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Auf den Trümmern der deutschen Station

Fünf Menschen im Schnee verschüttet. Karl Hagemann lebt. Dr. Schmidt wird gefunden, Dr. Wille ausgegraben. Auch die Funker entgingen dem Tode. ›St 8‹ bringt der Station Hilfe aus Deutschland. ›St 10‹ am Bolidenkrater. Ein kostbarer Fund.

Ein Trümmerhaufen, vergraben unter Schneewehen, verloren in der dunklen, eisigen Polarnacht, war die Station, nachdem jene fürchterliche Sturmwelle über sie hinweggebraust war. Hatte die Katastrophe auch fünf Menschenleben ausgelöscht?

Stöhnend griff Karl Hagemann im Dunkeln um sich. Langsam kam ihm das Bewußtsein wieder. Sein Kopf schmerzte, mit Mühe brachte er die Hände empor und ertastete an seiner Stirn eine Wunde. Dann spürte er, wie es ihm von hinten her feucht in den Nacken tropfte. Er versuchte, sich zu erheben und fühlte sich dabei durch irgend etwas gehemmt, das ihn von allen Seiten umgab.

Nach langem Mühen . . . endlos schien ihm die Zeit . . . glückte es ihm, auf die Knie zu kommen, sich umzudrehen. Seine suchenden Hände faßten etwas Hartes, Eckiges, das sich warm anfühlte. Erinnerung kam ihm dabei zurück. Der elektrische Kochherd mußte das sein. Neben ihm hatte er ja gestanden, gegen den war er geschleudert worden, als das Unheimliche, Unerklärliche hereinbrach. Nun wurden seine Gedanken klarer. Er begann zu begreifen, was sich ereignet hatte. An dem heißen Herd war etwas von den hereinwirbelnden Schneemassen geschmolzen. Daher die Nässe, die er zuerst gefühlt.

Mit beiden Händen griff er nach der oberen Herdkante und zog sich mit Gewalt in die Höhe. Jetzt endlich stand er aufrecht, bis an die Schultern noch in pulvrigem Schnee, aber den Kopf hatte er frei, konnte endlich tief und kräftig atmen. Und nun erschaute er auch im unsicheren Sternenlicht etwas von den Verwüstungen, welche die Katastrophe angerichtet hatte. Das Dach und zwei Wände der Küchenbaracke waren fortgerissen. Neben dem Herd stand er im Freien und steckte bis an den Hals in einer Schneewehe.

Nur allmählich kamen seine Gedanken wieder in Gang. Was war geschehen? Wo waren die andern? . . . Die andern! Er mußte sie suchen . . . mußte ihnen Hilfe bringen.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an das unsichere Licht. Er erkannte, daß die Schneewehe nach außen zu flacher wurde. Mit den Armen rudernd, stampfend und schnaubend arbeitete er sich von der Herdwand fort ins Freie. Schon ging ihm der Schnee nur noch bis zu den Knien, dann stand er auf nacktem Felsboden. Aber nun spürte er auch die Kälte, gegen die ihn der Schnee so lange geschützt hatte. Fühlte, wie die durchnäßten Stellen seiner Kleidung in dem grimmigen Frost sofort starr und steif wurden.

Mit klappernden Zähnen eilte er zu dem Mittelbau des Stationshauses. Auch hier Verwüstung und Trümmer. Die Wände zum Teil eingedrückt und umgerissen, dort wo die Tür war, bis zum Dach im Schnee vergraben. Durch ein Fenster gelangte er in das Innere, atmete auf, als er dem tödlichen Frost entronnen war, griff nach einem Lichtschalter . . . vergeblich, kein Strom in der Leitung. Im Dunkeln tastete er sich weiter zur Kammer hin, in der die Pelze lagen. Als er das schwere Bärenfell über die Schultern zog, fühlte er sich vor dem Schlimmsten geborgen. Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken, schloß minutenlang die Augen. Dunkelheit und tiefe Stille umgaben ihn.

Doch nein, ein pochendes, tackendes Geräusch drang an sein Ohr. War es der eigene Herzschlag, den er hörte? Er lauschte schärfer . . . die Maschine mußte es sein, der Dieselmotor, der trotz allem, was geschehen, unermüdlich weiterlief. Der Motor, das pochende Herz der Station, das Wärme, Licht und Leben gab.

Licht! Licht war das erste, das Notwendigste, was er haben mußte, ehe er nach den andern suchen, ihnen zu Hilfe kommen konnte. Der Gedanke riß ihn empor, trieb ihn wieder hinaus in Nacht und Frost.

Durch Trümmer und Schneewehen arbeitete er sich bis zum Maschinenschuppen hin. Auch hier ein Bild der Zerstörung, das Dach und eine Wand fortgerissen. Aber der Motor lief noch, lief leer, wie er am Maschinengeräusch sofort erkannte. Die Katastrophe mußte einen schweren Kurzschluß in der Leitung verursacht haben. Die Hauptsicherungen waren durchgeschlagen, die Dynamomaschine dadurch entlastet worden.

Hagemann fühlte seine Hände in der Kälte erstarren, steckte sie in die Taschen des Pelzes und fühlte eine Streichholzschachtel zwischen den klammen Fingern. Licht! Eine Möglichkeit, sich Licht zu verschaffen. Ein Streichholz flammte auf, ein Kerzenstumpf nährte ein spärliches Flämmchen. Es genügte ihm, um Werkzeug zu finden. Mit Schraubenzieher und Zange begann er zu hantieren, ungeschickt erst noch und unsicher mit den froststarren Händen. Doch schon spürte er, wie die Arbeit sein Blut in Bewegung brachte, schon ging es schneller und besser, als er nun Drähte zog.

Dann verblaßte der Schein der Kerze neben der strahlenden Helligkeit einer starken Glühlampe. Wenigstens hier an dieser einen Stelle hatte er wieder Licht. Mit schnellem Blick überflog er den Maschinenraum und sah, daß hier bei allem Unglück noch Glück gewaltet hatte. Es hätte schlimmer kommen können. Wohl hatte die Orkanwelle Teile des Schuppens fortgeschleudert, aber im Raum selbst nichts Wesentliches zerstört. Nicht nur das Maschinenaggregat und die Schalttafel waren unversehrt geblieben, auch die Regale, in denen die Reserveteile und das Installationsmaterial lagerten, waren von der Vernichtung verschont geblieben.

Er wollte wieder hinaus ins Freie, doch tiefe Dunkelheit hemmte seinen Schritt. Seine Augen, durch das reichliche Licht in dem Schuppen verwöhnt, vermochten hier draußen nichts mehr zu erkennen. Einen Augenblick überlegte er, begann dann in den Regalen zu kramen, bis er fand, was er suchte. Eine Rolle biegsamen Kabels und eine Reflektorlampe. Schnell war das Kabel an die Schalttafel angeschlossen, die Leuchte in seiner Hand flammte auf. So ausgerüstet, das Kabel von der Rolle ab und hinter sich herziehend, ging er auf die Suche. Wie ein langer leuchtender Balken huschte das Licht der Handlampe über den Hof hin und her. In dessen Schein sah er die Trümmer der niedergebrochenen Maste, sah, daß die zentnerschweren Kondensatoren umgerissen und nach allen Seiten hin verstreut waren. Sah dazwischen nach der Wand des Mittelbaues hoch aufgeschichtet endlose Schneemassen.

