Hans Dominik
Kautschuk
Hans Dominik

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Na – noch mal gute Nacht, Luise! Denn wollen wir man gehn, Kollege Wittebold.«

Schappmann und Wittebold traten aus dem Haus und gingen zum Werk. Vor der Kantine blieben sie stehen. »Na, denn lassen Sie sich's man gut schmecken, Wittebold! Sie wollen einen Schoppen trinken, und ich mach' meinen Nachtdienst. Na ja – wird ooch vorübergehn . . . un denn haben wir die Pinke!«

Während Schappmann die Treppe zum Hauptgebäude hinaufschritt, ging Wittebold in das Erdgeschoß, wo mehrere Kantinenräume lagen. Er nahm seinen Platz in der Nähe der Tür, die über einen kleinen Gang hinweg Sicht in das Angestelltenkasino gewährte, und ließ sich ein Glas Bier geben. Was würde wohl der brave Schappmann sagen, dachte Wittebold, wenn der wüßte, daß sein solider Mieter in der letzten Zeit so häufig spät abends in die Kantine geht, um einen Schoppen zu trinken!

Als die Uhr elf schlug, rückte Wittebold seinen Stuhl so, daß er das Büfett im Kasino gut im Auge behalten konnte. Das Kasino leerte sich; die Kellner räumten die Tische ab. Der Büfettier Meyer rechnete mit ihnen ab, verschloß dann Schränke und Türen.

Wittebold blieb sitzen, da die Kantine ja die ganze Nacht in Betrieb blieb. Eine gute Viertelstunde mochte vergangen sein, da wurde die Tür des Kasinos nach dem Zwischenflur geöffnet, und Meyer trat auf den Gang. Wittebold hörte, wie eine kleine Pforte aufging, die ins Freie führte.

»Endlich mal!« murmelte er vor sich hin, zahlte sein Bier und verließ die Kantine. Vorm Fabriktor schlug er den Mantelkragen hoch und streifte die blaue Brille über. Aus dem Futter seines Mantels zog er einen Spazierstock mit Gummizwinge, an dem er wie ein gebrechlicher Invalide der Stadt zuhumpelte. Ungefähr hundert Meter vor ihm auf dem anderen Trottoir ging der Büfettier Meyer.

Als Wittebold um den Rathausplatz bog, zog er den Kopf plötzlich noch tiefer in den Rockkragen ein. Verflucht noch mal – ist Essig! dachte er bei sich.

Der Herr, der in diesem Augenblick dicht an ihm vorüberging, war Dr. Abt. Wittebold überlegte im Weiterhumpeln, ob er Meyer noch weiter folgen sollte; denn wenn Abt mit Meyer was vorhatte, hätte er doch den Büfettier zweifellos im Vorbeigehen sehen müssen. Dann aber sagte er sich: Ist's nicht Dr. Abt, ist's vielleicht irgendein anderer, mit dem Meyer sich irgendwo treffen will. Also nur weiter!

Meyer war inzwischen in eine breite Seitenstraße eingebogen. Wittebold folgte ihm, indem er sich auch hier immer auf dem anderen Bürgersteig hielt. Die Straße war sehr schwach belebt. Soweit es möglich, musterte Wittebold die Passanten.

Ein Herr, der eiligen Schrittes auf demselben Bürgersteig wie Meyer daherkam, fiel ihm auf. »Zum Donnerwetter – das ist ja noch mal Dr. Abt!«

Unwillkürlich beschleunigte auch Wittebold seine Schritte. Als Dr. Abt noch ungefähr zehn Meter hinter Meyer war, nahm er ein Paketchen, das er bisher in der Linken getragen hatte, in die Rechte. Obgleich das Trottoir reichlich breit war, ging Dr. Abt so dicht an Meyer vorbei, daß er ihn beim Überholen fast streifte. Eine Sekunde später sah Wittebold, daß das Paketchen aus Abts Hand verschwunden war, ohne daß der irgendeine Bewegung mit der Hand oder dem Arm gemacht hatte.

»Ah!« brummte Wittebold. »Ihre linke Manteltasche, mein lieber Meyer, ist ja plötzlich so dick geworden! Was gäbe ich drum, wenn ich wüßte, was dieses kleine Paketchen in Ihrer Tasche enthält!«

Er ließ den Zwischenraum zwischen Meyer und sich wieder größer werden und folgte ihm um den Häuserblock herum, bis Meyer wieder durch das Tor des Werkes trat. Der Büfettier hatte ja Tag und Nacht ungehinderten Zutritt, weil er bei seinem Bruder, dem Kantinenwirt, im Werk wohnte.

Wittebold zerbrach sich den Kopf, wie er es anstellen könnte, von dem Inhalt des Paketes Kenntnis zu nehmen. Doch vergeblich. Er fand keinen Weg. –

Als er gegen Mittag des folgenden Tages an der Kantine vorbeikam, ging es ihm durch den Kopf: Na – das Paketchen wird ja schon längst unterwegs sein!

Doch dies war ein kleiner Irrtum. Hinter dem Bretterzaun, an dem Wittebold vorüberging, war der Büfettier Meyer gerade beschäftigt, einige Kisten als leere Emballagen für die Firma Boffin in Berlin versandfertig zu machen. Eine kleine Kiste nagelte er mit besonderer Sorgfalt zu. Denn zwischen dem alten Packmaterial da drinnen befand sich auch das Paketchen, daß er Dr. Abt en passant aus der Hand genommen hat. In dem im üblichen Stil gehaltenen Frachtbrief der Sendung waren Zeichen und Nummern der Kisten einzeln aufgeführt. Der Punkt hinter der Nummer jener kleinen Kiste war etwas sehr groß geraten. –

Als Boffin den Brief las, machte ihm jener mißratene Punkt anscheinend große Freude. Er fuhr selbst in seinem Auto zu dem Lagerraum und ließ sich die kleine Kiste aushändigen. – – –

*

Als Schappmann sich an jenem vorhergehenden Abend von Wittebold getrennt hatte, traf er im Hauptgebäude den Kastellan Börner. »So, Börner, da bin ick! Nu stell mir mal deinen Harem vor!«

»Is eigentlich gar nich nötig, Schappmann. Kennst doch die olle Schauergarde noch von früher her. Doch halt – nee! Eine Neue is da. Das heißt aber nur als Vertretung. Nettes Mächen übrigens. Von mir aus könnt' se immer bleiben. Die olle Franzen is krank, und das Mächen, was se vertritt, das wohnt bei ihr. Ist Glasbläserin bei Meister Kunze. Muß 'en ordentliches Mächen sind. Erst acht Stunden in der Glasbläserei, un denn noch sechs Stunden hier reinemachen – is doch allerhand for so'n junges Ding! Na, nu komm her! Ich werde dir mit den Schlüsseln Bescheid geben. Den Schlüssel zum Sicherheitsarchiv heb' nur ja gut auf! Du mußt ihn jeden Morgen im Büro abgeben. Die anderen Schlüssel hast du unten in deiner Stube im Schrank. Und den Schlüssel zum Schrank mußt du natürlich abgeben.«

Langsam schritten sie durch die Korridore, wo überall Besen und Lappen lebhaft am Werke waren.

Vor einer der offenen Zimmertüren blieben sie stehen. Börner zeigte auf die arbeitende Frau darin. »Das is se! Anna Grätz heißt se!« Er rief sie an und deutete auf Schappmann. »Also, Fräuleinchen, das ist hier meine Vertretung, der Herr Schappmann. Wenn Se also 'en Schlüssel brauchen, denn wenden Se sich an den!«

Das Mädchen richtete sich auf und sah einen Augenblick zu Schappmann hinüber. Wäre ein ganz hübsches Mächen, wenn sie bloß nich so schlampig wäre! dachte Schappmann; ihr Haar hat noch keinen Kamm gesehen heute morgen. –

Eine Stunde später hatte Börner das Werk verlassen. Schappmann war der alleinige Kommandant der Scheuergarde. –

Wochen waren vergangen. Die Vertretung Schappmanns neigte sich ihrem Ende entgegen. Ein paarmal schon hatte er die junge Scheuerfrau gefragt, ob denn nicht die alte Franzen bald wiederkäme. Doch die hatte nur immer gesagt, es wäre noch gar nicht besser; es könnte noch dauern.

»Na, Fräuleinchen«, hatte Schappmann gemeint, »wird Ihnen denn det nich doch zuviel auf die Dauer?«

»Ach ja!« hatte die geseufzt. »Ich wollte gern, daß dies hier ein Ende hätte!« Dabei hatte sie ihre Hände betrachtet, die rot und verarbeitet aussahen. –

Auch Wittebold hatte vorübergehend für das Befinden der Frau Franz ein gewisses Interesse gehabt. Bei seiner Beobachtung des Büfettiers Meyer war er dem einmal bis in das Haus gefolgt, in dem jene Frau Franz wohnte. Doch das, was er da in Erfahrung brachte, bot ihm keinen Anlaß zu irgendeinem Verdacht. Er hatte nur gehört, daß die Frau an einer sonderbaren Krankheit litt. Bald ging es ihr ganz gut, so daß der Arzt ihr Hoffnung machte; dann plötzlich war es wieder so schlecht, daß er vor einem Rätsel stand.

