Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band
Charles Dickens

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Der Raritätenladen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Der Rest dieses Tages und der ganze darauf folgende waren eine geschäftige Zeit für die Familie Nubbles, da ihr Alles, was mit Kit's Ausstattung und Abreise in Verbindung stand, eben so wichtig erschien, als hätte er einen Entdeckungszug in das Innere von Afrika, oder eine Reise um die Welt antreten sollen. Schwerlich gab es wohl je eine Truhe, die innerhalb vierundzwanzig Stunden so oft geöffnet und geschlossen wurde, als diejenige, welche Kit's Garderobe und sonstige Bedürfnisse enthielt; und gewiß gab es nie ein derartiges Möbel, welches zwei kleinen Augen eine solche reiche Fundgrube von Kleidern enthüllte, als es bei diesem gewaltigen Schrein mit seinen drei Hemden nebst einer entsprechenden Anzahl von Strümpfen und Taschentüchern, dem erstaunten Gesichtsorgan des kleinen Jakob gegenüber, der Fall war. Endlich wurde sie zum Kärrner gebracht, in dessen Hause zu Finchley Kit am andern Tage dieselbe finden sollte; und als die Truhe fort war, blieben nur noch zwei Fragen zur Beantwortung übrig: erstlich, ob der Kärrner dieselben nicht unterwegs verlieren, oder vielleicht unehrlicher Weise vorgeben würde, daß er sie verloren hätte, und zweitens, ob Kit's Mutter es auch gehörig verstünde, wie sie in der Abwesenheit ihres Sohnes für sich selbst Sorge tragen sollte.

»Ich halte es kaum für wahrscheinlich, daß er ihn wirklich verlieren könnte, aber ohne Zweifel sind Kärrner einer großen Versuchung ausgesetzt, den Verlust von Effekten vorzugeben,« sagte Frau Nubbles besorglich, als der erste dieser Punkte zur Sprache kam.

»Durchaus kein Zweifel,« entgegnete Kit mit einer ernsten Miene; »in der That, Mutter, ich glaube, es war nicht recht, die Truhe sich selbst zu überlassen. Ich fürchte, es hätte Jemand mitgehen sollen.«

»Jetzt läßt sich's nicht mehr ändern,« versetzte die Mutter; »aber es war thöricht und unrecht. Man sollte die Leute nie in Versuchung führen.«

Kit beschloß in seinem Innern, in Zukunft nie einen Kärrner anders als mit einem leeren Koffer zu versuchen, und nachdem er hierüber christlich mit sich in's Reine gekommen war, wandte er seine Gedanken der zweiten Frage zu.

»Ihr müßt aber den Muth nicht sinken lassen, Mutter, und Euch nicht für verlassen betrachten, weil ich nicht zu Hause bin. Gewiß, ich werde Euch sehr oft besuchen können, wenn ich in die Stadt komme; dann schreibe ich Euch auch bisweilen einen Brief, und wenn das Vierteljahr um ist, kann ich natürlich auch einen Feiertag kriegen. Ich will dann sehen, ob wir den kleinen Jakob nicht mit in die Komödie nehmen und ihm zeigen können, was man unter einer Auster versteht.

»Ich hoffe zwar nicht, daß es eine Sünde ist, wenn man in die Comödie geht; aber ich fürchte es fast,« sagte Frau Nubbles.

»Ich weiß es, wer Euch so etwas in den Kopf gesetzt hat, Mutter,« entgegnete ihr Sohn trostlos. »Das kömmt wieder von Klein-Bethel her. Ich sage Euch aber, Mutter, und ich bitte Euch darum, geht nicht regelmäßig dorthin, denn wenn ich sehen müßte, wie Euer heiteres Gesicht, das die Heimath immer so lieblich machte, sich in ein grämliches umgewandelt hätte, und daß der kleine Bruder dazu erzogen würde, gleichfalls ein grämliches Gesicht zu machen und sich selbst (Gott segne das arme Herz) einen jungen Sünder und ein Kind des Teufels zu nennen (was eigentlich den todten Vater im Grabe beschimpfen heißt) – wenn ich so etwas erleben und mitansehen müßte, daß mir der kleine Jakob kopfhängerisch würde, so thäte ich mir das so zu Herzen nehmen, daß ich hinginge und Soldat würde und absichtlich meinen Kopf gegen die erste Kanonenkugel hinhielte, die ich meines Weges kommen sehen thäte.«

