Hans Dominik
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Hans Dominik

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Als Wittebold in Berlin ankam, führte ihn sein erster Gang zu einem Postamt. Hier rief er Amt Landgraf, Nummer 3718, an. Die Stimme, die sich meldete, schien ihm unbekannt, denn er fragte, wer dort sei. Auf die Antwort: »Restaurant Brose«, schüttelte er den Kopf, sagte: »Entschuldigen Sie – ich hab' eine falsche Nummer angerufen!«

Trotzdem mußte ihn das Restaurant Brose aber doch wohl interessieren. Er nahm das Fernsprechverzeichnis zur Hand, notierte sich die Adresse: Restaurant Brose, Joachimstraße 37, und verließ das Postamt.

In langsamem Schlenderschritt machte er sich auf den Weg nach dem fernen Westen. Es war beinahe zwölf Uhr, als er in den Kurfürstendamm einbog. Er fragte einen Schupo nach der Joachimstraße. Die fand er bald, ebenso das Restaurant Brose. »Speisen à la carte, Menü von 1-3«, stand an den Scheiben. Diese Inschrift schien den kleinen Beamten aus der Provinz mehr zu interessieren als das großstädtische Leben und Treiben auf dem Wege hierher.

Bis ein Uhr war noch lange Zeit. Er kehrte um bis zum Kurfürstendamm, bummelte dort gemächlich hin und her. Erst kurz vor ein Uhr trat er in das Lokal, setzte sich bescheiden in eine Ecke und ließ sich ein Glas Bier geben. Der Raum war noch nicht besonders besucht. Er konnte ohne Mühe die Gesichter der einzelnen Gäste studieren. Doch keins schien dem, das er suchte, zu entsprechen.

Neue Gäste kamen. Andere gingen wieder. Je weiter die Zeit vorschritt, um so unruhiger wurde Wittebold. Mehrmals war er in Versuchung, an den Kellner, der ihn bediente, eine Frage zu richten. Da rief der Wirt vom Büfett aus dem Kellner zu: »Herr Boffin wird am Apparat verlangt!«

Der Kellner eilte zu einem Gast an der anderen Seite des Lokals. Der stand auf und begab sich in die Fernsprechzelle. Mit Interesse betrachtete Wittebold diesen Herrn Boffin. »So hatte ich mir den allerdings nicht vorgestellt«, murmelte er vor sich hin. »Stammt zum mindesten aus den Südstaaten!«

Nach einer Weile kam der Amerikaner vom Telephon zurück, trank sein Bier aus und ging. Unmittelbar darauf verließ auch Wittebold das Restaurant und folgte dem andern, bis der in einem Haus am Kurfürstendamm verschwand. »Morris Boffin, Universal Provider«, las Wittebold auf dem Messingschild. Dann kehrte er um. Vor dem Schaufenster einer Buchhandlung blieb er stehen, schaute die Auslagen an, dachte dabei aber sehr lange und scharf über etwas ganz anderes nach. So sah er nicht, wie eine junge Dame hinter ihm vorbeischritt, deren Schönheit und Eleganz selbst in dem mondänen Treiben des Kurfürstendamms manchen Blick auf sich zog. Sie schien ebenfalls Interesse für das Haus mit dem Schildchen »Morris Boffin« zu hegen. Jedenfalls studierte sie es längere Zeit sehr genau. Dann, wie überdrüssig des Wartens, schlug sie die Richtung nach der Halenseer Brücke ein.

Endlich drehte sich Wittebold um, wollte nach der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche zu weitergehen, doch machte er schnell wieder kehrt: über die Straße kam der Büfettier Franz Meyer aus Rieba geradeswegs auf das Haus Boffins zu und verschwand darin.

Scheint doch was besonders Wichtiges zu sein! dachte Wittebold. Sonst wär' er nicht selber gekommen. Was es wohl ist? Bahn und Post gibt's doch schließlich auch noch! Wollen mal abwarten, was dabei 'rauskommtl

Um nicht aufzufallen, ging Wittebold auf die gegenüberliegende Straßenseite und schlenderte dort langsam auf und ab, wobei er Boffins Haus scharf im Auge behielt. Beinahe eine halbe Stunde hatte er so gewartet, da kam Meyer wieder heraus, rief ein Auto an und fuhr nach der Innenstadt davon.

Eine Verfolgung in diesem Verkehrsgewühl erschien aussichtslos. »Na«, knurrte Wittebold in sich hinein, »viel war's ja nicht, was ich da ergattert hab'. Schade um das schöne Reisegeld! Aber wer kann's wissen? Der gute Franz Meyer . . . so ganz hasenrein ist er vielleicht doch nicht! Wäre vielleicht doch möglich, daß mein Reisegeld noch Zinsen trägt!« –

Schon geraume Zeit vor der Abfahrt setzte er sich in den Zug nach Rieba. Er war so in die Lektüre einer Abendzeitung vertieft, daß er aufschrak, als plötzlich Meyer vor ihm stand und ihm vergnügt zurief: »Ach, das trifft sich ja fein! Da hab' ich wenigstens Reisegesellschaft. Schönes Städtchen, dieses Berlin! Man freut sich immer, wenn man mal aus unserem traurigen Rieba 'rauskommt. Auch Geschäfte hier gehabt, Wittebold?«

»Ich – Geschäfte?« Wittebold lachte. »Hat sich was mit Geschäften! Mußte her zu 'nem alten Onkel. Schlaganfall . . . Ist aber, Gott sei Dank, nicht so schlimm, wie's zuerst aussah.«

»Wo wohnt denn Ihr Onkel?« fragte Meyer beiläufig.

