit einiger Zeit ist die Verbindung mit ihr unterbrochen. Wir wissen nicht, was ihr zugestoßen ist . . .« Er hörte sich beim Namen gerufen und hielt inne.

Der Funker Schmidt kam über den Platz gelaufen und schwenkte einen Papierstreifen.

»Wir haben wieder Verbindung mit unserer Rakete gehabt, Herr Professor«, stieß er von dem langen Lauf noch außer Atem hervor und brach jäh ab, als er die Gruppe auf dem Platz genau ins Auge faßte.

Eine Rakete stand da! Unmöglich konnte es dieselbe sein, mit der er noch vor zwei Minuten Funksprüche gewechselt hatte. Dazu fremde Menschen, Japaner! Saraku, den er kannte, war nicht darunter . . . konnte es ja auch nicht sein, denn der mußte sich ja noch hoch in der Stratosphäre befinden . . .

Der Funker Schmidt wußte sich das, was er hier sah, nicht zusammenzureimen. Mit offenem Mund stand er da und staunte, bis Lüdinghausen ihn anrief.

»Sie haben Verbindung mit unserer Rakete?«

»Gehabt, Herr Professor. Die Verbindung brach wieder ab.«

Lüdinghausen verlor die Geduld. »Reden Sie doch, Mann!« fuhr er den Funker an. »Lassen Sie sich nicht jedes Wort mühsam herausholen! Lesen Sie vor, was Sie aufgenommen haben!«

Es waren nur wenige Worte, die Funker Schmidt zur Verlesung brachte. »Stehen in hundert Kilometer Höhe; steigen schnell weiter; hatten ein . . .«

Lüdinghausen stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß auf. »Weiter, Mann. Lesen Sie doch weiter! Was hatten unsere Leute?«

»Weiter konnte ich nichts aufnehmen«, sagte Schmidt, »die Verbindung brach plötzlich wieder ab.«

Lüdinghausen schüttelte den Kopf. »Unbegreiflich! Was ist da passiert?« Er blickte die Umstehenden an, als ob er von ihnen eine Antwort erwarte.

Hidetawa gab sie ihm.

»Die Heavyside-Schicht, Herr Professor Lüdinghausen. In hundert Kilometer Höhe ist Ihre Rakete durch sie hindurchgestoßen. Die Funkwellen Ihrer Bordstation wurden danach von der Schicht nicht mehr zur Erde hinab, sondern nach oben in den Weltraum geworfen. Ich glaube, Sie brauchen sich über die Unterbrechung der Verbindung keine Sorgen zu machen. Sie erklärt sich ganz natürlich.«

»Sie haben recht, Herr Hidetawa. So kann es gewesen sein, ja, so muß es gewesen sein . . . aber warum stößt unsere Maschine in diese Höhe vor . . . gegen meinen ausdrücklichen Befehl. Wir hatten . . . sind die letzten Worte des Funkspruches. Was können unsere Leute gehabt haben? Einen Steuerungsdefekt, eine Havarie, durch die sie die Gewalt über die Maschine verloren haben? Ich stehe vor einem Rätsel. Es wäre grauenvoll, wenn unser erster Flug mit einer Katastrophe enden sollte.«

Unverkennbar drückte sich die Sorge, die auf Lüdinghausen lastete, in seiner Miene aus. Hidetawa sah es und nahm von neuem das Wort.

»Wir möchten Ihnen gern helfen, Herr Professor Lüdinghausen. Wir werden wieder aufsteigen und wollen versuchen, Ihre Maschine zu finden und, wenn es notwendig ist, zu bergen. Auf Wiedersehen!«

Bevor Lüdinghausen noch Worte zu einer Erwiderung fand, war Hidetawa, von Yatahira gefolgt, bereits in die Rakete zurückgegangen. Wenige Sekunden später stieß die Maschine vom Boden ab und schoß in jähem Flug senkrecht empor.

*

Ein Jagdfieber hatte den Chefingenieur Grabbe und seine Begleiter überfallen, als sie die andere Rakete erspähten; eine fieberhafte Erregung, der sich selbst der sonst so beherrschte Saraku nicht zu entziehen vermochte. Auch er ließ kein Auge von der fremden Maschine, der Grabbe jetzt nachjagte, und so kam es, daß die Bordstation ohne Bedienung blieb und Lüdinghausen vergeblich auf Nachrichten lauerte.