Als Wittebold eines Morgens etwas früher in seinen Dienst ging, traf er Schappmann, der sich gerade von den Frauen die Schlüssel aushändigen ließ.

»Wo is denn die Anna Grätz?« rief Schappmann.

»Die muß gleich kommen!« gab eine Frau zur Antwort. »Mach schnell, Anna!« rief sie in einen Korridor hinein, wo die Gesuchte eben die Fenster schloß. »Herr Schappmann lauert schon auf dich!«

Wittebold, der nicht länger warten wollte, ging nach seinem Gebäude, rief Schappmann im Weggehen noch zu: »Wenn Sie fertig sind, lieber Schappmann, kommen Sie doch mal zu mir 'rein!«

Als Schappmann in Wittebolds Zimmer kam, hatte der einen großen Stoß Akten vor sich, die er ordnen mußte.

»Na, wat soll ick denn, Kollege? Wieder mal helfen?«

»Ja, lieber Schappmann, helfen Sie mir doch wieder mal ein halbes Stündchen! Gibt heute wieder eine Mordsarbeit.«

»Hab' ick Ihnen ja gleich gesagt, Sie sollten sich nich auch noch die Abteilung von Doktor Moran aufschwätzen lassen. Sagte Ihnen gleich, det wird zuviel für eenen. Aber Sie wollten ja partout! Nu haben Se's!«

Wittebold gab keine Antwort, sondern murmelte nur etwas Undeutliches in seinen Bart. Als Schappmann gegangen war, beeilte Wittebold sich, die Mappen in die verschiedenen Abteilungen zu bringen. Er wollte gerade zu Morans Abteilung hinaufsteigen, als ihm der Briefträger begegnete.

»Morgen, Herr Wittebold! Wollen Sie da zu Doktor Moran? Ja? Dann nehmen Sie doch seine Post mit 'rauf! – So, danke schön!«

Wittebold klemmte die Zeitungen und Briefe unter den Arm und ging nach Morans Zimmer. Der war noch nicht da. Er ließ die Post aus seinem Arm auf den Tisch rutschen und legte die Mappen daneben. Unwillkürlich warf er einen Blick auf die Briefe, die an Moran gerichtet waren.

Plötzlich wurde sein Blick starr. Er trat dicht an den Schreibtisch heran und beugte sich über einen der Briefe, die da durcheinanderlagen, wie sie gefallen waren. Er nahm den Brief auf, ging zum Fenster, las immer wieder die Anschrift: »Herrn Dr. Moran in Rieba.«

Diese Buchstaben – wie oft hatte er die charakteristischen Schriftzüge Headstones in Detroit gesehen! Headstone . . . Was hatte der an Moran zu schreiben?

Der Brief in Wittebolds Hand begann leicht zu zittern. Sekundenlang schloß er die Augen. In jener Nacht, als er darüber grübelte, ob Dr. Abt allein oder mit anderer Hilfe seine dunklen Geschäfte trieb – in dieser Nacht war doch vor seinem Auge unter anderem auch plötzlich die Gestalt Morans erschienen. Damals hatte er den Verdacht, so schnell er kam, schon wieder verworfen.

Ohne sich seines Tuns recht bewußt zu sein, steckte er den Brief in die Tasche und eilte in sein Dienstzimmer. In fliegender Hast entzündete er einen Spirituskocher und stellte einen kleinen Kaffeekessel darauf. Ungeduldig wartete er, bis das Wasser zu sieden begann. Dann hielt er die Rückseite des Briefes in den ausströmenden Dampf, bis der Klebstoff des Umschlages sich erweicht hatte. Vorsichtig öffnete er die Klappe, zog mit zitternder Hand den Brief heraus, las. Die Überschrift, die Unterschrift. Es war so, wie er geahnt: der Brief war von Headstone, mit der Hand geschrieben; und unterzeichnet.

Schnell überflog er den Inhalt. Nahm ein Blatt und schrieb den Text wortgetreu ab. Der Sinn der meisten Sätze war ihm unverständlich. Nur das eine ging klar aus den Zeilen hervor, daß Headstone Dr. Moran heute abend um neun Uhr im Kaiserhof in Berlin zu einer Unterredung erwartete. Er tat den Brief in den Umschlag zurück und verschloß diesen wieder mit großer Sorgfalt. Eilte dann schnell nach Morans Büro. Möglich, daß der noch nicht da war und er den Brief wieder unter die anderen mischen konnte. Er atmete erleichtert auf, als er Morans Zimmer leer fand. Schleunigst schob er Headstones Schreiben unter die anderen Briefe und verließ den Raum.

In seinem Zimmer dann ließ ihn die ungeheure Erregung, die in ihm tobte, wie gelähmt in einen Stuhl sinken. Wäre es möglich? Wäre das die Lösung des Rätsels? Moran der Dieb, der Spion? Moran in Headstones Diensten? . . . In wildem Chaos wirbelten Wittebolds Gedanken durcheinander. Er saß . . . saß, dachte, sann. Sein Begriffsvermögen drohte zu versagen. Wie lange er da so gesessen, wußte er nicht. Er fuhr erst auf, als die Glocke in seinem Zimmer schrillte.

Er eilte daraufhin in Morans Laboratorium; traf ihn neben Abts Arbeitstisch stehend. Moran gab ihm eine Mappe mit Unterschriften. Im Weitergehen hörte Wittebold noch, wie Moran sagte: »Wenn ich morgen etwas später kommen sollte, Herr Kollege, behalten Sie die Unterschriftsmappen bis gegen Mittag hier. Ich fahre heute kurz nach fünf nach Berlin.«

Als Wittebold an Fortuyns Laboratorium vorüberging, verlangsamte er seinen Schritt. Blieb einen Augenblick überlegend stehen. Dann ging er durch das Laboratorium zu Fortuyns Zimmer.

Fortuyn war in seinem Privatarbeitsraum an einer kleinen Maschine beschäftigt und sah erst auf, als Wittebold sagte: »Dürfte ich Sie um ein Darlehen von zweihundert Mark bitten, Herr Doktor?«

Verwunderung, Überraschung malten sich auf dessen Zügen. »Was haben Sie, Herr Wittebold? Was ist denn mit Ihnen? Sie sehen so verstört aus. Sie haben etwas vor. Was ist passiert?«

Wittebold schüttelte den Kopf. Sprach stockend, ausweichend: »Ich weiß nichts Bestimmtes, Herr Doktor. Ein Verdacht . . . wenn er wahr, vielleicht wäre dann alles, alles geklärt . . . Ich will – ich darf noch nicht sprechen. Denn möglich wäre es doch, daß ich mich geirrt.«

Fortuyn ging in sein Büro und schrieb einen Scheck. Während er ihn Wittebold überreichte, sah er prüfend in dessen Gesicht. Die starke Erregung, die er da sah, übertrug sich auch auf ihn. Es drängte ihn, Wittebold zu fragen, was er vorhabe. Mit Gewalt unterdrückte er das Verlangen, fragte nur: »Brauchen Sie Urlaub?«

»Nein. Ich möchte nur den Vieruhrzug nach Berlin noch erreichen. Spätestens morgen mittag bin ich wieder hier.«

Es dauerte lange, bis Fortuyn sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Das sonderbare Wesen Wittebolds wollte ihm gar nicht aus dem Sinn gehen. Mit Mühe zwang er sich zu seiner Arbeit.

Die Mittagsstunde war herangekommen, da stellte er die Maschine still. Auch hier gab's nun keinen Zweifel mehr. Aufatmend erhob er sich, ging in sein Büro, warf auf den Rand eines Schriftstückes ein paar Zahlen und schloß die Mappe.

»Die Elektrosynthese des Kautschuks im Großverfahren nach Dr. Fortuyn« – stand in breiter Schrift auf dem Deckel. Er lehnte sich wuchtig in seinen Stuhl zurück. In seinen Augen leuchtete es von Sieges-, von Entdeckerfreude. Seine Rechte legte sich schwer auf die Mappe. Diese Blätter, sein Lebenswerk! Das Werk, an das sich für alle Welt, für alle Zeiten seinen Namen knüpfen würde.

Sein Auge glitt zu einem Stoß gleichförmiger Aktenstücke neben ihm. Die Patentanmeldungen für alle Kulturstaaten der Erde. Morgen würden sie 'rausgehen. Morgen würde jener kleine Artikel in der Werkzeitung stehen, der, von der Weltpresse, von der größten Tageszeitung bis zum kleinsten Sonntagsblatt aufgegriffen, seinen Sieg über die ganze Erde hin verkünden mußte. Sieg . . . Wer würde außer ein paar wenigen danach fragen, wie schwer dieser Sieg errungen war, wie lange er um ihn gekämpft hatte?

