Hans Dominik
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Hans Dominik

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Es war ein glücklicher Tag für Fortuyn gewesen. Am Morgen war Kampendonk zu ihm in sein Arbeitszimmer gekommen. Nach einigen Fragen über den Stand seiner Arbeiten sagte der Geheimrat: »Soweit ich im Bilde bin, Herr Doktor, dürfte der Verwirklichung meiner Idee, Sie auf den freiwerdenden Direktorposten zu bringen, nichts im Wege stehen. Die Stimmung gegen Düsterloh ist derartig, daß von seinem Verbleiben im Werk keine Rede sein kann. Ich möchte Ihnen schon mitteilen, daß man Sie auffordern wird, bereits an der morgigen Direktionssitzung teilzunehmen. Von gewisser Seite wurden zwar dagegen Bedenken geäußert – in dieser Sitzung soll der Plan einer Großfabrikation nach dem Moranschen Verfahren besprochen werden –, aber ich habe zu Ihrer Objektivität volles Zutrauen und werde, wie gesagt, veranlassen, daß Ihnen eine Aufforderung zugeht.«

»Ah . . . Verzeihung, Herr Geheimrat!« Fortuyn stockte einen Augenblick. »Ich möchte Sie bitten, von meiner Teilnahme an dieser Sitzung abzusehen.«

Kampendonk machte ein erstauntes Gesicht, wollte fragen – da ging Fortuyn zu seinem Schreibtisch, nahm Rudis Arbeit, überreichte sie Kampendonk. »Hier, Herr Geheimrat, finden Sie meine Ansicht über die eventuelle Aufnahme der Großfabrikation nach der Moranschen Methode in ganz vorzüglicher Weise niedergelegt. Das heißt«, – ein Zug von Humor huschte über sein Gesicht – »dieses hier ist nicht mein Elaborat, sondern die Arbeit eines meiner Assistenten, eines Doktor Wendt. Vielleicht erinnern Sie sich dieses Namens, Herr Geheimrat? Sein Vater ist Mitbesitzer der chemischen Fabrik Wendt & Co. in Oberschlesien.«

Kampendonk nickte. »Ich erinnere mich.«

Und dann erzählte Fortuyn, wie Rudi den wunden Punkt in der Arbeit Morans instinktiv erkannt und dann privatim seine Meinung zu Papier gebracht hätte. Daß aber nicht er selbst, sondern seine Assistentin Dr. Gerland ihm diese Arbeit zur Begutachtung gegeben hätte.

»Und Ihre Meinung ist –?«

»Meine Meinung, Herr Geheimrat, deckt sich vollkommen mit der in dieser Arbeit vertretenen: daß eine Großfabrikation auf Grund der bisherigen Moranschen Laboratoriumsfabrikation zur Zeit wenigstens unmöglich ist.«

»Ah!« Kampendonk blätterte das Schriftstück durch. »Das wäre allerdings eine unangenehme . . .« Er suchte nach einem Wort. ». . . sagen wir: Überraschung!« Es war ersichtlich, daß er das andere, was ihm auf der Zunge lag, unterdrückte.

Er wollte gehen, da sagte Fortuyn: »Ich erlaube mir, Ihnen vorzuschlagen, Herr Geheimrat, diese Arbeit alsbald vervielfältigen zu lassen und an die Herren, die an der Sitzung teilnehmen, zu verteilen. Es würde mich natürlich lebhaft interessieren, die verschiedenen Meinungen von Freund und Feind zu hören. Aber ich möchte nicht den Anschein erwecken, als sei dies alles« – er deutete auf das Schriftstück – »auf meine Veranlassung geschehen, und als läge mir daran, das Moransche Verfahren zu diskreditieren.«

Als Kampendonk ihn verlassen, nahm Fortuyn die durch den Besuch des Geheimrats unterbrochene Arbeit wieder auf. Vielleicht durch Rudis Husarenstückchen angespornt, hatten auch andere Assistenten besonderes Glück bei ihren Arbeiten entwickelt. Eine Reihe günstiger Umstände gestattete ihm heute schon Kombinationen, die erst später zu erwartende Resultate in greifbare Nähe rückten. So war er schon seit gestern beschäftigt, teilweise mit Tillys Hilfe, die Gewinnung der letzten Versuchsreihen auszuwerten.