Gerade wollte er den Lichtkegel weitergleiten lassen, als er stockte. Etwas Dunkles, Unbestimmtes hatte er auf dem Schnee erblickt. Er schritt darauf zu, leuchtete es stärker an und stutzte. Nichts anderes konnte das Ding da sein, als die Pelzmütze von Dr. Schmidt, ein Kleidungsstück, durch seine Form und Größe ebenso auffallend wie der ganze Doktor.

Er stand und überlegte. Wie kam die Mütze hier ins Freie? Er hatte die beiden Gelehrten in ihrem Observatorium vermutet. Sollten sie aus irgendwelchen Gründen ins Freie gegangen und hier von der Katastrophe überrascht worden sein? Dann lagen sie am Ende in den Schneemassen an der Hauswand begraben, waren vielleicht schon längst erstickt oder erfroren.

Erfroren? Ah, bah! Er schob den Gedanken von sich in der Erinnerung daran, wie warm ihn selbst der Schnee eingehüllt hatte. Erstickt?! Die Vorstellung beunruhigte ihn. Die Wehe hier war erheblich stärker als die Schneemassen, unter denen er gelegen hatte. Jedenfalls war es notwendig, die Verschütteten so schnell wie möglich zu finden und zu befreien. Aus dem Maschinenschuppen holte er eine kräftige Schaufel, wurde sich dabei der Schwierigkeiten bewußt. Wenn er die Verschütteten nicht bald fand, wenn er vielleicht genötigt war, die ganze lange Schneewehe umzuschaufeln, konnte das Werk tagelang dauern, dann kam die Hilfe sicher zu spät.

Die Mütze . . . die Mütze, ging es ihm fortwährend durch den Kopf, wo die Mütze liegt, kann Dr. Schmidt nicht weit ab sein. In ihrer nächsten Nähe begann er den Schnee fortzuschaufeln; schnell, aber doch vorsichtig, damit er die Verunglückten nicht verletzte. Die Vorsicht war sehr am Platze. Kaum ein Dutzend Schaufeln Schnee hatte er beiseitegeschafft, als er auf etwas Hartes stieß. Vorsichtig grub er weiter, griff mit den Händen zu, faßte einen Pelz. Er zog und hob daran. Eine Schulter kam zum Vorschein, ein Arm, ein ganzer Mensch schließlich. Es war Dr. Schmidt. Er zog ihn vollends aus dem Schnee, wollte ihn aufrichten. Aber der Doktor rückte und rührte sich nicht. War er bewußtlos . . . ohnmächtig . . . oder hatte Hagemann nur einen Toten aus dem Schnee geholt? Er packte den regungslosen Körper, schleppte ihn in das Maschinenhaus und legte ihn auf eine Werkbank. Er riß ihm den Pelz auf und begann den Körper zu kneten und zu reiben. Wie ein Verzweifelter arbeitete er, bis ihm der helle Schweiß von der Stirn lief. Lange, bange Minuten verstrichen, da tat der Gerettete einen tiefen Atemzug und schaute sich um, stieß unzusammenhängende Worte hervor. Hagemann schüttelte und rüttelte ihn derweil mit allen Kräften weiter, bis Dr. Schmidt eine abwehrende Armbewegung machte.

»Was ist denn, Hagemann? Sind Sie verrückt geworden, so mit mir umzugehen?«

Der ließ von ihm ab und zog unter der Werkbank eine Flasche Kognak vor.

»Trinken, Herr Doktor! Ordentlich trinken!« Ohne sich um die Proteste des langen Schmidt zu kümmern, schob er ihm die Flasche zwischen die Zähne und gab nicht nach, bis der eine gehörige Dosis geschluckt hatte.

Krächzend und hustend versuchte der Doktor sich aufzurichten, und mit Hilfe des andern gelang es ihm.

»Was in aller Welt ist los, Hagemann? Mit Ihnen . . . mit . . .«

Er sah sich erstaunt in dem Raum um. Erst jetzt bemerkte er die Zerstörung, wollte weiterfragen. Hagemann ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Wo ist Dr. Wille? War er mit Ihnen zusammen auf dem Hof?«

Schmidt griff sich an die Stirn. Erst jetzt schien ihm die volle Besinnung wieder zu kommen.

»Ja natürlich! Wir waren zusammen auf dem Hof, als etwas geschah . . . was war es denn?«

»Bleiben Sie ruhig hier liegen, Herr Doktor.«

Hagemann drückte ihm die Kognakflasche in die Hand und stürmte ins Freie. Die beiden haben sicher dicht zusammengestanden, wo der eine lag, muß auch der andere zu finden sein, schoß es ihm durch den Kopf, während er schon wieder eifrig schaufelte.

Doch diesmal bestätigte sich seine Vermutung nicht. Immer tiefer grub er sich in die Wehe hinein, ohne etwas zu finden. Verzweiflung wollte ihn überkommen, während er Schaufel um Schaufel des körnigen Schnee zur Seite schleuderte. Da hörte er eine Stimme hinter sich.

»So kommen wir nicht zum Ziel, Hagemann. Wir müssen systematisch vorgehen.«

Es war Dr. Schmidt, dem der ungewohnte Kognak überraschend schnell auf die Beine geholfen hatte. Jetzt stand er neben Hagemann mit einem langen Besenstiel in der Rechten.

»Wir müssen sondieren, Hagemann. So macht man das immer, wenn Leute in eine Lawine geraten sind.«

Während er es sagte, watete der lange Dr. Schmidt in der Wehe herum und stieß den Besenstiel in kurzen Abständen vorsichtig in die Schneemassen hinein.

Hagemann hielt mit seiner Schaufelei inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Trotz der ernsten Lage konnte er kaum ein Lachen unterdrücken. »Wie der Storch im Salat«, dachte er, als er den langen Doktor methodisch in der Schneewehe herumstapfen und mit dem Besenstiel hantieren sah. Dabei leuchtete ihm aber die Zweckmäßigkeit des Verfahrens ein. Er lief zum Maschinenschuppen zurück, holte sich auch einen Stiel und begann am andern Ende der Wehe nach Schmidts Methode zu sondieren.

»Hier, Hagemann, hier liegt was unter dem Schnee!« rief Dr. Schmidt. Hagemann eilte zu ihm, die Schaufel trat wieder in Tätigkeit. Und dann fanden sie auch den Dr. Wille und trugen ihn zusammen in den Maschinenschuppen.

Der Stationsleiter war von der Sturmwelle zwischen die Bruchstücke eines Gittermastes geschleudert worden. Dieser Umstand hatte ihn vor dem Tode des Erstickens bewahrt, da die Schneemassen in dem sperrigen Gitterwerk einen Hohlraum ließen. Aber er hatte bei dem Anprall Kontusionen davongetragen und stöhnte schwer, als Hagemann es versuchte, ihn durch Reiben und Massieren aus der Ohnmacht zu erwecken.