Als blutjunger Student saß er in einer Vorlesung über die Eigenschwingungen der Atome und Moleküle. Da hatte der Professor so beiläufig gesagt: »Hier, meine Herren, würden sich Möglichkeiten eröffnen, Chemie auf ganz neuen Wegen zu treiben: Wechselstrom-Elektrochemie, Hochfrequenz-Elektrosynthese. Ziele, die heute nur geahnt werden, würden sich damit erreichen lassen. Aber, meine Herren, diese Wege sind vorläufig nur in ihren allerersten Anfängen erkennbar. Schon nach wenigen Schritten verlieren sie sich in Gestrüpp, in Klüften und Wildnis. In Jahren erst, vielleicht Jahrzehnten, wird man diese Wege gangbar machen. Es sei denn, daß irgendeinem vielleicht«, – er sah über die stattliche Hörerschar – »einem von Ihnen ein göttlicher Funke die Erleuchtung früher bringt –!«

Die Worte des Professors waren im Geist des jungen Studenten haftengeblieben. Je weiter er in seinen Studien fortschritt, je tiefer er in seine Wissenschaft eindrang, desto mehr verwurzelte er mit dem Problem. Während der ersten Assistentenstellungen konnte er sich nur in seinen Mußestunden und theoretisch damit beschäftigen. Da kam er nach Rieba. Hier, wo es große wissenschaftliche Forschungslaboratorien gab, wagte er es eines Tages, dem Generaldirektor Kampendonk sein Problem zu unterbreiten. Der hatte es mit den Fachleuten im Direktorium besprochen. Obgleich Fortuyns Ideen bei denen nur wenig Anklang fanden, war Kampendonk auf Fortuyns Vorschlag eingegangen, hatte ihn erst mit kleineren, später mit größeren Mitteln an der Elektrosynthese des Kautschuks arbeiten lassen.

Harte Kampfjahre waren das gewesen. Zwar hatte sich allmählich die Zahl seiner Anhänger vermehrt; doch wirklich frei hatte er erst arbeiten können, als Professor Janzen, sein hauptsächlichster Widersacher, Rieba verlassen hatte. Auch dann noch gab es immer wieder kritische Zeiten, doch Kampendonk persönlich hatte stets fest zu ihm gestanden; auch dann noch, als eine starke Mehrheit im Direktorium das Engagement Morans durchdrückte.

Nur eins, was ihm schon die ganze letzte Zeit und auch jetzt noch die Freude an seinem Werk trübte: der Gedanke, daß feindliche Mächte ein dunkles Spiel trieben, ihn durch Entwendung seiner Entdeckungen um die Früchte seiner Arbeiten zu betrügen suchten.

Fortuyns Gedanken gingen wieder zu Wittebold. Wo wollte der hin? Was hatte der vor? Wozu brauchte er die beträchtliche Summe für die kurze Zeit? Morgen wollte er wieder zurück sein . . .

Noch grübelte Fortuyn darüber, als Kampendonk eintrat. Dessen erster Blick ging zu dem Stapel der Patentschriften. »Erledigt, Herr Doktor? Alles geprüft?«

»Ja, Herr Geheimrat. Die Patente können morgen früh 'rausgehen.«

»Gut, Herr Doktor! Mir wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn ich die unterwegs weiß.«

»Sie sind doch sicher, Herr Geheimrat, daß der Mann, der die Abschriften der Patententwürfe gemacht hat, vollständig zuverlässig ist?«

»Seien Sie unbesorgt! Herr Doktor Knappe hat die Entwürfe in seinem Landhaus eigenhändig vervielfältigt. Niemand außer ihm und uns beiden weiß davon. Herr Doktor Knappe wird auch für die Expedition der Patente selber Sorge tragen. – Doch wie ist's nun weiter mit der Konstanthaltung der Frequenz? Sie erinnern sich, daß die Frage gestern im Direktorium angeschnitten wurde. Ich muß gestehen, daß ich selber an diese Rückwirkung der fortschreitenden Synthese auf die Hochfrequenzmaschine nicht gedacht hatte.«

»Selbstverständlich, Herr Geheimrat, hatte ich die mögliche Rückwirkung der veränderten Dielektrizitätskonstante des Gemisches auf die elektrische Maschinerie berücksichtigt und alle Vorkehrungen ins Auge gefaßt, um diese Schwankungen zu neutralisieren. Dazu stehen uns zwei Wege offen. Ich habe mir heut morgen das Vergnügen gemacht, den einen, der sich mit den vorhandenen Mitteln am leichtesten erproben ließ, durchzugehen. Wenn es Sie interessiert, Herr Geheimrat? Die Apparatur in meinem Arbeitsraum ist noch betriebsbereit. Der Versuch ist vollkommen gelungen. Ich habe zwar nie daran gezweifelt . . .« Er deutete mit leicht ironischem Lächeln auf die Patentschriften. »Wie hätte ich es sonst wagen können, Patente nehmen zu wollen? Aber um alle Zweifel hier im Werk zu beheben, machte ich mir, wie gesagt, das Vergnügen, den praktischen Versuch im kleinen zu unternehmen. Jeder Zweifler mag sich hier überzeugen.«

»Oh, das ist mir sehr angenehm zu hören, Herr Doktor. Denn bei den Riesensummen, die wir aufwenden müssen, um die Fabrikation einzuleiten, wäre es mir doch bedenklich gewesen, wenn da in der Leitung des Werkes noch irgendwo das volle Vertrauen gefehlt hätte. Ich bin übrigens neugierig, wie sich unsere ausländischen Konkurrenten, in erster Linie die Amerikaner, auf die Patentanmeldungen hin verhalten werden. Wie ich von Detroit hörte, befindet sich Mister Headstone in Europa. Es wäre durchaus denkbar, daß wir in absehbarer Zeit etwas von ihm zu hören bekämen.«

*

Mister Headstone führte zur selben Zeit von Berlin aus ein längeres Telephongespräch mit Rieba. Es mußte ihn aber wenig befriedigt haben; denn er warf schließlich ärgerlich den Hörer auf die Gabel und verlangte ein neues Gespräch mit Kurfürstendamm Nr. 77.

Nach dem Ton seiner Stimme zu schließen, konnte Morris Boffin nur froh sein, fünf Kilometer Luftlinie zwischen sich und James Headstone zu wissen. So brauchte er nur zu hören, nicht zu sehen. Und das war gut; denn das Gesicht von James Headstone war noch weniger liebenswürdig als seine Stimme.

Kaum hatte Boffin abgehängt, da schrillte das Telephon von neuem. Als Boffin die Stimme Morans erkannte, atmete er erleichtert auf. Gut – gut! Der würde gegen Abend zu ihm kommen. Sehr gut! Jetzt kam's endlich zum Klappen. »Aha!« kicherte er schmunzelnd vor sich hin. »Danach, hoffe ich, dear Headstone, werden Sie einen anderen Ton in unserem Verkehr anschlagen!«

Als um neunzehn Uhr Boffins Büro geschlossen wurde, blieb er mit der Collins noch in seinem Privatkontor zusammen. Immer wieder ging sein Blick zur Uhr. »Kann's kaum erwarten, daß Moran kommt! Endlich, Gott sei Dank, ist's so weit! Paßt übrigens vorzüglich zu unserem Reiseplan. Wie's auch wird: übermorgen früh fahren wir.«

»Was haben Sie wieder zu krächzen, alter Rabe?« fuhr Fräulein Collins ihn an. »Was heißt das: ›Wie's auch wird‹? Diesmal geht's sicher nicht schief.«

Endlich klang die Türglocke. Beide eilten hinaus. Es war Moran. –

Eine halbe Stunde waren sie schon in eifrigem Gespräch. Boffin saß mit hochrotem Kopf. Sein Klemmer, der, wie Fräulein Collins behauptete, aus den Anfängen der Optik stammte, wurde gröblichst mißhandelt. Bald saß er auf der Nase; bald rettete nur ein schnelles Zugreifen ihn vor jähem Sturz in die Tiefe; bald wurde er wie ein Dirigentenstab gehandhabt; bald rotierte er wie eine Feuerwerkssonne an der langen Schnur um Boffins Zeigefinger.

»Das müßte doch wirklich mit dem Teufel zugehn«, sagte Fräulein Collins, »wenn das nicht alles programmäßig verliefe.« Mit großer Zungenfertigkeit fügte sie eine Serie von Cowboyflüchen aus Boffins Repertoire hinzu, um der Sache den richtigen Abschluß zu geben.

»Ich hätte aber doch noch lieber ein paar Wochen gewartet«, fiel Moran ein, »da sicher über kurz oder lang die Patentschriften fällig werden. Bis jetzt ist jedenfalls noch nichts darin geschehen. Ich habe mich darüber sehr eingehend nach allen Seiten erkundigt. Aber immerhin, die Sache ist zweifellos spruchreif.«

»Und warum wollten Sie nicht noch länger warten?« fragte Boffin. »Auf ein paar Wochen weniger oder mehr kann es doch am Ende nicht ankommen?«

Moran verzog das Gesicht zu einer Grimasse, »'s ist mir nicht ganz geheuer mehr in der letzten Zeit in Rieba. Weiß der Teufel, ob das die Aufregung macht? Hab' so manchmal den Eindruck, beobachtet zu werden. Auch Abt sagte mir noch gestern, er hielte es nicht länger aus, er fühle sich in seiner Haut nicht mehr wohl. Na, ich weiß nicht so recht, wie ich's sagen soll. Mir scheint da irgendwas faul zu sein. Ich schlafe kaum noch. Ein paar Wochen länger hätte ich nicht mehr durchgehalten.«

Boffin starrte Moran betroffen an. »Meinen Sie etwa diesen verdammten Bürodiener?«

»Bürodiener? Was? Ja, wen meinen Sie denn da?« kam es erschrocken aus Morans Mund.