In etwa fünf Kilometer Höhe mochte die andere Maschine stehen, als Hegemüller sie zuerst erblickte. Auf den ersten Blick schien es eine leichte Aufgabe zu sein, an sie heranzukommen, doch bald stellte sich heraus, daß sie mit einer gewaltigen Geschwindigkeit nach oben in den Raum stieß. Offensichtlich wiederholte sich bei ihr das gleiche, was Grabbe und seine Leute zu Beginn ihres Fluges erlebt hatten, daß nämlich die stetige Beschleunigung durch die Treibflächen die Geschwindigkeit des Fluges unheimlich steigerte.

Grabbe mußte der eigenen Maschine kräftigen Auftrieb geben, um der fremden Rakete allmählich näher zu kommen. Minutenlang dauerte die Jagd, bis die Geschwindigkeit beider Raketen ungefähr gleich wurde, bis dann Grabbes Maschine langsam weiter aufholte und man dem verfolgten Objekt merklich näher rückte und nun auch Einzelheiten an ihm zu erkennen vermochte.

In jenen Sekunden geschah es, daß das Interesse Sarakus an der fremden Maschine ganz plötzlich erlosch. Er besann sich wieder auf seine Pflicht, las die Instrumente ab und morste dann den Standort der Maschine. Morste weiter noch einen Bericht über ihr Zusammentreffen mit einer anderen Rakete unbekannter Herkunft. Ließ wissen, daß man versuche, ihr mit verstärktem Auftrieb näher zu kommen. Doch von diesem langen Bericht waren gerade noch zwei Worte von der Turmstation aufgenommen worden, jäh brach die Verbindung dann ab, weil die Rakete in diesem Augenblick in 110 Kilometer Höhe durch die Heavyside-Schicht stieß. Vergeblich wartete Saraku auf eine Antwort von unten, denn wie ein Spiegel reflektierte die Schicht die Funkwellen sowohl der Turm- als auch der Bordstation.

Immer näher hatte Grabbe die Rakete inzwischen an die fremde Maschine herangesteuert. Sorgfältig mußte er ihren Flug jetzt regulieren, ihre Geschwindigkeit wieder verlangsamen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, an seinem Ziel vorbeizuschießen. Ein lauter Ruf Hegemüllers ließ ihn zusammenfahren.

»Meine alte Maschine! Die erste, Herr Grabbe, die ich aus der Versuchskammer von C III zusammengebaut habe. Sie ist es! Kein Zweifel ist möglich! Wo hat die gesteckt? . . . Wo kommt die jetzt hierher?« Ruckweise stieß er die einzelnen Sätze heraus und ließ dabei keinen Blick von der anderen Maschine.

Grabbe horchte auf, als er die Worte hörte, und wandte den Kopf nach Hegemüller hin. Unwillkürlich bewegte seine Rechte dabei noch das Steuerrad ein wenig und erreichte damit ungewollt und zufällig eine Einstellung der Triebkraft, wie er sie zweckmäßiger auch bei genauer Überlegung nicht hätte wählen können. Dicht schob sich seine Maschine an jene erste Konstruktion Hegemüllers heran. Mit genau der gleichen Geschwindigkeit schossen beide Raketen Wand an Wand durch den Raum dahin, und es traf sich, daß dabei auch Fenster an Fenster zu liegen kam.

So wurde es dem Chefingenieur möglich, einen Blick in das Innere der anderen Maschine zu tun, und zu seiner Verwunderung mußte er feststellen, daß sie unbemannt war. Ein neues Rätsel zu den vielen anderen, die ihm dieses Bauwerk Hegemüllers schon aufgegeben hatte. Gewiß, man hatte seinerzeit das Verschwinden der Maschine damit zu erklären versucht, daß ihre Treibflächen von außen her durch ein Tier, eine streunende Katze vielleicht, verstellt worden waren und sie ohne Besatzung davongeflogen war. Aber mehr als ein Monat war seitdem verstrichen.

Völlig ausgeschlossen war es, daß sie diese lange Zeit hindurch ständig im Fluge gewesen war. Irgendwo mußte sie inzwischen gelandet sein, mußte nach längerer Rast durch irgendwelche unerklärlichen Einflüsse wieder in Bewegung geraten sein.

Soweit glaubte Grabbe klar zu sehen, aber damit war die andere Frage noch nicht gelöst, was nun weiter geschehen sollte. Nur das stand fest, daß bald etwas geschehen mußte, denn lange konnte es so wie bisher nicht mehr weitergehen. Standen doch die beiden Maschinen schon in einer Höhe von mehr als zweihundert Kilometer und entfernten sich mit Granatengeschwindigkeit immer weiter von der Erde.