Als Tilly ihn nach Beendigung der Bürozeit noch über Stößen von Material beschäftigt sah, erbot sie sich bereitwillig, ihm behilflich zu sein. Entdeckerfreude, wissenschaftlicher Ehrgeiz hatten sie jetzt mehr als je ergriffen.

»Dann müßten Sie, mein liebes Fräulein Tilly, schon mit mir nach Hause kommen. Ich habe einen großen Teil des Materials dort, und eine endgültige Zusammenstellung kann ich leider hier nicht machen. Haben Sie Lust dazu?« fragte er mit leichtem Lächeln. »Meine Wirtschafterin würde für eine kleine Stärkung sorgen.«

»Gewiß – gern, Herr Fortuyn! Ich muß sagen, ich brenne darauf, das Schlußergebnis zu sehen. Wenn wir das Oktadien so schnell bekämen wie das Hexadien und Heptadien, dann . . .«

»Ja, Fräulein Tilly, wenn – wenn –! Sie wissen ebensogut wie ich, daß das leider nicht der Fall sein wird. Das achte Kohlenstoffatom anzureihen, wird selbst mit Wendtschen Gewaltmitteln nicht so schnell zu machen sein. Hier heißt's, streng wissenschaftlich Schritt für Schritt probieren und wieder probieren. Ich habe mir schon vorgenommen, den Herren morgen im Labor über die jetzt beginnenden Arbeiten einen kleinen Vortrag zu halten und sie vor allen Extravaganzen ausdrücklich zu warnen.«

Fortuyn hatte inzwischen alles Nötige zusammengepackt. Er sah auf die Uhr. »Ah, wie unangenehm! Da haben wir uns verplaudert. Das Archiv wird schon geschlossen sein . . . Vielleicht doch . . .« Er griff zum Telephon, verlangte Dr. Hempel.

»Es meldet sich niemand«, sagte die Zentrale. »Scheint keiner mehr da zu sein.«

»Ärgerlich!« sagte Fortuyn. »Dann müssen wir wohl das ganze Zeug hier mit in meine Wohnung nehmen. Es empfiehlt sich ja aus gewissen Gründen nicht, es hierzulassen.« Er deutete auf den Rollschrank. »Früher war der alte Bursche für solche Fälle gut. Jetzt ist er ausgeschaltet. Die Alarmvorrichtungen liegen zwar noch an ihm – aber man muß auf der Gegenseite wohl doch irgendwie Wind davon bekommen haben. Bis jetzt haben sie sich noch nicht gerührt . . . Jedenfalls, trotz aller Alarmvorrichtungen, wäre es gewagt, gerade dieses Material hierzulassen.« –

Und so saßen sie, während die Stunden verrannen, in Fortuyns Wohnung. Der Imbiß, den die Wirtschafterin neben sie gesetzt, blieb unangerührt. Endlich hatten sie die einzelnen Reaktionen gruppenweise zusammengestellt. Die Auswertung der Zusammenstellungen war die weitere Arbeit. Da legte Fortuyn die Feder hin, sagte: »Jetzt aber mal Pause!«

Aufatmend strich er sich das Haar aus der Stirn, atmete lang aus. Er schob die Papiere beiseite, stellte das Tablett auf den Schreibtisch. »So, Fräulein Tilly, nun zugelangt!« Er sah nach der Uhr. Es war kurz vor acht. »Wollen Sie wirklich das Endergebnis abwarten? Zwei Stunden wird es sicher noch dauern.«

»Na, das wäre!« Tilly biß herzhaft in ein belegtes Brot. »Natürlich muß ich das noch wissen! Könnte doch sonst nicht schlafen!«

»Aber diese dummen Störungen durch das Telephon will ich doch vorsichtshalber unterbinden«, meinte Fortuyn. »Will mal gleich meiner Wirtschafterin Bescheid sagen, daß ich nicht zu Hause bin.« Er ging hinaus.