»Na, den . . . den . . . wie heißt er doch gleich? Na, sagen Sie's doch, Collins!«

»Wittebold heißt der Mann, wie Herr Meyer sagte.«

»Wie? Was? Der Bürodiener Wittebold, der das Labor von Doktor Fortuyn und uns bedient? Der?« Morans Hand trommelte nervös auf der Tischplatte. »Mein Gott, nun sitzen Sie doch nicht so stumm da! Sagen Sie doch ein Wort! Was ist denn mit diesem Bürodiener?«

Boffin rutschte verlegen auf seinem Stuhl und warf Fräulein Collins einen vorwurfsvollen Blick zu. »Hab' ich's Ihnen nicht schon immer gesagt, wir müßten Herrn Doktor Moran auf irgendeine Weise von dem in Kenntnis setzen, was Meyer uns sagte? Hab' ich's oder hab' ich's nicht?«

Fräulein Collins zuckte die eckigen Schultern. »Na – was hat denn Meyer groß gesagt, als er das letztemal hier war? Gewiß, er meint, der Bürodiener Wittebold wäre ihm so manchmal zu außergewöhnlicher Zeit begegnet. Wäre auch in Berlin gewesen, wie er gerade hier war. Irgendwas Bestimmtes konnte er doch nicht sagen. Außerdem haben wir Mücke und Wasmuth in Rieba Auftrag gegeben, den Kerl mal eine Zeitlang zu beobachten. Wenn Sie wollen, hole ich die Briefe von denen her. Die haben nichts Auffälliges gesehen und gemerkt.«

»Unangenehm!« Moran machte ein verdrießliches Gesicht. »Unangenehm, Herr Boffin! Ich muß sagen, es war ein Fehler, daß Sie mir davon keine Mitteilung gemacht haben. Und wenn es der leiseste Verdacht wäre, Sie hätten mir davon Kenntnis geben müssen. Bedenken Sie doch, was alles auf dem Spiele steht!«

Er sprang auf und ging erregt im Zimmer auf und ab. Boffin wollte ein paar beruhigende Worte sprechen, doch Moran fuhr ihm barsch über den Mund. »Unerhört finde ich das, Herr Boffin! Unglaublich! Durch Zufall, gerade erst jetzt, in diesem gefährlichen Augenblick, erfahre ich das. Geben Sie sofort Wasmuth und Mücke den Auftrag, diesen Menschen wieder unter schärfste Beobachtung zu nehmen! Wenn ich denke . . .« Er fuhr sich nervös durch die Haare. »Dieser Wittebold ist Bürodiener bei mir! Kann da natürlich eventuelle Beobachtungen – ich denke da an Abt und meine Post – sehr bequem und unauffällig anstellen. Es muß da unbedingt irgend etwas geschehen. Selbst auf die Gefahr hin, daß alles nur ein falscher Verdacht ist. Ich habe schon sowieso den Kopf voll und muß nun auch noch sehen, wie ich diese unglaubliche Dummheit wieder einigermaßen reparieren kann.«

Boffin und seine Sekretärin gaben sich die größte Mühe, ihn zu besänftigen. Meyer spräche manchmal allerlei unverdautes Zeug. Moran dürfte beruhigt sein: Mücke und Wasmuth würden auf jeden Fall auf ihrem Posten sein.

»Wie steht's mit den Pässen, Herr Boffin?« fragte Moran.

Boffin gab der Collins einen Wink. Die öffnete den Schreibtisch und holte mehrere Pässe hervor.

Moran durchblätterte den, den sie ihm überreichte. »Nun, das scheint ja in Ordnung zu sein. Über Prag nach Triest – gut! Was sind denn das andere da für Pässe?«

»Diese beiden hier für Fräulein Collins und mich. Die sind natürlich regulär ausgestellt. Wir fahren direkt nach Paris. Ich übernehme, wie Sie ja wissen, den Posten von Monsieur Gérard und verwalte auch vorläufig die Berliner Stelle noch, bis ein neuer Leiter ernannt ist. Ich glaubte immer, Bosfeld würde es werden, aber man scheint in Detroit anders zu denken. – Die anderen Pässe?« Er deutete auf ein Päckchen. »Sind, wie Ihrer, auf Bestellung gearbeitet. Ich hoffe ja nicht, daß sie gebraucht werden. Aber für den Fall des Mißlingens müssen natürlich alle unmittelbar Beteiligten schleunigst verschwinden.«

»Es wird Zeit, Herr Doktor!« fiel die Collins ein. »Mister Headstone wartet nicht gern.«

Mit kurzem Gruß verließ Moran das Büro und fuhr zum Kaiserhof. –

»Das hat lang gedauert!« brummte ein Herr vor sich hin, der während dieser Unterredung unauffällig auf der gegenüberliegenden Seite des Kurfürstendamms auf und ab gegangen war. Er sprang jetzt in eine vorüberfahrende Taxe und gab ebenfalls den Kaiserhof als Ziel an.

Als er durch die Drehtür des Hotels trat, waren Begrüßung und Verbeugung des Türhüters nicht anders als fünf Minuten früher, als Mr. Headstone durch dieselbe Tür geschritten war. Obgleich doch zwischen dem Beherrscher der United Chemical und dem Bürodiener Wittebold ein nicht unerheblicher Unterschied bestand.

Aber in den zwei Stunden, die Wittebold in Berlin für sich gehabt hatte, bevor er inkognito Herrn Dr. Moran am Anhalter Bahnhof empfing und zum Kurfürstendamm geleitete, waren in seinem Äußeren durchgreifende Veränderungen vor sich gegangen. Es war ein wohlsoignierter älterer Herr mit tadellos gepflegtem Haar und Bart in einem gutsitzenden Sakkoanzug, einen hellen Sommerpaletot über dem Arm, der in das Hotel trat. Die blaue Brille, die er draußen im hellen Sonnenschein zur Schonung der Augen getragen hatte, nahm er ab. Setzte sie aber, als ob ihn der Schein der Starklichtlampen geniere, gleich wieder auf.

An der Tür des Hauptrestaurants blieb er einen Augenblick stehen, nahm die Brille noch einmal ab und putzte die Gläser. Dabei ließ er seinen Blick suchend über die Tische gleiten. »Pech!« murmelte er vor sich hin und setzte die Brille wieder auf. »Da ist schlecht 'rankommen.«

Headstone und Moran saßen mitten im Lokal ganz frei nach allen Seiten. Trotz seines so stark veränderten Aussehens durfte es Wittebold nicht wagen, etwa an einem Tisch in ihrer Nähe Platz zu nehmen. Beide saßen sich gegenüber; beide kannten ihn. Einer hätte ihn sicher wiedererkannt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als hinter einer Säule Platz zu suchen, wo er die beiden zwar beobachten konnte, aber von ihrer Unterhaltung kein Wort vernahm.

Das Gespräch zwischen Headstone und Moran, so interessant es auch für Wittebolds Ohr gewesen wäre, brachte keinerlei Bestätigung seines Verdachtes, daß etwa Headstone irgendwie um die finsteren Pläne wußte, die da in Rieba im Gange waren. Headstone gab Moran sogar seine Abneigung gegen irgendwelche gewaltsamen Aktionen deutlich zu verstehen. Über das Gasattentat gegen Fortuyn äußerte er sich mit großer Entrüstung. Im weiteren drehte sich ihr Gespräch um ganz andere Dinge.

»Es ist schade, Herr Doktor, daß Sie nicht bestimmt zu sagen wissen, wann ungefähr Doktor Fortuyn mit seinen Arbeiten fertig wird. Es wäre das doch für uns von großem Interesse. Denn wenn wir das wüßten, könnten wir doch wohl mit dem bereits in Detroit vorhandenen Material über die Elektrosynthese des Kautschuks in den Staaten einige Patente anmelden, die den späteren Patentanmeldungen Riebas Schwierigkeiten machen müßten. Selbstverständlich könnten wir ja schon jetzt Patente anmelden; aber je länger wir warten, desto valider würden sie sein. Ich gäbe sonst was drum, wenn Sie in Erfahrung bringen könnten, ob und wann Rieba seine Patentschriften aufsetzt.«

Moran zuckte die Achseln. »Das kann in vier Monaten sein – in vier Wochen sein – in vier Tagen sein. Die Arbeiten Doktor Fortuyns werden seit jenem Attentat derartig geheimgehalten, daß man über ihren Stand nichts Bestimmtes sagen kann. Seine Methode ist übrigens unbedingt nachahmenswert. Er allein verarbeitet die Resultate seiner Mitarbeiter. Das ist zwar etwas zeitraubend, aber das Ergebnis bleibt unbedingt geheim. Wenn ich später wieder in Detroit bin, werde ich unsere dortigen Arbeiten in derselben Weise leiten.«

Headstone nickte. »Können Sie, Doktor! Möchte nur, daß Sie recht bald nach Detroit kämen! Die Sache ist ja von zu eminenter Bedeutung. Wenn ich so denke, wie die ahnungslose Welt die Augen aufreißen wird, wenn man den elektrosynthetischen Kautschuk hat! Allein die ungeheuren Ausnutzungsmöglichkeiten in der Bauwirtschaft! Straßen, Häuser würde man bauen damit. Unzählige Gebrauchsgegenstände – Dinge, von denen man heute noch keine Ahnung hat.«

