Charles Dickens
Master Humphrey's Wanduhr. Erster Band
Charles Dickens

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Der Uhrkasten

Es ist meine Absicht, die Leser beständig von meinem Kaminwinkel aus anzureden, und ich möchte wohl hoffen, daß die Berichte, welche ich von unsern Geschichten und Verhandlungen, unsern ruhigen Spekulationen und unsern thätigeren Abenteuern gebe, nie unvollkommen wären. Um jedoch nicht gleich anfangs zu weitschweifig zu werden, indem ich zu lange bei unserer kleinen Gesellschaft verweile und die Begeisterung, womit ich diese erste Seligkeit meines Lebens betrachte, mit dem geringern Grade von Theilnahme verwechsle, welchen vielleicht Diejenigen, welche ich anrede, dafür fühlen werden, so habe ich es, wie man gesehen, für passend erachtet, damit abzubrechen.

Da ich jedoch innig an meiner alten Freundin hänge, und daher ganz natürlich den Wunsch hege, daß alle ihre Verdienste nach Würde bekannt werden, so fühle ich mich versucht (allerdings etwas unregelmäßig und gegen unsere Gesetze), den Kasten der Wanduhr zu öffnen. Die erste Papierrolle, welche mir zu Händen kömmt, ist ein Manuscript des tauben Herrn. Ich werde bei nächster Gelegenheit von ihm sprechen müssen, und wie kann ich mich besser für diese willkommene Aufgabe vorbereiten, als wenn ich sie durch eine Produktion seiner eigenen Feder bevorworte, welche er eigenhändig der Obhut meiner ehrlichen Wanduhr anvertraute?

Der Titel des Manuscripts lautet also:

Einleitung in die Riesenchronik

Es war einmal zu einer Zeit, das heißt, in unseren Tagen, – Jahr, Monat und Tag sind nicht wesentlich – in der City von London ein vermögentlicher Bürger, der in seiner einzelnen Person die Würden eines Fruchthändlers en gros, eines Rathsherrn, eines Gerichtsbeisitzers und eines Mitglieds der achtbaren Gesellschaft der Ueberschuhmacher vereinigte. Nebst all' diesen außerordentlichen Ehren besaß er auch die wichtige Stelle und den Titel eines Sheriffs, und endlich, um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, stand er als der Erste auf der nächsten Wahlliste für das hohe und ehrenvolle Amt eines Lord-Mayor.

Er war in der That ein sehr gewichtiger Bürger. Sein Gesicht glich einem umnebelten Vollmond, in den man zwei Löcher für die Augen gestoßen, eine sehr reife Birne statt der Nase vorgesteckt und einen weiten Spalt statt des Mundes eingeschnitten hat. Das Maß seiner Weste hing, mit seinem Namen versehen, als außerordentliche Merkwürdigkeit in dem Laden seines Schneiders. Sein Athmen war ein schweres Schnarchen, und seine Stimme tönte so dick, als wäre sie von einem Haufen Federbetten unterdrückt und erstickt. Er trat auf, wie ein Elephant, und aß und trank, wie – wie nur ein Ratsherr, der er auch war, essen und trinken kann.

Dieser würdige Bürger hatte sich aus ganz geringen Glücksverhältnissen zu seiner hohen Bedeutsamkeit emporgeschwungen. Er war ehedem ein sehr magerer, schwindsüchtiger, kleiner Knabe gewesen, der sich's nicht träumen ließ, einmal eine solche Wucht von Fleisch an seinen Knochen, oder so viel Geld in seinen Taschen zu tragen, indem er froh genug war, wenn er sein Mittagessen an der Thüre eines Bäckers, oder seinen Thee am Brunnen holen konnte. All' das hatte er jedoch längst vergessen, wie es sich für einen Fruchthändler en gros, einen Rathsherrn, einen Gerichtsbeisitzer, ein Mitglied der achtbaren Ueberschuhmachergesellschaft, einen gewesenen Sheriff, vor allem aber für einen Lord-Major in spe geziemt; nie in seinem ganzen Leben vergaß er es übrigens mehr, als am achten November im Jahr seiner Erwählung für den großen, goldenen Bürgerstuhl, dem Tage vor seinem großen Gastmahl in Guildhall.

Desselbigen Abends saß er zufällig ganz allein in seinem Comptoir, überblickte den Speiszettel für den folgenden Tag und verzeichnete sich für sein Privatvergnügen die fetten Kapaunen nach Fünfzigen und die Schildkröten nach hundert Quarten, als er in dieser einsamen aber vergnüglichen Beschäftigung durch einen Mann gestört wurde, der hereintrat und nach seinem Befinden fragte, indem er beifügte:

»Wenn ich nur halb so verändert bin, wie Sie, Sir, so werden Sie sich meiner kaum mehr entsinnen können.«

