Hans Dominik
Treibstoff SR
Hans Dominik

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Professor Ruggero war in bester Laune und hatte auch Grund dazu, denn in erfolgreicher Zusammenarbeit mit Enrico Tomaseo war es ihm nicht nur geglückt, den neuen Strahlstoff weiter zu verbessern, sondern darüber hinaus beherrschte er die Herstellung jetzt so sicher, daß plötzliche Ausbrüche atomarer Energie und ähnliche unliebsame Zwischenfälle kaum noch zu befürchten waren.

»Unsere Zusammenarbeit mit Gorla und Tokio trägt ihre Früchte«, meinte er während einer Arbeitspause zu Tomaseo, »ich bin stolz darauf, daß wir dabei nicht nur die Empfangenden, sondern auch Gebende sind . . .«, er brach ab, weil ein Bote hereinkam und ihm einen Brief brachte. Das Schreiben kam von Villari, und Ruggero machte sich sofort darüber her.

Neue Nachrichten aus Gorla. Seit mehreren Tagen war dort eine tausendpferdige Strahlturbine in Betrieb und bisher tadellos gelaufen. Man hatte daraufhin die Weiterentwicklung eines Strahlmotors mit hin- und hergehendem Kolben einstweilen zurückgestellt.

Ruggero nickte, als er es las, denn er war der gleichen Meinung. Wozu einen Motor bauen, wenn man den gewollten Zweck mit einer Turbine einfacher und besser erreichen konnte? Sehr bald würde auch er sich diesem Problem zuwenden und mit dem verbesserten Strahlstoff vielleicht noch etwas Vollkommneres schaffen als die Deutschen.

Weiter lief sein Blick über die Zeilen, und seine Lippen preßten sich zusammen, als er zu den nächsten Seiten des Briefes kam. Man beschäftigte sich in Gorla also bereits mit dem Raketenproblem. Gut! Früher oder später würde man sich auch in Rom und Tokio damit befassen. Nachdem man über den Strahlstoff verfügte, war es ja eigentlich nur noch eine reine Konstruktionsaufgabe, bei der es sich lediglich darum handelte, bereits Bekanntes und Erforschtes richtig zu verwerten.

Ruggero ließ das Schreiben sinken, und seine Gedanken begannen in die Zukunft zu wandern. Ein neues Zeitalter sah er im Geiste heraufziehen. Strahlraketen sah er an Stelle der bisherigen Motorschiffe ihre Bahnen durch den Äther ziehen, sah die Luftflotte kommender Jahrzehnte sich über die Stratosphäre hinaus in den freien Weltraum erheben. Weiter schweiften seine Gedanken. Wie in einer Vision sah er Schlachten künftiger Kriege, die, fern von der Erde, inmitten der Leere des Weltraumes geschlagen wurden . . . Sollte auch diese neue große Entdeckung wieder in den Dienst der Zerstörung, der gegenseitigen Vernichtung gestellt werden, statt dem Wohl der Menschheit zu dienen?

Er raffte sich zusammen, verscheuchte die dunklen Bilder und Gedanken, griff wieder nach dem Brief Villaris und vertiefte sich in die ihm beigefügte Zeichnung. Wie er aus ihr und dem beistehenden Text ersah, hatte man in Gorla in aller Stille mit primitiven Mitteln eine Strahlrakete gebaut. Ruggero hatte begreiflicherweise keine Ahnung von dem eigenmächtigen Vorgehen Hegemüllers und wunderte sich, wie man in Gorla etwas derartig Unvollkommenes zusammenbauen konnte, anstatt von Anfang an sorgfältig und mit dem Einsatz aller verfügbaren Mittel zu konstruieren. Dr. Hegemüller hätte wahrscheinlich einen roten Kopf bekommen, wenn er die Beurteilung gehört hätte, die Professor Ruggero seiner Strahlrakete zuteil werden ließ.

Der Italiener fuhr in seiner Lektüre fort und erschrak, als er nun das Husarenstück Villaris las . . . bei Nacht . . . heimlich . . . in eine fremde Abteilung eingedrungen . . . eine Rakete untersucht . . . skizziert . . . Ruggero bedauerte, daß er nicht, wie er es anfangs wollte, Tomaseo an Stelle Villaris nach Gorla geschickt hatte. Sein Entschluß, diesen Fehler schleunigst wiedergutzumachen, wurde noch fester, als er in den nächsten Zeilen lesen mußte, daß sein Assistent mit der Rakete sogar einen Flug gewagt und die Maschine nicht wieder an ihren alten Platz zurückgebracht hatte. Lebhaft malte er sich die Aufregung aus, die wegen der verschwundenen Rakete jetzt in dem deutschen Werk herrschen mochte. Mit Schrecken dachte er an die Folgen, die sich für Villari ergeben mußten, wenn die Deutschen hinter seine Schliche kamen. Unverzüglich ging er daran, den Brief zu beantworten. Sein Schreiben enthielt den strikten Befehl für Villari, nach Rom zurückzukommen. In einem andern Brief an Professor Lüdinghausen motivierte er den beabsichtigten Personalwechsel so sachlich und überzeugend, daß Lüdinghausen nicht anders konnte, als seine Zustimmung zu geben.

*

Die Vermutung Ruggeros, daß das Verschwinden der Rakete in Gorla schwere Aufregung verursachen würde, traf zu. Wie außer sich stürzte Hegemüller zu Grabbe ins Zimmer.

»Die Rakete ist weg!« Er schrie es so laut in den Raum, daß der Chefingenieur aufsprang und vor allen Dingen erst einmal die offenstehenden Fenster schloß.

»Unmöglich, Herr Doktor!« wandte er sich dann an Hegemüller, doch der wurde dadurch nur noch aufgebrachter.

»Sie ist weg, Herr Grabbe! Verschwunden! . . . Gestohlen!«

Nur mit Mühe gelang es Grabbe, den Aufgeregten so weit zu bringen, daß er ihm einen zusammenhängenden Bericht über das gab, was er gesehen und festgestellt hatte. Zu zweit machten sie sich auf den Weg zum Abstellplatz.