»Im alten Westen; Flottwellstraße. Scheußlich das Wohnen da. Das Donnern der Züge den ganzen Tag. Ich hielt's nicht aus.«

»Ja – im neuen Westen, da müßte man wohnen können! Ach, ich kann Ihnen sagen . . . Ich hatte heute da zu tun. Dieser Luxus, diese Paläste! Der Kurfürstendamm ist der Clou vons Janze!« berlinerte er.

»Kurfürstendamm?« fragte Wittebold. »Hatten Sie denn dort Geschäfte?«

»Na, selbstverständlich! Es gibt 'ne ganze Menge Geschäfte, die da ihre Büros haben. Ich war bei einer Firma Boffin. Sind Amerikaner. Wir beziehen von ihnen allerhand für die Kantine, besonders Fruchtkonserven. Tadellose Firma! Und preiswert! Es kommt ja alles aus erster Hand . . .«

»Brauchen Sie denn soviel von dem Zeug?«

»Massenhaft! Und, wie gesagt, die Firma ist bedeutend billiger als die Konkurrenz.«

»Na, wissen Sie: billig und gut ist zweierlei.«

»Da sind Sie aber diesmal auf dem Holzwege! Mein Bruder ist verflucht vorsichtig. Wenn er da mal wieder irgendwas Neues kriegt, läßt er sich 'ne Analyse machen, wie man's nennt. Das ist so 'ne chemische Untersuchung, ob's nicht gefälscht ist. Kriegt er ja im Werk billig gemacht!«

Meyer erzählte das alles so harmlos-natürlich, daß Wittebold den geringen Verdacht, daß der Büfettier zu anderen Zwecken nach Berlin gefahren sei, mehr und mehr schwinden fühlte. Schade um die fünfzehn Mark Fahrspesen! Teures Vergnügen! Die anderen Ausgaben dazu . . . Ich muß mich bis zum Ende des Monats krumm legen!

Nach einer Weile fragte ihn Meyer in überlegenem Ton: »Wittebold, kennen Sie denn überhaupt den Kurfürstendamm?«

»Selbstverständlich!« Wittebold schoß es blitzschnell durch den Kopf, daß ihn der andere vielleicht gesehen habe. »Bin sogar heut drüberweg gegangen. Kam von Wilmersdorf, wollte nach Charlottenburg. Ist nicht mein Geschmack, der Betrieb da. Unsereiner kann sich ja doch nichts dort kaufen.«

Das umsonst ausgegebene Fahrgeld ging Wittebold nicht aus dem Sinn. Verärgert über seinen Mißerfolg kam er in Rieba an.

Aber den zehnfachen Betrag hätte er gewiß darangewendet, hätte er sehen können, wie kurz nach Meyers Weggang auch James Headstone aus der Tür von Boffins Büro trat. Der schwache Verdacht gegen Meyer und Boffin, der ihn zu dieser Reise veranlaßt, wäre dann wohl beinahe zur Gewißheit geworden. Daß der Präsident der United Chemical und Morris Boffin nicht in direkter Geschäftsverbindung standen, war klar. Irgend etwas anderes führte die beiden zusammen.

»Nun – sind Sie fertig, Herr Boffin?«

»Jawohl, Herr Headstone! Wir können jetzt ungestört sprechen.« Der Agent huschte nervös von der einen Doppeltür zur anderen, schloß, probierte mehrere Male. »Jetzt sind wir sicher!«

»Das ist ja eine sehr überraschende Nachricht. Ein Spion der Rieba-Werke in Detroit, der solche geheimen Dinge so schnell berichten kann!« Headstone schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. »Unglaublich das! Er muß über allerbeste Informationsquellen verfügen.«

»Nun – Ihr Radiotelegramm ist ja schon expediert. Vielleicht nur noch ein paar Minuten, und man weiß in Detroit Bescheid. Hoffentlich gelingt es daraufhin, den Burschen zu fassen!«

»Wahrscheinlich werde ich morgen um diese Zeit wieder zu Ihnen kommen.« Headstone reichte Boffin, der ihn zur Tür dienerte, die Hand. »Scharf aufgepaßt, mein Lieber! Es geht um hohen Preis. Gewinnen wir das Spiel, wird das Kartengeld für Sie nicht gering sein!«

Als Headstone auf die Straße trat, blieb er eine Weile wartend stehen, sah sich nach allen Seiten um. »Ah, da kommt sie ja!« Er ging in Richtung der Halenseer Brücke weiter.

Jetzt hatte ihn auch Juliette erkannt, eilte auf ihn zu. Äußerlich wie immer: das schöne Gesicht in Frohsinn und Laune strahlend. Wie immer der heitere, liebenswürdige Klang ihrer Stimme. Nur einen leisen Unterton kühler Zurückhaltung glaubte Headstone zu spüren.