Der Fremde war nicht am besten gekleidet, und sah in keinem Sinne des Wortes wohlgenährt oder reich aus; doch sprach er mit einer Art bescheidener Zuversicht, und zeigte dabei ein ungezwungenes gentlemanartiges Benehmen, worauf doch eigentlich Niemand als ein reicher Mann gesetzlichen Anspruch machen kann. Außerdem unterbrach er aber den guten Bürger in demselben Augenblick, als er eben dreihundert und zweiundsiebenzig fette Kapaunen zusammengezählt hatte, und gerade die Summe auf die nächste Kolonne übertragen wollte, und um die Sünde zu erschweren, hatte der gelehrte Syndikus der Stadt London, welcher nur fünf Minuten vorher durch dieselbe Thüre hinausgegangen war, sich, ehe er das Zimmer verließ, noch einmal umgedreht und gesagt: »Gute Nacht, Mylord.« Ja, er hatte wirklich »Mylord« gesagt; – er, ein Mann von Geburt und Erziehung, ein Mitglied der achtbaren Gesellschaft von Middle Temple, ein Rechtsgelehrter, der einen Onkel im Hause der Gemeinen und eine Tante fast (aber nicht ganz) im Hause des Lords hatte – denn sie war die Gattin eines schwachen Pairs und ließ ihn ganz nach ihrem Gutdünken stimmen; ein solcher Mann – dieser gelehrte Syndikus hatte »Mylord« gesagt.

»Ich will nicht bis morgen warten, um Ihnen Ihren Titel zu geben, Lordmayor,« sagte er, indem er sich lächelnd verbeugte; »Sie sind Lordmayor de facto, wenn auch nicht de jure. Gute Nacht, Mylord!«

Der neuerwählte Lordmayor dachte eben an dieses, wandte sich dem Fremden zu und befahl ihm streng, »sein Privatcomptoir zu verlassen,« worauf er die dreihundert und zweiundsiebenzig Kapaunen niederschrieb und in seiner Berechnung fortfuhr.

»Erinnern Sie sich nicht« – sagte der Andere, indem er vorwärts trat – »erinnern Sie sich nicht des kleinen Joe Toddyhigh?«

Der Portwein floh für einen Augenblick von des Fruchthändlers Nase, als er murmelte:

»Joe Toddyhigh? Was ist's mit Joe Toddyhigh?«

»Ich bin Joe Toddyhigh!« rief der Besuch. »Sehen Sie mich an; sehen Sie mich genau an: – besser, besser. Sie kennen mich jetzt? Sie kennen den kleinen Joe wieder? Welch eine Freude ist es für uns Beide, uns gerade an dem Abend vor deiner Erhebung wieder zu sehen! Gib mir deine Hand, Jack – beide Hände – beide, um alter Zeiten willen.«

»Sie kneipen mich, Sir. Sie thun mir weh,« sagte der neugemählte Lordmayor verdrießlich: »doch lassen Sie das – wenn Jemand käme, Herr Toddyhigh.«

»Herr Toddyhigh?« erwiederte der Andere mit einem kläglichen Gesichte.

»Ach, seien Sie nicht albern,« erwiederte der neugewählte Lordmayor, indem er sich im Kopf kratzte. »Herr Jemine! Ei, ich glaubte. Sie wären todt. Was Sie doch für ein wunderlicher Mensch sind!«

Der Stand der Dinge war in der That allerliebst und wohl des Tones von Verdruß und Unmuth würdig, in welchem der Lordmayor sprach. Joe Toddyhigh war mit ihm als armer Knabe in Hull gewesen, und hatte oft seinen Penny mit ihm getheilt, oder seine letzte Brodkruste an ihn abgetreten, um seinem Mangel abzuhelfen; denn obgleich Joe damals selbst nur ein blutarmer Junge gewesen, so war er doch ein so treuer und anhänglicher Freund, als man nur je unter Männern von Mitteln einen finden kann. Sie trennten sich eines Tages, um in verschiedenen Richtungen ihrem Glücke nachzujagen. Joe ging auf die See, und der nun reiche Bürger bettelte sich nach London. Sie schieden unter vielen Thränen, wie es läppische Jungen von ihrem Alter zu machen pflegen, versprachen sich ewige Freundschaft, und wollten, wenn sie am Leben blieben, bald gegenseitig von sich hören lassen.

So lange der Bürger noch ein Laufbursche war, und selbst in der ersten Zeit seiner Lehrjahre, trabte er oft und vielmal nach dem Postbureau, um zu fragen, ob kein Brief von dem armen kleinen Joe da sei, und ging mit Thränen in dem Auge wieder nach Hause, wenn er fand, daß keine Nachrichten von seinem einzigen Freunde angekommen waren. Die Welt ist weit und es dauerte lange, bis endlich ein Brief ankam; aber als dieß geschah, war der Schreiber vergessen. Der Brief wurde von dem langen Liegen im Postbureau ganz gelb, weil Niemand kam, um ihn zu sich zu nehmen: in der Folge zerriß man ihn mit fünfhundert anderen und verkaufte ihn als Makulatur. Und endlich war in einem Augenblicke, wo man es am wenigsten erwartete, dieser Joe Toddyhigh wieder zum Vorschein gekommen, und machte seine Bekanntschaft mit einem großen öffentlichen Charakter geltend, der am nächsten Morgen mit dem Premierminister von England Witze machen, im Verlauf der nächsten zwölf Monate mit einem einzigen Worte die Tempelschranke schließen und die Durchfahrt selbst dem Könige verweigern konnte!