Währenddessen machte Tilly, an ihrem Brötchen knabbernd, ein paar Schritte durch das Zimmer. Auf einem kleinen Tisch neben dem Diwan sah sie eine Photographie, um die ein paar frische Blumen gelegt waren. Neugierig nahm sie das Bild in die Hand.

Wer war das? Das Gesicht kam ihr so bekannt vor . . . Ah, gewiß, natürlich, das war doch Frau Direktor Terlinden! Fortuyn verkehrte ja viel im Hause Terlinden. Doch wie kam das Bild hierher? Der Platz, an dem es stand . . . frische Blumen darumgelegt? Ihr Herz zuckte zusammen. Das also war's! Mit zitternder Hand, wie bei etwas Unrechtem ertappt, stellte sie das Bild wieder an seinen Platz.

Im Moment hatte sie alles begriffen. Fortuyn häufiger Gast in der Villa Terlinden – der Gatte ein lebender Leichnam. Die junge, schöne Frau lebenslustig, nach Liebe, Glück dürstend. Fortuyn in ständigem Zusammensein mit ihr . . . Wie konnte es anders sein, als daß die beiden sich fanden?

Mit müden, schweren Schritten ging sie zu ihrem Platz, fuhr sich, wie aus schwerem Traum erwacht, über die Stirn. Mechanisch ergriff sie die Feder. Murmelte immer wieder vor sich hin: »Tapfer sein, Tilly! Tapfer sein! Nicht klein werden!«

Mit zusammengebissenen Zähnen beugte sie sich über eine Tabelle, fing krampfhaft an zu rechnen. Die erste Kolonne stimmte. Jetzt die zweite . . . die dritte . . . Sie hatte richtig gerechnet. Arbeiten! Arbeit – die beste Medizin, sich vor dummen Gedanken zu schützen!

Als Fortuyn wieder eintrat, zeigte sie ihm, wie immer, ein gleichmütiges, ruhiges Gesicht.

Fortuyn sah auf das Tablett. »Aber, Fräulein Tilly, Sie haben ja kaum gegessen! Wollen schon wieder anfangen zu arbeiten? Das gibt's nicht! Sie müssen mir Gesellschaft leisten!«

»Unmöglich, Herr Fortuyn. Ich kann beim besten Willen nicht mehr essen.« Tilly sah ihn mit einem tapferen Lächeln an. »Wollte mal eben probieren, ob die Aufrechnungen richtig waren. Es stimmt. Jetzt seh' ich schon fast das Endergebnis voraus.«

Sie legte einen neuen Bogen vor sich hin und begann mit der Auswertung der bisher errechneten Ergebnisse. Als die Uhr die zehnte Stunde schlug, warf sie triumphierend die Feder hin. »Wie ich's erwartet! Wir haben die Polymerisierung zu Oktadien!«

»Und das Wichtigste!« fiel ihr Fortuyn ins Wort. »Wir haben die richtige Kopulationsfrequenz!«

»Gott sei Dank – wir haben sie!« fügte Tilly hinzu. »Wenn ich noch an unsre endlosen Versuche denke, wo uns aus den Molekülen vorn ein Kohlenstoffatom abgeschleudert wurde, während wir uns mühten, hinten eins anschwingen zu lassen! Die Höhe haben wir erreicht. Das Ziel liegt zwar nicht greifbar vor uns, aber der Weg ist offen.«

». . . wenn auch noch weit«, vollendete Fortuyn. »Und es soll nicht eher ein Wort von meinen Lippen kommen, bis wir nicht tatsächlich den letzten Schritt getan haben.«

Fortuyn füllte zwei Gläser mit Wein und stieß mit Tilly an. »Meinem besten Mitarbeiter!«

Einen Augenblick zitterte das Glas in Tillys Hand. Dann hob sie es schnell an ihre Lippen, stürzte es in einem Zuge hinunter.

»Nun Schluß für heut!« Fortuyn sah mit bedenklichem Gesicht nach der Uhr. »Ist doch sehr spät geworden. Da darf ich Sie nicht allein gehen lassen. Ich werde Sie nach Ihrem Hause begleiten.« – –

Als er sich auf dem Rückweg wieder seiner Wohnung näherte, sah er einen Mann vor sich hergehen, der ihm bekannt schien. Als er näher kam, erkannte er Wittebold.

