Hans Dominik
Kautschuk
Hans Dominik

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Schon ein paarmal war ein elegantes Paar vor dem Hause Nr. 47 am Schöneberger Ufer vorbeigegangen.

»Ah – er bleibt lange!« sagte die Dame ungeduldig zu ihrem Begleiter.

»Oh – warum so eilig, Gnädigste? Lampenfieber? Hm! – kenne das. Hab' es selber heute noch manchmal vor großen Aktionen. Passiert übrigens den berühmtesten Schauspielern.«

»Halten Sie uns für Schauspieler, Herr Bosfeld?«

»Selbstverständlich, Gnädigste! Wir sind Schauspieler in Vollendung. Wir spielen Wirklichkeit. Alles, was die andern sich da oben auf der Bühne in mühsamem Rollenstudium anlernen, muß uns angeboren sein. Heute sind wir Lord, morgen Diener – heute Marktfrau, morgen Gräfin. Das alles so naturgetreu, daß selbst der spitzfindigste Detektiv uns ahnungslos vorbeigehen läßt.«

»Sie scheinen an Ihrem gefährlichen Beruf Gefallen zu finden?«

»Allerdings! Mich reizt dieses nervenkitzelnde Spiel immer wieder. Am verlockendsten, im Krieg Spion zu sein . . .«

»Ah! Sie waren es?« Sie sah ihn bewundernd von der Seite an.

»Vier Jahre lang für England in der Türkei.«

»Erzählen Sie doch!«

»Verzeihung! Später! Da kommt er!« Bosfeld hob winkend die Hand. »Famos! Wie nett, daß ich Sie hier begrüßen kann, Herr Direktor!« rief er dem Herrn, der eben, eine Aktentasche unterm Arm, aus dem Hause Nr. 50 trat, schon von weitem zu.

Der schüttelte ihm, mit einem Seitenblick auf die Begleiterin, erfreut die Hand.

»Ausgezeichnet! Was machen Sie in Berlin, Herr Bosfeld?«

»Geschäfte! Nichts als Geschäfte!« Bosfeld stand einen Augenblick überlegend. »Gestatten Sie, verehrte Frau Johnson, daß ich Ihnen Herrn Direktor Düsterloh aus Leipzig vorstelle?«

Die Dame in der Mitte, schritten sie plaudernd weiter. Düsterlohs Blicke streiften bewundernd die schöne Engländerin. »Was haben die Herrschaften heut abend vor?« erkundigte er sich. Man merkte, er wäre gern dabeigewesen.

»Eigentlich nichts, Herr Direktor. Wollen nur zusammen zu Abend essen. Dann geh' ich in mein Hotel. Vielleicht, daß Herr Bosfeld . . .« Mit einigem Herzklopfen hatte Juliette diese ersten Worte ihrer Rolle gesprochen.

Hier fiel ihr Partner helfend ein: »Wüßten Sie uns einen Vorschlag zu machen, Herr Düsterloh? Ich war lange nicht hier. Wo ißt man jetzt am besten?«

»Ich würde das Restaurant Lahti empfehlen.«

»Angenommen! Und was unternehmen Sie heut abend?«

»Nichts, lieber Bosfeld! Ich fahre morgen früh nach Rieba zurück. Habe den Abend noch frei.«

»Vielleicht leisten Sie uns Gesellschaft? Es würde uns sehr freuen. Ich glaube doch, mit Ihrer Zustimmung zu sprechen, gnädige Frau?«

»Aber selbstverständlich, Herr Bosfeld. Wenn Herr Direktor Lust hat . . .«

»Wäre mir eine Ehre, Gnädigste! Nur gestatten Sie, bitte, daß ich schnell noch mal mein Hotel aufsuche, um mich umzukleiden.«

Juliette tauschte einen raschen Blick mit Bosfeld. Der zog die Uhr. »Dürfte es nicht ein wenig spät werden, gnädige Frau?«

»Wie meinen Sie, Herr Bosfeld?« fragte Düsterloh.

»Verzeihung, lieber Herr Direktor: gnädige Frau hat nämlich Hunger . . .«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung! Natürlich bin ich unter diesen Umständen sofort bereit, die Herrschaften zu begleiten. Muß nur wegen meines unvorschriftsmäßigen Anzugs um Rücksicht bitten.«

»Hat doch nichts zu sagen! Wir nehmen ja nur ein einfaches Souper.« –

Das Souper war längst genommen. Ein paar leere Silberhalsige standen am Boden, die im Verein mit Bosfelds sprühendem Humor die Stimmung hoch gesteigert hatten. Dazu das lustige Lachen der Frau Johnson . . . Düsterloh war selig. Auf sein Geheiß brachte der Kellner eine Flasche ältesten Burgunder – seine Lieblingsmarke. Frau Johnson trank mit Kennermiene. Warf ihm über den Rand des Glases einen anerkennenden Blick zu. Galt er dem Wein – galt er dem, der ihn gewählt? Düsterlohs Herz brannte lichterloh.

Dieses entzückende Weib! Wie war Bosfeld zu ihr gekommen? Er glaubte kein Wort von dem, was der über sie erzählt hatte. Doch einerlei: mochte sie nun die Witwe des englischen Majors sein oder sonst jemand – es war jedenfalls eine hochgebildete, überaus reizvolle Frau.

Endlich – wie lange schon hatte er darauf gewartet! – erhob sich der Leipziger, um hinauszugehen. Düsterlohs Komplimente wurden feuriger; seine Blicke begannen eine immer deutlichere Sprache zu reden.

Juliette ging völlig in ihrer Rolle auf. Und ein prickelndes Gefühl sagte ihr, daß jetzt der Hauptmoment komme; denn Bosfelds Blick hatte ihr das Stichwort zugeworfen.

Die Aktentasche da drüben auf dem Sessel neben Düsterloh . . . Der galt's! Barg sie doch die kostbare Beute . . .

Die Kapelle des Restaurants setzte laut ein. Ein neues Stichwort bedeutete das in dem aufregenden Spiel . . .

»Wie meinten Sie, Herr Direktor? Unmöglich, bei dieser Musik etwas zu verstehen!« Juliette war aufgestanden, glitt zur anderen Tischseite hinüber, an der Düsterloh saß, wollte sich auf den Sessel neben ihm setzen. Da erst schien sie die Aktentasche zu bemerken . . . Düsterloh streckte die Hand aus, um sie wegzunehmen; doch Juliette hatte sie schon ergriffen, stellte sie hinter Düsterlohs Platz an die Nischenwand und setzte sich nun nah an ihren Tischgenossen heran, wie um ihn besser zu hören.

Und jetzt begann sie ihr Spiel: bald weit in den Sessel zurückgelehnt, bald dicht zu Düsterloh vorgebeugt, ließ sie ihn in betörendem Wechsel alle Vollkommenheiten ihrer Reize bewundern. Dazu ihr berückendes Geplauder, ihr Lachen . . . Düsterloh sank immer tiefer in ihren Bann, vergaß Zeit und Raum.

Und schreckte erst auf, als Bosfeld plötzlich zurückkam. Der setzte sich, ohne scheinbar Juliettes Platzwechsel Beachtung zu schenken, auf seinen Stuhl. Seine Hand glitt suchend in die Tasche. »O weh! Wo ist mein goldener Krayon geblieben?« Er stand auf, überlegte.

»Vielleicht haben Sie ihn draußen verloren?« sagte Düsterloh, der ihn gern noch einmal loswerden wollte.

»Möglich!« Bosfeld ging um den Tisch herum und verließ hinter Düsterlohs Rücken die Nische. Unbemerkt nahm er dabei die Aktentasche mit hinaus.

Juliettes Herz klopfte stärker. Der entscheidende Akt begann. Acht Minuten! So lange mußte sie Düsterloh von jedem anderen Gedanken fernhalten. Sie besann sich auf ihre letzten und feinsten Künste, die einen Heiligen hätten verführen können.

In Düsterlohs Hirn wirbelte es wie im Faschingstrubel. Was war das für ein Teufelsweib! Bald schien sie nachzugeben, bald wehrte sie kühl; bald schien sie zu locken, bald stieß sie ihn zurück. Wild taumelten seine Gedanken und Gefühle durcheinander.

Und Juliette selbst? Auch sie im Taumel . . . im Taumel des aufregenden Zwanges ihrer Rolle. Das war ja nicht der Provinztölpel, für den sie ihn anfangs gehalten; das war ein raffinierter Frauenkenner, der wohl schon manche Festung erobert hatte. Nie hätte sie ihr Spiel so gut durchführen können, wäre nicht Düsterloh der Mann gewesen, der tatsächlich ein Frauenherz erwärmen konnte. Den jetzt ganz bezwungen, ihn so vollständig gefesselt zu haben, daß er nichts anderes dachte und sah als sie . . . wie prickelnd das berauschende Gefühl, das sich in wollüstiger Süße über sie legte . . .

Ein lautes Husten am Nischeneingang. Bosfeld –! Ein Blick von ihm: Gelungen! Die Mappe glitt unhörbar auf ihren Platz . . .

Als man sich endlich trennte, schied Düsterloh, nicht ohne die Hoffnung, die reizende Engländerin in nächster Zeit wiederzutreffen.

Und als er am nächsten Morgen nach Rieba kam, führte ihn sein erster Weg zum Archiv. Im Begriff, in das Zimmer zu treten, stieß er auf den Bürodiener Wittebold, der dienstbeflissen die Tür vor ihm aufriß.

Düsterloh ging an die Tischschranke, nahm ein Schriftstück aus seiner Mappe und legte es auf die Platte. »Hier bringe ich Ihnen das Fortuynsche Exposé wieder!« rief er Dr. Hempel zu, der auf einer Leiter stand und in einem Regal suchte.

»Danke schön, Herr Direktor! Schon wieder da aus Berlin?«

»Ja, lieber Doktor. Beinahe hätt' ich gesagt: ›leider‹. Es war sehr nett. Aber wegen der Sitzung morgen mußte ich ja heute zurück.«

Während Düsterloh das Zimmer verließ, schob Wittebold seine Mappe auf der Tischplatte weiter, bis er neben dem Schriftstück stand, das der Direktor hingelegt hatte. »Wenn Herr Doktor jetzt keine Zeit haben, komm' ich später wieder!«

»Nein, nein! Ich bin gleich fertig.«

Während Wittebold sprach, hielt er die Augen angestrengt auf das Schriftstück geheftet und las die Titelzeile: »Exposé, betreffend die Elektrosynthese von Kautschuken.« Da blieb sein Blick auf der rechten oberen Ecke des ersten Blattes haften. Er schaute sich schnell nach Hempel um; der turnte immer noch oben auf seiner Leiter. Wie unbewußt brachte Wittebold seine Hand auf das Schriftstück und verschob dabei ein wenig die übereinanderliegenden Blätter. Beim dritten, vierten – unwillkürlich beugte er den Kopf tiefer über das Dokument – die gleiche Beobachtung wie beim ersten. Beim letzten – man hatte da vielleicht etwas hastig gearbeitet – unverkennbar die Spur . . .