»Ich weiß in der That nicht, was ich sagen soll, Herr Toddyhigh,« meinte der neugewählte Lordmayor; »ich weiß es wirklich nicht. Es kommt mir sehr ungelegen. Ich hätte lieber zwanzig Pfund geben wollen – in der That sehr ungelegen.«

Ein Gedanke kämpfte in seinem Geiste, sein alter Freund könnte sich vielleicht zu einer Leidenschaftlichkeit hinreißen lassen, die ihm Anlaß geben dürfte, selbst aufzubrausen. Dieß geschah jedoch nicht. Joe sah ihn fest, aber mit vieler Milde an, ohne die Lippen zu öffnen.

»Ich werde Ihnen natürlich bezahlen, was ich Ihnen schuldig bin,« sagte der neugebackene Lordmayor, in seinem Stuhl hin und her rückend. »Sie haben mir etwas geliehen – ich glaube, es war ein Shilling oder sonst eine kleine Münze – als wir uns trennten, und diesen werde ich Ihnen natürlich mit guten Interessen zurückerstatten. Ich kann Jedermann bezahlen und habe es immer gethan. Wenn Sie übermorgen – etwas nach der Dämmerung – ankehren und nach meinem Privatsekretär fragen wollen, so werden Sie eine Anweisung für Sie vorfinden. Ich habe jetzt keine Zeit, mich weiter darüber auszulassen, wenn Sie nicht –« er zögerte, denn mit dem begierigen Wunsche, einmal in seiner ganzen Glorie in den Augen seines früheren Gefährten zu glänzen, paarte sich die Besorgniß, das Aeußere desselben möchte vielleicht noch schäbiger sein, als er bei dem schwachen Lichte zu unterscheiden vermochte – »wenn Sie nicht belieben sollten, zu dem morgigen Diner zu kommen; ich mache mir nichts daraus, Ihnen dieses Billet anzubieten, wenn es Ihnen beliebt, es anzunehmen. Viele würden ihre Ohren darum geben, kann ich Ihnen sagen.«

Der alte Freund nahm die Karte, ohne ein Wort zu sprechen, und entfernte sich auf der Stelle. Sein sonnverbranntes Gesicht und sein graues Haar schwebte dem Geiste des Bürgers noch einen Augenblick vor; sobald derselbe aber bei dem dreihundert und einundachtzigsten fetten Kapaunen angelangt war, hatte er ihn ganz und gar vergessen.

Joe Toddyhigh war nie zuvor in Englands Hauptstadt gewesen, und er wandelte in jener Nacht die Straßen auf und ab, erstaunt über die Menge von Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden, über die Pracht der Kaufläden, über die Reichthümer, die allenthalben aufgehäuft waren, über das blendende Licht, in welchem sie zur Schau standen, und über das Menschengewühl, welches, augenscheinlich gleichgültig über alle die Wunder, welche es umgaben, hin und her wogte. Aber in allen diesen langen Straßen und breiten Squaren traf er bloß auf Fremde; es gereichte ihm sogar zur Beruhigung, in eine Nebengasse einzubiegen, wo er seine eigenen Fußtritte auf dem Pflaster hören konnte. Er ging nach seinem Gasthause zurück, dachte unterwegs, London sei ein trauriger, öder Ort, und fühlte sich geeignet, das Vorhandensein auch nur eines einzigen treuherzigen Mannes in der ganzen achtbaren Ueberschuhemacher-Gesellschaft zu bezweifeln. Endlich legte er sich zu Bette und träumte, er und der neugewählte Lordmayor wären wieder Knaben.

Des andern Tages ging er zu dem Diner, und als in einem Wirbel von Musik und Lichtstrahlen und in Mitte der glänzendsten Verzierungen, von einer festlich geschmückten Gesellschaft umringt, sein früherer Freund, begrüßt von lautem Jubel und Freudenruf, oben in der Halle erschien, da schrie und jubelte er mit den Lautesten, und für den Augenblick hätte er weinen mögen. Im nächsten aber verwünschte er seine Schwäche gegen einen so ganz veränderten und selbstsüchtigen Mann, und er haßte sogar einen jovial aussehenden Gentleman, der ihm gegenüber saß, und sich im Stolze seines Herzens gleichfalls für einen Ueberschuhemacher erklärte.

Im Verlaufe des Bankets nahm er die Unfreundlichkeit des reichen Bürgers immer mehr zu Herzen, nicht etwa aus Neid, sondern weil er fühlte, daß ein Mann von seiner Stellung und seinen Glücksgütern um so mehr einen alten Freund anerkennen konnte, wenn dieser auch arm und unbekannt war. Je mehr er darüber nachdachte, desto einsamer und betrübter wurde seine Seele. Als sich die Gesellschaft zerstreute und nach dem Ballsaale zog, schritt er allein durch die Hallen und Gänge, und sann wehmüthig über die Täuschung nach, die er erfahren hatte.