»Vorsichtig, Sie Gewaltmensch! Vorsichtig!« unterbrach Schmidt die Tätigkeit Hagemanns. »Es könnte was gebrochen sein.« Der Doktor griff selbst mit zu, und nach vielem Mühen schlug Dr. Wille unter den Händen der beiden endlich die Augen auf. Doch es bedurfte längerer Zeit, bis er wieder vollständig zu sich kam. Der Unfall hatte ihn viel schwerer mitgenommen als seinen Assistenten, und die Verletzungen an der rechten Schulter schienen nicht unbedenklich zu sein.

Hagemann griff auch hier zu seinem Universalmittel und flößte dem Verletzten eine tüchtige Portion Kognak ein. Während er noch damit beschäftigt war, schien sich Dr. Schmidt mit einem Rechenexempel zu befassen. Jetzt kam er damit heraus.

»Wir waren fünf. Wo sind die andern zwei?«

»Die beiden andern, Herr Doktor? Lorenzen und Rudi! Die waren ja in der Funkerbude. Ich will gleich nachsehen.«

Er lief wieder ins Freie hinaus, Dr. Schmidt folgte ihm. Mit der Reflektorlampe leuchteten sie die Gegend ab. Eine Lücke dort, wo vorher noch der Funkraum stand. Hagemann griff sich an den Kopf.

»Verflucht und dreimal zugenäht! Die ganze Bude ist weggeflogen. Weiß der Teufel, wohin. Schöne Geschichte, das.«

Schmidt unterbrach ihn.

»Allzuweit wird der Sturm sie nicht mitgenommen haben. Wir müssen sie suchen. Vorwärts! Los, Hagemann!«

Das war leichter gesagt als getan. Das Kabel der Reflektorlampe reichte eben nur bis zu der Stelle hin, wo die Funkerbude gestanden hatte. Darüber hinaus mußten sie im Dunkeln weitertappen. Nur allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das unsichere Sternenlicht, und dann entdeckten sie einige 60 Meter hinter dem Stationshaus einen Schneehügel, in dem die vermißte Bude möglicherweise stecken mochte.

Dr. Schmidt schüttelte den Kopf.

»In der Dunkelheit ist nichts zu machen.«

»Das wollen wir schnell haben, Herr Doktor«, rief ihm Hagemann zu. »In fünf Minuten brennt hier elektrisches Licht.«

Er eilte zum Maschinenhaus zurück und begann dort allerlei zu basteln und zu schalten. Fünf Minuten später kehrte er zu Dr. Schmidt zurück, ein Kabel hinter sich herschleifend, eine brennende Starklichtlampe in den Händen, mit der er den verdächtigen Hügel von allen Seiten anstrahlte. Da stellte sich der wahre Sachverhalt denn schnell heraus.

Es war eine jener felsigen Erhebungen, etwa 25 bis 30 Meter hoch, wie sie in dieser Gegend häufiger vorkommen. An der steilen Wand, die der Station zugekehrt war, hatte der Orkan den Schnee zu einer riesigen Wehe zusammengewirbelt. Aus der weißen Masse ragte das Ende eines abgebrochenen Balkens hervor, von dem Hagemann mit Bestimmtheit behauptete, daß er zur Funkerbude gehöre. Dr. Schmidt überprüfte die Lage mit der objektiven Sachlichkeit des Gelehrten.

»Der Sturm hat die Funkerbude 60 Meter mit durch die Luft gerissen und gegen den Felsen geschleudert«, begann er dann zu dozieren, als ob er in Deutschland auf seinem Katheder stünde. »Die Bude hätte zertrümmert, unsere beiden Jungen hätten zerschmettert werden müssen, wenn nicht . . . ja sehen Sie, Hagemann, das ist das Gute dabei, daß Pulverschnee besser fliegt als die schwere Funkerbude.«

Hagemann sah ihn verständnislos an. Er begriff nicht, wo der Doktor mit seinen Erklärungen hinauswollte. Der fuhr unentwegt fort.

»Erst mal hat der Sturmstoß hier eine dicke Schneewehe hingeblasen. Dann erst kam die Funkerbude angesegelt, und weil sie in den weichen Schnee fiel, kann der Anprall nicht so schlimm gewesen sein. Passen Sie auf, wir finden die beiden gesund und munter vor.«

Unwillkürlich ergriff Hagemann Dr. Schmidts Rechte und drückte sie: »Wenn Sie recht hätten, Herr Doktor. Wenn wir die Jungens lebendig herausholten . . .«, er hatte bereits die Schaufel in der Hand und begann mit aller Macht zu graben.

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte Schmidt und ging, um sich auch eine Schaufel zu holen. Im Maschinenschuppen fand er Dr. Wille in etwas besserer Verfassung vor. Nur der rechte Arm schmerzte bei jeder Bewegung. Schmidt knotete ein passendes Stück Kabel zusammen und legte ihm damit den kranken Arm in eine Schlinge. Dann kehrte er zu Hagemann zurück, und die beiden gruben zusammen weiter. Schon hatten sie um das Pfahlstück herum eine mannshohe Schneeschicht weggeräumt, da stießen sie auf Holzwerk und sahen, was eigentlich geschehen war. Die Bude hatte sich während ihrer unfreiwilligen Luftfahrt vollkommen überschlagen und steckte mit der Decke nach unten im Schnee.

»Dumme Geschichte, wenn die Jungens dabei die schweren Apparate auf den Kopf gekriegt haben«, brummte Schmidt. Hagemann grub schon an der einen Seitenwand weiter. Dann zerklirrte eine Fensterscheibe unter dem Stoß seiner Schaufel. Er brachte die Lampe heran und leuchtete in den Raum.

Es sah drinnen wild aus. Apparate, Möbelstücke, Reserveteile lagen wirr durcheinander in einer Ecke. Aber als Hagemann den grellen Lichtkegel darauf richtete, regte sich etwas dazwischen. Eine Stimme ließ sich vernehmen. Es war Rudi Wille, der sich als erster aus dem Chaos herausarbeitete. Er war unverletzt. Schon stand er auf seinen Füßen, begann Teile des Haufens beiseite zu zerren, und dann war auch Lorenzen frei. Er hatte ein paar tüchtige Beulen abbekommen, sein Schädel brummte, aber sonst war er heil und munter. Mit Hagemanns Unterstützung kamen die beiden zum Fenster heraus und gingen mit zur Station zurück. Sie hatten Eile dorthin zu gelangen, denn sobald sie ins Freie kamen, spürten sie die Kälte empfindlich.

»Der Schnee«, murmelte Schmidt vor sich hin. »Der Schnee hat uns gerettet. Ohne den wären wir alle erfroren. Ein Glück bei allem Unglück, daß der verteufelte Orkan uns alle in den Pulverschnee gepackt hat.« – –

»Ich habe bannigen Hunger«, sagte Lorenzen, Dr. Schmidt sah auf die Uhr.