»Es ist ja unmöglich«, wiederholte Grabbe im Gehen seine schon einmal geäußerte Ansicht. »Die Rakete wog fast tausend Kilogramm. Wie hätten die Täter sie fortbringen sollen?«

Seine Worte waren für Hegemüller Anlaß, sich von neuem zu erhitzen. »Fortgeflogen ist der Dieb damit!« brach er los. »Ich könnte mich selber ins Gesicht schlagen. Ich habe es ihm ja leicht gemacht, habe den Türschlüssel steckenlassen!«

»Zu welcher Tür, Herr Doktor?« warf Grabbe dazwischen.

»Zu der Tür der Versuchskammer. Der Mensch konnte ohne weiteres in das Innere gelangen; brauchte nur einen Hebel zu bewegen, und die Rakete flog davon.«

Während Hegemüller so seinem Herzen Luft machte, wurde er etwas ruhiger, doch dafür sprang die Erregung jetzt auf den Chefingenieur über. Ein Unbekannter, ein Fremder mit der Rakete davongeflogen? Das war ein Fall, der sofort Professor Lüdinghausen gemeldet werden mußte. Kaum eine Minute hielt er sich auf dem Abstellplatz auf, auf dem es ohnehin nichts von Belang zu sehen gab. Die Rakete war eben verschwunden, und nur schwache Eindrücke in dem ziemlich harten Boden verrieten die Stelle, wo sie gestanden hatte. Fußspuren, nach denen der Chefingenieur sich noch umsah, waren nirgends zu entdecken und bei der Bodenbeschaffenheit auch nicht zu erwarten.

»Kommen Sie mit zu Professor Lüdinghausen!« entschied er sich kurz. »Wir müssen die Angelegenheit mit ihm besprechen.«

Auch Lüdinghausen wurde ernst, als er den Bericht Grabbes gehört hatte. Seit Jahr und Tag war kein Fall von Werkspionage in Gorla mehr vorgekommen, und der Vorfall, der sie jetzt beschäftigte, sah doch stark danach aus.

»Es ist kaum ein Zweifel möglich«, begann Lüdinghausen, jedes Wort sorgfältig abwägend, »daß sich eine oder mehrere Personen in unserm Werk befinden, die sich für Dinge interessieren, die sie nichts angehen. Es ist unsere Aufgabe, diese Leute zu finden.«

»Es braucht auch bloß einer zu sein, und der ist mit meiner Rakete längst über alle Berge«, polterte Hegemüller dazwischen.

»Wenn er sich nicht inzwischen das Genick gebrochen hat«, warf Grabbe ein, »ich halte es für ein ungeheures Wagnis, mit dieser Erstkonstruktion einen größeren Flug zu riskieren.«

»Ich traue den Fremden nicht«, mischte sich Hegemüller wieder ein. »Wir haben verschiedene Ausländer im Werk. Wer weiß, ob es nicht einer von denen gewesen ist?«

»Halt, Herr Doktor! Keine haltlosen Verdächtigungen!« unterbrach ihn Lüdinghausen. »Auf diese Weise kommen wir nicht weiter. Wir müssen logisch und systematisch vorgehen, wenn wir etwas erreichen wollen. Als sicher nehme ich zunächst an, daß es bei unserer scharfen Kontrolle für einen nicht zur Gefolgschaft Gehörenden unmöglich ist, sich in das Werk einzuschleichen. Daraus folgt, meine Herren?«

»Daß der Täter ein Gefolgschaftsmitglied sein muß«, beantwortete Chefingenieur Grabbe die Frage Lüdinghausens.

»Richtig, Herr Grabbe. Also werden wir weiter festzustellen haben, wer von unserer Belegschaft heute unentschuldigt fehlt. Der Betreffende, sei es, wer er wolle, könnte der Tat verdächtig sein.«

Weder Grabbe noch Dr. Hegemüller konnten gegen die Schlußfolgerung Lüdinghausens etwas einwenden. Der griff zum Apparat und telephonierte mit verschiedenen Stellen im Werk, wobei er sich Notizen machte.

»Kein Grund zu einem Verdacht«, sagte er nach Beendigung des letzten Gespräches. »Alles, was gestern im Werk war, ist auch heut wieder zur Arbeit gekommen. Die wenigen, die fehlen, sind schon seit Tagen krank geschrieben. Daraus läßt sich nur der eine Schluß ziehen . . . nun meine Herren, was muß man daraus folgern?«

Langsamer als zuvor fand Grabbe eine Antwort. »Man müßte daraus schließen, Herr Lüdinghausen, daß der Täter sich jetzt im Werk befindet . . . wenn uns in unseren Voraussetzungen kein Fehler unterlaufen ist.«

Lüdinghausen machte eine abwehrende Bewegung. »Unsere Voraussetzungen sind stichhaltig, Herr Grabbe. Der Schluß, den Sie daraus gezogen haben, ist richtig. Aber das ist noch nicht alles. Es läßt sich noch mehr daraus folgern. Kommt keiner von Ihnen darauf?«

Er wartete vergeblich auf eine Antwort und sprach selbst weiter. »Wenn der Täter heut früh wieder zur rechten Zeit ins Werk gekommen ist, so kann er seinen Flug nicht allzuweit ausgedehnt haben; also muß sich auch Ihre Rakete, Herr Doktor Hegemüller, noch in der näheren Umgebung von Gorla befinden . . .«

»Ja, aber wo, Herr Professor?« platzte Hegemüller heraus.