Während er in dieser schwermüthigen Stimmung umherschlenderte, traf er auf eine dunkle, steile und schmale Treppe, welche er gedankenlos hinanstieg, und so kam er auf eine kleine leere Orchestergallerie. Von diesem hohen Standpunkte aus, der die ganze Halle beherrschte, unterhielt er sich damit, daß er auf das Dienstpersonale hinuntersah, welches träge die Ueberbleibsel des Festmahles aufräumte, und mit sehr empfehlenswerther Beharrlichkeit alle Gläser und Flaschen austrank.

Seine Aufmerksamkeit erschlaffte allmählig, und er fiel in einen festen Schlaf.

Als er erwachte, glaubte er, es müsse mit seinen Augen etwas vorgegangen sein; er fand jedoch nach einigem Reiben bald, daß das Mondlicht wirklich durch das östliche Fenster strömte, daß die Lampen erloschen waren, und daß er sich allein befand. Er horchte – aber kein fernes Flüstern in den wiederhallenden Gängen, nicht einmal das Zuschlagen einer Thüre unterbrach die tiefe Stille; er tastete sich die Treppe hinunter und fand, daß die Thüre des Erdgeschosses von außen verschlossen war. Jetzt begann er zu begreifen, daß er lange geschlafen haben mußte, daß man ihn übersehen, und daß er die Nacht über hier in Gewahrsam zu verbleiben hatte.

Sein erstes Gefühl war wohl nicht das behaglichste, denn es war ein dunkler, kalter, dumpfigriechender Ort – auch etwas zu groß, als daß sich ein Mann in einer solchen Lage darin heimisch fühlen konnte. Als jedoch die Bestürzung der ersten Ueberraschung vorüber war, nahm er den Vorfall auf die leichte Achsel und entschloß sich, wieder die Treppe hinaufzutappen und sich's, so gut als thunlich, bis zum Morgen auf der Gallerie bequem zu machen. Als er sich anschickte, dieses Vorhaben auszufühen, hörte er die Uhren drei schlagen.

Jede Unterbrechung einer Todtenstille durch das Schlagen ferner Thurmuhren läßt dieselbe nur um so nachdrücklicher und lästiger erscheinen, wenn die Töne verhallt sind. Er horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, hoffend, daß irgend eine Uhr, welche hinter ihren Gefährtinnen zurückgeblieben, noch schlagen würde, und sah dabei die ganze Zeit über in das tiefe Dunkel vor sich, bis es ihm wie ein schwarzes Gewebe erschien, in welchem sich die ringartigen Reflexe seiner eigenen Augen in hundertfacher Wiederholung abmalten. Aber die Glocken hatten für diesmal alle ihre Rufe entsandt, und der Windstoß, der durch den Platz seufzte, schien noch kalt und schwer von ihrem eisernen Athem zu sein.

Zeit und Umstände waren dem Nachdenken günstig. Er versuchte es, seine Gedanken in demselben Gange zu erhalten, welchen sie, so wenig angenehm es auch sein mochte, den ganzen Tag über genommen hatten, und Betrachtungen darüber anzustellen, wie romantisch er sich's gedacht, dem alten Freunde noch einmal die Hand zu drücken, und wie grausam seine lange und sehnlich gehegte Hoffnung getäuscht worden. Doch hatte ihn sein plötzliches Erwachen an einem so einsamen Orte in Verwirrung gebracht, und er konnte es nicht hindern, daß sein Geist bei manchen wunderlichen Geschichten verweilte, in welchen Leute von unzweifelhaftem Muthe, die zu nächtlicher Stunde in Gewölben, Kirchen oder anderen schauerlichen Orten eingeschlossen wurden, große Höhen erkletterten, um hinauszukommen und vor dem öden Schweigen zu fliehen, obgleich sie nie zuvor einer wirklichen Gefahr den Rücken zugekehrt hatten. Solche Gedanken weckte in ihm das durch das Fenster strömende Mondlicht, und er kroch die gewundene Treppe wieder hinauf – aber ganz verstohlen, als fürchte er, gehört zu werden.

Er war nicht wenig erstaunt, als er sich der Gallerie wieder näherte, Licht in dem Gebäude zu erblicken, noch mehr aber, als er bei seinem hastigen Vortreten und Umherschauen durchaus nicht gewahren konnte, woher es kam. Aber man denke sich seine Verblüffung bei dem Anblicke, welche ihm dieses Licht entschleierte.

Die Statuen der beiden Riesen, Gog und Magog, jede über vierzehn Fuß hoch, welche nach dem großen Brand in London die Nachfolger noch viel älterer und barbarischer Figuren geworden waren, und bis auf den heutigen Tag noch in Guildhall stehen, zeigten Leben und Bewegung. Diese Schutzgeister der City hatten ihre Postamente verlassen und saßen nachlässig auf der Böschung des großen Fensters mit den gefärbten Glasscheiben. Zwischen ihnen befand sich ein altes Faß, das mit Wein gefüllt zu sein schien, denn der jüngere Riese hatte es mit seiner ungeheuern Hand gefaßt, unterstützte es mit seinem mächtigen Beine und brach in ein jubelndes Gelächter aus, das wie das Rollen des Donners durch die Halle tönte.