Wie ein gefangenes Tier in seinem Käfig lief Hegemüller in dem engen Raum hin und her, zitterte vor Ungeduld und machte Vorschläge, von denen der eine immer noch unmöglicher war als der andere.

»Unsinn, Hegemüller«, wies ihn Grabbe zurecht. »Wie denken Sie sich das? . . . mit unserer Maschine die Treibflächen der anderen zu verstellen? Wo es auf Millimeter . . . auf Bruchteile von Millimetern ankommt, wollen Sie einfach von außen gegen die Flächen stoßen. Nein, Herr Doktor, das würde die Sache noch schlimmer machen, als sie jetzt schon ist.«

»Aber es muß doch etwas geschehen«, stöhnte Hegemüller, »sonst verschwindet unsere alte Maschine auf Nimmerwiedersehen in den Weltraum.«

Grabbe zuckte die Achseln. »Immer noch besser, als wenn wir sie durch ein ungeschicktes Manöver zum Absturz bringen und sie irgendwo in Gorla einschlägt. Es hat keinen Zweck, daß wir uns weiter bemühen.« Noch während er es sagte, griff der Chefingenieur wieder in die Steuerung. Sofort verlangsamte seine Maschine ihren Flug und blieb hinter der anderen zurück. Sehnsüchtig schaute Dr. Hegemüller ihr nach und machte verzweifelte Handbewegungen, als ob er sie festhalten und nach sich ziehen wolle.

Grabbe konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Geben Sie's auf, Hegemüller, lassen Sie den schönen Flüchtling enteilen«, meinte er sarkastisch.

Saraku hatte es nach mehreren vergeblichen Versuchen aufgegeben, Funkverbindung mit der Turmstation zu bekommen. Müßig stand er vor dem auf Empfang gestellten Apparat, als der Schreibhebel wieder zu ticken begann. Meldete sich die Turmstation jetzt doch? Kam die Verbindung wieder in Gang? Seine Blicke folgten dem Spiel des Farbschreibers. Halblaut formten seine Lippen die Worte, die vor ihm in Form von Punkten und Strichen auf dem Papier entstanden, und dann ging plötzlich ein Leuchten über sein Gesicht. Worte in seiner Muttersprache, japanische Worte waren es, die der Apparat dort niederschrieb. Worte, die ihn mit Stolz erfüllten, ihm eine unbeschreibliche Freude bereiteten.

Noch verfolgte er das tickende Spiel des Schreibhebels, als ein Aufschrei Hegemüllers ihn aufblicken ließ. Etwas Großes, Glänzendes war, von unten herkommend, jäh an ihnen vorbeigeschossen; war schon wieder in der Höhe verschwunden, bevor die drei Insassen der Rakete es recht zu erfassen vermochten.

»Was war das?« Kaum hörbar kamen die Worte von Grabbes Lippen.

»Eine Rakete ist's gewesen! Noch eine Rakete! Eine dritte Rakete!« schrie Hegemüller gänzlich außer sich.

Grabbe warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Haben Sie Halluzinationen, Hegemüller? Machen Sie kalte Umschläge, wenn wir glücklich wieder gelandet sind. Noch eine Rakete? Eine dritte Rakete? Sie sehen am hellichten Tage Gespenster.«

Bevor Hegemüller etwas erwidern konnte, mischte sich Saraku ein. »Herr Doktor Hegemüller hat richtig gesehen. Es war eine dritte Rakete.«

»Der Teufel soll daraus klug werden«, brauste Chefingenieur Grabbe auf. »Ist denn heut alles verhext? Wir sind in dem Glauben aufgestiegen, daß wir die einzige auf Erden vorhandene Strahlrakete besitzen, und jetzt hagelt's Raketen von allen Seiten. Das begreife, wer kann!«

Wieder ließ sich Saraku vernehmen. »Es war die Rakete, die mein Lehrer, Herr Hidetawa, in Tokio gebaut hat.«

Grabbe faßte sich an den Kopf, sprach mehr zu sich selbst als zu den anderen.

». . . Hidetawa . . . ja, wir wissen, daß er eine Rakete baut . . . in Tokio . . . doch wie kommt die jetzt hierher?«

Saraku gab ihm Antwort. »Herr Hidetawa flog heut nacht von Tokio fort, um die Maschine in Gorla zu zeigen. Nach der Landung hörte er, daß Herr Professor Lüdinghausen in Sorge um seine Rakete war, und stieg wieder auf, um uns zu suchen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Grabbe. Saraku deutete auf den Papierstreifen.