»Das ist die Frage, um die es sich dreht, Herr Doktor Hegemüller.« Ein kaum merkliches Lächeln glitt über die Züge Lüdinghausens, während er es sagte. »Wenn wir den Ort wüßten, würden wir sie schnell haben. Gehen wir weiter logisch vor. Angenommen, der unbekannte Täter wäre um Mitternacht mit der Rakete aus dem Werk geflogen und eine halbe Stunde später gelandet, dann blieben ihm gerade noch acht Stunden Zeit bis zum Werkbeginn. Nehmen wir weiter an, daß er den Rückweg zu Fuß machen mußte, so kann die Rakete kaum weiter als dreißig Kilometer von hier entfernt sein . . .«

»Oh, oh!« Grabbe kratzte sich die Stirn. »Ein Kreis mit einem Radius von dreißig Kilometer! Das gibt eine Fläche von beinahe dreitausend Quadratkilometer. Eine verteufelte Aufgabe, auf einem solchen Riesenareal unsere Rakete wiederzufinden.«

»Nicht ganz so schwierig, Herr Grabbe, wie es auf den ersten Blick scheint«, fuhr Lüdinghausen fort; »wir müssen zwei Fälle unterscheiden. Entweder ist die Maschine auf freiem Feld niedergegangen oder in bewaldetem Gelände. Auf freiem Feld ist sie weithin sichtbar; steckt sie irgendwo in einem Gehölz, ist der Fall schwieriger.«

Während Lüdinghausen kühl und klar dozierte, als ob er auf dem Katheder stünde, war Hegemüller von Sekunde zu Sekunde unruhiger geworden. Jetzt hielt er nicht länger an sich und brach los.

»Wenn sie auf freiem Feld gelandet ist, wenn irgendein wandernder Handwerksbursche oder Ackerknecht sie entdeckt, aufmacht, 'reingeht, an den Hebeln spielt . . . es ist ja kaum auszudenken, was dann noch alles passieren kann.«

»Ruhig, Doktor! Verlieren Sie Ihre Nerven nicht«, versuchte ihn Grabbe zu beschwichtigen, während Lüdinghausen schon wieder zum Telephon griff. Er sprach mit verschiedenen Stellen der Kreisverwaltung, und der Chefingenieur konnte nicht umhin, ihn zu bewundern, denn mit diplomatischer Meisterschaft verstand es Lüdinghausen, die von ihm angerufenen Behörden auf das zu suchende Objekt scharf zu machen, es als gefährlich und unter Umständen explosiv hinzustellen, ohne doch von seiner Raketennatur etwas zu verraten.

»So!« sagte Professor Lüdinghausen, während er den Hörer wieder auflegte, »die Landjägerschaft ist auf die Spur gesetzt. Was könnten wir jetzt noch tun?«

»Selber im Flugzeug losgehen und nach der Rakete suchen«, schlug Hegemüller vor.

»Gut, Herr Doktor.« Wieder griff Lüdinghausen zum Apparat. »Unser Pilot steht Ihnen mit dem Werkflugzeug zur Verfügung«, wandte er sich nach Beendigung des Gespräches an Hegemüller. »Nehmen Sie ein paar von Ihren Leuten, die an der Rakete gearbeitet haben, mit und fliegen Sie die Gegend ab. Geben Sie mir Bericht, wenn Sie von Ihrem Flug zurück sind.«

Während Hegemüller das Zimmer verließ, um sich zum Flugzeug zu begeben, holte Lüdinghausen eine Karte von der Umgebung Gorlas heraus und breitete sie vor sich aus. »Die Sache wird schwieriger, wenn die Rakete in dichtem Gehölz steckt«, meinte er zu Grabbe. »Wir wollen uns mal überlegen, wo sich etwas Derartiges hier in der Gegend befindet.«

Grabbe trat neben ihn, gemeinsam studierten sie die Karte und mußten schnell feststellen, daß es fast ein Dutzend kleinerer und größerer Waldungen innerhalb des Gebietes gab, das für den Verbleib der Rakete in Betracht kommen konnte.

»Dumme Geschichte«, brummte Grabbe, »es wird Tage, wenn nicht Wochen beanspruchen, alle diese Plätze gründlich abzusuchen.«

»Hilft aber nichts, Herr Grabbe«, entschied sich Lüdinghausen. »Wenn wir die Rakete nicht im freien Feld entdecken, müssen wir uns der Mühe unterziehen.«

Zu derselben Zeit ging der Bauer Gustav Schanze durch eins der Gehölze, deren Lage Lüdinghausen und Grabbe gerade auf der Karte betrachteten. Er hatte wenig Sinn für den Buchenwald, in dessen Kronen die schrägen Strahlen der Morgensonne in grüngoldenen Reflexen spielten; seine Gedanken waren viel mehr bei seinem am Rande der Waldung gelegenen Haferfeld, in dem Sperlinge und Wildtauben es reichlich arg getrieben hatten. Wenn Bauer Schanze von seinem Acker überhaupt noch etwas in die Scheune bringen wollte, dann mußte jetzt etwas gegen die gefiederte Plage geschehen, und deswegen hatte er sich auf den Weg gemacht. Während er so durch den Wald dahintrollte, sah er weitab seitwärts vom Wege etwas Weißes in dem Unterholz schimmern. Unwillkürlich verhielt er den Schritt, schaute schärfer hin und ging schließlich darauf zu.

Beim Näherkommen erkannte er, daß es sich um zusammengewürgte Wäschestücke handelte. Schanze machte sich keine Gedanken darüber, wie das Zeug wohl hierhingeraten sein mochte, doch eine andere Idee war ihm bei dem Anblick gekommen. Aus den Lumpen ließ sich sicherlich eine Vogelscheuche herstellen, die seinen bedrohten Hafer schützen könnte.

Ohne langes Besinnen griff er zu, drehte das Leinen auseinander und hielt zu seiner Verwunderung Stücke einer feinen Leibwäsche in seinen Händen; eigentlich noch viel zu schade für eine Vogelscheuche, wenn sie nicht an mehreren Stellen zerrieben und zerfetzt gewesen wäre. Moos und Rindenteile hafteten an den schadhaften Stellen, als ob jemand damit gewaltsam einen Baum abgewischt hätte. Für ihn selber war sie doch nicht mehr zu gebrauchen, stellte Schanze mit Bedauern fest und zog mit seiner Beute zu dem Feld hin, um dort einen Spatzenschreck daraus zu fabrizieren.

Gegen elf Uhr vormittag lief bei Lüdinghausen die Meldung ein, daß die Landjäger bei ihren Streifen nichts entdeckt hätten, auf das die gegebene Beschreibung passen könnte. Eine halbe Stunde später kam Hegemüller von seinem Erkundungsflug zurück. Auch er hatte von seiner Rakete nichts gesehen.