»Oh, Kit, rede mir doch nicht so.«

»Ja, so würde ich's machen, Mutter; und wenn Ihr nicht wollt, daß es mir ganz elend und unbehaglich zu Muthe sein soll, so behaltet diese Masche auf Eurer Haube, die Ihr in der letzten Woche halb und halb abzutrennen im Sinne hattet. Könnt Ihr glauben, daß etwas Unrechtes daran ist, wenn man so heiter aussieht und so heiter ist, als es unsere Armuth gestattet? Sehe ich in der Weise, wie ich geschaffen bin, etwas, was mich auffordert, ein schnüffelnder, feierlicher, flüsternder Bursche zu sein, umherzukriechen, als ob ich nicht anders könnte, und nur in einem widerlichen Näseln zu sprechen? Im Gegentheil – sehe ich nicht allenthalben Gründe, es nicht zu thun? Da höre man nur! Ha! ha! ha! Ist es nicht eben so gut, als spazieren gehen, und der Gesundheit nicht eben so zuträglich? Ha! ha! ha! Ist es nicht ebenso natürlich, als wenn das Schaf blöckt, das Schwein grunzt, das Pferd wiehert, der Vogel singt? Ist's nicht eben so, Mutter? Ha! ha! ha!«

Es lag etwas Ansteckendes in Kit's Lachen, denn seine Mutter, welche ganz ernsthaft ausgesehen hatte, verzog anfangs ihr Gesicht zu einem Lächeln, dann aber stimmte sich kräftig ein, was Kit veranlaßte zu sagen, er wisse wohl, daß es natürlich und daher nur um so mehr zu belachen wäre. Da die Heiterkeit Kit's und seiner Mutter eine sehr lärmende war, so wachte der Wiegen-Nubbles auf, der, als er bemerkte, daß es lustig und angenehm zuging, in den Armen seiner Mutter alsbald sehr kräftig zu lachen anfing. Diese neue Beleuchtung seiner Argumentation kitzelte Kit so sehr, daß er gänzlich erschöpft in seinen Stuhl zurücksank, auf das Kind deutete, seine Seiten klopfte und dann wieder auf's Neue losbrach. Nachdem er sich etliche Mal wieder erholt und eben so oft einen Rückfall erlitten hatte, wischte er seine Augen, sprach das Tischgebet, und hielt mit den Seinen ein lustiges Mahl, so spärlich dasselbe auch bestellt sein mochte.

Unter mehr Küssen, Umarmungen und Thränen, als es viele junge Herren, welche auf Reisen gehen und eine mit Vorräthen reich ausgestattete Heimath hinter sich lassen, für möglich halten würden (wenn es anders der Mühe werth ist, einer so unbedeutenden Sache zu erwähnen), verließ Kit am folgenden Tage zu früher Morgenstunde das Haus, um den Weg nach Finchley anzutreten, und in seinem Aeußern sprach sich hinreichend viel Stolz aus, um von Stunde an Klein-Bethel zu einem Excommunikationsakte zu veranlassen, falls er je ein Mitglied dieser trübseligen Gemeinde gewesen wäre.

Wenn Jemand neugierig sein sollte, zu erfahren, wie Kit gekleidet war, so möge hier kürzlich bemerkt sein, daß er keine Livree, sondern einen Pfeffer- und salzfarbigen Rock, eine canariengelbe Weste und eisengraue Beinkleider trug. Außer diesen Herrlichkeiten zeigte er sich auch noch in dem Glanze eines neuen Stiefelpaars und eines außerordentlich steifen, wachstuchleinwandenen Hutes, der, wo man auch mit den Knöcheln anschlagen mochte, wie eine Trommel tönte. Und in diesem Anzuge begab er sich auf den Weg nach Abel-Cottage, ziemlich verwundert darüber, daß er so wenig Aufmerksamkeit erregte, welchen Umstand er übrigens der Gefühllosigkeit Derjenigen, welche früh aufstehen, zuschrieb.