»Herr Hidetawa funkte es mir vor kurzem.«

Grabbe rieb sich die Stirn. »Gut, Herr Saraku. Bis dahin verstehe ich die Sache. Aber nun hat er uns gefunden. Warum flog er an uns vorüber?«

»Weil er auch die dritte Rakete zurückholen will, Herr Grabbe.«

Grabbe gab es auf, sich weiter den Kopf zu zerbrechen. Erst nach längerem Schweigen fand er wieder Worte.

»Meine Hochachtung, wenn er das fertigbringt. Wir haben es aufgegeben.«

»Meinem Lehrer wird es gelingen.« Unbedingte Zuversicht klang aus den kurzen Worten Sarakus.

Der Rückflug begann. Vorläufig waren die Steuermanöver noch von einfacher Art und ließen dem Chefingenieur Zeit, seinen Gedanken über das eben Gehörte nachzuhängen. Lüdinghausen war in Sorge um sie, hatte ihnen den Japaner mit seiner Rakete nachgeschickt . . . hatte also offenbar ihren Funkspruch über das unerwartete Auftauchen von Hegemüllers alter Maschine nicht bekommen . . . Grabbes Blick ging zur Wanduhr. Wenig mehr als drei Viertelstunden waren erst verstrichen, seitdem er den Flug begonnen hatte, doch wie eine Ewigkeit kamen sie ihm vor. Das fremdartige Licht in den höchsten Höhen der Stratosphäre begann auf seine Nerven zu drücken. Noch befand sich die Maschine ja einhundertfünfzig Kilometer von der Erdoberfläche entfernt, wenn sie ihr in jeder Sekunde auch um viele Meter näher kam. Grabbe verspürte plötzlich Sehnsucht nach grünen Wiesen und Wäldern, nach Vogelsang und Blumenduft und bewegte das Steuerrad, um den Abstieg noch zu beschleunigen.

Mit hundert Meter in der Sekunde sank die Rakete nach unten. Nach etwa 25 Minuten – so überrechnete er es im Kopf –, dann würde er wieder festen Boden unter den Füßen haben, würde wieder frische Sommerluft in die Lungen ziehen können und nicht mehr die künstliche Atmosphäre zu atmen brauchen, die hier im Innern der Rakete mit chemischen Mitteln aufrechterhalten wurde.

Schwerfällig vertropften die Minuten. Verzweifelt langsam kroch der Uhrzeiger weiter. Nur das Bewußtsein, daß die Rakete in jeder einzelnen Minute der Erde um sechs Kilometer näher kam, hielt den Chefingenieur aufrecht. Für die nächste Zeit konnte die Steuerung noch stehenbleiben, wie er sie eingestellt hatte. So verließ er seinen Platz und trat an eins der Fenster. Schon hatte sich der Ausblick verändert. Schon war das verschwommene Graublau der Erdoberfläche einem lebhafteren Grün gewichen, schon erhoben sich Gehöfte und Dörfer in rötlichen Tönen davon ab. Grabbe hatte das beruhigende Gefühl, das wohl einen Wanderer überkommt, der sich nach langer Fahrt durch ein fremdes, wildes Land wieder der Heimat nähert.

Während er noch so dastand und die neuen Eindrücke auf sich wirken ließ, sah er von oben her etwas metallisch Blinkendes näher kommen. Zuerst stand es noch hoch über ihm, aber es hatte schnellere Fahrt als seine Maschine und kam schnell näher. Jetzt trieb es, kaum hundert Meter entfernt, seitlich vorbei und sank weiter in die Tiefe. Doch die wenigen Sekunden, während deren er es deutlich erblicken konnte, genügten, um ihn erkennen zu lassen, auf welche Art Hidetawa seine Aufgabe gelöst hatte.

Die beiden neuen Raketen, sowohl die von Gorla als auch diejenige Hidetawas, hatten ungefähr die Zuckerhutform schwerer Granaten und liefen nach oben spitz zu. Jene erste von Hegemüller aus einer Versuchskammer improvisierte Maschine war dagegen ein einfacher, an beiden Enden abgestumpfter Zylinder. Diesen Umstand hatte Hidetawa sich zunutze gemacht und sich mit dem Boden seiner Rakete einfach auf das obere Ende der Maschine von Hegemüller gesetzt. Die Steuermanöver, um das zu erreichen, mochten wohl nicht ganz einfach gewesen sein, aber nachdem es einmal gelungen war, konnte er nun jene andere Maschine mit seiner eigenen in die Tiefe hinunterdrücken. Es genügte, der eigenen Maschine soviel Trieb nach unten zu geben, daß sie den Auftrieb der anderen überwand und darüber hinaus beide Raketen gemeinsam nach unten sanken.