Unbefangen hängte sie sich in seinen Arm. Headstone zuckte bei der Berührung leicht zurück. Unwillkürlich warf er einen scheuen Blick um sich, begann dann stotternd: »Verzeihung, Liebste! Vielleicht nimmst du deinen Arm zurück? Natürlich fällt diese Bitte mir schwer. Aber – es widerspricht gewissen Abmachungen . . .«

»Aha!« Juliette lachte herzlich. »Hab' längst begriffen! Spar deine Worte, James!«

Headstone warf ihr einen mißtrauischen Seitenblick zu. Ihre Stimme klang so natürlich und offen, und doch wehte aus den Worten ein heimlicher Spott. Er ärgerte sich. Sie mußte doch einsehen, daß dieser Affront im Park von Saint-Cloud nur aus der Welt geschafft werden konnte, wenn . . . Darüber war er sich mit Dolly bei ihrer Abreise von Paris einig geworden.

»Wann wirst du heiraten, James?« fragte Juliette unvermittelt.

»Bevor die Wintersaison beginnt.«

»Hm – du wirst froh sein, wenn du dein . . .« Wieder lachte sie laut.

Er unterbrach sie in gereiztem Ton. »Wenn ich Dolly in Sicherheit habe, meintest du wohl?«

»Nun ja: Dolly – oder wie man's sonst nennen mag!«

Headstone biß sich auf die Lippen. Wie unbedacht, daß er früher in launigem Scherz das Wort »Paket« gebraucht hatte. Juliette würde es nie vergessen – das wußte er.

»Und eure Flitterwochen? Wo werdet ihr die verbringen?«

»Wir reisen nach England, zur Jagd bei einem meiner Freunde im schottischen Hochland. Auch Dolly ist ja eifrige Jägerin. Jedenfalls werden wir uns dann gefahrloser wiedersehen können – sei es in London, sei's hier in Berlin . . .«

»Denn dann bist du deines Paketes sicher!«

»Bitte, nicht diesen Ton! Ich hätte von deiner Einsicht erwartet, daß du begreifst, wie schwierig meine Lage augenblicklich ist. Schon wenn ich jetzt neben dir gehe, riskiere ich, daß irgendein Detektiv es beobachtet und weitermeldet.«

»Du Ärmster! Dann will ich dich aber nicht der Gefahr aussetzen, erneut in Mißkredit zu kommen. Trennen wir uns doch hier!«

»Wenn du es durchaus willst . . .«

»O gewiß, James! So angenehm mir deine Begleitung war.« Sie rief ein Auto an, reichte Headstone die Hand.

»Ehe ich fortfahre, werde ich dich noch einmal sprechen, Juliette. Auf Wiedersehn!«

»Rotenfelser Straße 17!« rief Juliette dem Chauffeur zu. Der Wagen fuhr an.

Unter Rotenfelser Straße 17 war im Adreßbuch der Name von Waldemar Hassenstein zu finden. Im ersten Impuls war es ihr über die Lippen gekommen. Übereilt, diese schroffe Trennung von Headstone eben, gestand sie sich ärgerlich. Aber als der Wagen hielt, war ihre schlechte Laune verflogen.

Sie klingelte im Hochparterre. »Herr Hassenstein zu Hause?« fragte sie die öffnende Wirtin.

»Gewiß, Fräulein! Wen darf ich melden?«

»Nicht nötig! Herr Hassenstein erwartet mich!«

Waldemar lag auf einem Diwan, neben sich ein Taburett mit Kaffee und Kognak, und las in einem Magazin. »Na, Frau Weber?« fragte er, ohne sich umzugucken

»Ich bin's, Waldemar!«

»Du? Juliette? Großartig! Tadellos!« Er war aufgesprungen, küßte ihr die Hand, wollte ihr den Mantel abnehmen. Doch sie wehrte: »Nein – nein! Ich will nicht bleiben!«

»Oh – oh! Bitte, liebste Juliette! Eben gekommen – schon wieder gehen? Das wäre mehr als grausam. Wenn Sie wüßten, wie ich mich freue!«

Er nahm ihr, trotz ihres Widerstrebens, den Mantel ab, führte sie zu einem Sessel. »Und dieses schöne Frühlingshütchen . . . so reizend es Ihnen steht, Juliette, Sie erlauben doch?« Mit raschem Griff hatte er es ihr abgezogen. »Entzückend! Das allerschönste Blondhaar! So voll, so echt . . .

Nicht hat hier Wasserstoffs bleichende Kraft
Aus Schwarz oder Braun das Goldblond geschafft –!

Juliette hielt sich lachend die Ohren zu. »Waldemar! Entsetzlich! Das durfte nicht kommen! Sie – ein Dichter? Ausgerechnet Sie?«

»Dichten verrät den idealen Liebhaber!« Waldemar drückte einen Kuß auf ihr Haar – auf ihre Stirn . . . Sie lachte leise vor sich hin. Da wurde er kühner, küßte sie auf den Mund – immer wieder, immer wilder, bis sie ihn energisch zurückdrängte. Hochatmend strich sie sich über die Lider. Sekundenlang kreuzte das Bild eines anderen Mannes ihr Auge. Dann sprang sie jäh auf.