»Wohin so spät, Herr Wittebold?«

Der drehte sich bei dem Anruf hastig um. »Guten Abend, Herr Doktor Fortuyn! Kommen Sie erst jetzt nach Hause? Ich sah doch vorhin Licht bei Ihnen.«

»Ich war auch den ganzen Abend auf meinem Zimmer. Habe nur Fräulein Gerland nach Hause gebracht, die mit mir gearbeitet hat. Aber warum interessiert Sie . . .?«

Fortuyn glaubte so einen gewissen Ton in Wittebolds Worten gehört zu haben, der ihn aufmerken ließ. Wittebold murmelte etwas vor sich hin. Sagte dann: »Ja! Ich bekam unwillkürlich einen kleinen Schreck, als ich Sie eben so plötzlich neben mir sah, und . . . wußte doch, daß da oben Licht war.«

»Nun aber, Herr Wittebold! Sie glaubten doch nicht etwa, da oben wären fremde, ungebetene Gäste?«

Wieder brummelte Wittebold etwas in seinen Bart. »Was weiß ich, was ich dachte? War mir den ganzen Abend so unbehaglich zumute.« Er sah nach dem trüben Nachthimmel. »Vielleicht gibt's ander Wetter. Na, kurz und gut: Ich fühlte mich nicht recht wohl zu Hause. Dachte: Gehst ein bißchen 'raus an die Luft!«

»Hat aber auch nicht viel geholfen!« sagte Fortuyn lachend. »Sehen ja Gespenster!« Er deutete nach seiner Wohnung.

»Gespenster?« knurrte Wittebold. »Gespenster sind's gerade nicht. Sah in den letzten Tagen ein paarmal Gesichter hier, in der Gegend, die mir wenig gefallen wollten und absolut keine Gespenster waren.«

Sie waren durch die Nebenstraße in Fortuyns Haus gekommen und konnten so das hellerleuchtete Arbeitszimmer, das nach hinten lag, gut sehen. Das sonderbare Wesen Wittebolds fiel Fortuyn nachgerade auf die Nerven. Er dachte im stillen: Das wäre nun gerade das Tollste, was passieren könnte, wenn ausgerechnet heute einer mir einen nächtlichen Besuch machen würde!

Unruhig geworden, verabschiedete er sich von Wittebold und stieg zu seiner Wohnung hinauf. Als er in sein Zimmer trat und alles so daliegen fand, wie er es verlassen, atmete er wieder leichter. Er legte die Schriftstücke zusammen, trug sie in sein Schlafzimmer. Besser ist besser! dachte er dabei. Hier soll mir keiner 'rankommen!

Er sah nach der Uhr. Die elfte Stunde nahte heran . . . Zu Bett gehen? Er fühlte, es klang noch zuviel in ihm nach. Der Schlaf würde doch nicht gleich kommen. Er streckte sich auf den Diwan, versank in Nachdenken. Ab und zu glitt sein Blick zu dem Bild an seiner Seite. Wo mochte Johanna jetzt sein? Die Mitternachtstunde schlug, als er aufstand und sich in seinem Schlafzimmer zur Ruhe begab. –

Auch Wittebold machte sich bereit, zu Bett zu gehen. Er begann sich auszukleiden, hielt dann aber inne, warf sich halb angezogen auf sein Bett.

Was hatte – was hatte der verdammte Kerl in den letzten Tagen da immer 'rumzuschmökern? dachte er im Halbschlaf. Sein Ohr glaubte noch undeutlich das Knattern eines Motorwagens vorn auf der Straße zu hören. Der schien kurz zu bremsen und gleich wieder anzufahren . . . Dann schlief Wittebold ein. –

Aus dem Wagen war, während der bremste, ein Mann gesprungen, der jetzt schnell um die Ecke bog und auf Fortuyns Haus zuging. Der Mann trug in der Rechten ein schweres Gepäckstück. Der Wagen hatte das Haus bereits vor ihm passiert, wobei der Chauffeur dreimal stark hupte.

Als der Fremde jetzt an Fortuyns Haus gekommen war, drückte er den Türgriff nieder. Die Tür war unverschlossen, ging auf. Er trat in den Hausflur. Eine elektrische Birne flammte eine Sekunde auf.