»Kann ich begreifen, Lorenzen, vor sechs Stunden hatten wir die Absicht zu Abend zu essen.«

»Da räumt ihr beiden mir mal erst den Schnee aus der Küche«, wandte sich Hagemann an Rudi und Lorenzen. »Ich will inzwischen eine Notleitung ziehen und den Herd wieder anschließen. Wie denkt ihr über Roastbeef mit Bratkartoffeln?«

Die Aussicht auf etwas Derartiges gab den beiden Riesenkräfte. Als Hagemann die neue Leitung an den Herd schraubte, war die letzte Schneeflocke aus der Küche entfernt. Dann brannte auch hier elektrisches Licht, Dr. Schmidt kam dazu und begutachtete die Lage.

»Wenn wir jetzt mit vereinten Kräften die beiden Wände wieder aufrichten können, und wenn es uns gelänge, auch noch das Dach wieder darauf zu legen, so könnte es hier ganz erträglich werden.«

Für drei kräftige Männer, denen die Not im Nacken saß, war die Aufgabe nicht unlösbar. Alle Teile der Stationsgebäude, Wände und Decken bestanden aus Holzfachwerk mit vielfacher Asbest- und Luftisolierung. Nach einem neuen Verfahren hergestellt, gewährten sie einen vorzüglichen Schutz vor der Kälte und waren trotzdem verhältnismäßig leicht.

Unter dem Kommando Schmidts machten die drei sich an die Arbeit. In kurzer Zeit hatten sie die beiden fortgewehten Wände wieder herangeschleppt und aufgerichtet. Viel größere Schwierigkeiten machte ihnen das Aufbringen der Decke. Sie mußten dazu die eine Wand wieder niederlegen und mußten sich in Sturm und Kälte ein Gerüst bauen, mußten alle vier im Schweiß ihres Angesichtes heben und würgen, bis es nach stundenlanger Arbeit endlich gelang und die Oberkanten der Wände richtig in die Randnuten des Daches sprangen.

»Uff! Das wäre geschafft!« sagte Hagemann und warf seinen Pelz ab. Sowie der Küchenraum wieder geschlossen war, begann der elektrische Herd als Ofen zu wirken und verbreitete eine behagliche Wärme. »So, jetzt wird weiter gebraten«, fuhr er fort und befaßte sich mit dem Roastbeef, dessen Werdegang durch die Sturmkatastrophe jäh unterbrochen wurde. Dr. Schmidt winkte Rudi.

»Kommen Sie, Rudi! Wir wollen Ihren Vater holen. Es ist Zeit, daß er ins Warme kommt.«

Er hatte damit nicht unrecht. Wohl hatten sie Dr. Wille in dem offenen Maschinenraum mit allen erreichbaren Pelzen und Kleidungsstücken zugedeckt, aber eine Kälte von 40 Grad dringt schließlich durch die stärksten Hüllen.

Nun waren sie zu fünft in der kleinen Küche. Es war reichlich eng, aber sie hatten wenigstens Wärme, Licht und Nahrung und waren für den Augenblick gerettet.

Das Roastbeef, das Hagemann ihnen vorsetzte, war allen Lobes wert. Die Kartoffeln aber waren so süß, daß keiner eine rechte Freude daran hatte.

»Kein Wunder«, bemerkte Dr. Schmidt, »die haben stundenlang in der Kälte gelegen, sind steinhart gefroren gewesen.«

Hagemann fuhr auf: »Unser Vorratsraum, verfluchte Geschichte, wenn die zwanzig Zentner Kartoffeln da auch gefroren sind.«

Schmidt zuckte gleichmütig die Achseln. »Das wird wohl so sein, Hagemann. Schadet auch nichts. Die Vitamine, auf die es uns ankommt, zerstört der Frost nicht. Daß er Stärkemehl in Zucker verwandelt . . . na, dann werden wir eben für die nächste Zeit süße Kartoffeln essen müssen.« – –

Die gute Mahlzeit, die Wärme, das Gefühl vorläufigen Geborgenseins . . . alles zusammen ließ jetzt Müdigkeit aufkommen. Wie sie saßen und lagen, schlief einer nach dem andern ein. Der lange Schmidt war der letzte. Doch während er seine Uhr aufzog, fielen auch ihm die Augen zu. – –

Ein langer Schlaf gab den Ermatteten neue Kraft und frischen Lebensmut. Mit vereinten Kräften gelang es danach auch, den Maschinenschuppen wieder instand zu setzen. So hatten sie wenigstens zwei Räume, in denen sie vorläufig leben konnten.

Hoffnungslos aber war der Zustand des eigentlichen großen Stationshauses. Hier hatte die Explosionswelle derart gewütet, daß eine Wiederherstellung, ein Wohnlichmachen dieser Räume bei ihren geringen Hilfsmitteln ausgeschlossen war. Nur mit Mühe und nicht ohne Gefahr gelang es Hagemann, einige Kleidungsstücke und andere unentbehrliche Dinge aus dem Trümmerhaufen herauszuholen.

Ganz trostlos stand es schließlich um die Funkstation. Was dort an Apparaten vorhanden gewesen, war bei der Katastrophe restlos zu Bruche gegangen. In scherzhaftem Übermut hatte Rudi vorher geplant, aus den zahlreich vorhandenen Reserveteilen neue Sender und Empfänger zu bauen. Jetzt war die schnelle Ausführung dieses Planes eine bittere Notwendigkeit geworden. Das Schicksal der Station, ihr Leben würde davon abhängen, ob es ihnen gelänge, neue Geräte zu schaffen und mit der Welt in Verbindung zu treten.

*

In Begleitung von Oberingenieur Vollmer ging Professor Eggerth über den Werkhof auf die Stelle zu, wo ›St 8‹ startbereit lag.

Er wollte sich von der Besatzung des Stratosphärenschiffes verabschieden und seinem Sohn noch besondere Mitteilungen für Dr. Wille mitgeben. Eben betrat er die leichte Aluminiumtreppe, die noch an den Schiffsrumpf angelehnt stand, als ein Mann über den Hof gelaufen kam. Schon von weitem rief er und schwenkte ein Blatt Papier in der Hand. Es schien eine wichtige Nachricht zu sein.

Professor Eggerth drehte sich um und erkannte den zweiten Werkfunker. Vom schnellen Laufen außer Atem, kam er heran. »Wir haben eben Verbindung mit der Südpolstation bekommen.«

Der Professor griff nach dem Blatt und warf einen Blick drauf. Neugierig, was es da plötzlich gab, war Hein Eggerth in die Schiffstür getreten.

»Noch nicht starten! Wille funkt!« rief ihm sein Vater zu und machte sich auf den Weg zur Funkstation des Werkes.