Moran hatte sinnend vor sich hingestarrt. »Ich wäre auch froh, wenn ich bald von Rieba weg könnte. Meine Stellung dort ist alles andere als angenehm. Muß da ausgerechnet so ein dummer Junge die Lücke in meinem so schön aufgezogenen Chemoverfahren entdecken. Gut, daß Fortuyn eine Menge Gegner in Rieba hat, die naturgemäß meine Freunde sind. Sonst wär's nicht zum Aushalten . . . War ein langer, dornenreicher Pfad von Detroit über Wien nach Rieba.«

»Gewiß – der Weg war lang, mein lieber Moran. Aber ich hatte ihn mir noch länger vorgestellt. Daß das alles so klappte mit Ihrer Niederlassung in Wien, Ihrer guten Aufnahme dort . . . vor allem, daß dieser Professor Janzen ohne irgendwelche Beeinflussung von unserer Seite sich so für Sie engagierte, worauf dann Ihre Berufung nach Rieba erfolgte . . . daß das alles so schnell klappen würde, hätte ich damals, als wir in Detroit den Plan schmiedeten, nicht geglaubt.« Headstone sah nach der Uhr. »Wenn Sie noch mit dem Nachtzug fahren wollen? Ich brauche Sie nicht mehr, Herr Doktor.«

Moran nickte, erhob sich. Beim Verabschieden sagte Headstone nochmals: »Denken Sie, bitte, immer daran, daß uns zur Zeit das Wichtigste ist, zu wissen, wann Rieba Patente nimmt.«

In früherer Zeit würde Moran wohl nicht den Nachtzug benutzt, sondern die Gelegenheit wahrgenommen haben, etwas in das Berliner Nachtleben einzutauchen. Doch heut war seine Stimmung nicht danach. Er nahm eine Taxe und fuhr zum Bahnhof. –

Auch Wittebold benutzte denselben Zug. Als der Zug in Rieba hielt, wartete er eine geraume Zeit, bis er annehmen konnte, daß Moran den Bahnhof verlassen hatte. Dann ging er auf die Sperre zu und schritt durch die Bahnhofshalle. Moran noch weiter zu folgen, hielt er für überflüssig. Und doch wäre es besser gewesen, wenn er ihm auf den Fersen geblieben wäre. Denn so passierte ihm etwas, was nicht ohne Folgen sein sollte.

Moran hatte keineswegs die Bahnhofshalle verlassen. Er stand vor den ausgehängten Fahrplänen und notierte sich die besten Verbindungen von Rieba über Prag nach Triest. Gerade als Wittebold die Tür der Bahnhofshalle hinter sich zufallen ließ, drehte Moran sich um. Da fiel sein Blick auf Wittebold. Der hatte sich vor der Abfahrt des Zuges in Berlin wieder umgezogen, war in seiner alten, Moran wohlbekannten Kleidung.

»Verflucht!« zischte Moran vor sich hin. »Der Kerl war auch in Berlin! Ist mir gefolgt – ganz bestimmt! So muß es sein!«

Nervös lief er in der Halle des Bahnhofs hin und her. Was sollte er tun? In seiner Erregung benahm er sich wohl etwas auffallend. Er merkte, daß der Portier ihn verwundert ansah. Durch einen Seitenausgang der Halle trat er ins Freie. Hier schaute er sich vorsichtig nach allen Seiten um. Von Wittebold war nichts zu sehen. Durch stille Nebenstraßen auf Umwegen, sich immerfort scheu umblickend, erreichte er seine Wohnung.

Trotz der vorgerückten Stunde keine Möglichkeit, sich in solch aufgeregtem Zustand ins Bett zu legen. Seine Gedanken jagten sich. Tausend Möglichkeiten . . . erwogen . . . verworfen. Immer wieder klammerte er sich an die Hoffnung, daß der Zufall da stark im Spiel gewesen sei. Er wußte von dem Gemunkel, ein geheimer Detektiv sei von der Werkleitung angestellt . . . Wittebold dieser Detektiv? . . . Gewiß, es war möglich. Aber dann wären doch zum mindesten auch Dr. Wolff und Kampendonk im Bilde.

Mit Kampendonk war er gerade in den letzten Tagen öfters zusammengekommen. Dabei hatte der Geheimrat sich in seiner gewohnten freien, ruhigen Art gezeigt. Wäre dem irgendeine Verdächtigung seiner Person zu Ohren gekommen, er würde sich, wie Moran dessen gerades, offenes Wesen kannte, sicherlich nicht so harmlos mit ihm unterhalten haben. Immerhin: diesen Wittebold leicht zu nehmen, wäre falsch. Da mußte irgend etwas geschehen. Der Morgen graute, da hatte sich Moran seinen Plan gemacht. –

Auch Wittebold fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Als er vom Bahnhof in die Hauptstraße von Rieba kam, war ihm Dr. Fortuyn begegnet. Der war mit ihm ein paar Schritte weiter in den Schatten eines Baumes getreten, hatte ein paar Worte mit ihm gewechselt.

Wittebold fühlte dabei sehr wohl, daß Fortuyn erwartete, irgend etwas von ihm zu hören. Doch er hatte ihm nichts von dem, was er in Berlin gesehen, gesagt. Daß Dr. Fortuyn zwei Tage verreisen wollte, war Wittebold nicht angenehm. Der wäre vielleicht geblieben, wenn er ihm sein Geheimnis preisgegeben hätte, aber das wollte Wittebold auf keinen Fall. –

Fortuyn bestieg den Zug, der nach Dresden ging. Im Laufe des Tages hatte er in der Bauabteilung eine mehrstündige Besprechung mit Kampendonk und den Herren des Baubüros gehabt. Kampendonk hätte Fortuyn gern einen längeren Urlaub gegönnt. Doch der brannte darauf, die vorbereitenden Arbeiten für die Aufnahme der Fabrikation selbst in die Wege zu leiten. Vor allem galt's ihm, die keramischen Teile der Apparatur und deren bestmögliche Formgebung mit den Fabrikanten selbst zu besprechen. Denn er war sich bewußt, daß gerade hierbei Theorie und Praxis sich schwer vereinigen ließen, daß es vieler Vorversuche bedurfte.

Als er am Nachmittag des nächsten Tages das Steinzeugwerk in Dresden verließ, war er nicht allzu befriedigt. Die Schwierigkeiten waren noch größer, als er geglaubt hatte. In Gedanken verlängerte er seine Anwesenheit schon um mehrere Tage.

Nachdem er seine Mahlzeit eingenommen hatte, ging er zur Brühlschen Terrasse, um hier im Genuß des wundervollen Rundblicks Erfrischung zu finden. Doch er fand nicht die richtige Ruhe. Seine Gedanken weilten bald in der Dresdner Fabrik, bald in Rieba. Er stand auf, ging die Terrasse entlang. Da verhielt er plötzlich den Schritt: an die Brüstung der Terrasse gelehnt stand Johanna Terlinden!

So groß war die gegenseitige Überraschung, daß sie viele Herzschläge lang keine Worte finden konnten. Nur ihre Augen strahlten einander zu – sprachen von dem, was sie erfüllte.

Eine Stunde wohl schon waren sie die lange Promenade hin und her geschritten. Noch immer zitterte die Wiedersehensfreude in ihnen nach. Über was sie gesprochen, was sie sich erzählt . . . keiner hätte es wohl sagen können, wenn ihn jemand danach gefragt. Jeder der beiden war glücklich in dem Gefühl, den anderen zu haben, ihm sein Herz ausschütten zu dürfen.

Während der Beisetzungsfeier von Clemens Terlinden hatten sie nur wenige Worte wechseln können. Desto größer jetzt ihre Seligkeit über das unerwartete Zusammentreffen. Soviel war in der Zwischenzeit passiert! Beide innerlich einsame Menschen, hatten sie nur jeder den anderen, der alles begriff und mitempfand. Johanna konnte sich nicht genugtun, zu fragen und immer wieder zu fragen nach Fortuyns Sieg. Alle Einzelheiten wollte sie wissen, alle seine Pläne für die Zukunft bis ins Letzte hören. Und er sprach gern davon. Fühlte er doch, daß kein Mensch, auch Kampendonk nicht, so seine Siegesfreude, sein Glück innerlich mit ihm zu teilen vermochte wie Johanna.

Die Pläne für die Zukunft . . . in nüchternen, wohldurchdachten Sätzen hatte er sie Kampendonk dargelegt. Hier aber konnte er sein ganzes Ich frei verströmen lassen. Mit glühendem Eifer entwickelte er vor ihren Blicken die Zauberbilder der märchenhaften Anlagen, die in Tag- und Nachtarbeit demnächst aus dem Erdboden wachsen, sich auftürmen würden.

Die Sonne ging unter. Noch immer weilten sie an dieser Glücksstätte. Die Nebel vom Strom krochen zu ihnen hinauf. Johanna, in leichtem Sommerkleid, vermochte ein Frösteln nicht zu unterdrücken.