Im Flur stand ein Mann, der den Ankömmling kurz begrüßte und mit sich in ein dunkles Zimmer der Parterrewohnung zog. »Legen Sie Ihre Sachen hier ab!« sagte er mit gedämpfter Stimme.

Der Angekommene tat, wie ihm gesagt, wandte sich dann zu dem ersten: »Mein Name ist Erwin Rothe – gestatten Sie.«

Der andere erwiderte kurz: »Feldmann.« Fragte: »Was haben Sie denn da noch mitgebracht?«

»Werden Sie gleich sehen«, sagte Rothe und zog ein Paar Gummihandschuhe an.

»Wozu das?« fragte Feldmann.

»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Am Alex haben sie mich schon im Album. Sie hätten auch besser getan, sich ein paar Handschuhe mitzubringen. Oder sind Sie noch nicht drin?«

Feldmann schüttelte den Kopf.

»Besser ist besser!« knurrte Rothe und machte die Tasche auf. Er zog daraus ein paar glänzende stählerne Werkzeuge, legte sie beiseite. Holte dann eine bauchige Stahlflasche hervor. »Ihre Freunde haben mir das noch mitgegeben«, sagte er. »Sie sollten's hinter dem Lachgas herschicken.«

»Was ist das nun wieder?« brummte Feldmann. »Das Lachgas, das ich habe, reicht vollkommen. Der Teufel soll die holen, wenn sie mich in die Bredouille bringen!«

»Die meinten, das Lachgas würde nicht langen, wenn der vielleicht die Tür zu seinem Wohnzimmer auf hat. Deshalb sollen Sie das hier noch dazunehmen. Ihr Freund Karl hat auch gesagt, wie es heißt. Hab's vergessen. Es war so was von – von Neo . . . stick . . . weiß nicht mehr. Mir wollte es auch zuerst nicht passen. Es ist doch abgemacht, daß es dem da oben nicht ans Leben gehen darf. So was macht Erwin Rothe nicht. Aber die haben mir hoch und heilig geschworen, die Sache wäre ganz harmlos.«

Feldmann murrte unzufrieden vor sich hin. Sagte: »Paßt mir gar nicht, die Sache – aber meinethalben!« Er sah nach der Uhr. »Das Licht ging vor einer halben Stunde aus. Zu Bett liegt er. Denke, er wird eingeschlafen sein. Wir wollen anfangen.«

Sie gingen in das Nebenzimmer, dessen Fenster mit Decken dicht verhängt waren.

Feldmann deutete nach oben. Aus einem Loch in der Zimmerdecke dicht neben der Wand ragte ein handlanges Stück Glasrohr. »Mündet gerade unter seinem Bett!« Er stieg auf den Tisch und schob einen langen Gummischlauch, dessen anderes Ende zu zwei Stahlflaschen führte, an das Rohr. Vorsichtig drehte er ein Ventil ein wenig auf. Ein leichtes Zischen und Rauschen wurde hörbar.

»Kommen Sie mit 'rüber! Wir haben Zeit!« Feldmann ging mit Rothe in das verdunkelte Zimmer. Jeder zündete sich eine Zigarette an. »Die beiden Zylinder hätten vollständig gereicht«, betonte Feldmann noch einmal. »In einer halben Stunde sind sie leer. Dann werden wir ruhig riskieren können, nach oben zu gehen. Haben Sie denn gutes Werkzeug hier?«

Rothe lachte leise. »Ist doch 'ne einfache Holztür, wie mir gesagt wurde. Die will ich bald auf haben! Wenn da wirklich ein starkes Kunstschloß dran ist, sägen wir einfach 'rum.«

Beide sprachen nur wenig miteinander. Ab und zu ging Feldmann in das Nebenzimmer und sah nach den Manometern an den Stahlflaschen. Nach einer Weile meinte Rothe: »Wissen Sie denn mit den Papieren Bescheid, die wir da oben mitnehmen sollen?«

»Ja!« antwortete Feldmann kurz. Im Halbdämmer des Zimmers konnte Rothe nicht sehen, wie ein dunkler Schatten über Feldmanns Gesicht ging, wie ein bitteres ironisches Lächeln seinen Mund verzerrte. Es war gewiß kein alltäglicher Weg: vom Provisor über den Koksschieber bis zum Komplicen eines Einbrechers . . .