»So – jetzt bin ich so weit!« Dr. Hempel stieg von seiner Leiter herunter. »Nehmen Sie die Sachen hier mit 'rüber zu Doktor Stange und bitten sie ihn um die Vorschrift Ap 602, die er sich vor drei Tagen holen ließ. Aber halten Sie sich unterwegs nicht auf! Bringen Sie's mir sofort hierher!«

Wittebold hastete davon. Jetzt kam's darauf an, ob Dr. Stange ihm das Gewünschte in einem verschlossenen Kuvert übergab oder – – Gott sei Dank, er legte es, wie erhofft, offen in die Aktenmappe!

Kaum war Wittebold in dem langen, überdeckten Gang, der die beiden Gebäude verband, so trat er in eine Fensternische und öffnete die Mappe. Blatt für Blatt des Schriftstücks ließ er prüfend durch seine Finger gleiten, murmelte dabei den sonderbaren Spruch: »Heiliges Isolierband, hilf!« Doch nirgends eine Spur. Er drehte die Vorschrift um, hatte die Rückseite des letzten Blattes vor sich. »Hurra – es hat geholfen!« Er holte einen Zigarettenkarton hervor, steckte die Zigaretten in die Tasche – bis auf eine, die er mit dem Messer aufschlitzte. Den Tabak warf er weg; das Zigarettenpapier brachte er sorgfältig auf eine gewisse Stelle der Dokumentenrückseite und fuhr mit dem Daumennagel mehrmals mit kräftigem Druck darüber. Dann legte er das Zigarettenpapier behutsam in die leere Schachtel und schritt eilig weiter.

»Hier ist die Vorschrift, Herr Doktor Hempel!«

Der blätterte das Schriftstück prüfend durch und legte es beiseite. – –

Am nächsten Abend ging Wittebold unter dem Vorwand, einen Spaziergang machen zu wollen, frühzeitig fort. Sonderbarerweise jedoch schlug er nicht den Weg in die Anlagen ein, von denen aus man bequem den Wald erreichte, sondern begab sich nach der Vorstadt. Dort ließ er sich in einer kleinen Kneipe nieder und behielt von seinem Platz aus bis zum Anbruch der Dunkelheit das gegenüberliegende Haus scharf im Auge. Gerade flammte die Straßenbeleuchtung auf, als dort ein Mann heraustrat, bei dessen Erscheinen der Bürodiener hastig das Lokal verließ.

Er beschleunigte seine Schritte, bis er unter einer Bogenlampe nah an den anderen herangekommen war, machte nun einen Augenblick halt, nickte befriedigt. Der Packer Embacher! Er folgte ihm bis zum Bahnhof. Und beobachtete durch die Scheiben der Eingangstür, wie Embacher sich am Automaten eine Bahnsteigkarte löste.

Wittebold blieb wartend im Schatten einer Anschlagsäule stehen. Gleich darauf donnerte ein Zug in die Halle. Aufmerksam musterte Wittebold die aus dem Bahnhof Strömenden. Unter den Letzten war Embacher, jedoch allein. Der erwartete Besuch schien nicht gekommen zu sein. Oder hatte Embacher vielleicht nur einen eiligen Brief der Bahnpost anvertraut? Auch das war möglich.

Nachdenklich folgte Wittebold dem Packer bis zu dessen Haus; machte dann auf dem Heimmarsch einen kleinen Umweg zu Nestler, wo Meister Schappmann einen Abendschoppen genehmigen wollte. Er traf ihn noch an – und an seinem Tisch ein paar andere, deren einer einen schwarzen Spitzbart trug. Teufel! dachte er im stillen; sollte das Schappmanns Krampfbruder sein?

Schappmann machte bekannt: »Hier ist Meister Lehmann von die Ap-Abteilung. Und das da ist mein Patiente! Wie war doch Ihr Name? Ick hab' ihn schon wieder vergessen . . . Bernhard? Also, Herr Bernhard –«

Wittebold wählte seinen Platz so, daß zu seiner Rechten Schappmann, zur Linken Meister Lehmann saß.

»Na, es geht ihm wieder ganz passabel!« Schappmann deutete auf eine Reihe Bierstriche unter Bernhards Glas. »Lassen Sie sich man 'nen Rat geben, junger Mann: Vor Ihr Leiden is det viele Bier nich gut!«

Bernhard lachte laut. »Keine Angst, Herr Schappmann! Wird mir hoffentlich so bald nicht wieder passieren!«

»Übrigens, Kollege Wittebold, Sie wollten doch immer 'ne Tischlampe haben? Wenn Sie Herrn Bernhard ein gutes Wort geben, macht er Ihnen das gerne. Er hat mir angeboten, wenn in meiner Wohnung mal was kaputt wär', wollte er's in Ordnung bringen. Und bei die teure Zeiten muß man sparen, wo es geht.«

»Ach, das wäre sehr schön, Herr Bernhard! Bei meiner Deckenlampe kann ich abends so schlecht lesen. Ich hab' es ausgemessen: mit vier Meter Leitung und einer Steckdose kämen wir aus.«

»Aber gewiß, Herr Wittebold! Dann komm' ich morgen nachmittag nach Dienstschluß zu Ihnen. Bringe alles mit.«

Schappmann sah auf die Uhr. »Ick jlaube, Kollege, wir jehn. Luise wartet.«

Auch die anderen machten sich ans Bezahlen. Werkmeister Lehmann suchte vergeblich nach Kleingeld. »Es langt nicht«, brummte er vor sich hin, holte seine Brieftasche heraus und legte sie auf die Knie. Sie kam Wittebold recht umfangreich vor. Während Lehmann darin herumfingerte, ergriff Wittebold sein leeres Glas, beugte sich weit zur Theke hin und rief: »Noch schnell einen zum Abgewöhnen, Herr Nestler!« Dabei konnte er unauffällig Lehmanns Brieftasche mustern, die ein starkes Bündel von Zwanzigmarkscheinen enthielt. Während sie das Lokal verließen, fiel Wittebolds Blick auf den Abreißkalender. Meister Lehmann muß ein vermögender Mann sein, wenn er am Siebzehnten noch eine so gutgespickte Brieftasche hat! dachte er sich.

Als sich Lehmann und Bernhard von den anderen getrennt hatten, schlenderten sie langsam die Straße hinunter.

»Ja – wie wird's nun?« fragte Bernhard. »Wir konnten vorhin die Sache nicht zu Ende besprechen, weil das dämliche Kamel, der Schappmann, dazukam. Den Katalysator aus der Gx-Abteilung muß ich unbedingt haben. Man schrieb mir heute morgen wieder dringend.«

»Ich hab' Ihnen schon mal gesagt, Bernhard, daß ich mich auf keinen Fall an den Nachfolger von Schmidt 'ranmache. Waschke heißt der Kerl. Der macht mir nicht den Eindruck, als ob er sich auf solche Fisimatenten einließe.«

»Mag sein«, erwiderte Bernhard. »Aber seine Frau ist da anders. Die gibt gern Geld aus.«

»Woher wissen Sie das?«

Bernhard lachte. »Das gehört doch dazu! Ich weiß, daß seine Frau Elise heißt, daß er drei Kinder hat. Das älteste ist fünfzehn, das jüngste vier Jahre. Die Bälger kosten allerhand. Die Frau treibt gern Staat. Na, da könnten so ein paar hundert Mark doch willkommen sein . . . Was riskiert er denn groß? Ganz einfache Sache! Füllt sich von zwei Zentnern Katalysatorstoff ein halbes Pfund ab, steckt's in die Tasche, gibt's Ihnen . . . Na, ich denke, schneller und gefahrloser kann man sein Geld nicht verdienen.«

»Ich hab' mir das vorhin schon durch den Kopf gehn lassen. Es ist doch vielleicht besser, ich versprech' dem Schmidt, der früher den Posten hatte, fünfzig Mark, wenn er den Waschke 'rumkriegt. Die fünfzig Mark müssen Sie aber drauflegen, Bernhard.«

»Gut«, sagte der. »Wenn Sie's nicht anders wollen, machen wir's so. Wenn ich das Zeugs nur bald kriege!«

Gegen Abend des folgenden Tages kam Bernhard mit seinem Handwerkszeug zu Schappmann, um Wittebolds Tischlampe zu installieren. In kurzer Zeit war die einfache Arbeit gemacht, und Wittebold entzündete mit unverhohlenem Vergnügen die Stehlampe, die er sich inzwischen gekauft hatte.

»Wenn Sie schon absolut nichts nehmen wollen, Herr Bernhard, nicht mal 'nen kleinen Imbiß, dann wollen wir wenigstens einen drauf trinken. Hab' da 'nen ganz anständigen Schnaps.« Wittebold füllte zwei glatte, runde Gläser, die einen sehr kurzen Fuß hatten, und trank Bernhard zu. »Na, noch einen?« Er goß noch einmal ein, wobei er jedoch für Bernhard, von diesem unbemerkt, ein neues, noch unbenutztes Glas wählte. Nach einem kurzen Gespräch verabschiedete sich Bernhard dann.

Kaum war der draußen, als Wittebold die beiden Gläser in ein Wandschränkchen schloß, seinen Hut nahm und ihm folgte. Aus der Unterhaltung mit Bernhard wußte er, daß der abends immer auswärts aß. Aber wo? Jedenfalls konnte es nichts schaden, wenn man feststellte, wo Bernhard zu verkehren pflegte.

Vorläufig verschwand der erst mal in seinem Hause. Nach einer kurzen halben Stunde – es schlug gerade sieben – trat er wieder heraus und schlug dann eine Seitenstraße ein, die zu den Anlagen führte. Auf einer Bank an einer Wegkreuzung wartete ein Mann, der Kleidung nach ein einfacher Arbeiter, mit dem Bernhard sich nun längere Zeit unterhielt.

Wittebold pirschte sich vorsichtig näher heran, konnte jedoch nur wenige Worte des Gesprächs – »Katalysatorwechsel in zehn Tagen« – erhaschen; denn hier hatte der Mann wohl des schwierigen Ausdrucks wegen die Stimme etwas gehoben. Nachher ging Bernhard zur Hauptstraße zurück, während der andere sich nach einer Werkkolonie wandte. Obgleich Wittebold rüstig ausschritt, holte er ihn erst ein, als der die ersten Häuser erreicht hatte.

Hier trat eine Frau auf den Arbeiter zu und redete dringend, fragend auf ihn ein. Und wieder hörte Wittebold das Wort »Katalysator« aus dem Munde des Mannes. Die Frau dagegen sprach von den vielen Anschaffungen, die sie zu machen hätten: »Unbedingt Geld nötig – was schadet's denn, von dem Faß 'ne Handvoll wegzunehmen – davon geht das Werk nicht pleite – und uns wäre geholfen . . .«

Die beiden verschwanden in einem Hause, in dem anscheinend ihre Wohnung lag. Von da aus schlug Wittebold den geradesten Weg zum Werk ein, um festzustellen, durch welches Tor der Arbeiter voraussichtlich morgen gehen würde. Da wollte er ihn bei Schichtbeginn erwarten, um zu ermitteln, in welcher Abteilung er beschäftigt war und wie er hieße . . . und sonst noch einiges.