Ängstlich besorgt, bot ihr Fortuyn seinen Überwurf. »Verzeih, du Liebe, Gute! Du mußt ja todmüde sein. Wie die Zeit verstrichen ist! Komm, Liebste – wir gehen zur Stadt! – Zwei Tage, hatte ich Kampendonk gesagt, würde ich hier in Dresden bleiben müssen. Ich belüge ihn nicht, wenn ich noch ein paar Tage zugebe. Denn noch ehe ich dich traf, hatte ich schon eingesehen, daß die Zeit zu knapp bemessen war.«

»Wie? Was? Du bleibst länger hier? Und das hast du mir gar nicht gesagt? Ich glaubte, du wärest nur für diesen einen Tag hierhergekommen. Das ist ja herrlich! Ein paar Tage bleibst du hier? Wie freu' ich mich jetzt schon auf das morgige Wiedersehen!«

Als sie sich getrennt hatten, als sie schon weit auseinander waren, fiel es jedem ein, daß von keines Lippen ein Wort gefallen war über ihre Liebe – über ihrer Liebe Zukunft.

*

Wenn im Verlauf des nächsten Vormittags Wittebold im Hauptgebäude am Zimmer Dr. Wolffs vorbeikam, verlangsamte er jedesmal unwillkürlich seine Schritte. Immer wieder drängte es ihn, zu Wolff zu gehen und dem alle seine Beobachtungen mitzuteilen.

Dieses ständige Auf-dem-Posten-Sein, Belauern, Bewachen, dieses zermürbende Grübeln in den schlaflosen Nächten, dies Ahnen in seinem Unterbewußtsein, daß die Gegenseite etwas Schlimmes vorbereitete, die Angst, seine Kräfte könnten nicht ausreichen, um den Schlag zu parieren, etwas Fürchterliches könnte passieren . . . das alles hatte seine Nerven bis zum Erliegen gespannt. Aber immer noch hatte er widerstanden, sich schwach gescholten. Allein, ganz allein wollte er den Kampf doch führen. Allein derjenige sein, der Headstone und seine Helfer schlug!

Als er nach der Mittagspause die Post in Morans Laboratorium bringen wollte, fand er den an einem leeren Arbeitstisch beschäftigt. Beim Eintritt Wittebolds sah er auf und sagte: »Tragen Sie die Post in mein Zimmer und bringen Sie mir den Kleistertopf daraus hierher!«

Wittebold tat, wie ihm geheißen. Als er den Topf in die Hand nahm, fand er ihn reichlich klebrig. Unwillkürlich griff er an andere Stellen des Topfes, aber auch die waren, wie es schien, stark beschmutzt. Er brachte Moran den Topf und wischte sich dann, die Hand in der Tasche, die Finger am Taschentuch ab.

Kaum war er draußen, als Moran aufstand und mit Dr. Abt in sein Privatzimmer ging, wobei er den Kleistertopf mitnahm. Er mußte wohl wissen, daß der sehr klebrig war, denn er griff ihn ganz vorsichtig oben am Rand. Dann arbeitete er eifrig zwei Stunden lang mit Dr. Abt in seinem Privatzimmer.

Als kurz vor Dienstschluß Wittebold wieder in Morans Abteilung kam, hielt der ihn an. »Tragen Sie, bitte, wenn Sie nach Hause gehen, diese Akten in meine Wohnung und legen Sie sie auf den Schreibtisch! Ich kann sie nicht mitnehmen, da ich mit Doktor Abt einen längeren Spaziergang machen will.« – –

Als die Dunkelheit hereingebrochen war, ging ein Herr, der große Ähnlichkeit mit Dr. Abt hatte, in das Haus, in dem Dr. Moran wohnte. Er schloß vorsichtig die Tür auf und ging über den Korridor in das Zimmer Dr. Morans. Hier öffnete er mittels eines andern mitgebrachten Schlüssels den Schreibtisch, nahm daraus ein Scheckbuch und einen wertvollen Ring, brachte dann den übrigen Inhalt des Schreibtischkastens in ein wirres Durcheinander. Er ließ den Kasten halb offen und ging geräuschlos aus der Wohnung, ohne daß die Wirtschafterin Morans, die ihre Räume nach hintenheraus hatte, auch nur das geringste gemerkt hätte.

Auf Umwegen ging der fremde Herr in das Stadtwäldchen, wo er an einer gewissen Stelle Moran traf. Dann schritten beide der Stadt zu. Als sie in den Schein der Straßenlaternen kamen, konnte man in Morans Begleiter unzweideutig Dr. Abt erkennen. Nur waren einige Kleinigkeiten in seinem Äußeren etwas anders als vorher. Die beiden schritten durch die Hauptstraßen der Stadt, wo sie mehrfach Bekannten begegneten, auf Morans Haus zu. Sie traten ein und stiegen die Treppe hinauf. Moran klingelte ein paarmal stark, schloß dann aber selbst auf; gerade in dem Augenblick, als seine Wirtschafterin herbeigeeilt kam.

»Ach, entschuldigen Sie mein unnützes Klingeln, Frau Fehling! Ich glaubte, ich hätte meinen Schlüssel vergessen.«

Bei diesen Worten hatte Moran auch schon die Tür zu seinem Zimmer geöffnet. Im selben Augenblick stieß er einen Schrei der Überraschung aus.

Die Wirtschafterin und Dr. Abt eilten hinzu. Moran deutete auf den offenen Schreibtisch. »Hier sind Einbrecher am Werk gewesen!«

»Rufen Sie doch sofort die Polizei an!« fiel Dr. Abt ein.

Die Wirtschafterin stand jammernd in dem Zimmer, wollte in den durchwühlten Kasten fassen. Da hielt sie Abt gewaltsam zurück. »Nichts anfassen, bevor die Polizei hier gewesen ist, Frau Fehling!«

Moran hatte inzwischen die Polizei angerufen. Nach kurzer Zeit erschienen zwei Kriminalbeamte. Der Doktor erzählte ihnen in kurzen Worten, daß er nach Dienstschluß mit Abt einen Spaziergang gemacht habe und eben erst nach Hause gekommen sei. Als er seine Zimmertür geöffnet habe, hätten er, Dr. Abt und die Wirtschafterin sofort den Einbruch bemerkt. Aber niemand habe den Schreibtisch berührt. Die Beamten möchten doch erst einmal nach eventuellen Fingerabdrücken suchen.

Der eine der beiden Beamten, der auf das Wort »Einbruchsalarm« das nötige Gerät mitgebracht hatte, trat an den Schreibtisch heran und begann ihn unter Zuhilfenahme einer Lupe und einer sehr starken elektrischen Taschenlampe zu untersuchen. Sagte dann: »Nun, Fingerabdrücke gibt's hier genug. Fragt sich nur noch, wem sie gehören. Könnten auch Ihre sein, Herr Doktor. Wollen Sie, bitte, mal Ihren Daumen auf dies Papier hier drücken!«

Moran tat, wie ihm geheißen. Jetzt begann der Kriminalbeamte Morans Fingerabdruck mit den Abdrücken auf dem Schreibtisch zu vergleichen. »Allerdings – ein paar hier stimmen mit Ihrem Abdruck überein. Aber diese neuen, frischen hier sind anders. Wann haben Sie, Herr Doktor Moran, das Kästchen hier in dem Schreibtisch zuletzt in der Hand gehabt?«

»Seit Wochen nicht mehr.«

»Nun, dann wollen wir mal gleich sehen, wie's damit steht.« Der Beamte nahm das Kästchen vorsichtig heraus und prüfte es genau. Lachte vergnügt. »Hier auf dem weichen Lederbezug sind die Abdrücke tadellos zu erkennen.« Bei diesen Worten hatte er das Kästchen geöffnet. Es war leer.

»Mein Ring!« rief Moran. »Mein schöner Ring ist fort!«

»Hm«, brummte der Polizeibeamte. »Wie sah denn der Ring aus?«

»Es war ein alter, glatter Goldring, mit einem Brillanten à jour gefaßt, daneben zwei Saphire.«

Der andere Beamte notierte alles, was Dr. Moran sagte, in sein Notizbuch. Dann nahmen die beiden die Wirtschafterin in ein Verhör. Doch die wußte gar nichts zu sagen. Kurz nach fünf hätte der Bürodiener Wittebold die Akten gebracht und in ihrem Beisein auf den Schreibtisch gelegt. Dann wäre er wieder fortgegangen, und sie hatte sich nach den hinteren Räumen begeben, wäre gar nicht wieder nach vorne gekommen. Während der ganzen Zeit hätte es nicht geklingelt, wäre niemand anders gekommen.

»Hm!« Der Kriminalbeamte besah sich die Aktenmappe. Sie war aus genarbtem Rindleder, in der Mitte etwas abgegriffen. Diese Stelle begann er jetzt mit Lampe und Lupe genau zu untersuchen. Fragte wie nebenbei: »Wie heißt dieser Bürodiener?«

»Wittebold«, gab Moran zur Antwort.

