Hans Dominik
Kautschuk
Hans Dominik

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Kampendonk stand Wolff gegenüber, schüttelte nur immer wieder den Kopf. Was Wolff da berichtete, kam ihm so unglaublich, so unfaßbar vor, daß er immer wieder fragte, Erklärungen verlangte. Doch die vermochte Wolff nur unvollkommen zu geben. Das ganze Drum und Dran dieser Ereignisse war auch ihm vollständig unklar.

»Das Rätselhafteste«, sagte Wolff, »ist und bleibt das Verhalten dieses Bürodieners Wittebold. Der Mann ist wegen Einbruchs in die Wohnung Doktor Morans gestern abend von der Polizei verhaftet worden. In der Nacht erscheint er plötzlich im Werk. Die Polizei wußte noch gar nichts davon, daß er ausgebrochen war . . . was wollte er hier? Nach seinem Einbruch bei Moran sollte man annehmen, er wäre ein Komplice der Einbrecher hier . . . Dem scheint aber nicht so zu sein.«

»Wo befindet er sich denn jetzt?« fragte Kampendonk.

»Ich habe ihn in das Werklazarett schaffen lassen. Der Arzt hat eine Gehirnerschütterung festgestellt, die durch einen starken Schlag mit einem stumpfen Gegenstand hervorgerufen ist. Bis jetzt ist er noch nicht zur Besinnung gekommen.«

»Ja – wer hat denn dann die Alarmvorrichtung in Tätigkeit gesetzt?« unterbrach ihn Kampendonk.

Wolff ließ ratlos die Arme sinken. »Als er gefunden wurde, lag er unmittelbar neben dem Alarmhebel.«

Kampendonk stand nachdenklich. »Merkwürdiger Mensch, dieser Wittebold! Was . . . was sind das für rätselhafte Gegensätze bei dem Manne: da wird er wegen Einbruchs verhaftet – hier verhindert er einen Einbruch!«

Wolff machte ein zweifelndes Gesicht. »Vielleicht ist er doch ein Komplice gewesen, dessen man sich entledigen wollte.«

Kampendonk schüttelte den Kopf. »Das will mir nicht eingehen. Fragen Sie doch mal gleich im Lazarett an, wie es mit ihm steht! Der Mann interessiert mich sehr.«

Wolff ging zum Apparat, fragte. Nickte dem Geheimrat zu. »Der Arzt sagt, der Patient wäre vor kurzem wieder zum Bewußtsein gekommen. Das Sprechen schiene ihm aber sehr schwerzufallen. Er verlange nur immer wieder Doktor Fortuyn.«

»Hm! . . . Merkwürdig. Gerade Doktor Fortuyn?«

»Doktor Fortuyn ist in Dresden«, warf Wolff ein.

»Schadet nichts. Melden Sie sofort ein Ferngespräch nach Dresden an! Das geht ja um diese Stunde schnell. Doktor Fortuyn möchte sofort zurückkommen. Er wird ja Augen machen!«

»Und wird sich sicher freuen, daß nichts gestohlen worden ist«, sagte Wolff. »Die Verbrecher wurden gerade im rechten Augenblick gestört. Einer von ihnen muß über große Sachkenntnisse verfügen. Was sie da alles aus den Schränken herausgeholt und schon zu einem Bündel vereinigt hatten, waren gerade die wichtigsten Schriftstücke. Darunter auch die Patentschriften.«

»Mein Gott, ja!« fiel Kampendonk ein. »Die Patentschriften! Wenn die den Verbrechern in die Hände gefallen wären . . . nicht auszudenken! Heute, wo man jedes Schriftstück mit Bildfunk in kürzester Zeit an das andere Ende der Welt übermitteln kann!« – – –

Gegen Mittag stand Fortuyn an Wittebolds Lager. Der begrüßte ihn mit einem stillen, frohen Lächeln. Bedeutete ihm, sich zu ihm herunterzubeugen.