Joe Toddyhigh bückte sich instinktartig und fühlte, mehr todt als lebendig, seine Haare zu Berge stehen, während seine Kniee zusammenschlugen und kalte Tropfen auf seiner Stirne perlten. Aber sogar in diesem beängstigenden Augenblicke gewann die Neugierde die Oberhand über jedes andere Gefühl, und etwas beruhigt durch die gute Laune der Riesen und den Umstand, daß sie seine Anwesenheit nicht zu ahnen schienen, kroch er in einen Winkel der Gallerie, drückte sich möglichst zusammen, blickte durch die Geländerstube und beobachtete die nächtlichen Gesellen auf's Genaueste.

In diesem Moment erhob der ältere Riese, der einen niederwallenden grauen Bart besaß, die gedankenvollen Blicke zu dem Gesichte seines Gefährten und redete ihn mit ernster und feierlicher Stimme also an:

Erste Nacht der Riesenchronik.

Gegen seinen Gefährten gewandt, begann der ältere Riese in ernstem majestätischem Tone folgendermaßen:

»Magog, ziemt diese lärmende Lustigkeit dem Riesenwächter dieser alten Stadt? Ist es ein anständiges Benehmen für einen wachsamen Geist, über dessen körperloses Haupt so viele Jahre dahingeschwunden, so viele Wechsel wie leere Luft hinweg gegangen sind – dessen unantastbare Nüstern der Dunst von Blut, Verbrechen, Pest, Grausamkeit und Entsetzen so gewöhnlich wurden, als der Athem dem Sterblichen – unter dessen Auge die Zeit die Ernte von Jahrhunderten eingeheimst und so oft ihre Sichel an den Stolz, die Neigungen, die Hoffnungen und Sorgen der Menschen gelegt hat? Vergiß nicht unseres Vertrages! Die Nacht schwindet hin: Festgelag und Musik haben unsere gewohnten Stunden der Einsamkeit unterbrochen, und der Morgen nahet mit Windeseile. Ehe wir wieder verstummen müssen, erinnere dich unseres Vertrags.«

Der Riese sprach die letzten Worte mit mehr Ungeduld, als sich mit seinem Alter und seiner Gravität vertragen mochte, erhob zu gleicher Zeit eine lange Stange, die er immer in seinen Händen trägt, und traf damit ziemlich unsanft den Kopf seines Gefährten; in der That war auch der Schlag so ernsthaft gemeint, daß der Letztere rasch die Lippen, welche er an das Faß gesetzt, zurückzog und zur Verteidigung nach seinem Schilde und seiner Hellebarde griff. Die Aufwallung war jedoch nur augenblicklich, denn er legte die Waffen eben so hastig, als er sie aufgenommen hatte, wieder bei Seite und entgegnete:

»Du weißt, mein alter Freund, daß wir, seit wir diese Gestalten beseelen, welche die Londoner (und nicht mit Unrecht) vor Alters den Schutzgeistern ihrer City angewiesen, einigermaßen für die Empfindungen, welche dem menschlichen Geschlecht angehören, empfänglich geworden sind. Wenn ich daher weiß, wie der Wein schmeckt, so bin ich auch empfindlich für Schläge, und ich kann wohl an dem einen, keineswegs aber an dem andern ein Behagen finden. Dein Arm ist keiner von den leichtesten, Gog; lege also deinen guten Stab bei Seite, sonst könnte es zu Mißhelligkeiten zwischen uns kommen. Friede sei mit uns.«

»Amen!« versetzte der Andere, indem er seine Stange in die Fensterecke lehnte. »Doch warum hast du eben gelacht?«

»Weil ich an den dachte,« entgegnete der Riese Magog, der während er sprach, seine Hand auf das Faß legte, »welchem dieser Wein gehörte und der ihn dreißig Jahre lang in einem Keller vor dem Lichte des Tages barg – ›bis er gut zum Trinken wäre‹, wie er meinte. Er war fünfzig Jahre alt, als er ihn unter seinem Hause begrub, und doch kam er nie auf den Gedanken, er selbst dürfte wohl nicht mehr trinkgerecht sein, wenn es der Wein würde. Es wundert mich, daß es ihm nie einfiel, sich ›nicht gut zum Essen‹ zu machen; denn es ist seitdem wenig mehr von ihm übrig geblieben.«

»Die Nacht entschwindet,« erwiederte Gog traurig.

»Ich weiß es,« versetzte sein Gefährte, »und sehe auch, daß du ungeduldig bist. Doch sieh! Durch das östliche Fenster – uns gegenüber, durch welches jeden Morgen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne unsere riesigen Häupter vergolden – fallen die Mondsstrahlen in einem Lichtstrome auf das Steinpflaster, welcher durch den kalten Marmor zu dringen und sich in die alten Gräber hinunter zu versenken scheint. Die Nacht ist kaum zur Hälfte um und der große, unserer Hut anheimgegebene Raum liegt in tiefem Schlafe.«

Es trat eine Pause in ihrer Unterhaltung ein, während welcher sie nach dem Monde aufsahen. Der Anblick ihrer großen schwarzen Rollaugen erfüllte Joe Toddyhigh mit einem solchen Entsetzen, daß er kaum zu athmen vermochte. Sie achteten jedoch seiner nicht und schienen sich für ganz allein zu halten. –