»Wie ist's, Waldemar? Ich war in der Stadt. Dieser Staub, diese schlechte Luft! Ich bin abgespannt. Haben Sie nicht eine kleine Erfrischung hier?«

»Aber natürlich! Entschuldigen Sie, liebe Juliette, daß . . .« Er war an einen Wandschrank geeilt, der ein wohlassortiertes Lager von Likörflaschen barg. Überlegte einen Augenblick. »Ah, jetzt weiß ich! Die Mischung, die Sie in Paris so liebten!« Er drehte sich um, sah sie mit einem langen Blick an. »Oder hat sich Ihr Geschmack verändert?«

»Ja«, sagte sie gedehnt, »meine Zunge, mein Mund lieben ab und zu die Abwechslung. Aber immerhin – mixen Sie die Pariser Mischung, wenn Sie die noch kennen!«

Waldemar bot ihr das Glas. »Auf das Wohl meines liebsten, schönsten Gastes!« Und wieder sah er sie mit seinen großen, dunklen Augen an.

Juliette wollte dem Blick ausweichen – vermochte es nicht. Ihre Blicke tauchten ineinander – lange . . . Mit Mühe zwang sie sich endlich, den Kopf zu wenden, hob mit leicht zitternder Hand ihr Glas, trank es leer.

Dies Augenpaar . . . nie glaubte sie ein schöneres gesehen zu haben. Ein unendlicher Reiz ging von diesen dunklen Sternen aus, verschönte das lange, ungleichmäßige Gesicht. Oft und oft hatte sie sich gefragt: Was findest du eigentlich an diesem jungenhaften, ewig törichten Menschen? Gewiß, er hatte gute Manieren, war äußerlich ein vollkommener Kavalier . . . aber unsichere Existenz – mäßige Bildung – schwacher Geist . . . eigentlich nichts, was sie auf die Dauer fesseln sollte. War sie aber mit ihm zusammen, verfiel sie immer wieder dem Bann dieser Augen. Ihre stumme Sprache, ihre verwirrende Macht berauschten, zwangen sie immer wieder, trotz aller inneren Abwehr. Und wenn er lachte – Waldemar lachte, trotz allem Mißgeschick, viel – welch froher Glanz dann darin! Welch Zauber strahlte dann aus ihnen, riß alles mit sich, was ihr Blick traf . . .

Wie um sich frei zu machen, reichte sie ihm ihr Glas, bat um ein neues. Während er den Drink mixte, setzte sie sich auf den Diwan, entzündete eine Zigarette und lehnte sich ungezwungen in die Kissen. Als Waldemar ihr das Glas reichte, wies sie es zurück.

»Stellen Sie es, bitte, dahin! Später . . . Ich langweile mich, Waldemar. Das Prachtwetter draußen . . . Machen Sie doch einen Vorschlag! Raus ins Grüne – irgendwohin!«

»Ausgezeichnete Idee, Juliette! Ins Grüne . . . Wie wär's mit dem grünen Rasen?«

»Famos!« Juliette sprang auf, eilte auf Waldemar zu, der an seiner Bar saß, küßte ihn auf die Augen. Er hielt sie an den Händen fest, als sie von ihm abließ, schaute ihr glückselig lächelnd ins Gesicht. Da konnte sie nicht anders: sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf den Mund, bis es ihr dunkel vor den Augen wurde.

Da riß sie sich los. Er wollte sie in die Arme nehmen – doch mit einem Sprung war sie bei ihrem Mantel. Im Nu hatte sie ihn übergeworfen, den Hut wieder über den Kopf gestülpt. »Ich bin fertig, Waldemar. Wollen Sie Ihre Dame noch lange warten lassen?«

Einen Moment stand er stumm. Sein Gesicht starr wie in grenzenloser Überraschung.

Juliette lachte laut heraus, griff ihn an den Schultern, schob ihn vor den Spiegel. »Waldemar – das Gesicht!« Ihr Gelächter überschlug sich. »Schade, daß kein Photograph da ist!«

Da lachte auch er. »Warte, du Hexe!« Er ging in den Nebenraum, dessen Tür offenblieb. Juliette warf einen neugierigen Blick hinein. Da kam Waldemar zurück, sah ihren Blick, machte eine einladende Handbewegung: »Nett hier bei mir – nicht wahr?«

»Sieht mehr nach Damenboudoir aus, Waldemar.«

»Richtig, Juliette. Vor mir wohnte hier eine bekannte Bardiva . . . Nehme an, daß meine Wirtin für rückständige Miete das Mobiliar ihres Schlafzimmers einbehalten hat. Wollen Sie es nicht mal ansehen? Es ist wirklich entzückend.«

»Nein – nein . . . Später vielleicht . . . Es ist höchste Zeit, wenn wir noch zurechtkommen wollen.« –

Das erste Rennen wurde gerade angeläutet, als sie auf die Tribüne kamen. Juliette war entzückt. Der sonnige Frühlingstag, das elegante Publikum um sie herum – das aufregende Spiel der Rennen . . . Es bedurfte keiner großen Überredungskunst Waldemars, um ihr Glück mit ihm am Totalisator zu versuchen. Doch kein Pferd kam, auf das sie getippt. Waldemar verdoppelte den Einsatz, um den Verlust wieder einzubringen, und machte das Loch in seiner Brieftasche dadurch nur immer größer.