». . . Doktor Moran . . . Abt . . . Meyer . . . verhaften! Sie sind's –!«

Fortuyn prallte zurück. »Herr Wittebold, Sie sprechen im Fieber! Schweigen Sie lieber! Das Sprechen regt Sie auf, strengt Sie an«

Wittebold schüttelte den Kopf. ». . . verhaften . . . alle drei . . . schnell – schnell!« Als Fortuyn immer noch zögerte, warf sich Wittebold stöhnend zur Seite. »Wolff! . . . Wolff soll kommen!«

Fortuyn sah, wie Wittebold sich quälte. Um ihn zu beruhigen – er redete ja zweifellos im Fieber –, holte er Dr. Wolff herein, der ihn zum Lazarett begleitet hatte und draußen wartete. Wolff trat an Wittebolds Bett und beugte sich teilnehmend über ihn.

Mit Mühe bewegte der die blutleeren Lippen. »Schnell verhaften! . . . Moran . . . Abt . . . Meyer!«

Wolff warf einen erstaunten Seitenblick zu Fortuyn, der bedrückt den Kopf schüttelte.

Da hob Wittebold die Hand, deutete auf sich, flüsterte: »Ich . . . Eichenblatt –!«

Mit einem Ruck fuhr Wolff auf. »Eichenblatt?« Seine Augen gingen von Wittebold zu Fortuyn.

Der nickte. Sagte, als Wolff ihn sprachlos ansah: »Es ist wahr – er ist der Schreiber der Eichenblattbriefe!«

Kaum hatte Fortuyn geendet, stürmte Wolff aus dem Zimmer. Eilte, so schnell seine Füße ihn trugen, in das Laboratoriumsgebäude. Atemlos trat er in Morans Abteilung. »Wo sind Doktor Moran und Doktor Abt?« fragte er, noch außer Atem.

Die Assistenten zuckten die Achseln. »Die beiden Herren sind heute noch nicht hier gewesen.«

»Ah! So hat er doch recht gehabt!« Ohne den erstaunten Assistenten eine Erklärung zu geben, stürmte Wolff hinaus und raste zum Polizeiamt. – –

»Gut, daß Sie da sind, Herr Doktor Fortuyn!« Mit diesen Worten streckte ihm der Geheimrat erfreut die Hand entgegen. »Sie wissen ja wohl schon alles, was heut nacht passiert ist, von Doktor Wolff. Es ist ein Gotteswunder, daß nichts gestohlen ist. Wenn ich denke, mit welchem Raffinement, mit welchen Gewaltmitteln die Gegenseite arbeitet, da möchte man doch wirklich allen Glauben an die Menschheit verlieren. – Nun bitte ich mir aber mal eine genaue Auskunft über diesen sonderbaren Bürodiener – den Wittebold – aus. Sie sind doch, nach allem, was ich höre, genauer mit ihm bekannt. Doch zuvor will ich Ihnen noch sagen, daß ich selbst mit dem Kriminalkommissar gesprochen habe. Er hat mir versichert, daß die Fingerabdrücke in der Wohnung Morans zweifellos mit denen Wittebolds übereinstimmen. Daß dieses Kennzeichen untrüglich ist, steht ja unweigerlich fest.«

»Sie gestatten, Herr Geheimrat, daß ich da anderer Meinung bin. Daß Wittebold einen Einbruch bei Doktor Moran verübt haben sollte, ist gänzlich ausgeschlossen. Wie seine Fingerabdrücke dorthinkommen, weiß ich allerdings nicht. Zweifellos ein Schurkenstreich von Moran und Genossen, um den Feind auf die einfachste Weise aus dem Weg zu räumen. Damit Ihnen meine Erklärung glaubhafter erscheint, muß ich Ihnen – es hat keinen Zweck mehr, das ihm versprochene Schweigen zu bewahren – muß ich Ihnen die ganze Geschichte dieses Mannes erzählen.«

Und dann gab Fortuyn dem Geheimrat einen Bericht über Wittebold, bei dem er an Worten nicht sparte.

Als Fortuyn geendet, saß Kampendonk lange in nachdenklichem Schweigen. »Allerdings ein interessantes Schicksal!« sprach er dann stockend. »Das klingt ja beinahe romanhaft. Aber immerhin« – er wandte sich mit frohem Gesicht Fortuyn zu – »der Mann macht mir Freude. Hat er doch sein Vergehen – ist ja damals leider öfters passiert – reichlich wiedergutgemacht! Und er muß nach dem, was er geleistet hat, ein durchaus tüchtiger Mensch sein. Das Werk ist ihm zu großem Dank verpflichtet. Wir werden selbstverständlich auf beste Weise seine Zukunft sicherstellen müssen.«