Nachher saß Wittebold noch eine Weile vor seiner neuen Tischlampe und betrachtete befriedigt zwei Blätter Zigarettenpapier. Das mit Nummer eins versehene war das, das er gestern auf die Rückseite der Vorschrift Ap 602 gedrückt hatte. Das andere hatte er eben gerade von einem der beiden Schnapsgläser abgezogen, aus dem Bernhard getrunken hatte.

»Für alle Fälle will ich die Dinger verewigen. Der Deubel könnte wollen, daß ein Windhauch sie über alle Berge jagt!« Er stellte einen Lexikonband auf den Tisch, heftete die Papierchen nebeneinander auf und placierte eine photographische Kamera davor. Nach einiger Zeit packte er die Seidenblättchen wieder behutsam in den Zigarettenkarton zurück und ging zu Bett. »Zehn Tage sind eine lange Zeit«, murmelte er vorm Einschlafen. »Bis dahin wird sich noch manches klären!« –

Anderntags saß Wittebold nach Beendigung seines Dienstes, wie schon an den vorhergehenden Tagen, auf dem Beobachtungsposten in seiner Wohnung. Mit Hilfe eines kleinen, unauffälligen Spiegels draußen am Fenster konnte er mittels eines Fernrohrs das Haupttor des Werkes beobachten. Ihn interessierte dabei besonders das Personal der Packerei, die eine Stunde später schloß. Er mußte scharf aufmerken, jedes Gesicht genau ins Auge fassen. Je weiter der Strom der Massen verebbte, desto erregter wurde er. Der Gesuchte war sonst immer unter den Ersten gewesen. Endlich warf der Portier das große Tor zu, so daß nur noch eine kleine Pforte für Passanten offen blieb.

Im Nu war Wittebold unten, eilte zum Fabriktor, trat an den Kasten, in dem die Arbeiter die Kontrollmarken beim Weggehen aufhängten. »Alles in Ordnung!« raunte er vor sich hin.

Der nächste Morgen fand ihn bei Schichtbeginn wiederum in der Nähe des Kontrollkastens, die Augen auf eine bestimmte Stelle gerichtet. »Aha!« Er folgte einem Arbeiter, der eben das Kontrollbrett passiert hatte. Der ging in die Packerei und hängte, wie Wittebold feststellen konnte, zwei Marken an das dortige Kontrollbrett.

Jetzt wird's gewagt! ging's ihm durch den Kopf; Schappmann muß mich eine halbe Stunde vertreten! Und nach einer kurzen Rücksprache mit seinem Vorgänger begab er sich ins Botenzimmer, schrieb einen ziemlich langen Brief, adressierte ihn mit breiten Buchstaben: »Herrn Generaldirektor Kampendonk«, versah ihn mit dem Vermerk »Sofort – eilt sehr!« und trug ihn zu einem Werkbriefkasten, der weit von seiner Abteilung entfernt lag. –

»Herr Geheimrat!« Kampendonks Privatsekretär trat neben dessen Schreibtisch, öffnete eine Mappe.

»Was Eiliges?« fragte Kampendonk und richtete seine hohe Gestalt auf. Der weiße Patriarchenkopf wandte sich voll dem Sekretär zu.

»Allerdings, Herr Geheimrat – wenn es nicht eine Mystifikation oder ein Verleumdungsakt ist.«

»Nun, geben Sie mal her!« Und Kampendonk las den überreichten Brief. »Hm!« Er strich sich durch den langen Vollbart. »Das wäre allerdings eine Entdeckung . . . Herr Doktor Wolff soll zu mir kommen!«

Ein paar Minuten später betrat Christian Wolff – der Polizeipräsident des Werkes, wie er im Scherz genannt wurde – das Zimmer. Der Geheimrat reichte ihm den Brief. »Was meinen Sie dazu?«

Dr. Wolff räusperte sich ein paarmal. »Selbst auf die Gefahr einer Irreführung hin würde ich kein Bedenken tragen, die Beschuldigten sofort festzunehmen. Hier ist Eile geboten.«

»Ganz meine Meinung. Veranlassen Sie das Erforderliche und berichten Sie mir dann sofort!«

Als Wolff den Raum verlassen hatte, meldete der Sekretär: »Herr Doktor Fortuyn ist jetzt gebeten.«

»Gut – lassen Sie ihn eintreten!«

Der Geheimrat ging Fortuyn entgegen, reichte ihm die Hand, lud ihn zum Sitzen ein, begann dann, nach kurzem Zögern: »Übermorgen wird nun Herr Doktor Moran seine Arbeit hier aufnehmen. Sorgen Sie also dafür, lieber Herr Doktor, daß der Umzug Ihres Laboratoriums in die neuen Räume bis morgen zu Ende kommt! Die sind ja, weil es sich nicht anders machen ließ, ein gutes Stück kleiner. Auch der Stab Ihrer Mitarbeiter ist von nun an verringert – aber trotzdem hoffe ich, daß Sie mit den bewährten Kräften, die Sie sich ja selbst aussuchen können, auch in Zukunft noch weiter recht Ersprießliches leisten.«

»Gewiß, Herr Geheimrat: von morgen ab werden meine bisherigen Räume frei sein – – für ihren neuen Herrn.«

»Hm – hm!« Kampendonk hüstelte leicht, fuhr dann fort: »Ich möchte diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen nochmals zu versichern, daß ich persönlich nach wie vor von den guten Aussichten Ihres Verfahrens überzeugt bin, und« – hier lachte er prononciert – »da ich Generaldirektor bin und mich zudem auch körperlich noch recht frisch fühle, dürfen Sie gewiß sein, daß Ihnen in absehbarer Zeit niemand in den Weg tritt, um Ihnen Schwierigkeiten zu machen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Geheimrat, und hoffe bestimmt, Ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen.« Die letzten Worte waren mit einer Betonung gesprochen, die Kampendonk aufmerken ließ. Er schaute Fortuyn prüfend an, doch dessen Gesicht blieb unbewegt.

»Dafür, daß Sie mit Ihrem Konkurrenten – wenn ich Moran so nennen darf – durchaus kollegial verkehren, bietet mir Ihr Charakter genügend Bürgschaft, lieber Herr Doktor. Ich werde Sie selbst hier mit ihm bekannt machen.«

Mit einem festen Händedruck schieden die beiden. Und kaum war Fortuyn gegangen, als Dr. Wolff wieder erschien.

»Also, Herr Geheimrat: Jedes Wort des Briefes trifft leider zu. Die Überraschung war so vollkommen, daß dieser Embacher sofort gestand. Er ist nicht Badenser, sondern französischer Elsässer, von Beruf Ingenieur und spioniert für die Société Méditerranée. Er treibt sein unsauberes Handwerk schon über ein Jahr . . .«

»Donnerwetter!« entfuhr es Kampendonk. »Wenn er immer so erfolgreich gearbeitet hat, dann ist ja manches erklärlich!«

»Bei einer Leibesvisitation kamen sechs eng beschriebene Seiten zum Vorschein, die genaue Kopie der Patententwürfe Doktor Hesselbachs aus der Cx-Abteilung. Embacher hat sich zunächst den Plan der Nachtwächterrunden zu beschaffen gewußt. Über das Wie gibt er vorläufig keine Auskunft; wahrscheinlich, um einen Komplicen zu schonen. Danach war es ihm ein leichtes, den Wächter von Hesselbachs Ressort zu vermeiden . . .«

»Aber wie kam er nachts ins Werk?«

»Er hat einfach bei Arbeitsschluß sich in der Packerei einschließen lassen. Seine Kontrollmarke besorgte ein andrer Packer namens Fischer für ihn. Wie weit der in die ganze Sache verwickelt ist, weiß ich noch nicht. Vorläufig leugnet er alles, will Embacher den Dienst nur aus Gefälligkeit erwiesen haben.«

»Und die Instrumente? Manometer und Thermometer?«

»Haben wir wieder! Sie wurden in Embachers Wohnung gefunden. Bleibt nur noch übrig, den Leipziger Mittelsmann, der in diesen Tagen das Diebesgut abholen soll, festnehmen zu lassen.«

»Hm – hm – und wer mag unser geheimnisvoller Freund sein, der uns diese Hinweise gab?«

Dr. Wolff zuckte die Achseln. »Möglicherweise ein früherer Komplice, den man vergrämt hat und der sich nun auf solche Art rächt.«

»Hm«, meinte der Geheimrat, »es wäre doch interessant, zu wissen, wer dieser Anonymus ist. Als Unterschrift zeichnet er ein Eichenblatt . . .«

»Vielleicht, Herr Geheimrat, ergibt sich bei der weiteren Vernehmung Embachers ein Fingerzeig.«

*

Es dauerte geraume Zeit, ehe in dem neuen, verkleinerten Laboratorium Fortuyns alles ins Lot kam. Abgesehen von Tilly, die emsig an ihrem neuen Platz arbeitete, standen die anderen in Gruppen herum und besprachen die Neuordnung der Dinge.

»Hat übrigens schon jemand Doktor Moran gesehen?« fragte einer.

»Ich!« rief Rudolf Wendt. »Als ich vorhin an Kampendonks Zimmer vorbeiging, sah ich ihn und bald darauf auch Fortuyn dort herauskommen.«

»Nun, wie sieht er aus?«

»Äußerlich jedenfalls tipptopp. Neueste Mode. Eleganter, schlanker Herr . . . muß sagen: sieht – –«

Hier fuhr Tilly ihm in die Parade: »Sieht besser aus als Doktor Fortuyn – das wollten Sie wohl sagen, nicht wahr? Haben Sie ihm denn auch angesehen, ob er was kann?«

»Ob er was kann?« sagte Rudi und machte ein wenig geistreiches Gesicht. »Darauf habe ich ihn mir nicht angesehen.«

Alle lachten. »Na ja, Rudi«, sagte Tilly und setzte sich wieder an ihre Arbeit, »Sie können so bleiben!«

»Tillychen, Sie werden wieder mal anzüglich!« rief Rudi lachend. »Na, einerlei! Bügelfalte hin, Bügelfalte her – daß es darauf nicht ankommt, teuerste Tilly, das weiß ich. Und ich hoffe mit Ihnen, daß wir das Rennen machen!«

»Wir? – Doktor Fortuyn!« klang es von Tillys Platz.

»Jawohl: Doktor Fortuyn!« äffte Rudi ihr nach. »Wenn ich beim Skat in der Brenne sitze, wechsle ich den Stuhl. Gutes Mittel, Tillychen! Kann es Ihnen sehr empfehlen. Oder spielen Sie keinen Skat?«

Von Tillys Platz klang es herüber wie »Affe!«, doch Rudi fuhr unbeirrt fort: »Nun haben wir sogar das ganze Lokal gewechselt. Da müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht das Rennen machten . . . Pardon, Tillychen: nicht wir, sondern Doktor Fortuyn!« – –

Das Wort kam Tilly wieder ins Ohr, als sie kurz vor Dienstschluß ein Versuchsergebnis beobachtete. Da war sie, die langgesuchte, die hundertfach vergeblich erstrebte Reaktion! Als könne sie es nicht glauben, wiederholte sie das Experiment noch einmal, ohne darauf zu achten, daß die Kollegen das Labor verließen; wie angeschmiedet hockte sie an ihrem Tisch. Endlich! Da kam die Reaktion wieder – genau so exakt. Tilly sah nach der Uhr und erschrak: zwei Stunden hatte sie hier allein gesessen! Ob Fortuyn noch da war? Wie würde auch er sich freuen! Sie griff nach ihren Aufzeichnungen und der Reagenzröhre, eilte nach Fortuyns Zimmer.