»Und wie lange ist er im Werk?«

»Seit einigen Monaten.«

Jetzt sah der Kriminalbeamte Moran voll ins Gesicht. »Haben Sie einen Verdacht, daß dieser Bürodiener Wittebold der Täter sein könnte?«

Moran zuckte die Achseln. »Wie kommen Sie zu der Frage?«

»Nun – die Abdrücke an dieser Mappe stimmen vollkommen überein mit den Abdrücken auf dem Schreibtisch und dem Ringkästchen.«

»Ah! Das wäre allerdings ein starkes Stückchen!« sagte Moran entrüstet. »Ein schnöder Vertrauensbruch dieses Menschen, den ich immer für die ehrlichste Haut auf der Welt hielt!«

»Ja, Herr Doktor, man täuscht sich so manchmal«, meinte der andere Beamte. »Bleibt natürlich nichts andres übrig, als sich diesen Herrn Wittebold mal zu kaufen.«

»Wenn er inzwischen nicht Leine gezogen, hat«, fiel der erste Beamte ein. Er ging zum Telephon und sprach mit dem Polizeibüro. »Wir gehen jetzt, Herr Doktor. Ich möchte Sie aber bitten, sich zur Verfügung zu halten, falls wir Sie noch im Laufe des Abends mit diesem Bürodiener konfrontieren müßten.«

Kaum waren die beiden gegangen und die Wirtschafterin aus dem Zimmer, da sagte Dr. Abt triumphierend: »Soweit ist's gelungen! Den sind wir auf einige Zeit los!« – – –

»Ein hartnäckiger Bursche!« sagte der Kommissar zu dem Protokollführer. »Hier gibt's doch wirklich nichts zu leugnen! Sind Sie denn ganz von Gott verlassen, Wittebold, daß Sie diesen erdrückenden Beweisen gegenüber überhaupt noch versuchen wollen, den Einbruch abzustreiten?«

Wittebold, müde der andauernden Fragen, schwieg. Was sollte er auch sagen? Im Anfang des Verhörs hatte er immer wieder seine Unschuld beteuert. Der Kommissar hatte ihn ausgelacht.

Gewiß! Vom Standpunkt des Polizeibeamten war jedes Leugnen unsinnig. Wittebold wußte ja auch, daß ein Fingerabdruck ein untrügliches Indizium des Verbrechers ist. Und man hatte ihm seine Fingerabdrucke an der Mappe und an dem Ringkästchen genau nachgewiesen.

»Ich will versuchen, mein Alibi nachzuweisen. Ich muß mich da erst auf einiges besinnen. Im übrigen wiederhole ich Ihnen immer wieder, Herr Kommissar: Wäre Herr Doktor Fortuyn hier, würde . . .«

Hier stockte Wittebold . . . Ja, gewiß! Wäre Fortuyn hier, er würde für ihn eintreten . . . Aber die Fingerabdrucke, dieses furchtbare, unerschütterliche Beweismittel? Würde Fortuyn demgegenüber nicht auch zweifelhaft werden? Die Blässe aus seinem Gesicht vertiefte sich noch, als er dachte, daß auch Fortuyns Vertrauen in ihn erschüttert werden könnte.

»'s ist alles nutzlos, was Sie da reden, Wittebold! Ich kann Ihnen nur raten, ein offenes Geständnis abzulegen und vor allen Dingen zu sagen, wo Sie den Ring gelassen haben.«

Wittebold zuckte verzweifelt die Achseln. Er sah: jedes Wort, das er sprach, war Verschwendung. Er wandte sich mißmutig zur Seite: »Ich sage Ihnen hiermit, daß ich von jetzt ab auf keine Frage mehr antworten werde. Was ich Ihnen schon hundertmal versichert habe: daß ich unschuldig bin und irgendein Teufel mir da einen Streich gespielt hat – das glauben Sie mir ja doch nicht.«

»Na ja, mein lieber Freund«, sagte der Kommissar ironisch. »Beruhigen Sie sich man! Sie werden schon mit der Zeit anderer Meinung werden. Vielleicht überlegen Sie sich das heute nacht? Morgen früh werde ich Sie mal besuchen.« Er gab dem diensttuenden Beamten einen Wink. Der führte Wittebold aus dem Zimmer einen Gang entlang, schloß eine Zelle auf, hieß ihn eintreten. –

Aus der Ecke des halbdunklen Raumes scholl Wittebold ein kräftiges »Guten Abend!« entgegen. Er schaute dorthin, sah, daß da in der Ecke ein Mann auf einer Pritsche lag, der ihm grüßend die Hand entgegenstreckte. In dem unsicheren Gefühl, vielleicht längere Zeit mit diesem Zellengenossen zusammenbleiben zu müssen, überwand sich Wittebold, ging auf ihn zu und erwiderte seinen Händedruck.

Beim Schein der schwachen Lampe konnte er die Züge des Mannes nur undeutlich erkennen. Soviel er sah, war es ein noch ziemlich junger Mensch. Der überschüttete ihn mit einem Schwall von Fragen, auf die Wittebold kaum Antwort gab. Dabei zeigte er großes Interesse, zu erfahren, weshalb der Neue verschütt gegangen wäre.

Als Wittebold immer wieder versicherte, er sei unschuldig verhaftet, wurde der andere schließlich ärgerlich. »Denkst wohl, ich wär' so'n Achtgroschenjunge, der dich hier ausholen soll? Zu so was gibt sich Franz Holl nicht her. Denk dir mal bloß, was die Polente von mir will! Ich soll da an einer Fassade hochgeklettert sein und da in ein Fenster gewollt haben. Is natürlich Quatsch. An der Fassade war ich ja, als die beiden Schupos vorbeikamen; aber ich wollte noch 'ne Etage höher, wo die Zimmermädchen schlafen. Mit der Minna hatte ich mal auf 'nem Tanzvergnügen Bekanntschaft gemacht. Und weil ich sie lange nicht gesehen hatte, wollte ich sie mal wiedersehn . . . Aber die glauben einem ja einfach gar nichts. Und die Minna – ja, weißte, treulos sind die Weiber ja alle. Das weiß die Menschheit, seitdem die Welt steht. Aber das hätte ich doch nicht gedacht, daß die Minna mich so gemein verleugnen täte. Hat gesagt, sie kennte mich nicht.«

Wittebold hatte sich auf die Pritsche geworfen. Seine Nerven hielten nicht mehr. Er hörte kaum, daß der andere immerfort weitererzählte. Nur ein Gedanke in ihm: Ruhe finden! Ruhe! Ruhe!

Aber vergeblich war alles Bemühen um Schlaf. Dieser Streich, den man ihm gespielt –! Von wem er kam, ahnte er. Man wollte ihn aus dem Wege räumen, unschädlich machen, bis . . .

Aber! . . . Hier sprang er, alle Müdigkeit vergessend, auf, durchmaß mit heftigen Schritten die enge Zelle. Seine Gegner konnten doch unmöglich annehmen, daß er längere Zeit hier festgehalten würde. Denn irgendwie mußte es ihm doch gelingen, sich von dem Verdacht zu reinigen. Was sie also planten, mußte recht bald geschehen – womöglich gar schon heute nacht . . . Er rang verzweifelt die Hände.

»Se haben wohl vergessen, dir en Plümo unterzulegen? Dir ist wohl die Pritsche zu hart?« scholl es ironisch aus der Ecke.

Wittebold gab keine Antwort. Ihm war zum Ersticken. Er rückte den Schemel unter das Fenster, stieg hinauf und riß den Flügel auf.

»Weiter geht's nich, Kollex! Da ist so'n schöner eiserner Vorhang draußen. Ich würde mich ja freuen, wenn du den auch aufkriegtest.«

Verzweifelt, wie er war, griff Wittebold an die Traljen und rüttelte in ohnmächtiger Wut daran.

»Keene Sachbeschädigung, Kollex! Staatseigentum! Vergreif dich ja nich an den Dingern! Freut mich aber doch, daß du so 'ne große Sehnsucht hast, hier 'rauszukommen. Det möchten wohl alle . . . ich auch.« Bei seinen letzten Worten war Holl aufgestanden und trat zu Wittebold heran. In dem hellen Mondlicht konnte er dessen Züge wohl erkennen. Er schaute ihn lange durchdringend an. Sagte dann: »Ich glaube doch, du bist ehrlich. Das heißt, um keenen Irrtum aufkommen zu lassen: du bist keen Achtgroschenjunge.«

Wittebold sah ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Ich bin unschuldig verhaftet. Aber das ist es nicht allein. Heut nacht wird etwas passieren – etwas Schlimmes! Ich – ich muß es verhindern! Vielleicht ist's noch nicht geschehen . . .« Er trat nah an Holl heran: »Sie wissen doch hier Bescheid. Wäre es möglich, daß ich den Wärter sprechen könnte, um ihm eine wichtige Nachricht zur Beförderung zu geben?«

»Nee, Kollex. Zu elektrischen Klingeln haben wir's hier noch nicht gebracht. Aber det könnte man ja jelegentlich anregen.«

Wittebold wandte sich verzweifelt zur Seite. Hätte er das doch nur früher bei seiner Vernehmung bedacht! Dr. Wolff würde, wenn er den hätte benachrichtigen lassen, sofort hergekommen sein. Er hätte ihn warnen können. Jetzt war es zu spät. Außer sich schlug er sich vor die Stirn, starrte immer wieder zu dem Fenster empor.