»Darüber habe ich schon lange nachgedacht, Herr Geheimrat, und werde mir erlauben, Ihnen zu gegebener Zeit Vorschläge zu machen. Denn außer dem Werk bin ich persönlich ihm ja auch zu größtem Dank verpflichtet. War er doch damals wahrscheinlich mein Lebensretter!«

Der Privatsekretär meldete Dr. Wolff. Der folgte gern Kampendonks Wink, sich zu setzen. Erschöpft lehnte er sich in den Stuhl zurück. Seit den ersten Morgenstunden war er unaufhörlich auf den Beinen gewesen, hatte alles versucht, um der Verbrecher habhaft zu werden. Mit niedergeschlagener Miene gab er jetzt seinen Bericht. Die Gesuchten waren mit falschen Pässen entwischt. Bis Prag wer ihre Spur verfolgt worden. Dort waren sie mit einem Flugzeug weitergereist. Wohin, war unbekannt.

»Die Haussuchungen sind auch gänzlich resultatlos verlaufen«, berichtete er weiter. »Das einzig Wichtige ist das hier.« Bei diesen Worten zog Wolff ein kleines Zinkklischee aus der Tasche und legte es vor sich hin. »Jetzt wissen wir wenigstens, wie die Fingerabdrücke des Wittebold an Morans Schreibtisch gekommen sind. Man hat sich einen Fingerabdruck von ihm verschafft, auf die Zinkplatte photographiert und einen Gummidäumling danach gemacht.«

Fortuyn nickte Kampendonk befriedigt zu. »Ich ahnte es ja, Herr Geheimrat.«

»Übrigens ist auch die Scheuerfrau Anna Grätz seit heute morgen verschwunden«, fuhr Wolff fort. »Auf ihr Konto kommt sicherlich der größte Teil der Vorbereitungen für diesen Einbruch. Sie ist in anderer Richtung entflohen. Vorläufig fehlt jede Spur von ihr.«

*

Eine Woche später fuhr Wittebold, einigermaßen wiederhergestellt, nach Berlin. Die Polizei hatte einen Mann verhaftet, der verdächtig war, an dem Riebaer Einbruch mitgewirkt zu haben. Als Wittebold in das Vernehmungszimmer kam, wurde ihm bedeutet, daß er leider vergeblich gekommen sei. Der Verhaftete sei soeben entlassen worden, da er sein Alibi nachgewiesen habe.

Während Wittebold dem Ausgang des Gebäudes zuschritt, kam ihm der Gedanke, zum Einwohnermeldeamt zu gehen, um festzustellen, ob Juliette vielleicht ihren Wohnsitz in Berlin hatte oder gehabt hatte. Er hatte zwar keinerlei Anhaltspunkte, daß Juliette schon längere Zeit in Deutschland, speziell in Berlin, war; aber da er nun einmal hier war, wollte er den Versuch riskieren. Es kam ja nicht weiter darauf an.

Mehr als an all die anderen, die mit dem Einbruch zusammenhingen, dachte er an Juliette. An Juliette, seine Frau, die sie ja immer noch war. Wie kam sie nach Deutschland? Damals, als er von Amerika fortfuhr, war sie doch noch die Freundin Headstones. Wie hatte sich ihr Verhältnis so gestalten können, daß sie jetzt hier in Deutschland in Headstones Interesse niedrige Dienste bedenklichster Art verrichtete? Hatte vielleicht ihr brutaler Freund ihr eines Tages den Laufpaß gegeben? Hatten Hunger und Not sie zu solcher Betätigung gezwungen?

Obgleich er innerlich längst fertig mit ihr war, regte sich Mitleid in ihm. Vielleicht, daß er ihr helfen könnte, wenn er sie ausfindig machte. Gewiß, eine Rückkehr zu ihm war ja gänzlich ausgeschlossen. Aber trotz all der furchtbaren Enttäuschungen, die ihm die Ehe mit Juliette gebracht hatte, waren doch immer noch einige Spuren alter Zuneigung in seinem Herzen geblieben. Wenn er ihr irgendwie helfen könnte, gern würde er's tun.