»Unglück im Spiel – Glück in der Liebe«, sagte er mehrmals, zu Juliette gewandt, und sah sie bittend, fragend an. Sie achtete kaum darauf. Die Wettleidenschaft hatte sie so ergriffen, daß sie nichts sah als die Tips in der Rennzeitung vor ihr.

Das letzte Rennen. Juliette schlug einen sehr hohen Einsatz vor, um alle Verluste wiedergutzumachen. Waldemar zögerte einen Augenblick. Schlug's fehl, war seine Brieftasche leer. Dann konnte er dem in Spieleifer glühenden Blick Juliettes nicht widerstehen. Mit einem unterdrückten Seufzer legte er den letzten Tausendmarkschein in die Hände des Buchmachers . . . Schon jubelte es in Juliette – ihre Hände erhoben sich zum Klatschen . . . Da stürzte ihr Pferd . . . vorbei!

Bedrückt schob Waldemar seinen Arm unter den ihren. »Geplatzt, Juliette!« sagte er resigniert. »Na, vielleicht ein andermal! Heute tröste ich mich: ›Unglück im Spiel, Glück in der Liebe!‹«

Ein leichter Druck von Juliettes Arm ließ ihn die leere Brieftasche schnell vergessen . . .

Als er am nächsten Morgen auf seiner Bank eine Quittung über dreitausend Mark präsentierte, wurde ihm zu seinem Schrecken gesagt, daß nur noch zweitausenddreihundert Mark auf seinem Konto stünden. Er schrieb einen neuen Scheck über zweitausend aus. Die restlichen dreihundert sollten als äußerste Reserve auf der Bank bleiben. Mit dem Geld in der Tasche kam er in Juliettes Hotel.

Sie wartete in der Halle. Nach einem guten Frühstück machten sie eine Fahrt zum Wannsee, und Juliette, die lange nicht hier gewesen, genoß den herrlichen Tag in vollen Zügen. Erst später fuhren sie zurück, soupierten wie zwei glückliche Kinder.

Theaterbesuche . . . Bars . . . ein Tag reihte sich an den andern. Waldemar vermied es ängstlich, sie an die Rennbahn zu erinnern, und doch sah er mit Entsetzen, wie sein Kassenbestand rapide abnahm.

Eines Morgens, als er sie wieder im Hotel aufsuchte, fiel Juliette sein zerstreutes, gedrücktes Wesen auf. »Was hast du, Waldemar?«

Er beichtete stotternd. Sein ganzes Kapital bestand noch aus einem Fünfzigmarkschein.

»Oh«, sagte Juliette, »ich dachte doch . . .«

»Ja, auch der größte Geldsack kriegt mal ein Loch! Da heißt's eben, das Loch wieder stopfen . . . Leicht gesagt, aber schwer getan!«

»Kannst du nicht irgend etwas unternehmen?« sagte Juliette leichthin.

»Gewiß! Aber zu 'nem Unternehmen gehört Betriebskapital, und das fehlt mir leider . . .«

»Nun, vielleicht sagst du mir, was du brauchst. Ich helfe dir selbstverständlich gern aus.«

»Du mir aushelfen? Bist du so reich, Juliette?«

»Reich nicht; aber was ich brauche, hab' ich immer; und ein paar tausend Mark könnte ich schon mal entbehren. Wieviel wäre denn nötig?«

»Viertausend Mark«, kam es zögernd aus Waldemars Munde.

»Kannst du haben! Aber sag' erst mal: Was hast du vor?«

»Was ich vorhabe? Ich möchte denselben Coup von neulich noch einmal machen. Und diesmal noch etwas besser!«

»Du willst nach Paris? Mit dem Auto? Aber sagtest du nicht einmal, es sei verpfändet?«

»Gewiß – aber das schadet ja nichts . . . Das heißt, wenn man mich schnappte . . . Aber damit rechne ich nicht.«

»Und wann gedenkst du . . .?«

»Je eher, je besser! Wenn ich das Geld heute noch haben könnte, würde ich morgen fahren.«

»Gut, Waldemar! Ich gehe nach oben und schreibe dir einen Scheck. Und dann wollen wir den Tag noch einmal recht nett und vergnügt verbringen!« – –

Am nächsten Morgen – Juliette lag noch in tiefem Schlaf – rief Boffin sie an. Als sie zu ihm ins Büro kam, gab er ihr einen wichtigen Auftrag nach London. Mit Freude ging Juliette darauf ein. Wenn sie zurückkam, mochte Waldemar wohl auch aus Paris wieder da sein.