Ohne auf seinem Wege einem merkwürdigeren Abenteuer zu begegnen, als daß er auf einen Jungen mit einem randlosen Hute – dem leibhaftigen Gegensatz zu seinem alten – traf, mit welchem er seine letzten sechs Pence theilte, kam Kit im Laufe der Zeit vor das Haus des Kärrners, wo er – zur ewigen Ehre der menschlichen Natur sei es gesagt – seine Truhe wohlbehalten vorfand. Nachdem ihm das Weib dieses makellosen Mannes die nöthigen Weisungen zu Herrn Garland's Wohnung gegeben hatte, nahm er die Truhe auf seine Schulter und begab sich unmittelbar nach dem Orte seiner Bestimmung.

Abel-Cottage war ein schönes, kleines Landhaus mit einem Strohdach und kleinen Thürmchen an den Giebelenden, während einige der Fenster mit farbigen Glasscheiben, fast so groß wie Taschentücher, versehen waren. An dem Hause war ein kleiner Stall, gerade groß genug für den Pony, nebst einem kleinen darüber liegenden Stübchen, welches ganz für Kit's Größe zu passen schien. An den Fenstern flatterten weiße Vorhänge und hingen Käfichte. so blank, als wären sie aus lauterem Golde, in welchen die Vögel sangen; an jeder Seite des Wegs und um die Thüre herum zogen sich Reihen von Pflanzen; und der Garten prangte von Blumen in schönster Blüthe, die nach allen Seiten ihre süßen Düfte entsandten und durch ihr buntes Farbenspiel bezauberten. Alles in und außer dem Hause schien das non plus ultra von Reinlichkeit und Ordnung zu sein. Im Garten war nirgends ein Hälmchen Unkraut zu sehen, und nach einigen niedlichen Gartengeräthschaften, einem Korb und einem Paar Handschuhen zu schließen, die in einem der Gänge lagen, mußte der alte Herr Garland an demselbigen Morgen schon an der Arbeit gewesen sein.

Kit blickte umher, wunderte sich, sah wieder herum, und wiederholte dieses ziemlich oft, ehe er es über sich gewann, seinem Kopfe eine andere Richtung zu geben und an der Klingel zu ziehen. Aber auch nach dem Klingeln fehlte es ihm durchaus nicht an Zeit, auf's Neue umherzuschauen, denn Niemand kam zum Vorschein, und nachdem er zwei- oder dreimal geläutet hatte, setzte er sich auf seine Truhe und wartete.

Er wiederholte sein Klingeln zu verschiedenen Malen, ohne daß Jemand herauskam. Endlich aber, als er sich auf seiner Truhe in Gedanken an Riesenschlösser, mit ihren Haupthaaren an Pfähle gefesselte Prinzessinnen, aus den Thoren hervorstürzende Drachen und andere derartige Vorfallenheiten erging – eine Stimmung, die in den Märchenbüchern jungen Leuten von niederem Range bei ihrem ersten Besuch in fremden Häusern so gewöhnlich ist – that sich die Thüre leise auf, und ein kleines, sehr gewandtes, bescheidenes und sittsames, aber auch sehr hübsches Dienstmädchen kam daraus zum Vorschein.

»Vermuthlich sind Sie Christoph, Sir,« sagte das Dienstmädchen.

Kit stand von seiner Truhe auf und bejahte diese Frage.

»Ich fürchte, daß Sie oft haben läuten müssen,« entgegnete sie; »aber wir konnten Sie nicht hören, weil wir den Pony einfangen mußten.«

Kit war etwas verwundert darüber, was sie wohl damit sagen wollte; da er aber nicht unter der Thüre stehen bleiben und Fragen stellen wollte, so warf er seine Truhe wieder auf die Schulter und folgte dem Mädchen in die Halle, wo er durch eine Hinterthüre des Herrn Garland ansichtig wurde, wie er den Klepper im Triumph den Garten herauf führte, nachdem dieser eigensinnige Pony (wie Kit später erfuhr) die Familie volle sieben Viertelstunden um ein kleines Gehäge im Hintergrund herumgenarrt hatte.