»Unser Vertrag,« begann Magog nach einer Weile wieder, »wenn ich ihn recht verstehe, lautet, daß wir, statt die traurigen Nächte schweigend durchzumachen, uns gegenseitig mit der Erzählung vergangener Erlebnisse unterhalten wollen: mit Geschichten aus der Vorzeit, der Gegenwart und der Zukunft; mit Sagen von London und seinen derben Bürgern aus den alten einfachen Zeiten – daß wir jedesmal von Mitternacht an, wenn die Sanct-Paulsglocke Eins geschlagen hat und wir uns rühren dürfen, in dieser Weise uns besprechen und von unserem Gegenstande nicht ablassen, bis uns der erste graue Strahl des Tages die Lippen versiegelt. Sind wir nicht also eins geworden, Bruder?«

»Ja,« antwortete der Riese Gog; »dieß ist Uebereinkunft zwischen uns, die wir die City bei Tag im Geiste, und des Nachts auch körperlich hüten; und nie haben früher bei besonderen Festlichkeiten ihre Brunnenröhren lustiger Wein aussprudeln lassen, als aus unseren Lippen der Mährenschatz rinnen soll. Von dieser Stunde an bilden wir die Chronik aller Zeiten. Die hinfälligen Wände umschließen uns wieder einmal, die Hinterthore sind geschlossen, die Zugbrücke ist aufgezogen und die unten in ihr enges Bette eingezwängten Wasser schäumen und kämpfen um die mürben Eispfeiler. Jacken und Stäbe zeigen sich wieder in den Straßen, die Schaarwache ist auf den Beinen, und der im Kerker eingesperrte Rebell versucht, traurig und einsam, zu schlafen und weint um seinen Heerd und seine Kinder. Hoch über den Thoren und Mauern stecken edle Häupter, die ihre gräßlich starren Blicke auf die träumende Stadt niederwerfen und die hungrigen Hunde necken, welche den Leichengeruch in der Luft wittern und unten mit wildem Heulen die Erde aufscharren. Die Axt, der Block, das Rad in ihrer düstern Kammer zeigen Spuren frischer Benützung. Die Themse strömt an langen Zeilen lustig beleuchteter Fenster vorbei, aus denen Lichterglanz und Musikchöre brechen, und trägt verdrießlich den letzten rothen Fleck, den die Flut an dem Verrätherthore abgewaschen, nach der Palastmauer hin. Doch Verzeihung, Bruder – die Nacht enteilt und ich weile in eitlem Gerede.«

Der andere Riese schien ganz der gleichen Ansicht zu sein, denn während des Wortschwalls seines Mitwächters hatte er sich mit der Miene komischen Unbehagens – oder vielmehr mit einer Miene, die sich an einem Zwerg oder an einem gewöhnlichen Menschen höchst komisch ausgenommen haben würde, im Kopf gekratzt. Er blinzelte auch, und obgleich es keinen Augenblick zweifelhaft war, daß er zu seinem Privatvergnügen geblinzelt hatte, so ließ sich doch unmöglich verkennen, daß er sein ungeheures Auge nach der Gallerie hin richtete, wo der Horcher verborgen war. Dies war jedoch nicht alles, denn er gähnte, und während er dieß that, kam dem entsetzten Joe das populäre Vorurtheil in Erinnerung, welches fabelhafter Weise den Riesen die eigenthümliche Kraft beilegt, Engländer heraus zu riechen, wie gut sie sich auch verborgen haben mögen.

Seine Angst steigerte sich bis zur Besinnungslosigkeit, und es dauerte eine Weile, bis sein Seh- und Hörvermögen wieder Dienste leistete. Als er wieder zu sich kam, fand er, daß der ältere Riese den jüngern drängte, die Chronik anzufangen, und daß der Letztere sich zu entschuldigen suchte, weil die Nacht fast vorüber und es wohl besser sei, den Gegenstand auf die nächste zu verschieben. Hierdurch überzeugt, daß es demnächst losgehen werde, nahm der Horcher gewaltsam alle seine Fähigkeiten zusammen und hörte deutlich, wie Magog folgendermaßen anhob:

»Im sechzehnten Jahrhundert und unter der Regierung der Königin Elisabeth, glorreichen Andenkens (obgleich ihre goldenen Tage traurig mit Blut besudelt sind), lebte in der Stadt London ein kecker, junger Lehrling, der seines Meisters Tochter liebte. Ohne Zweifel gab es im Bereiche ihrer Mauern viele junge Lehrlinge in der gleichen Lage; ich spreche jedoch nur von einem, dessen Name Hugh Graham war.

Dieser Hugh war in der Lehre bei einem ehrlichen Bogenmacher, der im Bezirk von Chepve wohnte und im Rufe stand, sehr reich zu sein. Das Gerücht war in jenen Tagen eben so untrüglich, als heut zu Tage; doch es traf sich damals, so gut als jetzt, daß es hie und da zufälliger Weise Recht hatte. Jedenfalls streifte es ziemlich an die Wahrheit, wenn es dem alten Bogenmacher ein schönes Stück Geld gab. Sein Gewerbe war unter der Regierung Heinrichs VIII., unter dem die englische Bogenschützenkunst ungemein ermuthigt wurde, sehr einträglich gewesen, und dem Meister gebrach es nicht an Klugheit und Umsicht. In Folge dessen war Jungfer Alice, seine einzige Tochter, die reichste Erbin in diesem ganzen, sehr wohlhabenden Bezirke, und der junge Hugh hatte oft mit Stock und Knüttel bewiesen, daß sie auch die schönste wäre. Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich gestehen: ich glaube selbst auch, daß sie es war.