Gleich nach ihrer Rückkunft aus England rief sie bei Waldemars Wirtin an und hörte: »Nein – Herr Hassenstein ist noch nicht zurück.«

Ein paar Tage vergingen in unruhvollem Warten. Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie erinnerte sich an ein Lokal, in dem ein paar Freunde Waldemars, die sie einmal flüchtig kennengelernt hatte, verkehrten, und fuhr dorthin.

Das Lokal lag hoch im Norden. Die abgelegene Gegend, das häßliche Straßenbild, die grauen, eintönigen Häuserreihen – das alles verdüsterte ihre Gedanken. Mit einem gewissen Bangen trat sie in das Lokal. Im Billardzimmer traf sie Waldemars Bekannte, die sie geräuschvoll begrüßten. »Waldemar! . . . Sie wissen noch nicht, gnädiges Fräulein –?« Die Worte überstürzten sich.

Juliette fühlte das drohende Unheil. »Was ist mit ihm? So sagen Sie's doch!«

Die Antwort – leise, im Flüsterton – traf sie wie ein Donnerschlag. Waldemar war auf der Rückfahrt an der Grenze angehalten worden; sein Wagen samt Ladung beschlagnahmt. Nur mit halbem Ohr hörte sie die teilnehmenden Worte der anderen. Wie betäubt fuhr sie nach Hause.

Schlaflos verbrachte sie die Nacht. Kein Gedanke in ihr an das verlorene Geld – nur die Sorge um Waldemar. Würden sie ihn dort verurteilen, oder würde er nach Deutschland ausgeliefert werden? Hohe Strafen standen auf derartigen Geschäften . . . Tausend Gedanken in ihr, wie sie ihm helfen könne . . . Ob sie sich an Boffin wenden, den um Rat fragen sollte? Sie wußte, der war ein mit allen Wassern gewaschener Yankee . . .

Der Tag war schon angebrochen, als sie endlich in einen unruhigen Schlummer fiel. In ihren Schlaf schrillte das Telephon. Übermüdet, verdrossen, wollte sie es überhören, drehte sich zur Seite. Doch das ließ nicht nach – schrillte mit kurzen Pausen immer wieder.

Ärgerlich richtete sie sich auf, ergriff den Hörer. Es war Boffins Stimme . . . Etwas Wichtiges, besonders Interessantes mußte vorliegen – entnahm sie seinen Worten. Ihre verweinten Augen wurden klarer, als er ihr in vorsichtigen Andeutungen eine neue Beschäftigung in Aussicht stellte.

*

Wenn Dr. Fortuyn früher einige Zeit lang den kranken Terlinden nicht hatte besuchen können, kam mit Sicherheit ein telephonischer Anruf. Es war ihm aufgefallen, daß dies in letzter Zeit unterblieb. Und erschien er dann wieder in der Villa, so erwarteten ihn nicht mehr, wie sonst, freundschaftliche Vorwürfe über sein Wegbleiben. Im Gegenteil: der Kranke empfing ihn mit mürrischem Gesicht und legte eine solche Gleichgültigkeit an den Tag, daß der Gast stutzig wurde.

Es wurde ihm klar, daß Clemens' Gefühle für ihn sich gewandelt hatten. Um Klarheit zu gewinnen, wandte er sich eines Tages an Johanna. Schon bei seinen ersten Worten merkte er, wie sie in ängstliche Unruhe geriet, als habe sie eine solche Frage längst befürchtet. Je weiter er sprach, desto verstörter wurde sie. Wandte sich schließlich ab, um die Träne zu verbergen, die über ihr Gesicht rann. Am Zucken ihrer Schultern merkte er ihre Erregung, legte den Arm um sie. »Was hast du, Johanna? Du weinst? Hab' ich dir weh getan?«

Sie schüttelte den Kopf, erwiderte dann stockend, mit bebender Stimme: »Was du da andeutest, hab' ich ja schon immer mit Bangen erwartet. Ach, Walter – nun ist alles aus! Ein anderer hat Clemens' Ohr gewonnen – hat sich nicht gescheut, sein ohnehin verdüstertes Gemüt durch böswillige Andeutungen mit Argwohn und Mißtrauen zu erfüllen.«

Fortuyn war blaß geworden. »Sicherlich Düsterloh, der erbärmliche Wicht!« knirschte er. »Und ich kann mich nicht wehren – mir sind die Hände gebunden . . . Kann den Verleumder nicht zur Rechenschaft ziehn, mich vor Clemens nicht verteidigen! Kann ich's überhaupt noch wagen, dem ins Gesicht zu sehen? Muß ich nicht immer die stumme Frage aus seinen Augen lesen: Hast du mir deshalb das Leben gerettet, um mir mein Weib zu . . .«

Da schrie Johanna laut auf, preßte ihm die Hand auf den Mund. »Nicht das Wort, Walter! Du hast ihm nichts geraubt – ihm gehörte schon längst nichts mehr! Wer weiß, ob er mich nicht schon ganz verloren hätte, wenn du nicht gewesen wärst! Nur daß ich mich immer wieder auf dein Kommen freuen konnte – die einzige Freude in diesem freudlosen Leben –, ließ mich hier ausharren. Wer darf über uns richten? Es war mein natürliches Recht, mich an dich zu klammern – in meiner Not . . .« Jede Zurückhaltung war geschwunden. Ohne Scheu gab sie ihre Gefühle preis, ließ ihn in ihr Herz blicken, das in wildem Begehren nach ihm schrie. »Was willst du nun tun, Walter?« drängte sie ihn. »Unser Haus meiden – mich verlassen?« Ihre Finger umkrampften seine Arme, ihr Leib bebte wie im Fieber. Ein drohendes Leuchten in ihren unnatürlich großen Augen . . .