»Hegemüller!«

»Sie wünschen, Herr Grabbe?«

»Gehen Sie nachher zur Werkkasse, Herr Doktor Hegemüller, und lassen Sie sich Ihr Lehrgeld wiedergeben.«

Hegemüller bekam einen roten Kopf und sah den Chefingenieur fragend an.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Herr Grabbe.«

»Dann will ich's Ihnen deutlicher sagen. Ein rundes Dutzend unsinniger Vorschläge haben Sie vorher gemacht, wie man Ihre alte Rakete wieder einfangen könnte. Den einzig richtigen, einfachsten Weg haben Sie nicht gefunden, und jetzt müssen wir zusehen, wie ein Fremder uns das vormacht. Ist eine schöne Blamage für uns. Ich bin neugierig, was Professor Lüdinghausen dazu sagen wird.«

Hegemüller hatte sich wieder gefaßt. »Wir wollen's abwarten. Es ist noch nicht aller Tage Abend«, meinte er etwas geheimnisvoll.

Grabbe machte eine abwehrende Bewegung. »Machen Sie keine überflüssigen Sprüche, Hegemüller! In zehn Minuten wird Hidetawa glücklich gelandet sein, und wir haben das Nachsehen.«

»Wenn meine Maschine ihm nicht noch vorher seine Rakete umkippt und wieder davonsaust, Herr Grabbe.«

»Wie kommen Sie auf die Idee, Doktor? Wenn's über zweihundert Kilometer gut gegangen ist, wird's auch während der letzten paar Kilometer nicht mehr schief gehen.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht, Herr Grabbe.« Der Chefingenieur verlor die Geduld.

»Nun reden Sie endlich!« herrschte er Hegemüller an. »Was befürchten Sie denn noch?«

»Ich fürchte, daß Hidetawa zu schnell nach unten stößt. In der dichteren Atmosphäre wird der Luftwiderstand sich auswirken. Er wird die Strahlflächen meiner Rakete weiter auseinanderdrücken. Ihr Auftrieb wird überstark werden, und die ganze Geschichte wird einfach umkippen. Das ist meine Meinung von der Sache, Herr Grabbe.«

Der Chefingenieur sah nachdenklich vor sich hin. Möglich war es immerhin, daß Dr. Hegemüller mit seiner Befürchtung recht behielt. Er wollte etwas dagegen einwenden, suchte noch nach Worten, als Saraku einen neuen Funkspruch von dem Morseband abzulesen begann.

»Herr Hidetawa ist mit der zweiten Rakete soeben gelandet.«

»Da hat er ein unerhörtes Glück gehabt«, knurrte Hegemüller vor sich hin.

»Und wir haben das Nachsehen«, sagte Chefingenieur Grabbe resigniert. Dann nahm die Steuerung der Rakete seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. Er mußte den seitlichen Abtrieb korrigieren, die Fallgeschwindigkeit von Sekunde zu Sekunde immer stärker abbremsen und hatte alle Hände voll zu tun, bis endlich auch seine Maschine wieder an derselben Stelle den Boden berührte, von der sie vor anderthalb Stunden gestartet war.

Drei Raketen standen jetzt dort auf dem Platz. Blinkend und strahlend die Maschine, aus der Grabbe tiefatmend ins Freie trat. In der Form ihr fast gleich, aber um ein ganzes Stück größer, massiger und gewaltiger die Maschine Hidetawas. Unscheinbar, ja fast ärmlich nahm sich zwischen ihnen als dritte die Erstkonstruktion Hegemüllers aus.

Grabbe konnte sich nicht enthalten, einen spöttischen Blick darauf zu werfen.

Hegemüller sah es, ging näher heran und fuhr mit der Rechten wie streichelnd über die stählerne Wand, während er zu Grabbe sagte:

»Es ist die erste Strahlrakete, die einen Raumflug gemacht hat, die Monate früher als jede andere in den Äther emporstieg. Wir werden uns daran erinnern müssen, Herr Grabbe, wenn es einmal gilt, die Priorität der Erfindung festzustellen.«

»Reden wir später davon, mein lieber Hegemüller«, unterbrach ihn Grabbe. »Es ist niemand zu unserm Empfang hier. Wo mögen die andern stecken?« Während er sich noch umschaute, kam ein Werkmeister aus der Halle und meldete ihm:

»Herr Professor Lüdinghausen ist mit den andern Herrschaften ins Kasino gegangen. Sie möchten auch dorthin kommen. Sie auch, Herr Doktor, und Sie auch, Herr . . .«, fuhr er, zu Hegemüller und Saraku gewandt, fort, die unschlüssig stehenbleiben wollten. »Sie möchten alle ins Kasino kommen.«

*

Professor Ruggero stammte aus Palermo und verfügte über ein sizilianisches Temperament. Eine Probe davon bekam Carlo Villari zu spüren, als er sich nach seiner Zurückberufung nach Rom bei ihm meldete. Als unglaublich, als unerhört, als einen Mißbrauch der deutschen Gastfreundschaft, als einen groben Vertrauensbruch bezeichnete der Professor das Verhalten Villaris und fand noch stärkere Ausdrücke, als dieser etwas zu seiner Entschuldigung vorzubringen versuchte.

»Auch mich haben Sie durch Ihr unverantwortliches Vorgehen geschädigt«, schloß Professor Ruggero seine Strafrede. »Um keinen Verdacht zu erregen, mußte ich Ihre Abberufung in die Form eines Austausches kleiden und meinen bewährten Mitarbeiter Enrico Tomaseo nach Deutschland schicken. Wir hatten zusammen wertvolle Entdeckungen gemacht. Wir bereiteten die Entwürfe für eine Strahlturbine von dreißigtausend Pferden vor. Jetzt fehlt er mir an allen Ecken und Enden. Das habe ich Ihnen zu verdanken.«

Trotzdem Villari sein möglichstes tat, um Ruggero durch gute Leistungen zu versöhnen, dauerte es eine Reihe von Tagen, bis wieder ein erträgliches Verhältnis zwischen den beiden zustande kam. Mit Hingabe widmete sich Villari während der nächsten Wochen den Plänen für die neue, große Strahlturbine, regte von sich aus Verbesserungen an, vor deren Wert sich Ruggero nicht verschließen konnte, und erreichte es endlich, daß er seiner Arbeit anerkennende Worte zollte.

Sobald Villari sich aber einigermaßen sicher im Sattel fühlte, fing er auch wieder an, von Strahlraketen zu sprechen, und versuchte Ruggero für seine Idee zu gewinnen. Zunächst verhielt der Professor sich schroff ablehnend, sprach etwas von unerwünschter Zersplitterung der Kräfte und drang darauf, daß die Ausführung der großen Turbine nach den fertiggestellten Zeichnungen mit aller Kraft in Angriff genommen würde. Er wurde in seiner Meinung erst etwas schwankend, als ein Brief Tomaseos ihm von dem Bau einer Rakete im Gorla-Werk berichtete, und zeigte sich schließlich geneigt, dem Gedanken näherzutreten, als ihn die Vorschläge Hidetawas zu gemeinsamer Arbeit an der Ausbildung der Strahlrakete erreichten. Die Verhandlungskunst Yatahiras, der als Abgesandter Hidetawas nach Rom gekommen war, besiegte schließlich den letzten Widerstand.

Während der Bau der großen Strahlturbine in dem Industriewerk von Mussati e Cie planmäßig vonstatten ging, konnte sich Villari nun seinem alten Projekt widmen und Pläne für eine Strahlrakete schmieden. Gemäß dem mit Tokio und Gorla geschlossenen Abkommen lagen ihm die Entwürfe von Grabbe und Hidetawa vor, aber er hatte mancherlei daran auszusetzen, und auch Ruggero war der Meinung, daß man das Problem von einer andern Seite anfassen müsse.

»Zeitlich sind uns Tokio und Gorla so weit voraus«, erklärte Professor Ruggero in einer der ersten Besprechungen, die er darüber mit Villari hatte, »daß wir ihren Vorsprung nicht mehr einholen können. Sowohl die Deutschen als auch die Japaner werden ihre ersten Probeflüge längst hinter sich haben, während wir noch beim Bauen sind. Unter diesen Umständen hat es wenig Sinn, sich eng an die deutschen und japanischen Entwürfe zu halten, denn wir würden damit nichts Wesentliches erreichen.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Professor«, pflichtete Villari ihm bei, »wir würden mit einer mehr oder weniger getreuen Kopie nachhinken, und die anderen könnten den Ruhm für sich beanspruchen, die wahren Pioniere des Raketenfluges zu sein.«

»So ist es«, fiel ihm Ruggero lebhaft ins Wort, »und wenn wir das vermeiden wollen, müssen wir etwas grundsätzlich Neues und Besseres bringen. Sehen Sie sich die deutschen und japanischen Zeichnungen an, sie ähneln einander augenfällig. Sowohl Hidetawa als auch Grabbe haben für ihre Raketen die Granatenform gewählt.«

»Es mag das Nächstliegende gewesen sein«, warf Villari ein.