»Dann steckt das vertrackte Ding also doch in einer der Waldungen«, sagte Lüdinghausen durchs Telephon zu Grabbe. »Wir werden sie der Reihe nach absuchen müssen.« Die Antwort Grabbes vernahm er nicht mehr. Der hatte den Hörer schon wieder aufgelegt, als ein kräftiges »Schweinerei verfluchte!« seinen Lippen entfuhr.

Vielleicht hatte der Chefingenieur die Fenster doch nicht schnell genug geschlossen, als Hegemüller mit seiner ersten Meldung von der entflogenen Rakete zu ihm kam, vielleicht hatte auch der eine oder andere von den Werkleuten Hegemüllers ein Wort zuviel gesagt, jedenfalls hub schon in den Morgenstunden ein Wispern und Raunen unter der Belegschaft des Werkes an, und es wurde nicht schwächer, als man bald darauf Dr. Hegemüller mit dem Flugzeug starten sah.

Von einer Rakete wurde gemunkelt, von einer entflogenen Rakete . . . bald darauf von einer gestohlenen und wenig später sogar von einer geraubten Rakete. Von Halle zu Halle, von Labor zu Labor schwirrte das Gerücht und wurde dabei nicht kleiner. Als es in die Abteilung von Thiessen gelangte, der mit Dr. Stiegel und Saraku eben beschäftigt war, eine Verbesserung an der tausendpferdigen Strahlturbine zu erproben, da wollte es bereits von einem nächtlichen Einbruch ausländischer Spione wissen, die sich gewaltsam einer Strahlrakete bemächtigt hätten und damit ungehindert über die Reichsgrenze entkommen wären.

Ein Bote, der die zweite Post in die Abteilung Thiessen brachte, hielt sich länger als notwendig auf und hatte etwas mit dem Laboratoriumsdiener zu flüstern. Einem andern wäre es vielleicht kaum aufgefallen, aber Villari merkte es und pirschte sich vorsichtig näher heran, um etwas von dem Gespräch zu erhaschen. Übernächtig, fieberisch erregt, von Zweifeln hin und her gerissen, war er an diesem Morgen in das Werk gekommen. Mit Mühe hatte er nach außen hin eine gleichmütige Maske zur Schau getragen, jeden Augenblick darauf gefaßt, daß von irgendwoher Alarm kommen könnte, und fast unerträglich war die Spannung für ihn geworden.

Längst mußte man ja das Fehlen der Rakete gemerkt haben. Zweifellos mußte auch der Sicherheitsdienst des Werkes schon unterrichtet sein und Maßnahmen eingeleitet haben. Bei jedem Blick, der ihn traf, bei jedem Wort, das an ihn gerichtet wurde, mußte Villari sich zusammennehmen, um nicht durch eine ungewollte Gebärde oder ungeschickte Antwort sein Schuldbewußtsein zu verraten. Zum hundertsten Mal verwünschte er es im stillen, daß er sich auf das Abenteuer eingelassen hatte . . . und jetzt tuschelten die beiden, der Bote und der Diener, so verdächtig in einer Ecke . . . warfen, wie er sich einbildete, hin und wieder forschende Blicke nach ihm. War man ihm etwa auf der Spur?

Er strengte seine Ohren an, horchte gespannt und fing Bruchstücke des Gespräches auf. »Landjägerei alarmiert . . . Umgebung von Gorla wird abgesucht . . . Dr. Hegemüller mit Flugzeug unterwegs . . .«

Es verschlug Villari den Atem, als er es hörte. Vom Flugzeug konnte man die Baumkronen einsehen . . . wenn Hegemüller die Rakete entdeckte? . . . Man würde die Landjäger nach der Stelle schicken, sie würden die mit seinen Initialen gezeichneten Wäschestücke finden . . . Villari mußte sich gegen die Wand stützen, hörte mit geschlossenen Augen weiter . . . Ausländer sollen es gewesen sein . . . Man hat auch schon einen bestimmten Verdacht, geht einer gewissen Spur nach . . . Wenn das Glück gut ist, werden die Räuber noch heute vormittag gefaßt.

Villari fühlte seinen Herzschlag aussetzen. Wie im Traum vernahm er die Worte des Boten: »Mach's gut, Karl, ich muß weiter.« Dann hörte er eine Tür klappen. Nur allmählich kam er wieder zu sich, ging leicht wankend mit verstörtem Gesicht zu seinem Tisch und sank auf einen Stuhl.

»Ist Ihnen nicht gut, Kollege?« Die Stimme Dr. Stiegels klang an sein Ohr. Mit letzter Anstrengung riß er sich zusammen. Nur jetzt nicht schwach werden, sich nicht verraten!

»Nichts von Bedeutung, Herr Doktor Stiegel. Eine Magenverstimmung; ich fürchte, ich habe gestern abend zuviel von dem schwarzen Brot gegessen.« Er strich sich über den Leib, als ob er dort Schmerzen spürte.

»Gehen Sie ins Kasino und lassen Sie sich einen handfesten Weinbrand geben, Kollege«, riet ihm Stiegel.

»Ich will Ihren Rat befolgen.« Villari verließ das Laboratorium. Erst draußen in der frischen Luft wurde ihm etwas leichter ums Herz. Im Kasino ließ er dem ersten Weinbrand bald einen zweiten folgen, überlegte dabei noch einmal Wort für Wort, was er soeben gehört hatte, und merkwürdigerweise kam es ihm jetzt nicht mehr ganz so schlimm vor. Als er eine Viertelstunde später wieder in die Abteilung Thiessens zurückkehrte, war ihm die überstandene Schwäche nicht mehr anzumerken.

*

Chefingenieur Grabbe starrte verdrießlich auf den Deckel eines vor ihm liegenden Aktenstückes. Er kam nicht dazu, es zu lesen, denn immer wieder kehrten seine Gedanken zu der verschwundenen Rakete Hegemüllers zurück. Fast zwei Wochen waren nun seit diesem aufregenden Ereignis ins Land gegangen, und keinen Schritt war man weitergekommen. Nach wie vor blieb die Rakete verschwunden, obwohl man die Nachforschungen nach ihr viele Tage hindurch eifrig betrieben hatte. Keinen Schuldigen, ja nicht einmal einen Verdächtigen vermochte der Sicherheitsdienst des Werkes zu ermitteln, obwohl er sich redlich darum bemühte.

