Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band
Charles Dickens

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Der Raritätenladen.

Dreißigstes Kapitel

Endlich nahm das Spiel ein Ende und Herr Isaac List stand als der einzig Gewinnende auf. Sein Kamerad und der Wirth trugen ihre Verluste mit der Seelengröße von Spielern von Profession, und Isaac sackte seinen Gewinn mit der Miene eines Mannes ein, der sich's längst vorgenommen hatte, zu gewinnen, und über die erlangten Vortheile weder überrascht noch erfreut war.

Nell's Beutelchen war erschöpft; aber obgleich es leer an der Seite ihres Großvaters lag, und die andern Spieler bereits vom Tische aufgestanden waren, so saß der alte Mann doch noch brütend über seinen Karten, vertheilte sie wie früher, und schlug sie dann auf, um zu sehen, was jeder erhalten haben würde, wenn sie noch fortspielten. Er hatte für Nichts als für diese Beschäftigung Sinn, als das Kind sich ihm näherte, die Hand auf seine Schulter legte und ihm sagte, daß es fast Mitternacht sei.

»Da siehst du den Fluch der Armuth, Nell,« sagte er, indem er auf die Häufchen wies, die er auf dem Tische vertheilt hatte. »Wenn ich nur ein Bischen länger hätte fortmachen können – nur ein Bischen länger, so würde sich das Glück auf meine Seite gewendet haben. Ja, das ist so klar, als die Bilder auf den Karten – sieh' hier – und da – und wieder da.«

»Ach, legen Sie's weg,« drängte das Kind. »Suchen Sie, es zu vergessen.«

»Es zu vergessen suchen?« entgegnete er, sein hageres Gesicht zu dem ihrigen erhebend und sie mit einem ungläubigen Stieren ansehend. »Es zu vergessen? Wie könnten wir je reich werden, wenn ich der Karten vergäße?«

Das Kind konnte nichts als den Kopf schütteln.

»Nein, nein, Nell,« fuhr der alte Mann fort, indem er sie auf die Wange klopfte: »die dürfen nicht vergessen werden. Wir müssen den heutigen Verlust so bald als möglich gut zu machen suchen. Geduld – Geduld – und dir soll noch dein Recht widerfahren. Heute Verlust, morgen Gewinn – und nichts kann gewonnen werden ohne Angst und Sorge – nichts. Komm ich bin bereit.«

»Wißt Ihr auch, was es an der Zeit ist?« fragte Herr Groves, der mit seinen Freunden rauchte. »Zwölf Uhr vorbei –«

– »Und eine regnerische Nacht,« fügte der stämmige Mann bei.

»Der tapfere Soldat bei James Groves. Gute Betten. Wohlfeile Herberge für Menschen und Vieh,« sagte Herr Groves, sein Wirthsschild citirend. »Halb Ein Uhr.«

»Es ist sehr spät,« entgegnete das Kind unruhig. »Ich wollte, wir wären früher gegangen. Was wird man von uns denken? Vor zwei Uhr können wir kaum zurück sein. Was würde es kosten, Sir, wenn wir hier blieben?«

»Zwei gute Betten: einen Shilling und sechs Pence; Nachtessen und Bier: einen Shilling. Totalsumme zwei Shillinge und sechs Pence,« antwortete der tapfere Soldat.

Nell hatte noch das in ihrem Kleid eingenähte Goldstück; sie dachte an die späte Stunde, an Madame Jarley's schläfrigen Gewohnheiten, an den Schrecken, den man zuverlässig der guten Dame einjagen würde, wenn man sie mitten in der Nacht herausklopfen wollte – und da sie andererseits überlegte, daß sie, wenn sie an Ort und Stelle blieben, am Morgen früh aufstehen und, noch ehe ihre Beschützerin erwachte, nach Hause kommen könnten, wo dann die Heftigkeit des Gewitters, von dem sie überrascht worden, als guter Entschuldigungsgrund diente, so entschloß sie sich nach langem Zögern, zu bleiben. Sie nahm daher ihren Großvater bei Seite und sagte ihm, daß sie noch genug habe, um die Kosten des Uebernachtens zu bestreiten, weßhalb sie ihm vorschlage, vor der Hand nicht aufzubrechen.