»Start verschoben! Wille funkt!« gab Hein den Ruf in das Schiff weiter und lief dem Alten nach. –

»Was gibt's, Lohmüller?« fragte Professor Eggerth, als er in die Station trat. Der Funker, die Kopfhörer aufgestülpt, saß am Empfänger und schrieb im Eiltempo mit, was aus der Antarktis gesendet wurde. Ohne aufzusehen, schob er dem Professor mehrere engbeschriebene Blätter zu. Der nahm und las. Ließ sich dabei auf einen Stuhl nieder und las sitzend weiter. Die ganze lange Geschichte des Elendes, das die Station betroffen hatte. Der unerklärliche Ausbruch eines plötzlichen fürchterlichen Orkanes. Die Verheerungen, die das entfesselte Element angerichtet hatte. Die Schicksale der fünf Expeditionsteilnehmer. Wie sie seit Wochen im Maschinenraum und der kleinen Küche hausen mußten. Wie es ihnen nach vielen Fehlschlägen endlich gelang, neue Funkgeräte zu bauen und an notdürftig geflickten Masten eine Notantenne hochzubringen.

Als er die letzte Zeile las, schob ihm der Funker schon wieder ein neues Blatt hin. Die dringende Bitte um Hilfe. Der Betriebsstoff für das Maschinenaggregat reichte nur noch für drei Tage. – –

Die Nacht über herrschte reges Leben auf dem Hof. Aus allen Abteilungen des Werkes wurden Hilfskräfte herangezogen. Manches von dem, was im Rumpf von ›St 8‹ verstaut war, mußte wieder ausgeladen werden. Andere Dinge, die vielfach erst mit Kraftwagen aus benachbarten Städten herbeigeschafft wurden, kamen dafür hinein. Fast ununterbrochen stand die Funkstation des Werkes mit der antarktischen Station in Verbindung. Neue Hoffnung regte sich wieder in den Herzen von fünf Menschen, die am Verzweifeln waren. –

Um die fünfte Morgenstunde begannen die Motoren von ›St 8‹ zu arbeiten. Das Schiff erhob sich in die Stratosphäre und stürmte auf fünfzehn Grad östlicher Länge nach Süden.

Es blieb nicht das einzige seiner Art, das an diesem Tage das Werk verließ. Wenige Stunden später folgten ihm ›St 9‹ und ›St 10‹ auf dem gleichen Kurs. ›St 9‹ hatte zwanzig Werkleute und reichliches Ersatzmaterial an Bord. In ›St 10‹ flog Professor Eggerth selber mit.

*

Auf den August war im Laufe der letzten aufregenden Wochen der September gefolgt. Die lange Polarnacht der Antarktis begann heller zu werden. Schon kündete ein leichter Schein, der in 24 Stunden um den Horizont herumwanderte, das höher kommende Tagesgestirn an. Das Morgengrauen eines neuen Polartages lag über dem endlosen Schneefeld und ließ die Zerstörungen, von denen die Station betroffen worden war, in ihrer ganzen Größe erkennen. Aber nun war das Schwerste überwunden, die Verbindung mit der Außenwelt war nach langer verzweifelter Arbeit wieder hergestellt, Hilfe war zugesagt, das rettende Schiff bereits unterwegs. –

Dr. Schmidt stand mit Hagemann auf dem Hof und spähte in den dämmernden Himmel nach Norden.

»Von da müssen sie kommen, Hagemann.«

Hagemann folgte der weisenden Hand des Doktors mit unruhigem Blick. »Hoffentlich recht bald, Herr Doktor. Ich will meinem Schöpfer danken, wenn sie erst hier sind.«

Schmidt warf ihm einen fragenden Blick zu. »Warum auf einmal so pressiert, Hagemann? Auf ein paar Stunden kommt es doch nicht an.«

»Doch, Herr Doktor. Ich habe es Ihnen damals nicht gesagt, um Sie nicht noch mehr zu beunruhigen. Unser Motor hat bei der Geschichte damals auch einen Knacks abbekommen. Er hat einen Sprung im Zylinderblock.«

Dr. Schmidt vermochte seinen Schreck nicht zu verbergen.

»Der Motorzylinder gesprungen, Hagemann? Pfui Teufel, das ist ernst! Was haben Sie dagegen getan?«

»Zuerst war der Sprung nur im äußeren Kühlmantel. Da habe ich mit Kitt und Bandagen so gut gedichtet, wie es ging. Aber der Block ist in den letzten Tagen noch weiter nach innen zu gerissen. Es kommt jetzt bei jedem Kolbenhub etwas Kühlwasser in die Zylinder. Seit 12 Stunden läuft der Motor unregelmäßig. Sie können es hier hören, wie er manchmal aussetzt.«

Dr. Schmidt lauschte in die frostige Luft. Jetzt hörte er das Tacken des Motors . . . jetzt blieb es aus . . . jetzt kam es stoßweise wieder. Aber unregelmäßig waren die Explosionstakte. Schlägen eines kranken Herzens glichen sie, das zum Sterben kommt. Nur noch kurze Minuten, dann stand der Motor still.

Hagemann eilte zum Schuppen. Als er die Tür aufriß, quoll ihm dichter Dampf entgegen. Der Druck der letzten Motortakte hatte die Bruchstelle weit aufgerissen und das heiße Kühlwasser durch den Raum verspritzt. Der Motor, von dessen Arbeit das Leben der Station abhing, war niedergebrochen.

Dr. Schmidt zog den Pelz dichter um seine Schultern. Ihn fröstelte bei dem Gedanken, daß in diesem Moment auch die elektrische Heizung aufhörte, daß die grimmige Kälte nun langsam, aber unwiderstehlich in ihre kargen Zufluchtsräume eindringen würde. Wie lange würden sie ihr widerstehen können? –

Hagemann deutete zum Zenit. »Da, Herr Doktor! Ein Flugschiff!«

Ein winziges Pünktchen war es, das seine scharfen Augen dort eben erspäht hatten. Es dauerte geraume Zeit, bis auch Schmidt es sah, da war es schon größer geworden. Schnell kam es tiefer, wuchs dabei immer mehr, bis der mächtige Rumpf von ›St 8‹ dicht über ihnen schwebte, dicht neben ihnen landete. Eine Tür wurde geöffnet, ein Laufsteg ausgeworfen, dann hielt Hein Eggerth den langen Doktor in den Armen und wirbelte ihn in der Freude des Wiedersehens auf dem Schneefeld herum, bis beiden der Atem knapp wurde. Hansen kam dazu:

»Eine nette Bruchbude habt ihr hier!« sagte er und besah sich mit Kennerblicken den eingestürzten Mittelbau. »Wie habt ihr denn das angestellt?«

Hagemann zuckte die Achseln: »Ist wirklich nicht unsere Schuld, Herr Hansen. Der Teufel mag es wissen, wie der Orkan so plötzlich die ganze Station auf den Kopf stellte?«

Hansen zog es vor, auf diese Frage keine Antwort zu geben, über alles, was mit dem großen Meteor zusammenhing, sollte ja – darüber waren sich die drei Piloten von ›St 8‹ einig – allen anderen gegenüber Schweigen bewahrt werden.