Sanft löste er ihre Hände, strich ihr beruhigend über die heiße Stirn. »Dich verlassen? Niemals, Johanna!« Er neigte seinen Mund zu ihrem Ohr. »Du mußt vernünftig sein – dich in die Lage fügen! So oft wie bisher kann ich nicht zu euch kommen. Um den Schein zu wahren, unliebsamen Fragen vorzubeugen, will ich hin und wieder Clemens auch weiter besuchen. Und du, Johanna, mußt stark und geduldig sein, wie unser Schicksal es fordert. Habe Vertrauen, Liebste! Alles wird noch gut!« Den Arm um ihre Schulter geschlungen, ging er zur Tür, drückte ihr fest die Hand. »Tapfer sein, Johanna!«

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, da rief die Klingel des Kranken. Johanna eilte in ihr Zimmer, fuhr sich schnell mit einem feuchten Tuch über die Augen. »Lache, Bajazzo!« ging's durch ihr Herz, während sie nach dem Krankenzimmer eilte. Als sie eintrat, lag wieder die Maske der ewig gleichmütigen, freundlichen Miene auf ihrem Antlitz.

»Was hattest du denn noch so lange mit Fortuyn zu reden?« kam es griesgrämig vom Krankenbett.

Sie fühlte das versteckte Lauern, das in der Frage lag. »Tapfer sein!« Die letzten Worte Fortuyns klangen in ihr, gaben ihr die Kraft, frei und natürlich zu antworten. »Wir sprachen von dem alljährlichen Sommerfest, das die Direktion veranstaltet.«

»Ihr suchtet wohl schon die schönste Toilette aus für dich?« sagte Clemens bissig.

Ohne auf seinen anzüglichen Ton einzugehen, erwiderte sie heiter: »Ach, leider ist Doktor Fortuyn in solchen Fragen wenig kompetent! Ich glaube, er kann mit einer Dame stundenlang zusammensein und weiß nachher nicht, was sie für ein Kleid an hatte.«

»Na – jedenfalls brennst du doch auch darauf, das Fest mitzumachen?« Clemens war ärgerlich, weil sie auf seinen Ausfall hin so ruhig blieb.

»Vorläufig hab' ich mich noch gar nicht entschlossen.« Ein gleichgültiges Achselzucken. »Du kannst ja Kampendonk fragen, dem ich antwortete, daß meine Teilnahme ungewiß sei.«

Clemens hielt die Augen geschlossen. Sie sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete, wie er nach neuen, verletzenden Worten suchte. Beide hatten das Klingeln draußen überhört, merkten erst auf, als Düsterloh in der Tür erschien. Nach flüchtiger Begrüßung ließ Johanna ihn mit Clemens allein.

In ihrem Zimmer auf den Diwan hingestreckt, lag sie, die eine Hand unterm Kopf, die andere auf das klopfende Herz gepreßt. Immer nur der eine Gedanke in ihr: Was soll werden – wie soll das enden? Immer wieder dies Quälen, Sticheln – und jetzt auch noch Onkel Düsterloh da . . . Ich kann mir schon denken, wie der Heuchler ihn mit seinen Anspielungen wieder aufputschen wird; und nachher, wenn er weg ist, bekomm' ich's zu fühlen.

Ihr Blick ging auf die Uhr. Schon über eine halbe Stunde vergangen . . . Düsterloh noch bei Clemens? Oder ist er fort, ohne daß ich ihn gehört habe?

Da klopfte es. Das Mädchen fragte, ob Herr Direktor Düsterloh die gnädige Frau sprechen könnte. Johanna nickte.

Düsterloh trat ein. Das Programm, das er sich für heut zurechtgelegt hatte, war auf eine neue Melodie abgestimmt. Er nahm Platz, schlug mit der Faust auf den Tisch. In burschikosem Ton fing er an zu poltern: »Das kann so nicht weitergehn! Ich begreife nicht, wie du das überhaupt aushältst. Clemens war unerträglich heute. Ich gab mir alle Mühe, ihn auf andere Gedanken zu bringen, aber er ließ ja nicht locker . . .« Düsterloh stockte. Johanna hatte ihm ihr Gesicht zugewandt, sah ihn voll an. Wie um sich größere Sicherheit zu geben, sprach er immer lauter. »Er ist verrückt! Einfach verrückt! Eine Marotte, von der er nicht loskommt! Ich hab' mir den Mund fußlig geredet – konnte ihn aber nicht davon abbringen . . .«

»Was meinst du denn, Onkel Franz?« sagte Johanna ganz gleichmütig.