Der alte Herr empfing unsern jungen Freund sehr gütig, und das Gleiche that auch die alte Dame, deren vorläufige gute Meinung von ihm noch sehr durch den Umstand erhöht wurde, daß er seine Stiefel so lange auf dem Strohboden abwischte, bis seine Sohlen fast zu brennen anfingen. Er wurde sofort in das Wohnzimmer genommen, damit er in seinen neuen Kleidern beaugenscheinigt werden könnte. Nachdem dieß zu verschiedenen Malen geschehen war und er durch sein Aeußeres unbegränzte Zufriedenheit eingeflößt hatte, wurde er in den Stall (wo ihn der Pony mit ungemeiner Gefälligkeit empfing) und von da nach dem bereits bemerkten kleinen Stübchen geführt, welches sehr reinlich und gemächlich war.

Von dort aus ging es in den Garten, wo ihm der alte Herr sagte, er wolle ihn in die Gärtnerei einleiten, und außerdem noch beifügte, was für große Dinge er vorhabe, um Kit's Lage behaglich und glücklich zu machen, sobald er fände, daß seine Bemühungen nicht an einen Unwürdigen verschwendet wären. All' diese Güte erkannte Kit mit verschiedenen Aeußerungen seiner Dankbarkeit und so vielen Berührungen seines neuen Hutes, daß der Rand desselben beträchtlich nothlitt. Nachdem der alte Herr Alles, was er an Versprechungen und Rathschlägen zu sagen wußte, gesagt, und Kit dafür gebührendermaßen mit Versicherungen und Erkenntlichkeitsbezeugungen gedankt hatte, wurde Letzterer abermals der alten Dame überantwortet, welche dem kleinen Dienstmädchen (ihr Name war Barbara) rief und dasselbe beauftragte, den neuen Ankömmling mit hinunter zu nehmen und ihm nach seinem weiten Gange Speise und Trank zu reichen.

Kit begab sich also die Treppe hinunter, und im Erdgeschoß traf er auf eine Küche, wie er sie höchstens an einem Spielwaarenladenfenster gesehen hatte, denn Alles war darin so blank, so glänzend und so accurat geordnet, wie Barbara selbst. Und in dieser Küche setzte sich Kit an einem Tische, so weiß wie ein Tafeltuch, nieder, um kaltes Fleisch zu essen, Dünnbier zu trinken und sein Besteck um so ungeschickter handzuhaben, weil eine unbekannte Barbara zugegen war, die ihm zusah.

Es hatte übrigens nicht sehr den Anschein, als ob etwas so gar merkwürdig Schreckliches an dieser Barbara wäre, denn sie hatte ein sehr ruhiges Leben geführt, erröthete sehr viel, und war eben so verlegen und ungewiß, was sie sagen oder thun sollte, als es Kit nur immer sein konnte. Nachdem er eine Weile dagesessen und dem Ticken der bedächtigen Uhr zugehorcht hatte, wagte er es, einen neugierigen Blick nach dem Anrichttisch zu werfen, und dort lagen Barbara's kleines, mit einem Schiebdeckel versehenes Arbeitskästchen, in welchem sie ihre Fadenknäuel aufbewahrte, Barbara's Gebetbuch, Barbara's Psalter und Barbara's Bibel. Barbara's kleiner Spiegel hing in guter Beleuchtung neben dem Fenster, und Barbara's Hut befand sich an einem Nagel hinter der Thüre. Von all' diesen stummen Zeichen und Merkmalen ihrer Gegenwart blickte er natürlich auf Barbara selbst, welche so stumm dasaß, als die genannten Gegenstände, und in einer Schüssel Erbsen auskrüllte; und als Kit eben nach ihren Wimpern aufsah und – ganz in der Einfalt seines Herzens – hätte wissen mögen, von welcher Farbe ihre Haare wären – da trug es sich ungeschickter Weise zu, daß Barbara eben ihren Kopf erhoben hatte, um nach ihm zu sehen; und nun wandten sich beide Augenpaare hastig wieder ab, indem sich Kit über seinen Teller und Barbara über ihre Erbsenschoten beugte – Jedes ungemein verwirrt, weil es von dem Andern ertappt worden war.



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