»Herein!« Fortuyn saß mit dem Rücken zur Tür, schaute sinnend durchs Fenster.

»Herr Doktor!«

»Oh, Sie sind's, Fräulein Tilly? Welch später Besuch! Waren Sie so fleißig?«

»Jawohl, Herr Fortuyn. Ich . . .«

Die Worte kamen so stockend, daß Fortuyn sie verwundert ansah. »Was ist denn nur, Fräulein –?«

»Ich – ich kann's kaum sagen – vor Freude: die Reaktion G 16 b ist gelungen! Ich hab' sie!«

»Das wäre!« Fortuyn war aufgesprungen, legte ihr beide Hände auf die Schultern, sah ihr in die Augen. »Ich sagte Ihnen ja, daß ich dieser Versuchsreihe besondere Bedeutung beilegte. Aber ich hab' Ihnen verschwiegen, daß von dem Gelingen ein gut Teil unseres erfolgreichen Weiterarbeitens abhängt. Ich möchte Sie gleich ins Labor begleiten, um Zeuge Ihres Triumphs zu sein.«

Dort prüfte Fortuyn sorgfältig Tillys gelungene Reaktion. »Gratuliere, Fräulein Gerland! Und allerherzlichsten Dank für Ihre erfolgreiche Mitarbeit! Doch nun Schluß!« Er zog die Uhr. »Sie haben ja Ihre Tischzeit längst versäumt.« Er machte eine korrekte Verbeugung vor seiner Assistentin. »Darf ich mir die Ehre geben, Sie zu einem kleinen Siegesmahl einzuladen?«

Tillys Herz schlug hoch hinauf. Mit ihm zusammen soupieren . . . Gipfel der Seligkeit! –

Nach dem Mahl saßen sie noch lange zusammen. Fortuyn bat Tilly, doch sofort am nächsten Tag eine genaue Darstellung dieser neuen Reaktion schriftlich niederzulegen, denn übermorgen werde er mit Professor Bauer aus Aachen zusammenkommen. »Auch der wartet schon längst sehnsüchtig auf diesen Erfolg – und ich kann ihm Ihr Exposé dann gleich mitgeben.«

»Hm!« Tilly schüttelte den Kopf und schaute nachdenklich in ihr Weinglas. »Bauer ist leider mit echt professoraler Zerstreutheit gesegnet. Sie legen doch unbedingt Wert darauf, daß die genauen Zahlen vorläufig geheimbleiben? Am besten vielleicht, Herr Fortuyn, ließe es sich so machen . . .« Und sie flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Blendende Idee, Tilly! Ja – so machen wir's!«

Es war ein glücklicher Abend für Tilly, und noch lange haftete die Erinnerung daran in ihrem Herzen. – –

Professor Bauer saß im D-Zug Berlin–Paris. Entwarf in Gedanken eine neue Publikation über Fortuyns Elektrosynthese unter Benutzung der wichtigen Fortschritte, die Fräulein Dr. Gerland in einer glücklichen Stunde gelungen waren. Für kurze Zeit wurde er durch das Erscheinen einer jungen Dame gestört, die in Köln zustieg. Selbst die alten Augen des Professors konnten nicht umhin, mit Wohlgefallen den Eindruck dieser jugendfrischen Erscheinung in sich aufzunehmen. Doch als die Kupeegenossin eine Zeitung entfaltete, kehrten seine Gedanken wieder zu dem alten Problem zurück. Aber auf der Weiterfahrt zwang ihn ein natürliches Muß, seine gelehrten Ideengänge noch einmal zu unterbrechen und das Abteil zu verlassen.

Kaum war er hinaus, als die junge Dame aufstand und ihren Koffer anhob, der neben dem des Mitreisenden im Netz lag und ihm sonderbarerweise so ähnlich war wie ein Ei dem anderen. Auch den des Professors hob sie an. Beide Koffer waren ungefähr gleich schwer. Mit ein paar schnellen Griffen vertauschte sie sie auf ihren Plätzen und saß längst wieder in ihre Zeitung vertieft, als Bauer zurückkam.

Der Zug rollte in den Bahnhof von Aachen ein. Der Professor ergriff den Koffer über seinem Platz und verließ mit kurzem Gruß das Abteil.

Kaum war er außer Sicht, so stieg auch die Dame aus. »Hotel Imperial!« rief sie dem Gepäckträger zu.

Im Hotelzimmer dann öffnete sie, nicht ohne Mühe, den fremden Koffer. Wenige Minuten später hatte sie Tillys Protokoll auf der photographischen Platte, und das Original lag wieder an seiner alten Stelle.

Die Dame läutete Alarm nach dem Geschäftsführer, überschüttete ihn mit einem Schwall von Worten. »Mein Koffer ist vertauscht! Ein Herr war mit mir im Abteil – vielleicht mit einem ähnlichen Koffer . . . Hat wohl meinen statt seinen mitgenommen . . . Nachforschungen anstellen – Zeitungsaufruf – ich muß meine Sachen unbedingt wiederhaben!«

Der Geschäftsführer versprach, alles in Bewegung zu setzen. Er hoffe jedoch, daß jener Mitreisende die Verwechslung inzwischen auch bemerkt habe und sich wahrscheinlich früher oder später an die Bahnhofsverwaltung wenden werde. Dergleichen käme ja öfters vor. »Ich werde den Koffer hier vorläufig in Verwahrung nehmen und gleich jemand zum Bahnhof schicken.« – –

Nach seiner dreitägigen Abwesenheit hatte Professor Bauer einen Empfang seiner Gattin überstanden, der eines erfolgreichen Nordpolfahrers würdig gewesen wäre. Dann machte sich Frau Berta über den Koffer her, um nach einem etwaigen Mitbringsel zu fahnden. Nur unter großen Schwierigkeiten gelang ihr die Öffnung. Doch während der Kofferdeckel nach der einen Seite fiel, sank sie mit einem leichten Aufschrei nach der anderen Seite auf einen Stuhl.

»Friedrich! Das soll für mich sein? Aber nein! Wie konntest du dir solch unnütze Dinge aufschwatzen lassen!«

Der Professor sah, über die Kaffeetasse hinweg, seine bessere Hälfte verständnislos an. »Was ist denn, Bertchen?«

Inzwischen hatte die sich mit den seidenen Combinations zu schaffen gemacht, als ihre geschärften Hausfrauenaugen plötzlich bemerkten, daß die Sachen ja gebraucht waren. »Friedrich! Was soll das bedeuten?«

Der Professor kam zu dem Koffer, warf einen Blick auf den Inhalt, fuhr sich verstört durch die Haare. »Was hab' ich denn da wieder angerichtet? Das Manuskript Fortuyns . . . um Gottes willen, wenn es in unrechte Hände geraten wäre –!«

Frau Berta wandte sich besänftigend an ihren Gatten. »Beruhige dich, Friedrich! Die Dame, der dieser Koffer gehört, meldet sich sicherlich, sobald sie den Tausch bemerkt.«

»Ja – aber wer weiß, wie lange das dauert?« jammerte der Professor. »Sie blieb ja im Zuge sitzen. Ist weitergefahren. Vielleicht schon über die Grenze.«

»Das wäre ja gerade das Gute!« fiel die Frau Professor ein. »Bei der Zollrevision wird sie's schon merken. Auf jeden Fall werde ich sofort zum Bahnhof telephonieren, ob etwa schon eine Reklamation da ist.«

Die Reklamation war da. Und eine halbe Stunde später hatte Friedrich Bauer seinen Koffer wieder und streichelte liebevoll Tillys Protokoll, während Frau Berta vergeblich nach ihrem Mitbringsel suchte. – –

Hotel Imperial. Derselbe Name; doch diesmal in Paris. Juliette stand am Fenster und trommelte ungeduldig auf die Scheiben. James Headstone hatte ihr seinen Besuch angemeldet. Er war, wie er ihr offiziell angezeigt hatte, seit einiger Zeit Dolly Farleys Verlobter und befand sich mit ihr auf einer Europareise.

In langer, inniger Umarmung bewillkommte er Juliette. Immer wieder streichelte er ihr freudeglühendes Gesicht, trank ihre Jugendfrische in sich hinein, wie ein Verdurstender, der aus einer Wüste kommt. Und Juliette gab sich ganz der Freude des Wiedersehens hin, voll innerlichen Triumphs: mochte er auch sein »Aktienpaket« heiraten – sein Herz blieb bei ihr!

»So«, – er gab ihr noch einen herzhaften Kuß – »nun zu den Geschäften! Wo hast du . . .?«

»Hier, James! Der Film ist schon entwickelt. Alles gut und scharf darauf.«

Headstone ließ das breite Zelluloidband durch die Finger gleiten, überflog Worte und Zahlen, die Fräulein Dr. Ottilie Gerland vor achtundvierzig Stunden auf Fortuyns Wunsch über ihre Reaktion niedergeschrieben hatte.

»Vorzüglich, Juliette! Hast Boffins Plan ausgezeichnet durchgeführt. Mußt mir gelegentlich mal erzählen, wie er die Sache eingefädelt hat. Kann doch nicht so leicht gewesen sein. Ich werde übrigens dafür sorgen, daß ihr beide von der ›United‹ eine Sonderbelohnung bekommt.«

»Fein, James!« Juliette klatschte in die Hände. »Ich sah in der Rue Albert einen entzückenden Pelz. Darf ich ihn mir zurückstellen lassen?«

»Nicht nötig, liebes Kind! Soviel hat James für Juliette doch wohl noch übrig, daß er ihr solch bescheidenen Wunsch sofort erfüllt!«

Juliette warf sich ihm um den Hals, küßte ihn, bis er alles – auch Dolly Farley – vergaß . . .