Nach einer Weile prüfte Feldmann wieder die Flaschen. »Sie sind ziemlich leer. Bringen Sie Ihren Ballon hier 'rein!« Einen Augenblick noch stand er zögernd, als könne er sich nicht entschließen. »Verfluchter Kram! Sie können sich nicht mehr erinnern, wie die das nannten?«

Rothe schüttelte den Kopf. »Neo . . . stick . . . oxyd – oder so was.«

»Neostickoxydul?« murmelte Feldmann vor sich hin. »Kenne das Zeug nicht. Aber Stickstoffoxydul ist ja das andere Zeug – also wird's irgendeine ähnliche Verbindung sein, die nicht schlimmer ist, nur vielleicht stärker wirkt . . . Na, denn mal los!«

Er schloß die Flasche an. Der Ballon begann auszuzischen. Wieder gingen beide in das dunkle Zimmer zurück, da drang das Klingen einer Schelle von obenher zu ihnen.

Einen Augenblick saßen beide wie erstarrt. Was war das? Telephon? Nein – der Klang war dunkler gewesen als der einer Telephonglocke. Mit ein paar Sprüngen war Feldmann am Fenster. Beugte sich zur Seite, spähte hinter dem Vorhang in den Vorgarten.

»Was ist los? Wer ist's? Polente?« zischte Rothe ihm ins Ohr.

»Eine Frau – eine Dame ist's! Zum Donnerwetter! Wer ist das? Was will die jetzt in der Nacht hier?«

Von neuem begann die Klingel in der oberen Wohnung zu schrillen: doch diesmal viel andauernder. Die beiden standen mit angehaltenem Atem hinter dem Fenstervorhang. Nach einer Weile hörten sie über sich Schritte gehen. Ein Fenster wurde geöffnet. Die Stimme einer Frau fragte: »Wer ist denn da?«

»Ich bin's, Frau Linke . . . Frau Terlinden. Ist Herr Doktor Fortuyn zu Hause?«

»Gewiß, meine Dame! Er war den ganzen Abend zu Hause. Liegt schon längst zu Bett.«

»Ich muß ihn aber dringend sprechen, Frau Linke. Öffnen Sie doch, bitte, schnell die Haustür!«

Die Wirtschafterin zögerte einen Augenblick, murmelte allerlei vor sich hin, was Johanna nicht verstand. Dann schien sie sich besonnen zu haben; die Tür klinkte automatisch auf. Johanna schritt durch den Flur und eilte die Treppe empor.

Gerade als Frau Linke ihr die Wohnungstür öffnete, glaubte Johanna zu hören, wie die Haustür unten wieder aufging, glaubte auch Schritte zu vernehmen. Sie drehte sich hastig um, sah nach unten. Da war alles still.

Sie stand einen Augenblick schwer atmend, suchte vergeblich nach Worten, der Wirtschafterin eine Erklärung für ihr Kommen zu geben. Fing dann an, stotternd, zusammenhanglos zu sprechen. »Sie werden sich wohl sehr wundern, Frau Linke . . . Ich war in Berlin – habe auch von dort angerufen . . . Herr Fortuyn wäre nicht da, sagten Sie. Ich fuhr von Köln nach Berlin . . . hörte da im Zug Leute miteinander sprechen . . . von Doktor Fortuyn und . . . von Schriftstücken . . . Ich verstand nicht alles, aber es kam mir so unheimlich vor. In Berlin sah ich die Leute wieder. Meine Angst wurde immer größer. Einer sollte nach Rieba fahren . . . Aber nein – Sie werden mich ja doch nicht verstehen!« Sie ging hastig ein paar Schritte weiter. »Bitte, liebe Frau Linke, klopfen Sie doch an Herrn Fortuyns Tür! Wecken Sie ihn! Sie brauchen nicht zu sagen, wer hier ist. Wenn er antwortet, aufsteht, bin ich schon zufrieden, werde dann gleich gehen . . .«

Die Wirtschafterin sah Johanna verwundert, erschrocken an. Was ist mit der Frau? dachte sie. Ist die krank? Sie sieht so verstört aus, schwatzt so tolles Zeug. Da kann man sich ja fürchten . . .