»Aber deswegen noch nicht das richtige«, fuhr Ruggero fort. »Diese Form mag zweckmäßig sein, wenn jemand eine Reise zum Mond vorhat und sich senkrecht von der Erdoberfläche entfernen will, aber für Flüge in horizontaler Richtung scheint sie mir weniger geeignet zu sein. Ich will einmal annehmen, daß der Japaner mit seinem Bau zuerst fertig wird und die Deutschen mit einem unvermuteten Besuch in Gorla überraschen will. Das würde einen horizontalen Flug von neuntausend Kilometer bedeuten. Wie soll er das machen? Um die Treibkraft voll auszunutzen, müßte er seine Granate lang legen, müßte sich während des Fluges selber auf den Bauch legen. Eine lächerliche Situation, Villari! Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er's sonst machen sollte?«

Villari versuchte Gründe zugunsten der Granatenform vorzubringen, denn im geheimen dachte er ungefähr ebenso wie sein deutscher Kollege Hegemüller. Senkrecht emporsteigen! . . . Weit und immer weiter fort von der Erde! Hinaus in den unbekannten Weltraum! Eine Reise zum Mond! Warum nicht! Wer sie zuerst ausführte, den Erdtrabanten umsegelte und glücklich wieder heimkam, dessen Name würde unsterblich werden. Villari hütete sich, diese Gedanken gegen Ruggero lautwerden zu lassen, doch sie veranlaßten ihn, immer wieder zugunsten der Granatenform zu sprechen, bis der Professor alle seine Einwände brüsk beiseiteschob.

»Nein, Villari«, sagte er mit Entschiedenheit, »wir werden das anders machen. Wir werden auf das Vorbild zurückgehen, das uns der alte deutsche Luftschiffer, der Graf Zeppelin, gegeben hat. Wir wollen unserer Rakete dieselbe Form geben, die er für seine Schiffe wählte . . .«

Villari erschrak vor der neuen Idee. Wie abwehrend streckte er beide Hände gegen Ruggero hin, während er wieder das Wort nahm.

»Einen Raketenzeppelin, Herr Professor Ruggero? Ein Bauwerk nach dem Muster jener alten Riesenzigarren? Welchen Umfang soll es bekommen? Soll es etwa auch zehntausend oder gar hunderttausend Kubikmeter groß werden?«

Ruggero schüttelte den Kopf. »Mißverstehen Sie mich nicht, Villari. Ich sprach nur von der Form, über die Größe wurde noch nichts gesagt. Doch das ist sicher, daß wir unsere Rakete um ein gutes Stück größer bauen werden als die Deutschen und die Japaner. Wir wollen Platz in unserer Maschine haben. Steuerraum und Passagierraum müssen getrennt werden. Alle Bequemlichkeiten müssen für die Mitreisenden vorhanden sein; Stühle, Bänke, Tische . . .«

»Vielleicht auch noch eine Bar oder ein Restaurant?« fragte Villari ein wenig sarkastisch.

»Später auch das!« griff Professor Ruggero die Frage auf. »Einstweilen ist das noch nicht notwendig, aber mit etwas mehr Komfort als die Herren Grabbe und Hidetawa wollen wir doch schon in unserer ersten Rakete reisen. Die Lufterneuerung in den Maschinen von Gorla und Tokio läßt noch zu wünschen übrig. Wir werden sie verbessern müssen. Im Steuerraum werden alle Hebel und Instrumente auf einer übersichtlichen Kommandotafel vereinigt werden müssen . . .«

Professor Ruggero geriet immer stärker ins Feuer, je weiter er seine Ideen entwickelte. Jetzt sprang er auf, fuhr sich mit beiden Händen in das Haupthaar und begann hin- und herzugehen, während er fortfuhr:

»Es wird Arbeit geben! Rasend viel Arbeit, Villari, alle diese Einzelheiten müssen auf dem Papier sorgfältig durchkonstruiert werden, bevor wir den ersten Hammerschlag tun dürfen. Vergessen Sie die Hauptsache nicht. Ich kann Sie Ihnen nur immer wieder und wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Wir kommen später als die andern, darum müssen wir etwas ganz Überragendes herausbringen.«

Mit diesen Ausführungen hatte Ruggero in großen Zügen das Arbeitsprogramm für die nächste Zeit aufgestellt. In weiteren Sitzungen wurden die Einzelheiten festgelegt, und dann begann ein Planen und Konstruieren, das Wochen hindurch einen Stab von Ingenieuren und Zeichnern vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht beschäftigte.