Als der Beamte ihm den Auskunftszettel überreichte: »Frau Dr. Hartlaub. Graner Straße 37, zwei Treppen rechts, bei Frau Major Werner«, schwankte er einen Augenblick, ob er sich freuen oder erschrecken sollte. Er wußte, die Graner Straße lag im besseren Westen. Juliette konnte es, danach zu schließen, nicht gerade schlecht gehen. Unruhig, in wechselnden Gedanken, fuhr er dorthin. –

*

»Tag, Waldemar! Menschenskind, du hast ja noch gar nicht gepackt? Liegst hier auf dem Diwan und tust, als wenn nichts passiert wäre! Bist du denn komplett verrückt? Ich hab' dir doch vorhin telephoniert, daß in Boffins Wohnung Haussuchung gehalten wird.«

Waldemar blieb ruhig liegen und blinzelte Juliette nur von der Seite an. »Mach doch keine Geschichten, Juliette! Was soll uns passieren? Boffin geht mich gar nix an.«

»Du bist ein Gemütsmensch, Waldemar. Möglich, daß man deinen Namen in seinen Papieren nicht findet. Aber denke doch an mich!«

Waldemar machte eine ablehnende Handbewegung. »Die mögen bei Boffin drei Tage und drei Nächte suchen! Der Fuchs ist ihnen doch zu schlau. Da werden sie nichts finden. Von dir nichts und von mir erst recht nichts.«

Juliette stampfte wütend mit dem Fuß auf. »So was von Phlegma ist mir doch in meinem Leben nicht vorgekommen! Meinethalben mach, was du willst! Ich habe gepackt, fahre jetzt nach Hause – und los geht's. Vorläufig sieht mich Deutschland nicht wieder!« Sie wandte sich zur Tür, als ob sie gehen wollte.

Da hielt es Waldemar doch für angebracht, sich zu erheben. Er legte den Arm um sie und sah ihr ins Gesicht. »Wirklich, Juliette, das wolltest du? Wolltest von mir gehen, mich allein lassen?«

Sie wandte sich zur Seite. Diese Augen . . . die zwingenden Augen dieses Menschen . . . War es denn ganz unmöglich für sie, sich deren Macht zu entziehen? Mit einem gequälten Lächeln sah sie zu ihm auf. »Waldemar, ich bitte dich, komm! Denke weniger an dich als an mich! Wenn sie mich fassen . . .« Sie schauerte in seinen Armen ängstlich zusammen. »Entsetzlich! . . . Diese fürchterlichen Strafen! Ich denke immer noch mit Grauen an Rieba, wo ich unter so gräßlichen Verhältnissen die vielen Wochen arbeitete. Nie im Leben werde ich diese Zeit vergessen. Gefängnis – Zuchthaus stünde mir jahrelang bevor. Noch viel schlimmer als Rieba würde das sein. Kannst du nicht begreifen, daß ich vor Angst vergehe? Komm mit, Waldemar! Komm!« Sie hängte sich weinend an seinen Hals.

»Juliette, du regst dich zwar unnötig auf – aber so mag's denn sein! Ich werde schnell packen. Wir treffen uns in zwei Stunden am Potsdamer Bahnhof.« – – –

Wittebold stand im Flur des Hauses Graner Straße 37. »Frau verw. Major Werner, zwei Treppen rechts«, las er an einer Tafel. Schon eine ziemliche Zeit lang hatte er dagestanden, überlegt. Sollte er hinaufgehen? Die Straße, das Haus machten einen so vornehmen Eindruck. Wie kam Juliette hierher? War sie vielleicht hier in Stellung gewesen?

Er sann darüber nach, ob er sich bei dem Portier nach Juliette erkundigen sollte. Da ging die Haustür auf. Als er sich umdrehte, stand Juliette vor ihm. Kaum hatte die ihn erkannt, überzog Leichenblässe ihr Gesicht. Erschrocken wandte sie sich zur Tür zurück wie um zu fliehen.

»Hab keine Angst, Juliette! Ich will nichts Böses. Möchte dich nur um eine kurze Unterredung bitten – wenn du es willst.«

Sie atmete ein paarmal tief auf, trat auf ihn zu. »Komm, bitte, mit nach oben in meine Wohnung!«

Sie stiegen die Treppe hinauf. Jeder glaubte, der andere müßte das Klopfen seines Herzens hören. In der zweiten Etage öffnete Juliette die Korridortür, ließ Wittebold eintreten, führte ihn in ein Zimmer. Verwirrt schaute er sich um. Der Raum war überaus elegant eingerichtet. Hier wohnte Juliette?