Wenn Hugh das Herz der hübschen Jungfer Alice dadurch hätte gewinnen können, daß er eine derartige Ueberzeugung den Köpfen des dummen Volkes einprügelte, so dürfte er wohl keine Ursache zur Furcht gehabt haben. Aber obgleich die Tochter des Bogenmachers im Geheim lächelte, wenn sie von den um ihretwillen geübten Heldenthaten hörte, und obgleich ihre kleine Zofe all' ihr Lächeln (und vielleicht auch ein ziemliches mehr, als sich mit der Wahrheit vertrug) an Hugh berichtete, welcher ihre Treue reichlich mit Küssen und kleiner Münze belohnte, so machte Letzterer doch durchaus keine Fortschritte in seiner Liebe. Er wagte es nicht, Jungfer Alice seine Gefühle ohne bestimmte Ermuthigung zu gestehen, und diese wurde nie von ihr gegeben. Ein Blick ihres dunkeln Auges, wenn sie an Sommerabenden nach der Betglocke an der Thüre saß, während er und die benachbarten Lehrlinge sich mit stumpfen Schwertern und Schilden in der Straße übten, brachte Hugh's Blut so in's Feuer, daß Keiner vor ihm Stand halten konnte; dann blickte sie andern aber eben so freundlich zu, als ihm, und was konnte ihm eine Kopfbeule nützen, wenn Jungfer Alice dem Besiegten eben so zulächelte, als dem Sieger?

Dem ungeachtet ließ Hugh nicht ab, sondern liebte sie im Gegentheil immer mehr und mehr. Er dachte den ganzen Tag nur an sie, und auch des Nachts erfüllte ihr Bild seine Träume. Jedes ihrer Worte, jede ihrer Geberden schloß er in der Schatzkammer seines Herzens ein, wie denn auch das letztere gewaltthätig zu hämmern begann, so oft er ihren Fußtritt auf der Treppe oder ihre Stimme in dem benachbarten Zimmer hörte. Für ihn war das Haus des alten Bogenmachers von einem Engel bewohnt, der seinen Zauber durch die Luft und den Raum hauchte, in welchem er sich bewegte. Es würde auch Hugh nicht im mindesten Wunder genommen haben, wenn unter dem Tritte der liebenswürdigen Jungfer Alice Blumen in den binsenbelegten Hausfluren hervorgesproßt wären.

Nie sehnte sich ein Lehrling glühender, sich in den Augen der Dame seines Herzens auszuzeichnen, als Hugh. Bisweilen malte er sich einen nächtlichen Brand des Hauses, und wenn dann Alles furchtsam sich zurückzog, eilte er durch Flammen und Rauch und trug sie auf den Armen aus den Trümmern. Ein andermal dachte er sich eine wilde Empörung, einen Haufen wüthender Rebellen, welche die Stadt und insbesondere das Haus des Bogenmachers stürmten, bei welcher Gelegenheit er in Jungfer Alice's Vertheidigung unter zahllosen Wunden an der Thürschwelle fiel. Hätte er nur irgend ein Wunder von Tapferkeit, irgend eine unerhörte Großthat verrichten und sie wissen lassen können, daß sie ihm die Begeisterung dazu verlieh, er hätte geglaubt, zufrieden sterben zu können.

Hin und wieder pflegte der Bogenmacher und seine Tochter um die fashionable Stunde sechs Uhr auszugehen, um bei einem würdigen Bürger das Abendessen einzunehmen, und bei solcher Gelegenheit warf sich Hugh seinen blauen Lehrlingsmantel so elegant, als es nur ein Lehrling thun konnte, um, in der Absicht, die Dame nebst ihrem Vater mit einer Fackel und seinem treuen Stocke nach Hause zu geleiten. Dieß waren die köstlichsten Augenblicke seines Lebens. Das Licht vorzuhalten, während Jungfer Alice mit ihren Füßchen den Weg suchte, ihre Hand zu berühren, wenn er ihr über ein Loch in der Straße half, oder bisweilen auch die Last ihres Armes auf dem seinigen zu fühlen, – dieß war allerdings eine Seligkeit! –

An schönen Nächten ging Hugh hinterdrein, und seine Augen hafteten unablässig auf der anmuthigen Gestalt der Bogenmacherstochter, wenn sie sich mit dem alten Manne vor ihm hinbewegte. So gingen sie durch die engen Straßenwendungen der City, bald unter den überhängenden Giebeln alter hölzerner Häuser weg, vor denen knarrende Schilde in der Luft tändelten, bald aus irgend einem dunkeln, düstern Thorwege in's helle Mondlicht hinaustretend. Bei solchen Gelegenheiten, oder wenn das Brüllen einzelner Nachtschwärmer ihr Ohr traf, pflegte die Tochter des Bogenmachers schüchtern rückwärts zu blicken und Hugh zu bitten, näher zu kommen. Wie er dann seine Keule umfaßte, – wie er sich sehnte, einem Kampf mit einem ganzen Dutzend Strolchen einzugehen – nur um Jungfer Alice's willen! –