»Wenn ich nur vorhin das Geld gehabt hätte – wenn ich's nur um ein paar Minuten früher gewußt hätte,« murmelte der alte Mann.

»Wir wollen uns entschließen, hier zu bleiben, wenn's Ihnen recht ist,« sagte Nell, sich hastig an den Wirth wendend.

»Ich halte es auch für das Klügste,« versetzte Herr Groves. »Ihr sollt sogleich euer Nachtessen haben.«

Demgemäß brachte Herr Groves, nachdem er seine Pfeife ausgeraucht, die Asche ausgeklopft und seinen Dampfapparat sorgfältig, mit dem Kopfe nach unten, in eine Herdecke gestellt hatte, Brod, Käse und Bier herein, deren Vortrefflichkeit er höchlich lobte, und hieß nun seine Gäste darüber herfallen und thun, als ob sie zu Hause wären. Nell und ihr Großvater aßen nur wenig, denn Beide hingen ihren Gedanken nach, und die andern Herren, für deren Constitutionen Bier eine zu schwache und milde Flüssigkeit war, trösteten sich mit Branntwein und Tabak.

Da Großvater und Enkelin mit dem frühesten Morgen das Haus verlassen wollten, so war Nell ängstlich besorgt, das Nachtlager zu bezahlen, ehe sie zu Bette gingen. Sie fühlte jedoch die Nothwendigkeit, ihren kleinen Schatz vor ihrem Verwandten zu verbergen, weßhalb sie das Goldstück heimlich aus seinem Versteck hervorholte und eine Gelegenheit ersah, dem Wirth zu folgen, als er das Zimmer verließ; sie gab ihm dasselbe in dem kleinen Schenkstübchen, um es wechseln zu lassen.

»Wollen Sie so gut sein, mir darauf herauszugeben?« sagte das Kind.

Herr James Groves war augenscheinlich überrascht; er betrachtete das Geld, ließ es klingen, sah dann auf das Kind und wieder auf das Geld, als hätte er Lust zu fragen, wie sie dazu gekommen wäre. Da doch das Geld gut war und in seinem Hause gewechselt werden sollte, so dachte er wahrscheinlich wie ein verständiger Wirth, daß ihn das nichts angehe. Für alle Fälle zählte er also den Ueberschuß ab und händigte ihr denselben ein.

Als das Kind nach dem Zimmer zurückkehrte, wo sie den Abend zugebracht hatten, war es ihr, als sehe sie eben eine Gestalt zur Thüre hereingleiten. Es war nichts als ein langer, finsterer Oehrn zwischen dieser Thüre und dem Orte, wo sie das Geld hatte wechseln lassen, und da sie gewiß wußte, daß Niemand, so lange sie dort gestanden, ein- oder ausgegangen war, so kam ihr der Gedanke, sie sei belauert worden.

Aber von wem? Im Zimmer fand sie Niemanden, als die Gäste von vorhin. Der stämmige Kerl lag auf zwei Stühlen und hatte den Kopf auf seine Hand gestützt, und der schielende Mann ruhte in einer ähnlichen Haltung an der andern Seite des Tisches. Zwischen Beiden saß ihr Großvater, der den Gewinnenden mit einer Art hungriger Bewunderung ansah und an dessen Worten hing, als wäre der Sprecher irgend ein höheres Wesen. Sie war für einen Augenblick verblüfft und sah umher, ob sie nicht sonst noch Jemanden wahrnehmen könne. Nein. Dann fragte sie leise ihren Großvater, ob während ihrer Abwesenheit Jemand das Zimmer verlassen hätte.

»Nein,« sagte er; »Niemand.«

Es mußte also ein Trugbild ihrer Einbildungskraft gewesen sein; und doch war es seltsam, daß sie sich, ohne durch frühere Gedanken darauf geleitet zu sein, diese Gestalt so deutlich hatte vorstellen können. Sie dachte noch immer verwundert darüber nach, als ein Mädchen hereinkam, um ihr nach ihrer Schlafstätte zu leuchten.