Zweifel überkamen den Chefingenieur. Hatte Lüdinghausen mit seiner Theorie recht – und Grabbe konnte keine schwache Stelle in der Beweisführung des Professors entdecken –, dann mußten der oder die Täter, welche die Rakete weggenommen hatten, nicht nur zur Gefolgschaft gehören, sondern sich auch jetzt noch im Werk befinden. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn bei dem Gedanken daran; unwillkürlich liefen ihm Namen und Personen durch den Sinn, die möglicherweise verdächtig sein konnten und die es nun zu finden galt.

Für sich allein versuchte er jetzt das, was Lüdinghausen in seiner oft bildhaften Ausdrucksweise »mit Zirkel und Lineal konstruieren« nannte. Zwei Möglichkeiten stellte er gegeneinander. Die erste: Der Täter war ein Deutscher, der im Solde irgendwelcher Agenten handelte. Dann mußte es in der Tat sehr schwer, wenn nicht unmöglich sein, ihn aus der großen Zahl der Werkangehörigen ausfindig zu machen; oder aber zweitens: Es war einer von den wenigen Ausländern, die in dem Institut tätig waren. Dann war er doch wohl nur unter denen zu suchen, die um den neuen Strahlstoff wußten und selbst mit ihm zu tun hatten. Villari oder Saraku? Fast ohne es zu wollen, hatte er die beiden Namen vor sich hingesprochen.

Der Italiener? Schon vor Tagen hatte er auf Wunsch Ruggeros Deutschland verlassen, war längst wieder in Rom, während sein Landsmann Tomaseo in dem deutschen Institut arbeitete. Der kam also überhaupt nicht mehr in Betracht. Der andere, der Japaner? Grabbe hielt ihn ebenso wie Villari für einen grundanständigen Menschen, wollte keinem von beiden die Tat zutrauen und war nun in seinen Überlegungen doch auf sie gestoßen, grübelte und sinnierte weiter und kam mit seinen Gedanken nicht mehr zurecht. Hegemüller hatte ja seine Sache ganz im geheimen betrieben. Weder Villari noch Saraku konnten darum wissen. Während er noch nach einer Lösung suchte, meldete sich das Telephon auf seinem Tisch. Saraku bat um eine Unterredung.

»Ja, es ist mir recht. Ich bin im Augenblick frei. Sie können gleich kommen, Herr Saraku.« Grabbe legte den Hörer wieder auf, dachte dabei: Ich werde gesprächsweise die Strahlrakete erwähnen und ihn dabei genau beobachten. Wenn er in die Sache verwickelt ist, wird er sich vielleicht doch verraten . . . obwohl . . . die Söhne Nippons haben sich in der Gewalt . . . mit dem andern, dem Italiener, wäre es leichter gewesen . . .

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Betrachtungen. Saraku kam herein und ging nach einer höflichen Begrüßung sofort auf den Zweck seines Kommens los.

»Ich bekam Nachrichten von meinem verehrten Lehrer Hidetawa, Herr Chefingenieur«, sagte er und legte einen großen Briefumschlag vor sich hin.

»Von unserem Freunde Hidetawa?« fragte Grabbe. »Hat er neue Vorschläge wegen der Strahlturbine zu machen?«

Saraku machte eine verneinende Bewegung. »Nein, Herr Chefingenieur. Er kommt mit einem andern Vorschlag, der ihn, wie er schreibt, schon seit Wochen beschäftigt. Er schickt Pläne zu einer Strahlrakete.«

Grabbe biß sich auf die Lippen, um Worte zu unterdrücken, die ihm auf der Zunge lagen.

»Von einer Strahlrakete? Das ist interessant«, er brachte es scheinbar gleichmütig heraus, obwohl seine Gedanken wild durcheinander wirbelten. »Herr Hidetawa hat bereits Pläne entworfen?«

»Hier sind sie, Herr Grabbe.« Saraku zog mehrere Bogen aus dem Briefumschlag, faltete sie auseinander und breitete sie vor dem Chefingenieur aus. Dessen Augen gingen wechselweise zwischen den Zeichnungen und dem Japaner hin und her. Auf den ersten Blick erkannte er, daß die Entwürfe Hidetawas schon weit ins einzelne gingen. Wer das Problem bereits so weit beherrscht, hat es nicht nötig, sich an dem primitiven Apparat Hegemüllers zu vergreifen, war die Erkenntnis, die sich ihm zwangläufig aufdrängte und vor der jeder Verdacht gegen Saraku dahinschwand.

Mit ungeteiltem Interesse vermochte Grabbe sich jetzt den Entwürfen Hidetawas zu widmen, und immer wieder mußte er die Voraussicht bewundern, mit der jede Eventualität hier gemeistert, jedes Einzelteil für seinen Zweck geformt und durchkonstruiert war. Unbeweglich saß Saraku ihm gegenüber und wartete geduldig ab, wie sich der Deutsche zu den Plänen äußern würde. Jetzt stutzte der. Sein Finger blieb auf einer Nebenzeichnung haften, die den Bewegungsmechanismus der strahlenden Treibflächen darstellte.

»Herr Hidetawa hat hier ein selbstsperrendes Getriebe vorgesehen?« wandte er sich an Saraku. »Warum das?«

»Herr Hidetawa hat mit der Möglichkeit gerechnet, daß Kräfte von außen her die Treibflächen verstellen könnten, und sich durch eine Selbstsperrung dagegen geschützt. Er dachte an den Luftwiderstand während des Fluges in der Atmosphäre. Er hat wohl auch mit der Möglichkeit gerechnet, daß ein Unbefugter die Flächen von außen her verstellen könnte . . .«

Die Flächen von außen her verstellen könnte . . . die letzten Worte Sarakus hallten wie ein Echo im Ohr des Chefingenieurs nach . . . ein Unbefugter von außen . . . Konnte es bei der Rakete von Dr. Hegemüller nicht ebenso gewesen sein? . . . Mit Leichtigkeit ließen sich an dessen Maschine die Flächen von außen her verstellen. Noch nicht einmal ein Mensch brauchte es gewesen zu sein. Ein leichter Druck genügte ja schon dazu. Irgendein Tier konnte es verursacht haben . . . eine Katze vielleicht . . . es waren einige davon in dem Werk vorhanden.