Als dritter kletterte Berkoff aus dem Schiff und warf einen kurzen Blick auf die Station und meinte achselzuckend zu Eggerth: »Das kriegen wir drei allein auch nicht weiter ins Lot.«

»Und der Motor, Herr Berkoff«, sagte Hagemann, »unser Motor ist uns vor einer halben Stunde auch zum Teufel gegangen. Es wird kalt in unsern Löchern da drüben.«

»Um so molliger ist es bei uns im Bauch von ›St 8‹«, unterbrach ihn Hansen. »Da wollen wir uns die Sache mal erst in Ruhe überlegen.« – –

Und dann saßen sie alle acht gemütlich zusammen im Mittelraum des Stratosphärenschiffes. Der lange Schmidt und Dr. Wille, dessen Arm in den vergangenen Wochen wieder in Ordnung gekommen war, Rudi, Lorenzen und der wackere Hagemann, der sich sofort in der Schiffskombüse nützlich machte. Begreiflicherweise drehte sich das Gespräch in erster Linie um die Katastrophe und die möglichen Ursachen. Dr. Wille stellte eine geistvolle Hypothese darüber auf, Dr. Schmidt widersprach ihm, und in Kürze waren die beiden gelehrten Häuser in einen endlosen Disput verwickelt. Die Zeit verstrich darüber, bis Hagemann sich eine Bemerkung erlaubte.

»Geschehen ist geschehen, Herr Doktor. Unsere Station liegt in Klump. Wie können wir sie wieder in Ordnung bringen?«

Sein Einwand riß die beiden Doktoren aus ihren Theorien und brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Schmidt betrachtete prüfend die um ihn Versammelten.

»Leicht wird's nicht sein, Herr Eggerth. Aber wenn Sie ordentlich Hebezeuge mitgebracht haben, könnte es schließlich doch wohl gehen.«

Hein Eggerth lächelte in sich hinein. Nach einem verstohlenen Blick auf seine Uhr meinte er: »Kommt Zeit, kommt Rat, Herr Dr. Schmidt! Wir werden schon Mittel und Wege finden, um die Geschichte in Ordnung zu bringen.«

Und dann verstand er es geschickt, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Es gab ja auch soviel zu erzählen von den gemeinsamen Bekannten in Deutschland, von den neuen Erfolgen der Eggerth-Werke und von vielen anderen mehr.

Die Stunden gingen darüber hin, da brauste es in den Lüften. Neben ›St 8‹ legte sich ›St 9‹ auf das Schneefeld, und kaum ruhte es auf dem Boden, da senkte sich ›St 10‹ aus der Höhe herab und legte sich daneben.

»Was, was ist das?« fragte Dr. Wille erstaunt.

»Ich sagte es Ihnen ja«, lachte Eggerth, »kommt Zeit, kommt Rat. Jetzt werden wir den Kram hier schnell ins Lot kriegen.«

Noch während er es sagte, öffnete sich die große Ladeluke von ›St 9‹. Ein Schwarm von Werkleuten quoll heraus. Unter dem Kommando eines Ingenieurs wurden Hebezeuge aufgestellt und Bauteile aller Art aus dem Schiff ins Freie gebracht.

»Wir wollen uns die Sache aus der Nähe besehen und auch ›St l0‹ begrüßen«, schlug Eggerth vor. »Kommen Sie mit, Dr. Wille? Mein Vater wird sich freuen, Sie wieder zu sehen.« – –

In den nächsten Stunden war es, als wären die Heinzelmännchen über die Station gekommen. Maste wuchsen im Laufe weniger Stunden in die Höhe. Bald leuchteten von ihren Spitzen wieder starke Lampen, vorläufig noch von der Maschine von ›St 8‹ gespeist, und übergossen die Station mit Tageshelle.

Dann war ›St 9‹ restlos ausgeräumt, leer wie eine taube Nuß, während Bauteile aller Art daneben lagerten. Aber das Wichtigste, eine neue Kraftmaschine fehlte. Man hatte nicht damit gerechnet, daß die alte zu Bruche gehen könnte, weil davon nichts in den Funksprüchen zu lesen stand. Da hieß es für ›St 9‹ noch einmal nach Deutschland zurückzujagen und schnellstens eine Reservemaschine heranzuschaffen.

Auch im günstigsten Fall bedeutete das einen Zeitverlust von 48 Stunden, und für die nächsten Tage waren die fünf von der Station auf die Gastfreundschaft von ›St 8‹ angewiesen, denn kurz nach dem Start von ›St 9‹ stieg auch ›St 10‹ auf. Nur die drei Piloten von ›St 8‹ waren in diesem Schiff und außerdem Professor Eggerth selbst. Über das Ziel ihres Fluges hatten sie sich gründlich ausgeschwiegen.

Mit Nordkurs verließ das Schiff die Station. Erst als deren Gebäude am Horizont versunken waren, drehte es in weitem Bogen nach Süden zurück und nahm Kurs auf die Einschlagstelle des Boliden. –

Eintönig dehnte sich das verschneite, vereiste Land unter dem dahinstürmenden Stratosphärenschiff . . . eine halbe Stunde . . . und noch eine Viertelstunde. Dann verschwand das Weiß, rostrot und braun trat das nackte Gestein zutage. Es sah aus, als ob hier ein Riesenbesen gefegt und in weitem Umkreis jeden Schneefleck beseitigt hätte. Tiefer ging ›St 10‹. In verlangsamtem Flug strich es in 2000 Meter Höhe über das Land hin. Da wurde der Boden wieder weiß, aber nicht Schnee war es, der ihm die Farbe gab. Dichte Nebelbänke lagerten über dem Boden.

Professor Eggerth blickte nachdenklich in die Tiefe, während sein Sohn zu ihm trat.

»Ich fürchte, Hein, wir kommen noch zu früh. Der Widerstreit der polaren Kälte mit der Hitze der Aufschlagstelle . . . das muß Nebel geben wie überall, wo heiße und kalte Luft zusammentreffen. Wer weiß, wie lange das noch dauert, bis es hier wieder klare Sicht gibt.«

Berkoff kam mit einer neuen Ortsbestimmung in den Raum.

»Wir sind noch 200 Kilometer von der richtigen Stelle entfernt.«

Der Professor schüttelte den Kopf. »So starke Nebelbildung bis auf 200 Kilometer Entfernung. Ungeheure Wärmemengen müssen beim Aufprall des Meteors freigeworden sein.«

Hansen setzte den Kurs des Schiffes noch tiefer. Dicht über der Nebelbank glitt es dahin, verschwand bisweilen auf Sekunden in der milchigen Masse. Berkoff warf einen Blick auf den Höhenzeiger. »Die Nebelbank wird flacher, Herr Professor. Wir fliegen nur noch in 700 Meter Höhe. Nach Kurs und Log sind wir noch 100 Kilometer vom Sturzpunkt ab.«

Professor Eggerth nickte. Er schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber. In langsamem Flug glitt das Schiff weiter über den Nebel dahin. Schon mußten sie die Hubschraube in Betrieb nehmen, um nicht durchzusacken. Immer tiefer sank das Schiff dabei . . . 300 . . . jetzt nur noch 200 Meter hoch war es über dem Land.