Sie schrak zusammen, als Johanna plötzlich ihren Arm ergriff, sie weiterzog. »Schnell, schnell! Ich hab' nicht eher Ruhe. Ich vergehe vor Angst. Wecken Sie ihn! Klopfen Sie an!«

Frau Linke pochte mit dem Finger gegen Fortuyns Tür. Nichts rührte sich.

»Stärker! Stärker müssen Sie klopfen!« sagte Johanna drängend.

Die klopfte wieder. Da schlug Johanna, unfähig, ihre Aufregung zu meistern, mit beiden Fäusten gegen die Tür, rüttelte am Türgriff.

Nichts rührte sich. Die Tür war verschlossen. Wieder trommelten Johannas Fäuste dagegen. »Walter! Walter!« Ihre Stimme überschlug sich. »Hörst du mich nicht?«

Wieder atemloses Lauschen. In dem Zimmer alles still. Johanna brach in lautes Weinen aus, rang die Hände. »Ich ahnte es! Ich wußte es! Ein Unglück, Frau Linke! Wir müssen zu ihm . . . ihm helfen!« Sie warf sich mit Gewalt gegen die Tür, doch die wich nicht.

»Aber was ist denn passiert? Was ist denn los, Frau Direktor?« jammerte die Wirtschafterin, die jetzt auch ängstlich geworden war. »Ist denn der Herr Doktor krank? Er hat ja noch vor ein paar Stunden mit mir gesprochen.«

»Nein, nein, Frau Linke! Ein Verbrechen! Was? Ich weiß es nicht. Können Sie nicht jemand zu Hilfe rufen, der uns die Tür aufbricht?«

»Ich werde die Leute unter uns wecken!« rief Frau Linke und eilte zur Flurtür. Da ging die gerade auf. Ein Mann stand da. Die Wirtschafterin stieß einen lauten Schreckensschrei aus.

»Seien Sie ruhig!« herrschte der sie an. »Ich will Ihnen nichts tun. Was ist hier los?« Er verstummte, als er Johanna sah. »Frau Direktor Terlinden? Bitte, sagen Sie mir, was hier vorgeht! Ich heiße Wittebold. Bin Bürodiener bei Herrn Doktor Fortuyn.«

Johanna eilte auf ihn zu. »Ein Unglück! Was es ist, weiß ich nicht. Wir haben geklopft – er antwortete nicht. Die Tür ist verschlossen. Helfen Sie uns! Schnell, schnell muß es sein! Er stirbt! Vielleicht ist er schon tot!«

Wittebold sah sich um. Die Tür zur Küche stand offen. Er lief hinein, packte einen Feuerhaken. »Haben Sie kein Beil?« fragte er Frau Linke. Die reichte ihm eine Handaxt.

Wittebold stürmte damit zu Fortuyns Tür. Mit ein paar Schlägen hatte er eine Füllung herausgeschlagen, schob den Riegel zurück . . . Die Frauen wollten sich herandrängen, da hielt er sie zurück. »Bleiben Sie hier! Ich rieche Gas!«

Mit angehaltenem Atem eilte er durch das Zimmer, riß die Fenster auf. Lehnte sich einen Augenblick hinaus, um frische Luft zu schöpfen. Dann stürzte er zur Tür, die zu dem Wohnzimmer führte, öffnete sie, riß auch im Wohnzimmer die Fenster auf. Ein heftiger Gegenzug fegte durch die Räume. Jetzt wagte er es, den elektrischen Schalter zu drehen. Die Deckenlampe flammte auf. Er trat an Fortuyns Bett. Der lag bewußtlos.

Ohne sich um das Jammern und Klagen der Frauen zu kümmern, ging Wittebold ins Wohnzimmer zum Telephon, rief die Unfallstation des Werkes an.

Als Johanna die Worte hörte: »Doktor Fortuyn . . . schwere Gasvergiftung«, brach sie besinnungslos zusammen.

*


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