»Bitte, Wilhelm!« Sie deutete auf einen Sessel. »Nimm Platz! Entschuldige mich einen Augenblick!«

Sie verschwand in dem anstoßenden Schlafzimmer. Hier brach ihre künstliche Fassung zusammen. Sie ließ sich auf einen Diwan fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr ganzer Körper bebte in wilder Erregung. Jedem anderen wäre sie unbewegt gegenübergetreten. Aber Wilhelm, ihrem Mann –? Da versagte alle Selbstbeherrschung und Kaltblütigkeit.

Endlich raffte sie sich zusammen. Sie griff auf das Tischchen neben sich. Mit zitternder Hand mischte sie sich ein Pulver in ein Glas Wasser, stürzte es hinunter. Nach einigen Augenblicken erhob sie sich, ging zum Toilettentisch, wusch sich mit einer erfrischenden Essenz Gesicht und Hände.

Währenddessen saß Wittebold in dem anderen Zimmer, suchte vergeblich eine Erklärung dieses Rätsels um Juliette zu finden. Wie reimte sich das alles zusammen? Das Leben in dieser vornehmen Wohnung – das Leben als Glasbläserin und Scheuerfrau in Rieba . . .

Da kam Juliette zurück. Seine Verwunderung, sein Staunen mochte sie wohl in seinem Gesicht lesen. Sie nickte ihm mit einem schwachen Lächeln zu. »Ich kann mir wohl denken, Wilhelm, über was du so vergeblich sinnst. Anna Grätz – Juliette Hartlaub . . . das paßt doch schlecht zusammen?«

Sie schöpfte ein paarmal Atem. Der verzweifelte Entschluß, zu dem sie sich drüben durchgerungen . . . wie schwer fiel es doch, das alles zu dem Manne zu sagen, dem sie angetraut, dessen Namen sie noch trug!

Endlich begann sie zu sprechen. »Ich werde dir volle Aufklärung geben. Selbst auf die Gefahr hin, daß du zur Polizei gehst und mich verhaften läßt.«

Und dann erzählte sie ihm rückhaltlos, ohne etwas zu beschönigen oder zu verschweigen, alles, was sie erlebt seit jener Stunde, da sie ihn da drüben in Hoboken verlassen hatte . . .

Als sie geendet, saß Wittebold lange Zeit stumm. Diese Frau . . . jetzt erst waren ihm Wesen und Charakter Juliettes völlig klargeworden. Juliette und er . . . wohl selten hatte es ein ungleicheres Paar gegeben. Unmöglich der Gedanke, eine solche Frau in den kleinbürgerlichen Verhältnissen eines untergeordneten Angestellten heimisch zu machen. Eine Frau, deren Sinn vor allem darauf gerichtet war, alle Reize des Daseins in unaufhörlichem Genuß zu schlürfen. Eine Frau, deren abenteuerliches Blut immer wieder darauf drängte, in wildbewegtem Leben zu verströmen . . .

In zitternder Erwartung, mit weit geöffneten Augen, schaute Juliette auf ihn. Jetzt mußte er in maßlosem Zorn aufspringen, sie mit Vorwürfen, Schmähungen überschütten . . .

Doch er blieb stumm. Blickte nur trübe vor sich hin. Sprach dann leise: »Das also bist du? . . . Wie hab' ich mich in dir geirrt! Jetzt kann ich dich endlich verstehen. Und weil ich dich so ganz verstehe, kann, muß ich dir auch verzeihen . . .«

»Wilhelm!« Juliette war aufgesprungen. »Wie sprichst du zu mir? Deine Worte . . . voll Liebe und Güte . . . das Herz zerreißen sie mir! Du mich verstehen? Du mir verzeihen? . . . Nein – unmöglich! Das kannst, darfst du ja nicht! Treulos war ich. Schlecht hab' ich an dir gehandelt . . . Hättest du mich beschimpft, geschlagen – ich hätte es ertragen. Aber diese Worte von dir? Keine schlimmere Strafe hättest du finden können. Nimm zurück, was du sagtest . . . von Verstehen und Verzeihn! Ich bin's nicht wert. – Geh zur Polizei! Zeige mich an! Gefängnis, Zuchthaus – nichts ist zuviel für das, was ich dir angetan habe . . .«