Saraku hatte einen Brief aus dem Umschlag gezogen. Das leichte Knittergeräusch des bewegten Papieres rief Grabbe in die Wirklichkeit zurück. Er sah wieder die Pläne vor sich, den Japaner sich gegenüber und begann zu sprechen.

»Ich beglückwünsche Herrn Hidetawa zu dieser Arbeit. Sie ist ein Meisterstück. Wir werden heute noch gemeinsam darüber beraten. Für den Augenblick bitte ich Sie um Entschuldigung. Ich muß Herrn Professor Lüdinghausen noch sprechen, bevor er zu Tisch geht. Vielleicht können wir heute nachmittag mit ihm zusammen eine Konferenz haben.«

Saraku erhob sich und verließ mit einer Verbeugung das Zimmer. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Grabbe schon zum Telephon griff und Lüdinghausen anrief.

»Sehr gut, Herr Grabbe«, klang's ihm von der andern Seite der Leitung entgegen. »Ich wollte Sie auch noch sprechen. Kommen Sie, bitte, gleich.«

»Ja, mein lieber Grabbe«, empfing Lüdinghausen den Chefingenieur. »Mit unsern Nachforschungen in der Sache Hegemüller scheinen wir ja nun endgültig festgefahren zu sein. Nirgends auch nur eine Spur von dem Täter. Ich glaube nicht mehr, daß wir den Menschen fassen werden.«

»Vorausgesetzt, daß es ein Mensch ist, Herr Professor.« Lüdinghausen sah den Chefingenieur groß an. Der ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, sondern breitete die Zeichnungen Hidetawas gemächlich vor sich aus. Eine kurze Weile ließ ihn Lüdinghausen gewähren, dann fragte er ungeduldig:

»Wie meinen Sie das, Herr Grabbe? Ich denke, über den Täter sind wir uns doch einigermaßen klar.«

»Ich habe es auch geglaubt, Herr Lüdinghausen, bis ich vor einer Viertelstunde diese Pläne Hidetawas für eine Strahlrakete . . .«

»Nun und? Was hat das mit unserm Fall zu tun?«

Grabbe schob ihm eine der Zeichnungen hin und wies auf eine Stelle darauf.

»Wollen Sie sich das einmal genau ansehen, Herr Professor?«

»Was ist daran besonderes zu sehen? Die Bewegung der Treibflächen durch einen Schneckentrieb – übrigens keine schlechte Idee – imponiert mir . . . tüchtige Arbeit. Aber lassen wir das jetzt. Kehren wir zu unserem Fall zurück, Herr Grabbe.«

»Wir sprechen bereits die ganze Zeit darüber, Herr Lüdinghausen. Sehen Sie, hier unterscheidet sich die Konstruktion grundsätzlich von der Hegemüllerschen. Hier stehen die Treibflächen in jeder Stellung unverrückbar fest. Bei unserer Rakete konnte man sie von außen her mit Leichtigkeit verstellen . . .«

In den Zügen Lüdinghausens begann es zu arbeiten, während er auf die Zeichnung starrte. Erst nach langen Sekunden begann er zu sprechen.

»Ich verstehe, was Sie meinen. Es hätte jemand die Flächen unserer Rakete von außen verstellen können . . . braucht gar nicht mitgeflogen zu sein . . . ja, bester Herr Grabbe, das wirft ja alle unsere Schlußfolgerungen über den Haufen. Dann kann die Rakete sich ja Gott weiß wo befinden . . . vielleicht auf dem halben Wege zum Monde sein . . .«

»Wäre das Beste, was uns passieren könnte. Dann wären wir wenigstens sicher davor, daß sie einem Unberufenen in die Hände fällt. Offen gesagt, Herr Professor, solche Scherze wie damals bei den Fundlands-Bänken und am Boulder-Damm möchte ich nicht nochmal erleben. Damals hat die Welt noch an einen Meteoriten geglaubt; wenn aber Hegemüllers Rakete in Amerika oder sonst irgendwo zu Boden stürzt, würde die Welt verflucht hellhörig werden.«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand!« wehrte Lüdinghausen ab. »Im übrigen bringt uns das alles nicht weiter. Nach wie vor haben wir die Aufgabe, den Kerl festzustellen, der uns das eingebrockt hat.«

»Sie sagen Kerl, Herr Lüdinghausen. Es könnte auch ein Tier gewesen sein.«

»Ein Tier?!«

»Allerdings! Ich denke da zum Beispiel an die Katzen, die unsere Pförtner sich halten. Die Tiere streunen gerade in dieser Jahreszeit die liebe lange Nacht herum und machen sich reichlich bemerkbar.«

Lüdinghausen warf sich in seinen Sessel zurück und lachte laut heraus. »Großartig, Krabbe! Der Täter entpuppt sich als ein verliebter Kater. Ich kann's nur nicht recht glauben.«

»Aber ich, Herr Lüdinghausen. Zufällig hörte ich von einem unserer Wächter, daß die Biester es in der fraglichen Nacht besonders arg getrieben haben. Es ist ihre Ranzzeit. Sie sollen steinerweichend konzertiert haben.«

Lüdinghausen wurde wieder ernst. »Sollte das wirklich des Rätsels Lösung sein, Herr Grabbe? Je länger ich darüber nachdenke, um so möglicher erscheint es mir. Ja, was sollen wir denn dann noch weiter unternehmen?«

»Gar nichts, Herr Professor. Die Dinge einstweilen laufenlassen, wie sie laufen, und den Bau unserer neuen Rakete mit allen Mitteln beschleunigen. Ich möchte nicht, daß Hidetawa uns zuvorkommt. Unsere eigenen Entwürfe sind auch nicht schlecht. Nur den Mechanismus für die Bewegung der Treibflächen wollen wir von dem japanischen Projekt übernehmen. Da uns Hidetawa seine Pläne unterbreitet hat, müssen wir auch ihm gegenüber mit offenen Karten spielen. Ich schlage vor, daß wir uns heut nachmittag mit Saraku darüber besprechen.«

Lüdinghausen machte sich eine Notiz auf seinem Terminkalender. »Ist recht, Herr Grabbe. Heut nachmittag um vier Uhr. Kommen Sie schon eine Viertelstunde früher, damit wir uns vorher über alles Wichtige klar werden.«

Zur festgesetzten Zeit stellte sich Chefingenieur Grabbe am Nachmittag wieder bei Lüdinghausen ein und entnahm seiner Mappe die von Dr. Hegemüller entworfenen und von ihm selbst weiter bearbeiteten Pläne über die neue Rakete.