»Nun mal keenen Schmonzes mehr – nu wollen wir Tachles reden, Kollex! Also: daß du das ehrliche Bestreben hast, hier 'rauszukommen, sehe ich. Nu laß dir mal was sagen! Wenn du mit willst, ist's gut. Wenn du mich aber verpfeifst, kannst du später was erleben! – Also, nu komme mal schon her! Hier hab' ich 'ne prima Säge. Die eisernen Traljen schaffen wir damit in null Komma nix. Ich hätte das auch schon längst gemacht, aber ich bin von Natur mal zu kurz geraten. Ich kann mich auf den Schemel stellen und mir die Arme ausrenken und komme doch nicht an die Traljen 'ran. Nu denke ich mir det so: Du nimmst mich auf die Schultern und kletterst auf den Schemel. Dann säge ich die Eisen durch, und die Sache ist erledigt.«

»Wieso? Wir sind hier im zweiten Stock. Wie wollen Sie da 'runter auf die Erde kommen?«

Holl deutete auf die Betten. »Daraus mach' ich uns 'nen Strick, an dem die ganze Kollegenschaft 'runterrutschen kann; 'nen Hof und 'ne Mauer gibt's hier, Gott sei Dank, nich. Rieba is nich modern. Draußen, da is gleich die Straße. Na, sag! Hast du Mumm? Ich übernehme jede Garantie.«

Wittebold befand sich in argem Konflikt. Flucht hätte nach Geständnis ausgesehen. Aber schließlich –: er konnte sich ja am nächsten Tage wieder selbst stellen . . . wenn ihn die Polizei inzwischen nicht sowieso wieder ergriffen hatte. Jetzt nur 'raus hier! Wenn möglich denen noch das Spiel verderben!

Entschlossen streckte er Holl die Hand hin: »Ich bin bereit. Sie können auf mich zählen!«

Holl nickte befriedigt. Holte aus dem Futter seiner Jacke eine feine Stahlsäge hervor. »So! Nu 'ran ans Geschäft!« Er ließ sich von Wittebold auf die Schultern nehmen. Dann stieg der mit ihm auf den Schemel.

Das Durchsägen ging nun keineswegs so in null Komma nix, wie Holl behauptet hatte. Es dauerte geraume Zeit, bevor er die vier Stäbe durchgesägt hatte; und es währte noch eine ganze Weile, ehe er das Gitter so weit beiseitegedrückt hatte, daß ein Mensch durchkriechen konnte. Danach ließ sich Holl wieder zu Boden gleiten und machte sich daran, aus dem zerschnittenen Bettzeug einen Strick zu verfertigen.

Wittebold verging fast vor Ungeduld. Das nahm alles viel mehr Zeit in Anspruch, als er gedacht hatte. Inzwischen konnte schon wer weiß was passiert sein. Unruhig lief er in der Zelle auf und ab . . . Ja, was war es denn, was passieren konnte? Was hatten denn seine Gegner vor, wenn sie ihn jetzt unschädlich machten? Was sollte er tun, wenn er wirklich mit Holl aus dem Gefängnis entwichen war?

Zum Werk laufen? Wohin denn da? Das Werk war groß . . . Zu Fortuyns Laboratorium mußte er! Kein anderes Ziel! Das Material dort – die fortwährenden Diebstähle bewiesen es ja – das mußte die begehrte Beute der Gegner sein. Aber dies Material war ja nachts im Sicherheitsraum. Es blieb nichts Wichtiges draußen . . .

Was sollte aus ihm werden, wenn alles umsonst? Wenn er in das Werk kam und nichts sich ereignete? Würde ihm dann noch ein Mensch glauben, er sei ausgebrochen, um Schaden für das Werk zu verhüten? Keiner! Weder Fortuyn noch Fräulein Gerland noch Schappmann würden ihm glauben . . .

Aus seinen Zweifeln riß ihn die Stimme Holls. »So – det wär' gemacht! Jetzt los! Ich werde natürlich der erste sein, denn die jute Idee stammt von mir. Also du nimmst mir's nicht übel, wenn ick jetzt den Strick da oben anbinde und verdufte. Du bist lang genug, alleene da 'raufzukommen. Helfen kann ich dir weiter nich. Mach's man so wie ich – denn wird's schon klappen!«

Er ließ sich von Wittebold hochheben, zwängte sich durch die verbogenen Traljen und verschwand . . . Ein leiser Pfiff von der Straße her: es war gelungen!

Jetzt war die Reihe an Wittebold. Er schwang sich zum Fenster empor und sah eben noch, wie Holl um die Ecke verschwand. Da ergriff er entschlossen den Strick, ließ sich an dem in die Tiefe gleiten.

In wilder Hast raste er die Straße entlang zum Werk. Der Ausweis Fortuyns war ihm natürlich mit seinen anderen Sachen von der Polizei abgenommen worden. Aber das mußte eben so gehen. Irgendwie würde er schon 'reinkommen.

Glücklicherweise war es ein bekannter Portier, der gerade Dienst tat. Wittebold eilte an ihm vorüber. Der machte zwar eine Handbewegung, als wollte er ihn anhalten; aber als Wittebold weitereilte, ließ er's bleiben. Der lief zu dem Laboratoriumsgebäude und schrak zusammen. Alles dunkel?!

So schnell es bei dem mangelnden Licht ging, tappte er die Treppe empor. Als er um die Korridorecke bog, stand da Schappmann mit einer Kerze in der Hand und untersuchte die elektrischen Sicherungen. Bei Wittebolds Anblick ließ er vor Schreck fast den Leuchter fallen.

»Wittebold! Mensch! Wo kommen Sie her?«

»Ach was! Sagen Sie mir schnell, was hier los ist!«

Noch immer starrte Schappmann Wittebold entgeistert an. »Sie sind doch verhaftet, Kollege! Sind Sie denn freigelassen?«

Statt Schappmann gab eine der Scheuerfrauen Wittebold die Antwort: »Is gar nischt weiter los, Herr Wittebold. Hier is ne Sicherung kaputt, un Herr Schappmann hat sich 'ne neue beim Portier geholt un will se gerade 'reinschrauben.«

»Geben Sie her, Schappmann! Ich kann das schneller und besser machen!« Bei diesen Worten hatte Wittebold Schappmann die Sicherungen aus der Hand genommen und drehte sie in die Fassungen. Das Licht flammte wieder auf.

Schappmann, wieder einigermaßen gefaßt, hieß die Scheuerfrauen an ihre Arbeit gehen, wandte sich dann zu Wittebold. »Nu sagen Se doch endlich mal, Kollege – mir is ein Schreck in die Glieder gefahren, wie Sie da so auf eenmal vor mir stehn . . . Was is denn passiert? Warum kommen Sie denn mitten in der Nacht hierher – un wie sehn Sie denn aus? Sie haben ja so große Löcher in Ihrem Rock!«

Wittebold schüttelte abweisend den Kopf. »Lassen Sie mich, Schappmann! Ich muß erst Gewißheit haben, daß . . .«

Noch während er sprach, hatte Wittebold sich umgewandt und eilte den Korridor entlang. Als er in den Seitengang einbog, an dessen Ende das Sicherheitsarchiv lag, trat ihm die Scheuerfrau Grätz in den Weg. Fragte: »Wer sind Sie denn? Was wollen Sie hier?«

Beim Klang der Stimme blieb Wittebold wie angewurzelt stehen. Bog sich zu Seite, um unter dem Kopftuch das Gesicht der Frau zu sehen. Prallte im selben Augenblick entsetzt zurück. »Juliette! . . . Du!?«

Fast im gleichen Moment schrie auch die laut auf. »Wilhelm! O Gott – ich bin verloren!«

»Verloren? . . . Du?« Mit einem raschen Sprung stand Wittebold vor ihr, packte sie am Arm, schüttelte sie. »Was heißt ›verloren‹? Treibst du ein unehrliches Spiel? Wie kommst du hierher?«

Juliette schlug die Hände vors Gesicht, taumelte gegen die Wand. Aller Mut, alle Kräfte schienen sie verlassen zu haben. Dies unverhoffte Wiedersehen mit ihrem Mann in diesem Augenblick hatte sie so schwer erschüttert, daß sie keine Worte fand, sich zu rechtfertigen – sich herauszulügen . . .

Da erlosch plötzlich das Licht von neuem. Instinktiv wandte sich Wittebold dem Sicherheitsarchiv zu. Kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, da flammte eine Taschenlampe auf. Gleichzeitig erhielt er einen schweren Schlag auf den Kopf, der ihn zu Boden warf . . .

Auf den Schrei Wittebolds und Juliettes war Schappmann, so schnell es seine alten Beine erlaubten, Wittebold nachgeeilt. Sah noch, wie der mit drohend erhobener Hand vor der weinenden Anna Grätz stand. Dann ging wieder das Licht aus . . .

Was danach noch passierte, darüber konnte er sich nie richtig klarwerden. Er sah noch, wie eine Taschenlampe aufblitzte, sah Wittebold fallen, wollte rufen, da wurde er plötzlich zu Boden geschleudert. Über ihn weg stürmten mehrere Männer. – – –

Sekundenlang lag Wittebold bewußtlos. Traumhaft kehrte ihm die Besinnung zurück. Er taumelte empor. Durch ein Flurfenster fiel vom Fabrikhof her ein schwacher Schein. Dadurch konnte er die Richtung nach dem Sicherheitsarchiv erkennen. Noch schwach unter der Nachwirkung des Schlages, tastete er sich die Wand entlang in das Archiv. Mit unsicheren Händen suchte er die Alarmvorrichtung. Endlich hatte er sie gefunden. Im Augenblick schrillten die Glocken aller Meldeapparate. Dann sank er von neuem bewußtlos zu Boden.

*


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