Wittebold war aufgestanden, legte den Arm um sie. »Sprich nicht so, Juliette! Keiner, der dich so kennt wie ich jetzt, kann dich verdammen . . . Dein Blut ist dein Schicksal. Das muß sich vollenden, wie die dunklen Mächte in dir es wollten. Zu spät sehe ich's ein. Wir durften nie zusammenkommen . . . Wenn ich jetzt gehe, für immer, scheide ich ohne Groll von dir. Nichts anderes soll mir in Erinnerung bleiben als die Tage unseres kurzen, schönen Glücks.«

»Wilhelm!« Juliette entriß sich seinem Arm, warf sich aufschluchzend in den Sessel. »Zuviel! Zuviel! Schweige! Deine Güte martert, tötet mich!«

Halb bewußtlos in ihrer Qual, fühlte sie kaum, wie ein Mund ihre Stirn streifte. Als sie wieder zu sich kam, war das Zimmer leer.

*

Ein schicksalsreicher Tag für Wittebold. Als er nach Rieba zurückkam, fand er eine Vorladung zu Geheimrat Kampendonk.

Als er später das Zimmer Kampendonks verließ, ging seine Hand immer wieder zu der Tasche, in der die Bestellung des Dr. Wilhelm Hartlaub als Betriebsleiter bei den Gorla-Werken steckte, einer schlesischen Tochtergesellschaft der Rieba-Werke. Diese neue, so glückliche Wende in seinem Leben! – sein Herz strömte über von Freude, Stolz. Wenn er morgen hier fortging, war der Bürodiener Wittebold für immer vergessen, verschwunden. Er durfte sich wieder mit Ehren Hartlaub nennen.

Die vielen Bekannten, Freunde, die er sich in Rieba erworben – keinem konnte, durfte er sich offenbaren. Mußte stumm das übergroße Glücksgefühl in sich tragen, durfte keinen an seiner Freude teilnehmen lassen. Der einzige – Dr. Fortuyn – war verreist. Er kam gerade an dessen Laboratorium vorüber, trat hinein. Sein Blick fiel auf Tilly. Fast hätte er sich vor die Stirn geschlagen . . . Wie konnte er die vergessen?

Tilly lächelte ihm freundlich zu. Ging dann, als ob sie ahne, was er wolle, in Fortuyns Privatzimmer. Als sie allein waren, reichte ihm Tilly in freudiger Bewegung die Hand. »Gratuliere, Herr Doktor Hartlaub! Hörte schon vor ein paar Tagen so etwas läuten, als Doktor Fortuyn sich verabschiedete.«

Und wie sie so sprachen, und wie er immer stärker merkte, mit welch tiefem Mitgefühl sie stets an seinem Schicksal teilgenommen, da drängte es ihn, sie auch das Letzte wissen zu lassen. Ihr anzuvertrauen, was er geglaubt hatte, für immer als tiefstes Geheimnis bewahren zu müssen. In höchster Spannung, klopfenden Herzens, hörte Tilly von dem weiteren Leben Juliettes, und wie das Schicksal ihrer beider Lebenswege hier in so wunderbarer Weise zusammenführte.

Als Wittebold gegangen war, saß Tilly noch lange still da. Ihre Gedanken kamen nicht los von dem sonderbaren Geschick dieser beiden merkwürdigen Menschen.

Dr. Rudolf Wendt, der mit einem Brief in der Hand in das Zimmer trat, schaute sie verwundert an. »Was machen Sie denn für ein Gesicht, Tilly? Sehn ja aus, als wenn Ihnen die ganze Petersilie verhagelt wäre!«

»Ach, lassen Sie diese Redensarten, Herr Doktor Wendt!«

»Hoho, Tilly! So kratzbürstig? Kleine Laus über die Leber gelaufen? Wittebold kam eben hier 'raus. Was wollte denn der alte Knabe?«

Tilly fuhr auf. »Lassen Sie den Mann! Hinter dem steckt mehr als hinter Ihnen!«

»Nanu? Nu schlägt's fünfundzwanzig! Hoheit scheinen schlecht geschlafen zu haben. Werde warten, bis die Wolken von Euer Durchlaucht Stirn verschwunden sind.«

Dabei machte er eine so komische Reverenz, daß Tilly trotz ihrer ernsten Stimmung ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »Werden Sie denn niemals Vernunft annehmen, Rudi? Allmählich werden Sie doch zu alt für den ewigen Spaßmacher.«