Der alte Mann verabschiedete sich zu gleicher Zeit von der Gesellschaft, und sie gingen die Treppe hinauf. Es war ein großes, weitläufiges Haus, mit öden Gängen und weiten Treppen, die in dem Flimmerschein der Lichter nur noch trübseliger aussahen. Sie ließ ihren Großvater in seinem Gemache und folgte dem Mädchen nach einer anderen Kammer an dem Ende eines Ganges, zu dem man mittelst eines halben Dutzends brüchiger Stufen hinansteigen mußte. Diese war für sie hergerichtet. Das Dienstmädchen plauderte eine Weile mit ihr und klagte seine Noth. Sie hatte keinen guten Platz, wie sie sagte, denn der Lohn war gering und die Arbeit hart. In vierzehn Tagen wollte sie wandern; das Kind könne sie vermuthlich nicht anderswohin empfehlen? Sie halte es in der That für schwer, nach ihrem hierortigen Aufenthalte eine andere Stelle zu kriegen; denn das Haus stehe in einem sehr zweideutigen Rufe: es werde hier viel zu viel Karten gespielt und dergleichen. Sie müßte sehr im Irrthum sein, wenn einige von den Leuten, welche am öftesten hieher kämen, ganz so ehrlich wären, als sie sein könnten, aber sie möchte es um Alles in der Welt nicht gesagt haben; dann kamen noch einige unbestimmte Hindeutungen auf einen verschmähten Liebhaber, der gedroht hatte, Soldat zu werden – ein schließliches Versprechen, mit dem frühesten Morgen an der Thür zu klopfen – und endlich »gute Nacht«.

Nelly fühlte sich, als sie allein war, durchaus nicht behaglich. Sie konnte sich der Gedanken an die Gestalt, welche sich in dem untern Oehrn fortgestohlen hatte, nicht erwehren, und die Aussagen des Mädchens waren nicht geeignet, sie zu beruhigen. Die Männer hatten eine gar schlimme Außenseite – sie lebten vielleicht von Beraubung und Ermordung der Wanderer. Wer konnte das wissen?

Sie suchte diese Befürchtungen durch Gründe niederzukämpfen, oder vergaß ihrer wenigstens für eine kleine Weile; aber dann befiel sie eine Angst wegen der Folgen, die aus den Erlebnissen dieser Nacht erwachsen konnten. Die alte Leidenschaft war wieder in der Brust ihres Großvaters geweckt, und nur der Himmel wußte, zu welchen weiteren Verirrungen sie führen konnte. Welche Besorgnisse mochte bereits ihre Abwesenheit veranlaßt haben? Vielleicht waren schon jetzt Leute ausgeschickt, um sie aufzusuchen. Hatten sie am Morgen Verzeihung zu erwarten, oder mußten sie sich auf's Neue auf den Straßen herumtreiben? Oh, warum waren sie doch an diesem fremden Orte geblieben! Unter allen Umständen würde es besser gewesen sein, wenn sie nach Hause gegangen wären. Endlich, aber nur allmälig, machte der Schlaf seine Rechte geltend – ein unterbrochener, ängstlicher Schlaf, durch Träume beunruhigt, in welchen sie von hohen Thürmen herunterfiel und dann mit entsetztem Auffahren erwachte. Dann folgte ein tieferer Schlummer – und dann – – Was? jene Gestalt in der Kammer!

Eine Gestalt war da! Ja, Nell hatte die Blende aufgezogen, damit beim Grauen des Tages gleich das Licht einfalle, und da, zwischen dem Fuße des Bettes und dem dunkeln Fensterrahmen, kroch es und schlich es – leise sich weiter tappend, und um das Bette herum. Sie hatte keine Stimme zu einem Hilferuf, keine Kraft sich zu bewegen, sondern sie blieb still liegen und sah zu. Es kam näher – immer näher, still und verstohlen, bis zu den Häupten des Bettes. Der Athem war ihrem Kissen so nahe, daß sie sich in dasselbe zurückdrückte, um den tastenden Händen ihr Gesicht zu entziehen. Es stahl sich wieder nach dem Fenster zurück, dann wendete es den Kopf gegen sie.