»Wie weit noch, Herr Berkoff?« fragte Professor Eggerth.

»Noch 40 Kilometer.«

Der Professor griff sich an die Stirn.

»Ein Ringnebel? . . . Es wäre möglich, ja das muß es sein, es kann gar nicht anders sein.«

»Wie meinst du, Vater?«

Professor Eggerth deutete durch das Fenster nach unten. Nur noch schwacher Dunst lag unter dem Schiff, hin und wieder wurde der felsige Boden deutlich sichtbar.

»Ich meine«, sagte Professor Eggerth, »daß wir jetzt landen.«

»Wir sind aber noch 20 Kilometer vom Ziel entfernt«, warf Berkoff ein.

»Trotzdem wollen wir erst landen. Bitte, Herr Hansen.«

Hansen schaltete die Horizontalpropeller aus. Das Schiff hing nur noch an seiner Hubschraube und senkte sich langsam zu Boden.

Berkoff wollte dem Professor seinen Pelz bringen. Der winkte lächelnd ab.

»Nicht nötig, lieber Berkoff! Ich vermute, wir werden es draußen eher zu warm als zu kalt finden.«

Eine Tür im Schiffsrumpf wurde geöffnet und milde Luft schlug ihnen von draußen entgegen. Fast 40 Grad unter Null zeigte das Thermometer in der Station, als sie fortflogen. Hier herrschten dagegen mehrere Grad Wärme. Professor Eggerth stieg aus dem Schiff und berührte den Felsboden mit den Händen. Er hatte die gleiche milde Temperatur, wie die Luft darüber.

»Wir wollen sehen, wie weit wir kommen«, sagte der Professor, als er ins Schiff zurückkam, und gab Befehl, in 150 Metern Höhe langsam weiterzufliegen. Ein Fenster im Kommandoraum ließ er offen. Immer angenehmer, immer frühlingshafter strömte die Luft während des Weiterfluges in den Raum. Dabei nahm die Dunkelheit wieder zu. In der hohen Breite hier war die Strahlung des höherkommenden Tagesgestirns noch nicht merkbar. Professor Eggerth ließ die beiden starken Scheinwerfer des Schiffes anstellen und schräg nach unten richten. Eine breite grellbeleuchtete Fläche huschte vor dem langsam fliegenden Schiff auf dem Felsboden dahin. Zehn Kilometer waren sie noch von ihrem Ziel entfernt, als er zum zweiten Male landen ließ. Ein Felsstück, das im Licht der Scheinwerfer funkelnd aufglänzte, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. In Begleitung seines Sohnes ging er darauf zu. Die andern wollten ihm folgen.

»Bleiben Sie beide an Bord!« rief er ihnen zu, »es ist nicht ratsam, ›St 10‹ hier unbemannt zu lassen. Ein unglücklicher Zufall, und wir wären alle verloren.«

Kopfschüttelnd sahen ihm Berkoff und Hansen nach. Was sollte wohl hier passieren, wo sich in der lauen Luft nicht der geringste Hauch rührte?

Professor Eggerth blieb vor dem glänzenden Brocken stehen. Es war ein verhältnismäßig kleines Erzstück. Ein Volumen von höchstens zehn Litern mochte es haben. Der Professor bückte sich, um es aufzuheben. Es gelang ihm nicht. Sein Sohn kam ihm zu Hilfe, aber auch mit vereinten Kräften glückte es ihnen eben nur, das Erzstück umzukanten. Hein mußte zum Schiff zurückgehen und Berkoff holen. Erst zu dritt vermochten sie den Brocken die kurze Strecke bis zum Schiff zu schleppen.

»Alle Wetter! Der hat's in sich!« rief Berkoff und wischte sich aufatmend die Stirn. »Was für Zeug mag das sein?«

Der Professor stand geraume Zeit nachdenklich vor dem Findling.

»Das wird sich bald herausstellen«, beantwortete er die Frage Berkoffs, »mir scheint, wir haben keinen schlechten Griff getan. Vielleicht entdecken wir noch mehr von der Sorte. Achten Sie bitte darauf, wenn wir jetzt weiterfliegen.«

Kaum 50 Meter über dem Boden glitt das Schiff langsam vorwärts. Da blitzte es wieder auf. Eine neue Landung. Wieder wurde ein metallischer Brocken gefunden, diesmal so groß und gewichtig, daß sie ein Hebezeug holen mußten, um ihn an Bord bringen zu können. Und je weiter sie kamen, desto öfter wiederholte sich das. Wohl ein Dutzend solcher Fundstücke im Gesamtgewicht einer Tonne etwa hatten sie schließlich im Schiff.

»Ein schweres Bombardement ist das gewesen«, sagte der Professor. »Der Bolide hat nicht schlecht um sich gestreut. Selbst wenn wir nicht mehr viel weiterkommen, so wissen wir jetzt doch, was wir wissen wollten.«

Die Befürchtung, daß ein weiteres Vordringen bald unmöglich werden könne, war nicht von der Hand zu weisen. Es herrschte draußen eine fast tropische Temperatur und auch der Boden war an der letzten Landungsstelle schon reichlich warm.

»Noch etwa drei Kilometer dürften wir von der Sturzstelle entfernt sein«, meldete Berkoff. In der Tat begann das Gelände jetzt sehr merklich zu steigen. Das Schiff war an dem äußeren Hange des Kratergebirges angekommen, das der Bolide bei seinem Anprall aus der Ebene emporquellen ließ.

Mit geringster Geschwindigkeit glitt es dicht über dem Boden den Abhang hinauf. Im Licht der Scheinwerfer blinkte es auch hier an zahlreichen Stellen metallisch auf, aber der Professor sah im Augenblick von einer Landung ab.

Nun hatte das Schiff den Kamm des Kratergebirges erreicht. Wild, zackig und zerrissen sah der scharfe kreisförmige Grat aus, wie man es wohl durch ein gutes Fernrohr an den Ringgebirgen des Mondes beobachten kann. Sanft stieg das Land von außen her an, doch jenseits des Kammes fielen die Kraterwände nach innen zu fast senkrecht ab. ›St 10‹ hing über der klaffenden Wunde, die der Bolide bei seinem Sturz in die Erdkruste geschlagen, und ließ seine Scheinwerfer in die Tiefe spielen. Leichte Dunstschwaden wallten im Grunde etwa 200 Meter unter dem Schiff. Wo sie lichter wurden, schimmerte der Kraterboden unter den Scheinwerferstrahlen in tausend Reflexen.

Hansen führte die Rechte zu einem Hebel. »Sollen wir sinken?«

Der Professor schüttelte den Kopf: »Noch nicht!«

Er trat zu dem geöffneten Fenster und beugte sich hinaus. Unerträglich warm schlug ihm die Luft entgegen. Irgendwelche Gase mußte sie enthalten, die ihn einen Augenblick schwindeln machten und zum Husten zwangen. Mit jähem Ruck schloß er das Fenster.

»Steigen! Schnell steigen!« schrie er Hansen zu.