Während sie dann plaudernd die Rue Albert entlanggingen, sagte Juliette unvermittelt: »Also Miß Farley hab' ich es zu verdanken, daß wir uns in Paris wiedersehn?«

»Allerdings, mein Kind. Das verknöcherte Europa mit seinen Schlössern, Kirchen, Museen reizt mich nicht im geringsten.« Und, mit ritterlicher Verbeugung: »Du, Juliette, bist für mich der einzige Anziehungspunkt hier . . . Dolly aber empfand es als eine bedeutende Lücke in ihrer Bildung, nicht mit ihren Freundinnen über Europa sprechen zu können. Was wollte ich also machen? Solange ich sie nicht habe und – –«

»– – ihr Aktienpaket«, sagte Juliette lachend, »so lange mußt du wohl oder übel parieren. Geschieht dir ganz recht!«

»Na warte, du! Das wirst du büßen!« Headstone drohte ihr scherzend mit dem Finger. »Übrigens« – er wurde ernst – »müssen wir natürlich bei unseren Zusammenkünften größte Vorsicht walten lassen. Dolly ist mißtrauisch!«

Beglückt über den Besitz des Pelzmantels, trennte sich Juliette von Headstone. Als sie am Louvre vorbeikam, hörte sie plötzlich ihren Namen rufen und sah einen eleganten jungen Herrn auf sich zukommen. Der rief ihr schon von weitem entgegen: »Ah, glänzend! Wundervoll, Sie hier zu treffen, teuerste Juliette!«

Jetzt hatte auch sie ihn erkannt. »Tag, Waldemar! Was machen Sie denn in Paris?«

»Dasselbe möcht' ich auch Sie fragen, Juliette. Sie haben doch Zeit? Wir könnten ein Stückchen spazierengehen und dabei nette Erinnerungen an unsre Seereise auffrischen.«

»Gemacht! An Zeit fehlt's mir nicht!«

»Und« – er deutete auf ihren kostbaren Mantel – »an Dollars, Franken oder Mark wohl auch nicht!«

»Es wäre viel netter, mein lieber Waldemar«, sagte Juliette mit gutgespielter Eitelkeit, »wenn Sie mir erklären würden, der Mantel kleide mich vorzüglich.«

»Aber, Juliette, warum sagen, was selbstverständlich und sonnenklar ist? Doch eine Frage, ohne indiskret sein zu wollen: Wie lange bleiben Sie in Paris?«

Juliette zuckte die Achseln. »Und Sie?«

Er äffte ihr das Achselzucken nach. »Weiß das ebensowenig. Aber könnten wir uns nicht gelegentlich mal länger wiedersehn?«

Juliettes Stimme ward um einen Ton kühler. »Wird sich wohl kaum ermöglichen lassen, mein Bester. Sie vergessen anscheinend, daß wir nach unserer gemeinsamen Überfahrt von New York nach Bremen bei der Landung übereinkamen: ›Aus den Augen, aus dem Sinn!‹ Nehmen Sie an, die Verhältnisse hätten sich geändert . . .«

Herrn Waldemar lag es auf der Zunge, zu sagen: »das Verhältnis« . . . Aber mit einem Blick auf Juliettes Gesicht verkniff er sich das Wort.

»Verzeihung, Teuerste! Ich wollte keineswegs in Ihre Geheimnisse eindringen. Was mich betrifft, will ich so offen sein, wie wir es beide auf dem Dampfer damals zueinander waren. Sie wissen ja, daß ich nach meiner Tour über den großen Teich in New York mein Brot als Eintänzer verdiente. Ich teilte das Los so mancher meines Berufs: Herzensfreund einer Dollarprinzessin zu werden. Als die Dame sich dann mit einem reichen Yankee verloben wollte, wurde mir eine Rückkehr nach Europa nahegelegt. Mit Rücksicht darauf, daß ich meine sichere Brotstelle verlor, erhielt ich natürlich eine entsprechende Entschädigung. In Berlin kam ich auf den törichten Gedanken, mich an einem Geschäft zu beteiligen – ich, der ich nun mal notorisch vom Pech verfolgt werde! Mit einem Bekannten zusammen eröffnete ich einen Autoverleih für Herrenfahrer. Das Geschäft ging zunächst ganz gut. Aber als ich eines Morgens in die Garage kam, waren alle Autos, bis auf eins, mit dem blauen Vogel geziert! Alte Gläubiger meines Kompagnons hatten diesen pikanten Schmuck anbringen lassen. Da kam ein Brief aus Paris von einer Dame – Diskretion Ehrensache! – die sich meiner liebevoll zu erinnern geruhte. Kurz entschlossen setzte ich mich in den letzten unverzierter Wagen und fuhr hierher.«

»Aber, Waldemar! Eine Eisenbahnfahrt wäre doch bedeutend einfacher und billiger gewesen!«

»Tja«, meinte Waldemar mit süßsaurem Lächeln, »ich bin in Berlin mit Leuten bekannt geworden, die das bewußte kleine Pülverchen« – er fuhr mit dem Daumen zur Nase – »sehr schätzen. Zufällig wußte ich eine Adresse in Paris, wo es leicht zu haben ist. Da dacht' ich: va banque!«

»Hm – wenn ich recht verstehe, wollen Sie den letzten Ihrer Mohikaner mit Koks befrachten und irgendwo über die grüne Grenze gehn?«

»Ich bewundere immer wieder Ihren vorzüglichen Scharfsinn, Juliette. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Koks ist teuer . . .«

»Nun, ich hoffe doch, daß mir die Auslagen dieser Reise und meine sonstigen Bemühungen hier honoriert werden.«

Wie werde ich ihn nur los? grübelte Juliette mit leichtem Naserümpfen. An einer Straßenecke sagte sie mit guter Schauspielerkunst: »Verzeihung, Waldemar, da geht ein bekannter Herr! Pardon, wenn ich etwas zurückbleibe!« Und während sich ihr Begleiter neugierig nach der angedeuteten Richtung umsah, verschwand Juliette in einer Ladentür – und ward nicht mehr gesehen, wie Waldemar eine Zeitlang später betrübt feststellte.

*

Zusammenstöße aller Art passieren trotz strengster Sicherheitsvorschriften und Vorsichtsmaßnahmen täglich. Fatum nennen es einige.

Das dachten wohl auch zwei Paare, die – bestrebt, möglichst ungesehen zu bleiben – sich plötzlich in die Arme liefen. Während James Headstone Fräulein Dolly Farley im Louvre glaubte und diese wiederum ihn auf einer geschäftlichen Konferenz vermutete, geschah es, daß Headstone am Arm Juliettes mitten im Park von Saint-Cloud Dolly Farley am Arm Waldemars auf einem schmalen Waldweg gegenüberstand!

Der Tag hatte sich so schön angelassen – Sonnenschein im Herzen, Sonnenschein in der Natur –, daß keiner an ein Unwetter dachte. Dieses gänzlich unerwartete Zusammentreffen bewirkte, daß nur zwei der Beteiligten ihre Heiterkeit bewahrten.

Headstone und Dolly nahmen ihr Souper an diesem Abend sehr einsilbig ein. Jeder vermied es, dem anderen Vorwürfe zu machen. Hatte doch jeder ein schon geschlossenes Konto vorübergehend wieder geöffnet!

Die gegenseitigen Fragen Juliettes und Waldemars, wie lange ihr Aufenthalt in Paris dauern sollte, wurden jedoch am gleichen Tage entschieden: Waldemar erhielt einen beschwerten Brief Dolly Farleys, in dem sie ihn bat, Paris zu verlassen. Und Juliette bekam ein dringendes Telegramm Boffins, sofort nach Ludwigshafen abzureisen.

Daß in Wahrheit Headstone dies Telegramm veranlaßt hatte, war ihr sofort klar. Der Auftrag in Ludwigshafen bestätigte ihre Auffassung. Er war so einfach, daß ihn die erste beste Kreatur Boffins hätte erledigen können. In ihrem Hotelzimmer dort fand sie ein Eilpaket, das eine Handtasche einfachster Art enthielt. Dazu einen Brief, in dem sie gebeten wurde, sich mittags um zwölf an einer bestimmten Bank im Volkspark einzufinden; dort würde eine einfache Frau sitzen, neben sich eine Handtasche von der gleichen Machart.

Juliettes Aufgabe bestand nur darin, ohne mit der bereits instruierten Frau ein Wort zu wechseln, die Taschen ungesehen auszutauschen und nach Berlin zurückzukehren. In wenigen Minuten war die Sache programmäßig erledigt. Bis zum Abgang des Berliner Zuges blieben ihr noch einige Stunden. Sie schickte ihr Gepäck zum Bahnhof und unternahm einen Gang durch die Stadt. Sah in leiser Wehmut die alten Gassen und Plätze wieder, kam auch durch die Straße, in der sie früher gewohnt. Nicht ohne innere Bewegung blickte sie zu den Fenstern der kleinen Dreizimmerwohnung hinauf, in der sie mit Wilhelm Hartlaub die ersten Jahre ihrer Ehe verlebt hatte.

Während sie so stand, trat eine junge Frau, mit einem Kind auf dem Arm, auf den Balkon. Das Kind griff jubelnd in den Blumenflor auf der Brüstung. Die Frau hob es lachend ein paarmal in die Höhe, bis das Kind, vor Freude kreischend, die Ärmchen fest um den Hals der Mutter schlang.

Juliette wandte sich ab. Die Glückliche da oben . . . warum du nicht? – Vielleicht, wenn sie auch Kinder gehabt hätte . . . Doch nur kurz dieser Ausflug in bürgerliche Romantik und Sentimentalität. Schon an der nächsten Straßenecke war sie wieder die alte. Und wenn mir einer ein halbes Dutzend Kinder verspräche – niemals ginge ich wieder zurück in diese Kleinbürgerlichkeit. Die ewigen Sorgen um Essen und Kleidung . . . Sie schauderte, zog den Pelz aus der Rue Albert fester um ihre Schultern.

Im Café des feinsten Hotels trank sie ein Glas Tee. Ein paar höhere Beamte aus ihres Mannes früherer Fabrik saßen am Nachbartisch. Ha, wie die Blicke immer wieder zu ihr hin flogen! Früher, als sie noch die einfachgekleidete Frau des kleinen Chemikers war, hätte keiner den Kopf nach ihr gedreht . . . ja, Kleider machten Leute!

Als der Zug aus der Halle des Bahnhofs hinausfuhr, ließ sie alle sentimentalen Erinnerungen lächelnd zurück. Nach Berlin! Morgen vielleicht nach London! Sie versuchte, ein wenig zu schlummern, doch vergeblich. Die Eindrücke, die eben in Ludwigshafen auf sie eingestürmt waren, mochten doch wohl in ihrem Unterbewußtsein weiterwirken. Immer wieder scheuchte ihr der Gedanke: Wo mag wohl Wilhelm Hartlaub jetzt sein, was mag er treiben? den Schlaf von den Augen.

*

Wittebold saß spät abends in seinem Zimmer, vor sich einen Briefbogen. Begann nach längerer Überlegung zu schreiben:

»An die Rieba-Werke, zu Händen des Herrn Generaldirektors Kampendonk. Der Monteur Bernhard aus dem Installationsbüro ist ein englischer Spion. Für welche Gesellschaft er arbeitet, ließ sich noch nicht ermitteln. Diese Anzeige erfolgt, bevor seine letzten Karten aufgedeckt werden konnten, um einen schweren Schaden für das Werk zu verhüten.

Es besteht folgender Plan: Bei der morgen stattfindenden Erneuerung des Katalysators in Tank B der Abteilung Gx wird der Arbeiter Waschke eine kleine Menge für sich zurückbehalten. Diese wird er entweder dem Monteur Bernhard direkt oder dem Werkmeister Lehmann von Ap, eventuell auch dem Arbeiter Schmidt von M 2, zustecken. – Es besteht zugleich ein dringender Verdacht, daß es Bernhard und einem seiner Komplicen durch Lehmanns Vermittlung gelungen ist, von dem Inhalt der Betriebsvorschrift Ap 602 Kenntnis zu nehmen.