»Ja – hat er sich denn dir gegenüber davon nichts merken lassen? Er hat was gegen Fortuyn. Bildet sich ein, der wäre dein Courmacher.«

»Ach, Onkel, du weißt ja, was Clemens sich alles einbildet! Ich bin's nachgerade gewohnt, daß er Grillen fängt. Gewiß – er hat mir auch damit in den Ohren gelegen. Um ihn zu beruhigen, hab' ich Fortuyn gebeten, seine Besuche einzuschränken. Gott, Onkel Franz, das ist ja nur eins von vielen. Wenn du wüßtest, was er alles aussinnt, um sich und andere zu quälen . . .«

Düsterloh war aufgestanden, trat zu ihr heran. »Ich verstehe nicht, Johanna, wie du dies Leben ertragen kannst. Ich bin wirklich besorgt um dich. Früher oder später müssen doch deine Nerven versagen. Ja – aber wie soll man's ändern?« Er schien zu überlegen. »Halt – jetzt habe ich's. Ich nehme meinen Sommerurlaub schon jetzt, und wir machen zusammen eine Reise . . .«

Johanna deutete nach dem Krankenzimmer. »Und was wird mit ihm?«

»Um Clemens brauchst du dich nicht zu sorgen! Ich werde ihn schon dazu bringen, daß er seine Einwilligung gibt. Eine tüchtige Krankenschwester, als Ersatz für dich, ist bald gefunden. Vielleicht folgt er auch der Anregung, die ich ihm vorhin gab. Ich hab' ihm von dem Professor Vocke in Angelfingen erzählt. Der Mann unterhält da ein Sanatorium für Lungenkranke und ist Spezialist für Gasvergiftungen. Du weißt, derartiges passiert ja heute reichlich oft. Clemens wehrte zwar ab, aber vielleicht nimmt er doch mit diesem Wunderdoktor Fühlung. Ob's freilich noch hilft?« Er hob die Schultern. »Na – schaden kann's auf keinen Fall! Jedenfalls mußt du so oder so mal aus der Misere hier 'raus!«

Das klang so offen und ehrlich, daß Johanna in Zweifel geriet. »Du willst sicher unser Bestes, Onkel Franz. Dein Vorschlag einer Reise ist gewiß gutgemeint. Aber du wirst doch wohl einsehen, daß es nicht geht.«

»Warum nicht? Meinst du etwa, ein zwar nicht mehr ganz junger, aber doch noch recht gut konservierter Junggeselle solo allein mit seiner jungen, schönen Nichte . . . Du fürchtest ein Gerede? . . . Pah! Darüber dürften wir beide doch erhaben sein!«

»Ich weiß nicht, Onkel, ob du da nicht zu sehr von deinem Junggesellenstandpunkt aus sprichst.« Sie wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben und versuchte zunächst, auf seinen flotten Ton einzugehen. »Man würde uns sehr wahrscheinlich für ein Ehepaar halten. Du, wie du selbst sagtest, noch gut konserviert; dazu, wie ich erwarte, ein überaus galanter Kavalier. Die Klatschmäuler in Rieba würden da Tag und Nacht offenstehn!«

Düsterloh faßte ihre Heiterkeit falsch auf. Er haschte nach ihrer Hand, hielt sie fest. »Nun, Johanna, wie wär's denn, wenn die Klatschmäuler früher oder später recht behielten?«

Johanna erschrak. Blitzschnell erkannte sie die Gefahr. »Nicht solche Scherze, Onkel!« stammelte sie verlegen.

»Scherze? Scheint es dir so unmöglich, meine Worte etwas ernsthafter auszufassen?« sagte er in verändertem Ton.

Johanna machte ihre Hand gewaltsam los, trat einen Schritt zurück. »Onkel Franz – ich bitte dich! Du vergißt dich! Es ist nicht Tag und Stunde dafür. Denkst du nicht an Clemens?«

Düsterloh machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein lebender Leichnam! Wenn Gott ihn morgen erlöst, wird allen – und auch ihm – wohl sein. Warum nicht heute schon offen sprechen, Johanna? Meine Gefühle für dich werden später nicht anders sein als jetzt. Und du? Wenn ich heute auch weiter nichts mitnehme als das Bewußtsein, dir nicht gleichgültig zu sein – die Hoffnung, daß unsere Wege sich in Zukunft treffen könnten . . .«

»Niemals! Niemals!« Johanna war unfähig, sich länger zu beherrschen. »Wie kannst du das wagen? Du mißbrauchst das verwandtschaftliche Verhältnis, in dem wir stehen!«

Düsterloh war aufgesprungen. »Verzeih mir, wenn ich mich hinreißen ließ!« Sie wollte gehen. Er trat ihr in den Weg. »Johanna, ich bitte dich – beschwöre dich . . .« Sie schob ihn brüsk zur Seite; da rief er in unverhülltem Hohn ihr nach: »Ja, ja! So ist's also wahr, was ich befürchtete: Ein anderer – dieser Fortuyn – liegt dir im Sinn! Wie recht hatte doch der arme Clemens!«

Sie wandte sich noch einmal zu ihm um. »Du wagst es, den Namen auszusprechen? Nachdem du eben erst . . .« Sie kehrte ihm den Rücken, warf die Tür hinter sich zu.

*


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