»Spaßmacher sagen Sie, Tilly? Galgenhumor ist's! Hab' wieder mal einen Schreibebrief von meinem alten Herrn gekriegt. Jetzt ist der auch noch krank geworden. Soll jetzt unbedingt einen Punkt hinter meine Riebaer Tätigkeit machen. Unser Oberchemide zu Hause ist, wie Sie ja wissen, schon seit einiger Zeit außer Betrieb.«

»Allerdings ein niederschmetternder Gedanke für Freund Rudi, nun endlich seine Zelte in Rieba abbrechen zu müssen«, sagte Tilly lachend. Setzte dann hinzu: »Aber das kommt doch nicht so überraschend. Sie hätten sich doch schon längst mit dem Gedanken vertraut machen müssen.«

»Hab' ich auch. Und die Arbeit soll mir auch nicht zuviel werden. Ich bin nur der Meinung, das Leben besteht nicht in Arbeit allein. Das Herz will doch auch was haben. Und wenn ich denke, ich soll da ganz allein in unserem Riesenhaus sitzen – meine Eltern wollen in ein Bad –, dann packt mich die Angst. Übrigens . . .« Er zog aus seiner Tasche eine Photographie. »Hier haben Sie den Kotten! Leider ist der große, schöne Garten nicht darauf zu sehen. Mein Vater ist ein Gartenfex. Hält ihn immer tadellos in Schuß. Ich habe wenig Sinn dafür. Schade um den Garten, wenn mein alter Herr mal nicht mehr da ist!«

»Na, dann nehmen Sie sich halt einen Gärtner!«

»Ach, Gärtner! Was heißt Gärtner? Immer da einen fremden Menschen 'rumlaufen zu haben! Ich fände es viel netter, wenn einer aus dem Hause, ein Nahestehender, den Garten mit Liebe betreute.«

Tilly wandte sich achselzuckend zur Seite.

Rudi trat mit schmeichelnder Miene zu ihr. »Der schöne Garten, Tilly! Sie sprachen doch einmal davor, wie Sie es in Ihrem Mietshaus so schmerzlich vermißten, kein grünes Fleckchen zu haben, das sie pflegen, hegen könnten . . . Unser Garten ist tatsächlich sehr schön – hätten Sie wirklich keine Lust? An mir liegt Ihnen ja nicht viel – das weiß ich. Aber des armen, schönen Gartens halber . . .«

Er wollte den Arm um ihre Schulter legen, aber sie wich zur Seite. »Rudi! Sie sind doch wirklich ein komischer Mensch! Also ich soll Ihren Garten heiraten?!«

»Warum nicht, liebe Tilly? Heiraten Sie den Garten und nehmen Sie mich mit in Kauf! Sie könnten mich ja als Zwerg oder Pilz in den grünen Rasen setzen.«

Ärgerlich über die Röte, die ihr bei seinen Worten in die Wangen stieg, trat Tilly zu einem Regal, machte sich daran zu schaffen. »Es ist ja nicht lange mehr bis Weihnachten«, sprach sie, halb über die Schulter gewandt. »Da werde ich Ihnen dann Bescheid geben – wegen des Gartens.«

Doch wenn sie geglaubt hatte, damit Rudi Wendt loszuwerden, so hatte sie sich sehr geirrt. Sie fühlte plötzlich zwei Hände von hinten sich um ihren Kopf legen. Und sosehr sie sich auch sträubte, die Küsse Rudis brannten auf ihren Lippen.

*

Der Wiesbadener Zug lief in den Frankfurter Hauptbahnhof ein. Johanna Terlinden entstieg ihm und eilte zu dem übernächsten Bahnsteig, wo eben der Zug von Leipzig einrollte. Suchend ging ihr Blick über das Gewimmel der Aussteigenden. Da fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter, eine Stimme sprach: »Hier bin ich, Johanna!«

Dann lag sie in Fortuyns Armen . . . Und dann schritten sie Arm in Arm den Bahnsteig auf und ab. Nur eine knappe Viertelstunde hatten sie für sich. Dann mußte Fortuyn weiterfahren nach Koblenz, nach Paris.