Zum Schluß wird an die Werkleitung die Bitte gerichtet, nach dem Schreiber dieser Mitteilung keine Nachforschungen anzustellen. Es wäre für beide Teile unzweckmäßig.« –

Wieder die Szene in Kampendonks Büro. Der Sekretär kam hereingestürzt. »Herr Geheimrat – ein neuer Brief mit dem geheimnisvollen Eichenblatt! Ich habe Herrn Doktor Wolff schon benachrichtigt. Darf ich ihn hereinbringen?«

Kampendonk war aufgesprungen. Seine sonstige Ruhe hatte ihn verlassen. »Ist denn bei uns der Teufel los?« schrie er wütend. »Lassen Sie Doktor Wolff eintreten! Her mit dem Brief!«

Als er zu Ende gelesen, reichte er Wolff das Schreiben, trat dann, mit allen Anzeichen stärksten Ärgers, zum Fenster. Wolff griff nach dem Telephon, erkundigte sich beim Leiter der Gx-Abteilung, Dr. Leutwein, wann der Katalysator gewechselt würde. »In zwei Stunden? Gut! Dann kommen Sie, bitte, sofort hierher ins Büro des Herrn Geheimrats Kampendonk!«

Der hatte vom Fenster aus das Gespräch mitangehört, drehte sich jetzt um, nickte Wolff beifällig zu. »Zwei Stunden . . . Da läßt sich allerlei vorbereiten.« Er wandte sich an seinen Sekretär, sprach mit ihm ein paar Worte beiseite. Dann wieder zu Dr. Wolff: »Ich muß jetzt unbedingt zu einer Konferenz ins Werk. Sie kann vielleicht zwei Stunden dauern. Sollten Sie mich in der Zwischenzeit brauchen, rufen Sie mich dort an!«

Während der Konferenz bemerkten die anderen Teilnehmer an Kampendonk eine ungewohnte Nervosität. Und es standen doch nur verhältnismäßig harmlose Dinge zur Verhandlung. Gegen Ende der Besprechung merkte man ihm sogar an, daß er mit unverhohlener Hast zum Schlusse drängte.

In sein Zimmer zurückgekehrt, schritt er, immer wieder nach der Uhr sehend, rastlos auf und ab. Kleine Veruntreuungen und geringfügige Rezeptdiebstähle kamen ja manchmal vor. Aber dies waren Sachen von allergrößter Wichtigkeit; ein Bekanntwerden bei der Konkurrenz konnte unabsehbare Folgen haben. Endlich – das Telephon! Im Nu war er am Apparat, hörte nur das eine Wort: »Gelungen!« Aufatmend legte er den Hörer hin. Aber noch eine volle Stunde mußte er warten, bis Dr. Wolff erschien, um ihm Bericht zu erstatten.

Dessen Augen leuchteten. »Wir haben das ganze Nest ausgehoben. Wieder hat sich alles bewahrheitet, was unser Anonymus schrieb. Alle, außer dem Meister Lehmann, gestanden auf dem Fleck. Die Überrumpelung war dabei wieder ein wichtiges Moment. Lehmann wollte leugnen, mußte aber bei einer Konfrontation ebenfalls klein beigeben.«

»Wer ist dieser Bernhard, in dem ich den Spiritus rector vermute?« fragte Kampendonk.

»Geborener Engländer; lebt aber schon seit dem Kriege dauernd in Deutschland. Näheres war bisher nicht 'rauszubekommen, doch macht er den Eindruck eines gebildeten Mannes. Über seinen Auftraggeber verweigert er jede Auskunft.«

Kampendonk runzelte die Stirn, »Über den Auftraggeber müssen wir uns unbedingt Gewißheit verschaffen. Es ist von größter Bedeutung für uns.«

»Natürlich, Herr Geheimrat. Ich werde mein möglichstes tun. Habe schon strengste Postüberwachung angeordnet.«

Trotz aller Vorsichtsmaßregeln war es nicht zu vermeiden, daß von den beiden Spionagefällen einiges in die Werke drang. Die Fama wollte sogar wissen, daß ein hochbezahlter Kriminalbeamter engagiert sei, der nur Kampendonk allein bekannt war.

*

Eine stille Villenstraße in Rieba. Nur wenige elektrische Lampen erhellten sie notdürftig.

Johanna Terlinden kam vom Besuch einer Freundin. Es war später geworden, als sie gedacht. Eilig schritt sie dem entfernten Autohalteplatz zu. Plötzlich sah sie einen einzelnen Herrn im Schatten der Alleebäume wie wartend vor sich hergehen. Näher gekommen, schrak sie zusammen. War das nicht Fortuyn? Ihr Herz klopfte stärker. Ohne dringende Veranlassung würde der sie nicht in solch heikle Lage bringen. Was lag da vor? Die letzten Schritte fast laufend, stand sie neben ihm, rief ihn an: »Walter!«

Er drehte sich beim Klang der Stimme hastig um. »Johanna – du?«

In froher Überraschung schlang er den Arm um sie. Einen Augenblick ruhte sie an seiner Brust, dann machte sie sich heftig frei. »Wie kommst du hierher? Du wartest auf jemand?«

Die Freude über das unverhoffte Wiedersehen trieb ihm den Schalk in den Nacken. »Richtig geraten, Johanna: ich warte auf jemand.«

»Wohl als Ritter Toggenburg?« versuchte sie zu scherzen.

»Wieder richtig geraten, Johanna! Ich harre schon seit einiger Zeit vergeblich auf das Erscheinen einer jungen Dame.«

Johanna kniff ihn in den Arm. »Du willst wohl mit mir deinen Spaß treiben? Bist du so gut aufgelegt?«

»Aber, Johanna, ich werde dich doch nicht belügen. Die Dame ist jung, hübsch, nett . . . und ich habe einen triftigen Grund, hier auf sie zu warten. Es ist Fräulein Doktor Gerland; Tilly – wie sie im Laboratorium heißt. Ich hab' dir doch schon mehrfach von meiner besten Mitarbeiterin erzählt!«

Johanna strich ihm leise über die Hand, als bäte sie ihm innerlich etwas ab. »Schade, daß ich bisher nicht Gelegenheit fand, dieses tüchtige Mädchen kennenzulernen! Denn auch wenn ich jetzt nicht in so großer Eile wäre, wäre dies wohl kaum die richtige Stunde dazu . . .«

Das Schlagen einer Tür ließ sie aufmerken. Fortuyn drehte sich um. »Die Gartenlampe brennt! Sie kommt! Auf Wiedersehn, Johanna!«

Eine hastige Umarmung. Dann eilte Johanna, sich immer im Schatten der Bäume haltend, weiter.

Fortuyn ging zur Gartenpforte, aus der Tilly kam. Als er so unvermittelt vor ihr stand, durchzuckte sie ein freudiger Schreck. Doch sie faßte sich rasch, als er sie des nächtlichen Überfalls wegen um Entschuldigung bat. Vor einer Stunde habe er Nachricht aus Berlin bekommen, die ihn zu wichtigen Besprechungen für morgen dorthin rief. Die schematische Darstellung der letzten Versuchsreihen müsse unbedingt morgen zu Ende gebracht werden. »Ihnen, Fräulein Tilly, möchte ich diese wichtige Arbeit am liebsten anvertrauen.«

Während sie in lebhafter Unterhaltung in der Richtung, in der Johanna verschwunden war, weitergingen, gewahrten sie nicht, daß ein Herr, der sie schon von weitem beobachtet hatte, sich ihnen schnell näherte. Sie schraken erst auf, als er in etwas ironischem Tone rief: »Ah – guten Abend, liebe Johanna! . . . So spät . . .«

Er brach jäh ab, als die beiden sich mit einem Ruck umdrehten und er Fortuyn und Tilly erkannte. Unglücklicherweise stand Düsterloh – denn er war es – so im Schein einer Straßenlampe, daß man seine Züge beobachten konnte. Peinlich berührt durch seinen Mißgriff, suchte er in der ersten Verlegenheit vergeblich nach Worten.

»Verzeihung, Herr Direktor!« half ihm Fortuyn. »Ein Irrtum Ihrerseits . . . Sie vermuteten wohl in Fräulein Doktor Gerland Frau Direktor Terlinden? Ihre Frau Nichte kam in der Tat vor einer Minute vorbei, auf dem Wege zum Autohalteplatz dort.« Mit einer knappen Verbeugung gab er Düsterloh den Weg frei, wandte sich wieder zu Tilly.

Düsterloh murmelte etwas Undeutliches vor sich hin, eilte dann in der angegebenen Richtung weiter. Tilly wartete vergeblich, daß Fortuyn ihr noch weitere Mitteilungen über seine beabsichtigte Reise machen würde. Doch der war sehr einsilbig geworden. An der Haltestelle angekommen, verabschiedete er sich kurz. – –

In Dr. Morans Laboratorium herrschte Hochbetrieb. Tag und Nacht hatten die Monteure gearbeitet, um die Apparate und Tanks aufzustellen, mittels deren die neue Kautschukfabrikation nach den Moran-Patenten auf ihre wirtschaftliche Brauchbarkeit erprobt werden sollte. Gespannt wartete alles auf Dr. Moran. Unter seiner Leitung sollten heute die Tanks beschickt, die Apparate in Tätigkeit gesetzt werden.

»Na – nun sieht man endlich mal was Positives!« sagte Dr. Göhring. »Es war doch auf die Dauer ein unbefriedigendes Arbeiten mit Fortuyn.«

»Stumpfsinnig! Langweilig!« rief Dr. Abt, ein anderer Assistent, der auch bei Fortuyn gewesen war, »Man war doch weiter nichts als ein Handlanger, der die Steine zum Bau zusammentrug; ohne einen Begriff, einen Überblick, was daraus eigentlich werden sollte.«

»Na«, meinte Dr. Göhring, »jedenfalls hat es Fortuyn nicht verstanden, seine Mitarbeiter zur Arbeitsfreude zu erziehen. Man machte seine Reaktionen, schrieb Bände mit Protokollen voll, ohne jemals Aufklärung über den Zweck zu bekommen. Das Mißtrauen Fortuyns, die Art, seinen Mitarbeitern niemals einen Einblick in seine Arbeiten zu erlauben, wirkte lähmend.«

»Auch persönlich«, fiel Dr. Abt ein, »ist Moran ganz anders als Fortuyn. Der hatte so was an sich, was sehr distanzierend wirkte. Moran ist mehr Mensch. Er ist zugänglicher, freundlicher. Ich bin jedenfalls froh, daß mich Fortuyn nicht unter die ›Auserwählten‹ genommen hat.«

In diesem Augenblick kam Moran in den Raum. Nach freundlichem Gruß trat er zu den Apparaten, prüfte sie kurz. Winkte dann einem Laboranten, sprach in leicht wienerisch gefärbtem Ton: »Schalten Sie die Pumpen ein! Nun wollen wir mal den ersten Tank beschicken!«

Nach einer Weile wurden die Apparate angelassen und begannen zu arbeiten. Mit höchstem Interesse drängte alles um Moran, der bald hier, bald da den Stand der Thermometer und Manometer prüfte. Wohl eine Stunde lang – die Assistenten hatten sich wieder an ihre Arbeitsplätze begeben – ließ er alle Teile der Apparatur sich einlaufen. Befriedigt gab er gegen Mittag das Zeichen, die Anlage stillzusetzen; zeigte seinen Mitarbeitern noch einmal sämtliche Bedienungsfaktoren, erklärte ausführlich jede einzelne Phase seines Verfahrens.