»Ja sehen Sie, lieber Grabbe, das ist es, was ich erst unter vier Augen mit Ihnen besprechen wollte, bevor wir uns mit unserm Japaner zusammensehen«, eröffnete Lüdinghausen die Unterredung und griff nach einem mit roter Tinte ausgefertigten Schriftstück. »Ich glaube, unsere Fertigungs- und Liefertermine behalten wir vorläufig lieber für uns.«

»Ich wollte Ihnen das gleiche vorschlagen, Herr Professor«, erwiderte Grabbe. »Ich meine, hier handelt es sich um eine interne Betriebsangelegenheit, über die wir niemand Rechenschaft schuldig sind.«

Lüdinghausen vertiefte sich in das durch seine Farbe so auffällige Dokument und nickte dabei zustimmend.

»Sehr gut, Herr Grabbe. Der Raketenkörper ist bereits in die Abteilung Hegemüller geliefert worden.« Er zog eine der Zeichnungen heran. »Alle Wetter, ein tüchtiger Brocken. Wie haben Sie das Stück so schnell beschaffen können?«

Grabbe lachte. »Ich habe mich durch unsern Freund Hegemüller inspirieren lassen. Ich habe den Raketenkörper bei der Firma bestellt, die uns bereits mehrere Versuchskammern geliefert hat.«

»Hm, so! Haben die Leute nicht etwas gemerkt? Lunte gerochen, wie man zu sagen pflegt?«

»Glaube ich nicht, Herr Professor. Wir haben es natürlich vermieden, der Firma unser Geheimnis auf die Nase zu binden. Die Zeichnungen, die wir ihr gaben, waren so hergerichtet, daß sie glauben mußte, es handelt sich auch hier wieder um eine Versuchskammer. Die Sache wurde noch täuschender, weil wir auch gleich die Lufterneuerungsanlage und einige Meßinstrumente von dieser Firma in den Körper einbauen ließen. Sie sehen hier die Sauerstoffflaschen, hier« – er fuhr mit dem Finger über die Zeichnung – »die Kalipatronen, um die durch die Atmung frei werdende Kohlensäure zu binden, und hier die Manometer. Die Firma hat sich mächtig 'rangehalten, das muß man ihr lassen. Sie hat uns das Stück zehn Tage nach der Bestellung angeliefert, hat deswegen unsern andern Auftrag auf die Versuchskammer für C III zurückgestellt, obwohl Dr. Schneider erheblichen Krach geschlagen hat.«

Lüdinghausen hatte sich schon wieder der roten Liste zugewandt und die nächsten Zeilen überflogen. »Das Instrumentenbrett ist auch bereits eingebaut und komplett«, meinte er anerkennend.

Grabbe nickte. »Jawohl, Herr Lüdinghausen; sowie der Raketenkörper im Werk war, hat sich Hegemüller mit seinen Leuten darüber hergemacht. Es waren ja naturgemäß einige Änderungen notwendig. Zwei von den vier Manometern mußten mit der Außenluft verbunden werden. Thermometer und Beschleunigungsmesser waren einzubauen. Das alles hat sehr schön geklappt. Auch die Treibflächen sind bereits eingetroffen. Nur der Bewegungsmechanismus für sie ist noch nicht fertig, und das ist kein Fehler, denn den wollen wir jetzt nach den Plänen Hidetawas gestalten.«

»Gut, sehr gut, Herr Grabbe. Wann meinen Sie, wird die neue Rakete startbereit sein?«

»In wenigen Tagen. Hegemüller sitzt bereits über den Zeichnungen für die wenigen noch fehlenden Teile. Wir werden die Stücke bei uns im Werk herstellen lassen und die Sache dringlich machen. Wenn Sie auch noch etwas Druck dahintersetzen, Herr Professor, können wir schon für die kommende Woche mit einem Probeflug rechnen.«

Lüdinghausen warf einen Blick auf den Kalender. »Wir werden fast Neumond haben. Das paßt ganz gut. Also machen Sie mit Volldampf weiter, und jetzt wollen wir uns Saraku kommen lassen.«

Sorgsam faltete Grabbe die rote Liste zusammen und ließ sie in seiner Brusttasche verschwinden, während Lüdinghausen den Japaner durch den Fernsprecher zu sich bat.

»Wir sind Meister Hidetawa zu Dank verpflichtet«, empfing er den Eintretenden. »Die Pläne, die Sie in seinem Auftrag überbrachten, sind sehr interessant und lehrreich für uns, aber wir haben auch nicht geschlafen. Wollen Sie sich das hier bitte ansehen.« Er führte Saraku zu einem andern Tisch, auf dem ein vollständiger Satz der von Hegemüller entworfenen Raketenpläne ausgebreitet war, und fuhr fort: »Ich übergebe Ihnen die Zeichnungen zu treuen Händen, Herr Saraku, mit der Bitte, sie Herrn Hidetawa zu übermitteln.«

Überrascht schaute der Japaner auf die vor ihm ausgebreiteten Zeichnungen. Schon eine oberflächliche Betrachtung zeigte ihm, daß die Deutschen ihre Zeit in der Tat nicht verloren hatten. Auch hier war alles für eine Strahlrakete Erforderliche bis in die Einzelheiten durchkonstruiert, und in der Hauptsache stimmte es mit den von Hidetawa gewählten Anordnungen überein.