Die dunkle Gestalt war nur ein Fleck auf dem helleren Dunkel der Kammer, aber Nell sah das Umwenden des Kopfes; sie fühlte und wußte, wie die Augen dort hersahen und wie jene Ohren horchten. Es blieb dort, regungslos wie sie selber – das Gesicht immer ihr zugekehrt; endlich beschäftigten sich die Hände mit Etwas, und sie hörte das Klingeln von Geld.

Dann kam es wieder, so stumm und verstohlen wie früher, heran, legte die Kleider wieder neben das Bett, ließ sich auf Hände und Kniee nieder und kroch fort. Wie langsam es sich zu bewegen und auf dem Boden fortzuschleichen schien – jetzt, da sie nur hören und nicht mehr sehen konnte! Endlich erreichte es die Thüre und stand auf seinen Füßen. Die Treppen knarrten unter seinen leisen Tritten, und fort war es. Der erste Gedanke des Kindes war, dem entsetzlichen Alleinsein in diesem Gemache zu entfliehen – Jemand um sich zu haben – nicht ganz auf sich selbst beschränkt zu sein – und dann würde wohl die Fähigkeit zum Sprechen wieder kommen. Ohne zu wissen, wie sie weiter kam, erreichte sie die Thüre.

Aber da war der schreckliche Schatten wieder, der unten an der Treppe hielt.

Sie konnte nicht daran vorbei; es hätte sich vielleicht in der Dunkelheit thun lassen, ohne daß sie hätte ergriffen werden können, aber das Blut gerann ihr bei diesem Gedanken. Die Gestalt stand ganz bewegungslos; dasselbe war auch bei ihr der Fall – nicht aus Kühnheit, sondern aus Nothwendigkeit – denn in das Zimmer zurückzukehren wäre kaum weniger schrecklich gewesen, als weiter zu gehen.

Der Regen schoß draußen rasch und wüthend nieder, und schüttete in klatschenden Strömen von dem Strohdache. Ein Sommerinsekt, das nicht in's Freie entkommen konnte, flog blind hin und her, stieß gegen Wände und Decke an und erfüllte den stillen Platz mit seinem Gesumme. Die Gestalt bewegte sich wieder. Das Kind that unwillkürlich dasselbe. Einmal in ihres Großvaters Gemache, und sie wäre sicher.

Die Gestalt schlich den Gang entlang, bis sie vor dieselbe Thüre kam, welche Nell so glühend zu erreichen verlangte. In ihrer Todesangst über die Nähe dieses unheimlichen Wesens wäre sie fast vorwärts geeilt, um in die Kammer zu stürzen und sie hinter sich zuzuschlagen, als die Gestalt abermals Halt machte.

Plötzlich tauchte ein Gedanke in ihr auf – wie wenn es dort hinein ginge und eine Absicht auf das Leben des alten Mannes hätte? Eine Ohnmachtsschwäche wandelte sie an. Es war so. Es ging hinein. Innen war Licht. Die Gestalt war jetzt in der Kammer, und sie – noch stumm, ganz stumm, und fast sinnlos – stand da und sah zu.

Die Thüre war halb offen. Ohne zu wissen, was sie thun sollte, sondern nur in der Absicht, ihn zu retten, oder sich mit ihm tödten zu lassen, schwankte sie vorwärts und sah hinein. Aber welch' ein Anblick begegnete hier ihren Augen?

Auf dem Bette hatte noch Niemand gelegen; es war glatt und leer. Und an einem Tische saß der alte Mann selbst, das einzige lebende Wesen in dem Gemache, sein blasses Gesicht zusammengekniffen und zugespitzt durch die Gier, welche seinen Augen einen unnatürlichen Glanz verlieh – ja, da saß er, und zählte das Geld, dessen sie durch seine Hände beraubt worden war.



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