Währenddes war Rudolf Wendt in das Laboratorium gekommen, um Dr. Göhring etwas zu fragen. So hörte er noch die letzten Erläuterungen Morans. Der schloß mit den Worten: »Spätestens übermorgen werden wir die Apparate mit den vorschriftsmäßigen Mengen beschicken und dann hoffentlich den ersten Kautschuk abfüllen können!«

Einer der Assistenten hatte jetzt Wendt bemerkt und stieß ihn scherzend in die Seite. »Na, Rudi: wann gedenkt ihr denn den ersten Kautschuk abzufüllen? Ich glaube, gar mancher von euch wird's nicht erleben! Möchte wohl Fortuyns Augen sehn, wenn hier der Laden klappert!«

Morans scharfes Ohr hatte die Worte trotz der Entfernung wohl verstanden. Er wandte sich nach der Richtung des Sprechers. »Wenn ich recht verstand, wurde da eben ein Vergleich zwischen Doktor Fortuyns Methode und der unseren hier gezogen. Nichts wäre verkehrter, meine Herren, als die beiden Methoden in Vergleich zu bringen. Fortuyns Elektrosynthese würde« – eine kleine Pause –, »wenn sie sich in der gewünschten Weise entwickeln läßt, die Chemosynthese sofort in den Schatten stellen!«

»Incertus an, incertus quando!« rief Dr. Abt laut lachend Dr. Wendt zu. Moran schien die Worte nicht gehört zu haben: jedenfalls nahm er keine Notiz davon.

Als Dr. Wendt in seine Abteilung zurückkam, war sein erster Gang zu Tilly, die während Fortuyns Abwesenheit dessen Büro als Arbeitszimmer genommen hatte, um eine schon seit langem fällige Sichtung und Ordnung der letzten Protokolle vorzunehmen.

»Augenblick, Tilly! Komme eben von drüben. Moran erklärte seinen Leuten gerade die neue Sache. Und wenn alles so klappt, wie er's sich denkt, ist's sicherlich kein fauler Zauber.« Er gab Tilly in großen Zügen ein Bild von dem, was er gesehen und vernommen hatte. »Höchst anständiger Kerl – muß ich sagen, Tilly. Besser konnte er dem dummen Schwätzer, dem Abt, nicht übers Maul fahren. Übrigens: dieser alberne Kerl versetzte mir zum Schluß noch eine Pflaume, die ich offen gestanden – ich schäme mich ein bißchen ob meines mangelhaften Lateins – nicht recht begriffen habe. Er sagte mit Anspielung auf Fortuyns Verfahren: ›Incertus an, incertus quando.‹«

»Lieber Rudi, ich habe schon so oft Ihre bedauernswerten Lehrer bemitleidet und kann das nur wiederholen. Das heißt wörtlich: ›Unsicher, ob – unsicher, wann.‹ Also, unser lieber früherer Kollege Abt wollte sagen, daß es jedenfalls sehr unsicher sei, ob Fortuyns Methode überhaupt jemals Erfolg haben würde.«

»Na – dem werd' ich's ja gelegentlich stecken!« brummte Rudi vor sich hin und ging hinaus.

Als um ein Uhr, nach der Mittagspause, Wittebold in Fortuyns Zimmer kam, sagte ihm Tilly: »Ich hab hier eine Menge losen Materials« – sie deutete auf einen hohen Stapel auf dem Boden neben sich –, »das in die Akten eingeheftet werden muß. Eilige Arbeit! Ich geh' eben zu Tisch. Machen Sie sich inzwischen darüberher!«

Wittebold nahm das ganze Material und trug es in einen Nebenraum, den Fortuyn zu technischen Arbeiten zu benutzen pflegte. Hier breitete er es auf einem großen Tisch aus. Er hatte noch nicht lange gearbeitet, da hörte er Schritte im Laboratorium. Weil er aber gleichzeitig das Klappern von Tellern und Bestecken vernahm, kümmerte er sich nicht weiter darum. Irgendein Angestellter des Kantiniers wahrscheinlich, der das Frühstücksgeschirr wegräumte. Er horchte erst auf, als die Schritte sich Fortuyns Arbeitszimmer näherten.

Was wollte der hier? Wittebold huschte leise hinter die halboffene Tür. Durch den schmalen Spalt erkannte er den Büfettier Franz Meyer. Am Arm trug er einen Korb mit dem eingesammelten Geschirr. Obwohl er auf den ersten Blick sehen mußte, daß in Fortuyns Zimmer nichts für ihn abzuholen war, kam er doch herein, stellte den Korb hin und griff nach dem Telephonhörer.

Wittebolds Erstaunen wuchs. Der Büfettier meldete ein Gespräch nach Berlin an: »Amt Landgraf, Nummer 3718.«

Während der Wartezeit ging Meyer auf und ab, besah sich die Einrichtung, trat auch einmal auf die Schwelle und warf einen flüchtigen Blick ins Nebenzimmer, ohne Wittebold in seinem Versteck hinter der Tür zu bemerken.

Das Telephon meldete sich. Meyer sprach: »Bitte, Herrn Boffin, falls er noch dort ist! . . . Ja? Dann rufen Sie ihn an den Apparat!« Nach einer Weile: »Ja – hier Meyer . . . Das Gewünschte geht Ihnen morgen durch einen Boten zu . . . Wie meinen –? Die Analyse? Da konnten Sie doch zufrieden sein! Andere Wünsche teilen Sie, bitte, schriftlich mit! Ist besser, Herr Boffin, wenn Sie schreiben! . . . Sonst nichts? . . . Wie? Wer's bringt? . . . Weiß ich noch nicht.« Meyer legte den Hörer auf, nahm seinen Korb und entfernte sich.

Wittebold ging leise in Fortuyns Zimmer und sah sich um. Alles in Ordnung. Was hatte der Kerl hier aber zu telephonieren? Er trat an die Tür und schielte dem Manne nach, der den gegenüberliegenden Ausgang zustrebte. Dort machte er an einem der offenstehenden Fenster plötzlich halt, schaute in das spiegelnde Glas, fuhr sich über den Scheitel, wie um ihn zu ordnen.

Wittebold täuschte sich über die Harmlosigkeit dieser scheinbar so natürlichen Geste. Wie konnte er auch ahnen, daß jene Fensterscheibe dem Meyer das Gesicht des Horchers hinter der Tür zeigte? Und daß er sich nur deshalb die Haare zurechtstrich, um den Beobachter genau zu erkennen? Nun ging er weiter – verließ, ohne sich umzuschauen, das Laboratorium.

Als Tilly um zwei Uhr zurückkam, war Wittebold mit seiner Arbeit fertig. Aber statt nun zu gehen, druckste er eine Zeitlang so offenkundig, daß Tilly aufmerksam wurde.

»Na, haben Sie noch was Besonderes auf dem Herzen, Wittebold?«

»Ach ja, Fräulein Doktor. Ich möchte gern für morgen Urlaub haben. Ein naher Verwandter in Berlin ist schwer erkrankt.«

»Und da wollen Sie nach Berlin?«

»Ja, Fräulein Doktor; wenn Sie so gut wären und – –«

»Aber gewiß, Wittebold. Fragt sich nur, wer Sie vertritt.«

»Oh, Schappmann würde das wohl gern übernehmen.«

»Na – dann ist's ja gut! Fahren Sie! Für einen Tag bedarf es ja keines großen Urlaubsgesuches. Das machen wir unter der Hand.« –

Nach Werkschluß saß Wittebold in seiner Stube, ohne Licht, im Dunklen. Den Kopf in den Arm gestützt, dachte er über den heutigen Tag nach. Schüttelte den Kopf: Möglich, daß ich mich täusche; aber besser doch, man geht der Sache mal nach. Schade nur um das teure Fahrgeld, wenn's vergeblich wäre . . .

Aus seinem Grübeln riß ihn die Stimme der guten Luise. »Ach, Herr Wittebold, kommen Sie doch ein bißchen zu uns 'rüber! Mit meinem Alten ist in den letzten Tagen gar nichts mehr los. Er kommt nicht drüber weg – brütet und knurrt und schimpft. Alles ist ihm zuwider!«

»Gewiß, Frau Schappmann. Ich geh' gleich mit.«

Bei Wittebolds Eintritt in die Wohnstube saß Schappmann am kalten Ofen, sah kaum auf, als der andere sich neben ihn setzte. Doch der schien auch nicht zum Reden aufgelegt zu sein, sprach kaum ein paar Worte, fiel dann in Schweigen.

Eine Zeitlang sah sich die gute Luise das an. Dann polterte sie los: »Nanu – was ist denn in Sie gefahren? Machen ja gerade so'n Gesicht wie mein Oller . . .«

»Ach ja – man hat so seinen Ärger. War mal heute ein ganz verquaster Tag.«

»Na«, fiel Frau Schappmann ein, »mein Oller war auch nicht immer guter Laune, wenn er aus dem Werk kam. Aber so'n Geklöne, wie er's jetzt macht . . .«

»Luise!« Schappmann sprach mit erhobenem Tone. »Ick habe dir schon zehnmal gesagt, det verstehst du nicht! Habe ick nicht im vorigen Jahr mein funfzigjähriges Jubiläum gefeiert und hat nicht der Herr Direktor gesagt, ick könnte stolz auf meine tadellose Dienstzeit zurückblicken . . . Hat er det gesagt oder hat er's nicht gesagt?«

»Ja, ja – hat er!«

»Na, un heute? Meine funfzigjährige Beamtenehre hat eenen Knacks jekriegt, der nicht wiedergutzumachen ist. Ich möchte lieber heute wie morgen sterben . . .«

»Aber, Schappmann«, fiel ihm Luise ins Wort, »versündige dich nicht! Du machst's viel schlimmer, als es ist!«

»Ihre Frau hat recht«, sagte Wittebold, dem seit seinem Brief über den Monteur Bernhard in Schappmanns Gesellschaft nicht ganz geheuer war. »Was können Sie denn zu dieser Schweinerei? Wer darf Ihnen einen Vorwurf machen, wenn Sie aus Menschenliebe zum Brunnen rennen, ein Glas Wasser holen und Ihre Aktentasche da stehenlassen?«

»So was von Raffiniertheit ist auch noch nie nich dagewesen!« empörte sich die gute Luise. »Schmeißt sich der Kerl auf die Steine, als ob er Krämpfe hätt' . . . Und mein guter Mann will ihm helfen – und die Halunken betriejen ihn und stehlen ihm det Papier! Ein andrer hätt' vielleicht gesagt: ›Holen Sie sich Ihr Wasser selber!‹ Aber die Halunken, die wußten, daß mein Alter so'n Menschenfreund is . . .