Grabbe griff nach einer Liste und reichte sie dem Japaner, während er dazu erklärend bemerkte. »Sie finden hier eine Aufstellung der Patente, die wir gemeinsam nehmen wollen. Neu für uns war der Bewegungsmechanismus der Treibflächen. Wir halten ihn für sehr wichtig und wollen ihn möglichst ausgiebig schützen lassen. Für Sie wird vielleicht die von uns gewählte Anordnung der Instrumente interessant sein. Von diesen zwei Punkten abgesehen, stimmen unsere Konstruktionen wie gesagt fast vollständig überein.«

Saraku hatte sich über die Zeichnungen gebeugt und vertiefte sich in ihre Einzelheiten.

Äußerlich war ihm die Überraschung nicht anzumerken, die diese Entwürfe ihm bereiteten. Etwas ganz Neues hatte er dem deutschen Werk zu bringen geglaubt und mußte nun feststellen, daß man hier schon ebensoweit war wie in Tokio.

»Bauen ist jetzt die Hauptsache, Herr Saraku«, nahm Lüdinghausen wieder das Wort. »In Stahl und Eisen muß jetzt Form gewinnen, was hier auf dem Papier steht, und zwar möglichst bald.« Saraku nickte zustimmend. Er dachte in diesem Augenblick an ein anderes nur für ihn bestimmtes Schreiben Hidetawas, in dem sein alter Lehrer ihm auch einiges über den Stand der Bauarbeiten an seiner Rakete mitteilte. Mochten die Deutschen sich noch so sehr beeilen, es würde ihnen kaum gelingen, den Vorsprung Tokios einzuholen.

»Ich weiß nicht, Herr Professor«, begann er zögernd, »ob es erlaubt ist, davon zu sprechen«, er stockte wieder und schwieg.

»Bitte, heraus mit der Sprache!« ermunterte ihn Grabbe. »Reden Sie nur offen, wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

»Ich hörte«, begann Saraku wieder, ». . . es sind nur Gerüchte . . . man sprach im Werk von einer Rakete, die bereits fertig war und auf unerklärliche Weise entflogen sein soll.«

Verstohlen tauschten Grabbe und Lüdinghausen einen schnellen Blick miteinander. Für einen kurzen Augenblick flammte der alte Verdacht wieder in Grabbe auf. Fragen überstürzten sich in seinem Kopf. Was wußte der Japaner in Wirklichkeit?

Lüdinghausen enthob ihn der Mühe, eine Antwort zu finden. »Gerüchte, Herr Saraku . . . Sie wissen selbst, was man davon zu halten hat. Ein Körnchen Wahrheit und viel unnützes Geschwätz. Doktor Hegemüller hatte ein paar kleine Strahlflächen an ein Gestell montiert, wollte am nächsten Tag ihre Treibkraft messen. In der Nacht kamen streunende Katzen darüber her und brachten die Konstruktion in Unordnung mit dem Endergebnis, daß die ganze Geschichte sich senkrecht in den Äther empfahl. Ein belangloser Zwischenfall; der Himmel mag wissen, wie das Vorkommnis überhaupt bekanntgeworden ist. Wir legen ihm keine weitere Bedeutung bei.«

Mit einer höflichen Verneigung quittierte Saraku die Mitteilung Lüdinghausens. Friß die Lüge oder sticke dran! dachte Grabbe bei sich.

Noch ein kurzer Meinungsaustausch über das Bauprogramm, und die Konferenz war beendet.

»Wir müssen sehr schnell bauen, wenn uns Hidetawa nicht zuvorkommen soll«, sagte Grabbe, nachdem Saraku gegangen war.

»Wir werden mit Tag- und Nachtschichten arbeiten«, bestätigte Lüdinghausen die Meinung des Chefingenieurs.

*

Fast ebenso schnell, wie er einst aufflammte, war der feuerspeiende Berg an der Straße von Tokio nach Jokohama wieder erloschen. Kalt und bewegungslos ragte das Gestein des Berges, der landeinwärts den Abschluß von Hidetawas Park bildete, in den blauen Sommerhimmel. Nur noch einige verkohlte Baumstämme und veraschter Rasen zeugten auf den Felsterrassen hier und dort von dem Ausbruch atomarer Energie, aber die große Höhle war doch ein Opfer der entfesselten Naturgewalten geworden.

Doch Vulkanausbrüche und Erdstöße waren alltägliche Ereignisse auf den Inseln Nippons. Das Vorkommnis hatte Hidetawa nicht zu veranlassen vermocht, den Arbeitsplatz, der ihm aus vielen andern Gründen so günstig schien, deswegen aufzugeben. Eine leichte geräumige Baracke stand jetzt im Garten des greisen Gelehrten, und unablässig war er dort zusammen mit Yatahira und wenigen ausgesuchten Gehilfen bei der Arbeit.

Tagesarbeit war es zuerst, Nachtarbeit kam hinzu, als wieder und immer wieder Funksprüche einliefen, die Saraku von der entgegengesetzten Seite des Erdballes in den Äther flattern ließ.

»Es geht um Stunden, Yatahira. Noch einen Sonnenlauf, und die Deutschen werden starten.«

Ein Depeschenblatt in der Hand, sagte es Hidetawa.

»Wir können heute nacht schon starten, Meister. Ihr Werk ist vollendet.«

Die Antwort kam aus dem Innern eines schimmernden Metallzylinders, der breit und massig in der Baracke stand.

»Heut Nacht, Yatahira?«

»In vier Stunden, wenn Sie es befehlen.«

Auf einen Wink Hidetawas trat Yatahira aus der Rakete heraus und folgte Hidetawa in den Garten. Lange wanderten sie dort die Wege entlang, Hidetawa sprechend, hin und wieder auf das Papier in seiner Hand deutend, Yatahira zuhörend, nur hin und wieder durch eine Bewegung, eine Verneigung andeutend, daß er die Absichten und Wünsche seines Lehrers erfaßte.

»In vier Stunden, Yatahira.«

»In vier Stunden, Meister Hidetawa.«

*


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