Stärker wirbelte die Hubschraube, ›St 10‹ stieg und schob sich gleichzeitig mit seinen Horizontalpropellern von der Kratermündung fort. Als es wieder über dem Außenhang stand, befahl Professor Eggerth zu landen.

»Was hast du beschlossen?« fragte Hein, als das Schiff aufsetzte. Professor Eggerth sah blaß aus, wie wenn noch ein großer Schreck in ihm nachwirkte. Es dauerte eine Weile, bevor er zu sprechen begann.

»Das hätte böse ausgehen können. Der Krater ist mit Gasen . . . wahrscheinlich mit Kohlenwasserstoffgasen bis zum Rande gefüllt. Ein wenig tiefer noch und unsern Motoren hätte die Verbrennungsluft gefehlt. Wir wären mit unserem Schiff in die Tiefe gestürzt und zerschellt.«

Er machte eine Bewegung, als ob er den Gedanken an die eben überstandene Gefahr abschütteln wollte, sprach dann ruhig weiter:

»Trotzdem . . . das Wagestück hat sich gelohnt. Sie alle haben es da unten auf dem Kratergrunde wohl schimmern gesehen. Für mich ist es sicher, daß der Bolide in seiner Hauptmasse aus den gleichen Stoffen besteht, wie die Brocken, die wir vorher fanden. Wir wollen sehn, ob wir hier noch mehr davon entdecken können.«

Auf seinen Wink hob sich das Flugschiff wieder einige Meter empor und trieb langsam den Hang entlang. Die Stunden verstrichen, während ›St 10‹ das Ringgebirge absuchte. Ein paar dutzendmal lockte glänzender Schimmer sie zu neuer Landung. Der Boden war heiß hier, so heiß, daß er ihre Sohlen fast versengte. Jedesmal brachten sie dabei Stücke jenes schweren glänzenden Metalls in das Schiff, die der Bolide bei seinem Sturz so reichlich verstreut hatte. Mehrere Tonnen des unbekannten Sternenstoffes hatten sie an Bord, als die Umfahrt über dem Kratergebirge vollendet war.

Noch einmal machte Berkoff eine genaue Ortsbestimmung, während Hein Eggerth eine Skizze des Geländes entwarf. Sie zeigte eine ziemlich genau kreisförmige Krateröffnung von 1200 Metern im Durchmesser, umgeben von einem etwa 300 Meter hohen Ringgebirge, das nach außen hin gleichmäßig abfiel und in die umgebende Ebene auslief. Der Professor nahm ihm das Blatt ab und steckte es in seine Brieftasche.

»Das soll die Unterlage werden, Hein«, sagte er dabei, »nach der wir unsere künftigen Pläne ausarbeiten wollen. Jetzt wieder Kurs auf die Station von Wille und absolutes Stillschweigen über alles, was wir hier gesehen haben.«

Mit voller Motorenkraft schoß das Schiff von dannen. Bald lag wieder die eisige Antarktis unter ihm, und die Dunkelheit wich allmählich grauer Dämmerung. Der helle Schein der neuen Lampen wies ihnen die Station, das Knarren von Kränen und das Geräusch von Hammerschlägen drang zu ihnen, als das Schiff sich senkte. Nur etwa sechs Stunden hatte die Exkursion von ›St 10‹ beansprucht. Rüstig waren währenddem die Arbeiten in der Station fortgeschritten. Starke Kräne rissen die Trümmer des niedergebrochenen Mittelbaus auseinander, hier eine Wand, dort ein Stück Dach. Vieles davon war hoffnungslos zerknickt und zerbrochen. Manches aber war beim Einsturz unversehrt geblieben und konnte für den späteren Wiederaufbau verwendet werden. Für das Zerstörte boten die Baustapel, die ›St 9‹ zurückgelassen hatte, reichlich Ersatz. Besonders schwer hatte, wie es sich jetzt beim Aufräumen herausstellte, das Observatorium gelitten. Von der niederstürzenden Deckenkonstruktion waren die empfindlichen Meßinstrumente übel mitgenommen worden. Keine einzige der vielen Vakuumröhren war heil geblieben.

Kopfschüttelnd besah sich Professor Eggerth die Stätte der Zerstörung.

»Sie haben Glück gehabt, Herr Dr. Wille, daß die Katastrophe Sie nicht in Ihrem Observatorium überraschte. Da wären Sie kaum mit dem Leben davongekommen.«

Dr. Wille sprang gerade zur Seite, um nicht von einem niedergehenden Kranhaken gefaßt zu werden. Die Worte des Professors hörte er kaum. Sein ganzer Schmerz galt den vernichteten Instrumenten. Verzweifelt suchte er zwischen den Trümmern herum, immer noch hoffend, daß der eine oder andere Apparat der Zerstörung entgangen sein mochte. Mit einiger Gewalt mußten die Werkleute ihn schließlich von der Stelle fortziehen, wo er sie störte und sich selbst gefährdete. – –

Planmäßig gingen die Arbeiten weiter. Oberingenieur Großmann hatte seine zwanzig Mann in zwei Schichten geteilt, die sich alle sechs Stunden an der Baustelle ablösten. So konnte ohne Unterbrechung mit stets frischen Leuten gearbeitet werden.

Zweimal war der Dämmerschein heller und immer heller werdend um den Horizont gewandert, da kam ›St 9‹ zurück. In seinem Rumpf trug das Schiff neben manchem anderen auch eine neue Maschinenanlage. Ein halbes Dutzend Kräne packten zu, um das schwere Aggregat herauszuheben, schwankend und schaukelnd schleiften sie es bis zum Maschinenschuppen.

Ein halber Tag schwerer Arbeit noch, dann konnte Hagemann ein Ventil aufdrehen. Ein Zischen der Druckluft in den Zylindern, ein Tacken und Donnern, die ersten Explosionen der neuen Maschine dröhnten über den Hof. Licht strahlte aus den Fenstern des wiederhergestellten Stationshauses, die Wärme der elektrischen Heizung begann dessen Räume wieder zu füllen.

Einige Tage würde es noch erfordern, um auch die letzten äußeren Spuren der Katastrophe zu beseitigen. Der Professor hatte nicht die Absicht, so lange zu bleiben. Noch eine letzte Besprechung mit Dr. Wille. Eine lange Liste drückte der ihm dabei in die Hand. Neue Instrumente aller Art waren es, die der Doktor dringend wünschte und die ihm Professor Eggerth schleunigst zu schicken versprach. Ein letzter Händedruck noch, ein Abschied von denen, die hierblieben, dann schloß sich die Tür von ›St 10‹. Die Schrauben begannen zu arbeiten, das Schiff stieg empor. Als es den Boden verließ, lugte der Sonnenball zum ersten Male nach der langen Polarnacht über den Nordhorizont. Seine Strahlen übergossen das neue Stationshaus mit purpurnem Schimmer. Wie ein rosenfarbiges Wölkchen erschien das Stratosphärenschiff in der Höhe, das dem Tagesgestirn geraden Weges entgegenstürmte.

 


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