». . . so'n Esel is!« kam es mit Grabesstimme aus Schappmanns Ecke. »So groß, wie's jar keenen sonst gibt. Und nu habe ick die Schande davon.«

Der klägliche Ton, in dem die letzten Worte aus seinem Mund kamen, ließ Luise laut aufheulen. Wittebold, dem es immer unbehaglicher geworden war, gab sich einen Ruck. Die alten Leute taten ihm leid. Er trug noch einmal die ganze Sache in beredten Worten vor, wie es ein berühmter Verteidiger nicht besser gekonnt hätte. Und als er zum Schluß seines Plädoyers sagte: »Ich sehe also nicht die geringste Schuld bei Ihnen, lieber Schappmann – Ihre Beamtenehre ist heute genau so makellos wie vor einem Jahr«, da drückten ihm die beiden Alten gerührt die Hand.

»Det hat mir wirklich wohlgetan, Kollege Wittebold! Un wat morgen Ihre Reise betrifft, so werde ick meinen ollen Beenen schon Volldampf jeben, det ick alles jut erledige for Sie.« –

Mit dem ersten Personenzug fuhr Wittebold in aller Herrgottsfrühe nach Berlin.

Als Schappmann am Morgen mit seiner alten Mappe durch das Verwaltungsgebäude kam, begegneten ihm Generaldirektor Kampendonk und Dr. Wolff. Stramm, wie gewöhnlich, grüßte Schappmann die beiden, und sein altes Herz schlug warm in froher Dankbarkeit, als der Geheimrat ihm freundlich zunickte und sagte: »Guten Morgen, Schappmann!« Was selbst Wittebolds gutes Reden nicht völlig erreicht hatte, vermochten die harmlos gesprochenen Worte Kampendonks. –

Dr. Knappe, der Sekretär Kampendonks, hatte schon kurz nach neun Uhr die leitenden Direktionsmitglieder ins Zimmer des Geheimrats gebeten.

»Meine Herren«, erklärte ihnen Kampendonk, »die Schweinerei hat noch kein Ende. Ein neuer Fall übelster Spionage! Man kommt sich allmählich wie verraten und verkauft hier vor. Mit der Morgenpost erhielt ich einen Brief von unserm Agenten in Detroit. Man arbeitet in dem dortigen Werk der United Chemical an dem Fortuynschen Verfahren der Kautschuk-Elektrosynthese und fußt dabei auf Fortuynschem Material!«

Sekundenlang tiefe Stille. Nur hier und da ein gepreßtes Atmen.

»Geben Sie mir den Brief!« wandte sich Kampendonk an Knappe.

Der murmelte ein paar Worte, lief in sein Zimmer zurück – ärgerlich, daß er den Brief dort vergessen hatte. Und fand den Korrespondenten Lohmann mit einer roten Mappe unmittelbar neben dem Schreibtisch. Knappe hätte sich vor die Stirn schlagen mögen: Den Brief hier so offen liegenzulassen –!

»Was wollen Sie?« herrschte er Lohmann an, »Sind Sie schon lange hier?«

»Nein – eben erst 'reingekommen, Herr Doktor . . . 'ne eilige Unterschrift für den Herrn Geheimrat . . .«

»Her damit!« Knappe riß ihm die Mappe aus der Hand, nahm den Brief und eilte zu Kampendonk zurück.

Inzwischen hatte sich da die Erstarrung gelöst. Ein unterdrücktes Durcheinander von Fragen, Antworten und Ausrufen. Knappe schob schnell die Unterschriftsmappe vor Kampendonk hin, legte den Brief daneben.

»Also, meine Herren, unser Agent schreibt: ›Im Speziallaboratorium der Verwaltung der United Chemical in Detroit wird seit einiger Zeit an der Kautschuksynthese nach dem Elektroverfahren gearbeitet. Soeben ist es mir gelungen, festzustellen, daß man dabei Material benutzt, dem Fortuynsche Untersuchungen zugrunde liegen. Es scheint mir ganz außer Zweifel, daß in allerletzter Zeit wertvolle Informationen über Fortuyns Methode hierhergelangt sind. Denn Mister Headstone hat angeordnet, daß Doktor Watson einen verstärkten Stab von Mitarbeitern zugeteilt bekam, um mit allem Nachdruck dieses Verfahren auszubauen.‹«

»Es wäre wohl das gegebene«, meinte Düsterloh, »sofort Herrn Doktor Fortuyn hierherzubitten.«

»Gewiß!« entschied Kampendonk. »Herr Knappe, wollen Sie, bitte, Herrn Fortuyn benachrichtigen! Wer ist übrigens dieser Watson? Vielleicht ein bekannter Name in der amerikanischen Wissenschaft, so daß man doppelte Furcht haben müßte?«

Keiner wußte etwas. »Vielleicht kann Moran darüber Auskunft geben!« rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Gut! Bitten wir auch ihn hierher!«

Während Dr. Knappe die Telephongespräche erledigte, wandte sich die Unterhaltung wieder dem Brief zu.

»Ist doch ein Paradoxon stärkster Art«, sagte Direktor Lindner, einer der jüngsten Direktoren und überzeugter Anhänger Fortuyns, »daß wir unseren Doktor Fortuyn mit seinem Elektroverfahren von dem warmen Platz am Herd verdrängen und dafür Herrn Doktor Moran placieren, dessen Kraft Freund Headstone anscheinend nicht sehr hochgeschätzt hat.«

Kampendonk runzelte die Stirn; der Streit innerhalb des Direktoriums – hie Elektrosynthese, hie Chemosynthese – war ihm unangenehm.

Düsterloh griff jedoch sofort die Fehde auf. »Ich dächte doch, Kollege Lindner, wir sollten uns allmählich über die Richtigkeit unserer Dispositionen einig sein. Ihr Vorwurf hätte eine Berechtigung, wenn wir Doktor Fortuyn entlassen hätten. Aber bei dem Stand der Fortuynschen Versuche – es steht doch fest, daß man vorläufig nicht absehen kann, ob und wann sie mit praktischem Erfolg zu Ende gebracht werden –, ich meine also, daß wir richtig handelten, bei diesem Stande ein fertiges Verfahren, nämlich das von Doktor Moran, zu erwerben, um unsere Kautschukfabrikation nach dem älteren Chemoverfahren umgehend besser und rentabler zu gestalten.

»Wobei Fortuyns Gegner«, warf Direktor Lindner ein, »stillschweigend annahmen, daß das Moransche Verfahren besser ist, als das Fortuynsche je sein wird.«

»Diese Unterstellung, Herr Lindner, weise ich für meine Person jedenfalls zurück!« unterbrach ihn Düsterloh in scharfem Ton.

Lindner zuckte die Achseln; dachte sich dabei im stillen: Wer das glaubt! – Die Kontroverse wurde durch den Eintritt Fortuyns und Morans unterbrochen. Noch einmal las Kampendonk den Brief aus Detroit vor.

»Merken Sie, wie Fortuyn blaß wird?« raunte Düsterloh seinem Freund Bünger zu. Der nickte eifrig: »Gewiß . . . sehr merkwürdig!«

»Merkwürdig? Sagen wir ruhig: auffällig!« vollendete Düsterloh.

Kampendonk hatte nach dem letzten Wort des Briefes eine kleine Pause gemacht. »Hätten Sie dazu etwas zu sagen, Herr Doktor Fortuyn?«

Der sprach, langsam die Worte wägend: »Eine sehr schmerzliche Überraschung für mich! Wie es möglich war, daß Material von mir dorthingelangen konnte, ist mir ein Rätsel. Ich will jede Garantie übernehmen, daß von dem Material, für das ich persönlich verantwortlich bin, nichts in unrechte Hände geriet.«

»Wollen Sie damit andeuten, Herr Doktor«, fragte Düsterloh, »daß das Werk für die Sicherheit seines Materials keine Garantie übernehmen kann?«

»Nach den Vorfällen der letzten Wochen besteht doch die Möglichkeit, Herr Direktor, daß das Material, das die jetzt drüben verwerten, aus dem Werk entwendet ist. Eine genaue Antwort könnte ich nur geben, wenn ich wüßte, was für Material man dort hat. Das heißt, wenn ich die Schriftstücke selbst oder Kopien davon sähe.«

Kampendonk ergriff jetzt das Wort. »Ich wäre schon etwas beruhigt, wenn ich wüßte, daß das entwendete Material nicht besonders wertvoll ist. Könnten Sie uns darüber irgendwelche Auskunft geben, Herr Doktor Fortuyn?«

»Eine bestimmte Auskunft natürlich nicht, Herr Geheimrat. Ich glaube jedoch kaum, daß besonders wertvolle Aufzeichnungen abhanden gekommen sein können; denn darüber verfüge ich allein. Immerhin, Sie wissen, daß auch weniger Wichtiges in den Händen eines sehr Tüchtigen wertvoll werden kann.«

»Ah, gut«, fiel Kampendonk ein. »Herr Doktor Moran, darüber möchten wir gern Ihre Meinung hören: Ist Ihnen dieser Doktor Watson bekannt?«

»Gewiß, Herr Geheimrat. Persönlich sogar. Er ist schon seit langem ein Anhänger der Elektrosynthese. Gilt als sehr begabt, und Headstone selber hält große Stücke auf ihn.« Ein Lächeln glitt über Morans Züge. »Mittelbar ergab sich daraus mein Zerwürfnis mit der ›United‹. Headstone glaubte, meiner Dienste nicht mehr zu bedürfen. Schon damals hörte ich – allerdings nur gerüchtweise –, daß Headstone, als Gegner der Chemosynthese, Watson besondere Mittel zur Verfügung gestellt habe, um umfangreiche Vorstudien für das Elektroverfahren zu betreiben.«

»Dann ist die Sache mit Detroit ernst. Meine Herren, ich richte nochmals die Bitte an Sie, alle Sicherungsvorschriften genauestens befolgen zu lassen. Mit Ihnen, Herr Doktor Fortuyn, möchte ich in den nächsten Tagen über besondere Vorsichtsmaßregeln sprechen. Jedenfalls darf niemand Ihre Räume und diejenigen Doktor Morans betreten, der nicht dazu legitimiert ist. Auch nicht besuchsweise. Ich danke Ihnen, meine Herren!« –

In seinem Arbeitszimmer hatte Fortuyn sofort eine Besprechung unter vier Augen mit Fräulein Dr. Gerland. »Ich habe«, schloß er, »keine Befürchtungen, daß man uns wirklich Wertvolles gestohlen hat . . .« Das Eintreten Schappmanns unterbrach ihr Gespräch. Als der wieder gegangen war, fragte Fortuyn: »Wo ist denn Wittebold heute?«

»Ein Verwandter von ihm in Berlin ist erkrankt. Ich hab' ihn beurlaubt – zur Fahrt dorthin.« Fortuyn runzelte die Stirn, überlegte. Tilly sah es, erschrak. »War wohl etwas eigenmächtig von mir? Aber er tat mir leid.«

»Schon gut, Fräulein Tilly! Das war's nicht, woran ich dachte.«

Als Fortuyn später beim Mittagessen saß, entfaltete er seine Berliner Zeitung, las hier und da einen Artikel – stieß unversehens in der Rubrik »Hotelnachrichten« auf die Zeile: »Abgestiegen im Kaiserhof: Mr. James Headstone, Präsident der United Chemical, New York.« Betroffen kombinierte er hin und her, ohne eine befriedigende Lösung zu finden.

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