Mit Befriedigung sah Professor Ruggero, wie das, was ihm im Geiste vorschwebte, auf den Reißbrettern allmählich feste Form gewann.

»Damit schlagen wir die andern himmelhoch«, meinte er in gehobener Stimmung zu Villari, während er einen Stoß von Zeichnungen durchblätterte. »Betrachten Sie diesen Kommandoraum. Da ist alles sauber durchkonstruiert. Das sieht nicht mehr nach Anfängertum und Experimenten aus, das ist bereits eine bis zur Vollkommenheit entwickelte Maschine.« Villari hatte das Blatt, von dem Ruggero sprach, in die Hand genommen und nickte nachdenklich mit dem Kopf. »Es ist auch das vierzehnte Blatt, Herr Professor«, erwiderte er. »Dreizehn vorhergehende Entwürfe wurden zerrissen und in den Papierkorb geworfen.«

»Mag sein, Villari, aber die strenge Kritik, die wir an unserer Arbeit übten, hat sich gelohnt. Papier ist billiger als Stahl und Eisen. Wir wollen es auch fernerhin nicht sparen. Mit um so größerer Aussicht auf einen Erfolg werden wir dann an den Bau gehen können. Mit dieser Strahlrakete hier« – er deutete auf den mit Zeichnungen beladenen Tisch – »werden wir die Führung an uns reißen.«

An einem Spätnachmittage hatte Ruggero das gesagt und des künftigen Erfolges sicher das Institut verlassen. Als er es am folgenden Morgen wieder betrat, war seine Stimmung jedoch weniger siegesgewiß.

»Hören Sie, was Tomaseo mir schreibt«, antwortete er auf eine Frage Villaris. »In der Abteilung Thiessen in Gorla läuft die erste dreißigtausendpferdige Strahlturbine. Wir kommen wieder zu spät. Vor einem Monat wird unsere Turbine nicht fertig sein.«

Villari zuckte die Achseln. Im Grunde seines Herzens war ihm das Turbinenproblem höchst gleichgültig. »Dafür wird unsere neue Rakete ein Schlager werden, der uns wieder an die Spitze bringt«, versuchte er Professor Ruggero zu trösten, doch der winkte ab.

»Wenn wir uns nicht beeilen, nehmen Gorla und Tokio uns auch da das Beste vorweg«, fuhr er mißmutig fort. »Was ich vor einiger Zeit als vage Möglichkeit andeutete, ist inzwischen Tatsache geworden. Hidetawa ist mit seiner Rakete nach Gorla gekommen . . .«

»Neuntausend Kilometer weit auf dem Bauch liegend«, scherzte Villari.

»Das weiß ich nicht«, unterbrach ihn Ruggero verdrossen, »darüber schreibt Tomaseo nichts, aber er berichtet mir, daß es gleich nach der Ankunft Hidetawas in Gorla Höhenflüge und Höhenrekorde gegeben hat. Die deutsche Rakete soll eine Höhe von zweihundert Kilometer erreicht haben, die japanische Rakete soll sogar bis auf zweihundertachtzig Kilometer gestiegen sein.«

Die von Ruggero genannten Zahlen verfehlten ihren Eindruck auf Villari nicht. »Sie sagen: soll gestiegen sein, Herr Professor«, begann er zögernd. »Demnach scheinen diese Rekorde doch noch nicht festzustehen.«

»Ich fürchte, sie stehen fest, Villari. Die Feststellung solcher Höhen ist sehr schwierig. Die barometrische Methode versagt dabei bereits und muß durch Schwerkraftmessungen ersetzt werden. Die Deutschen sind gewissenhafte Leute und drücken sich in Zweifelsfällen sehr vorsichtig aus. Wie ich sie kenne, haben sie die angegebenen Höhen sicher erreicht, wahrscheinlich sogar überschritten.«

»Wir müssen uns mit dem Bau unserer Rakete beeilen«, war alles, was Villari darauf zu erwidern wußte.

»Beeilen wir uns«, bestätigte Ruggero die Worte seines Mitarbeiters. »Die Pläne sind abgeschlossen. Lassen Sie danach die Werkzeichnungen anfertigen und in die Fabrik gehen.«

*


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