Und während sie sprachen, glitten ihre Blicke immer wieder verstohlen nach dem Zeiger der großen Uhr, der unerbittlich und drohend Minute um Minute vorrückte. Unter dem Zwang der verrinnenden Zeit wagten sich Worte – vor kurzem noch scheu gemieden – von ihren Lippen. Worte, durchzittert vom glühenden Wunsch baldiger Vereinigung – Worte voller Hoffnung auf frohe, glückliche Zukunft.

. . . Türenschlagen – Abschiedsrufe um sie herum . . . Einsteigen! . . .

Noch einmal lag Johanna in Fortuyns Arm, küßte ihn, drängte ihn zum Wagen. Er stand am herabgelassenen Fenster, ergriff nochmals Johannas Hand. Da zeigte sie mit erschrockener Miene auf ein junges Paar, das Arm in Arm über den Bahnsteig ging, eben einen Beamten nach dem Basler Zug fragte.

»Walter, Walter, das sind die beiden, die damals mit mir von Köln nach Berlin fuhren! Du weißt wohl? Ich erzählte dir davon.«

Fortuyn warf einen neugierigen Blick auf Waldemar und Juliette, die, eng aneinandergeschmiegt, in lebhaftem, fröhlichem Geplauder an ihnen vorüberschritten. Einen Augenblick schoß es ihm durch den Sinn, irgend etwas zu tun . . . Polizei? Doch als er in die glückstrahlenden Gesichter der beiden schönen jungen Menschen sah, beugte er sich tiefer zu Johanna hinab. »Sie sind glücklich, Johanna. Lassen wir sie in ihrem Glück!«

Der Zug rollte aus der Halle. Er trug Fortuyn nach Koblenz, wo er in den Pariser Zug umstieg. Hier traf er sich mit den Direktoren Lindner und Merker, um mit ihnen nach Paris zu James Headstone zu fahren.

Der Herrscher der United Chemical hatte es vorgezogen, sich auf friedlichem Wege mit Rieba auseinanderzusetzen. Fortuyn, der Mann, mit dessen Namen der Elektro-Kautschuk für immer verbunden war, war jetzt mit seinen beiden Kollegen auf dem Wege, sich mit dem Amerikaner an den Verhandlungstisch zu setzen.

War's die glückliche Hand der deutschen Unterhändler, waren es jene letzten unerquicklichen Ereignisse in Rieba, die, wie jedem Wissenden bewußt, direkt oder indirekt auf das Konto Detroit kamen und Headstones Stellung stark handikapten . . . wie dem auch sei, der Vorfriede in Paris wurde unter den günstigsten Bedingungen für Rieba stipuliert.

Ein großer internationaler Konzern würde entstehen, um den Fortuynschen Kautschuk der Weltwirtschaft nutzbar zu machen. Schon hatte die Presse Bilder von der Grundsteinlegung der neuen Riesenbauten in Gorla gebracht.

Gigantische Anlagen sollten hier in kürzester Zeit geschaffen werden. Eine Stadt, groß genug, um das Heer von Arbeitern aufzunehmen, würde gleichzeitig aus dem Boden wachsen . . . Während auf der anderen Seite des Erdballs die unermeßlichen Kautschukplantagen unter der Rodehacke zu Boden sinken, Siedlungen und Häfen veröden mußten.

Die völlige Umwälzung einer großen Produktion, die für die Weltwirtschaft von besonders hoher Wichtigkeit war, würde damit eingeleitet werden. Eine Umwälzung, die sich nicht vollziehen konnte, ohne große Erschütterungen im Gefolge zu haben. – –

Der Betriebsleiter Dr. Hartlaub in den Gorla-Werken hatte eine Berliner Zeitung vor sich und las im Handelsteil ein in phantastischen Farben gehaltenes Referat über jene Pariser Verhandlungen. Nachdenklich ließ er das Blatt sinken. »So haben sie sich vertragen, die feindlichen Brüder – einen Strich unter alles gemacht . . .«

Sein Blick ging zu einem Schriftstück auf dem Tisch. Auch da war ein Strich gemacht: die Ehe des Dr. Wilhelm Hartlaub mit der Juliette Hartlaub war geschieden . . .

Wo mochte sie jetzt sein, Juliette? Wie würde sich ihr wechselvolles Schicksal weiter gestalten? Niemals würde er sie wohl wiedersehen . . . Und doch – er fühlte es –: niemals würde er ganz von ihr loskommen . . .

* * *


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