Der alte Bogenmacher pflegte den Cavalieren des Hofes Geld auf Zinsen zu leihen, weshalb gar mancher reichgekleidete Herr an seiner Thüre abstieg. Man sah in der That mehr wallende Federn und stattliche Zelter vor dem Hause des Bogenmachers, und mehr gestickte Seidenstoffe und Sammtgewänder in seinem dunkeln Laden und seinem noch dunkleren Privatcabinet, als bei irgend einem Kaufmann in der City. Es könnte scheinen, als ob damals die am reichsten aussehenden Cavaliere eben so oft des Geldes am meisten bedurften, als es heut zu Tage der Fall ist.

Unter diesen funkelnden Clienten war einer, welcher immer allein kam. Er ritt stets ein edles Roß, und da er keinen Diener bei sich hatte, so stellte er dasselbe unter Hugh's Obhut, während er und der Bogenmacher sich im Hause einschlossen. Als er sich einmal in den Sattel schwang, saß Jungfer Alice an einem oberen Fenster, und ehe sie sich zurückziehen konnte, hatte er bereits seine mit Geschmeide verzierte Mütze abgenommen und die Hand nach ihr geküßt. Hugh sah ihm nach, wie er die Straße hinunter courbettirte und glühete vor Zorn. Aber wie viel höher wurde das Roth seiner Wangen, als er seine Augen nach dem Fenster erhob und gewahr wurde, daß Alice dem Fremden gleichfalls nachsah.

Seine Besuche wiederholten sich oft und immer öfter; er trug jedesmal einen schmuckeren Anzug, und stets war an dem kleinen Fenster Jungfer Alice zu schauen. Endlich floh sie an einem unglücklichen Tage aus der Heimath. Es hatte sie einen schweren Kampf gekostet, denn alle Geschenke ihres alten Vaters lagen zerstreut in ihrem Gemache umher, als ob sie sich einzeln von denselben getrennt hätte, und als ob sie wüßte, daß eine Zeit kommen mußte, wann diese Beweise seiner Liebe ihr Herz brechen würden. – Und doch war sie fort. –

Sie ließ einen Brief zurück, in welchem sie ihren armen Vater Hugh's Sorgfalt an's Herz legte und den Wunsch ausdrückte, er möchte glücklicher sein, als er je mit ihr hätte sein können, denn er verdiene die Liebe eines besseren und reineren Herzens, als sie ihm eins hätte schenken können. Sie habe nicht den Muth (schrieb sie), den alten Mann um Verzeihung zu bitten, aber sie flehe zu Gott, daß er ihn segnen möge – und so endete der Brief mit einem Klecks auf dem Papier, wo ihre Thränen hingefallen waren.

Anfangs entbrannte der Zorn des alten Mannes, und er brachte die Klage über das ihm angefügte Unrecht bis an den Thron der Königin; er hörte jedoch am Hofe, daß hier nichts gut zu machen wäre, denn seine Tochter sei in's Ausland geflüchtet worden. Dieß stellte sich auch später als wahr heraus, denn nach mehreren Jahren langte aus Frankreich ein Brief von ihrer Hand an. Er war mit zitternder Schrift und fast unleserlich geschrieben, und man konnte nichts weiter herausbringen, als daß sie oft an die Heimath und an ihr altes, liebes, trauliches Gemach denke – daß ihr geträumt hätte, ihr Vater sei, ohne sie zu segnen, hingeschieden, und daß ihr Herz brechen wolle.

Der arme, alte Bogenmacher schwand sichtlich dahin; Hugh durfte ihn nie verlassen, denn er wußte jetzt, daß Letzterer seine Tochter geliebt hatte, und dieß war noch das einzige Kettenglied, welches ihn an die Erde knüpfte. Endlich brach auch dieses, und er starb, indem er seinem alten Lehrling sein Geschäft und seinen ganzen Reichthum hinterließ, zugleich aber auch ihm auf dem Sterbebette die feierliche Aufgabe machte, sein Kind zu rächen, wenn ihm der Elende, der ihr Unglück verschuldet, in den Weg träte.

Seit Alice geflohen, wußten die Stechbahn, die Felder, der Fechtboden und die Sommerabendbelustigungen nichts mehr von Hugh. Sein Lebensmuth war erstorben. Er hob sich zu hoher Auszeichnung und Achtung unter den Bürgern, aber man sah ihn selten lächeln, und nie mischte er sich in ihre Belustigungen und Gelage. Seine Tapferkeit, Menschenfreundlichkeit und Edelherzigkeit machten ihn bei Allen beliebt. Aber auch Mitleid zollten ihm diejenigen, welche seine Geschichte kannten, und dieser waren so viele, daß, wenn er allein in der Dunkelheit durch die Straßen schritt, selbst der rohe Pöbel die Mützen lüpfte und ihm seine Achtung, gemischt mit einer rauhen Miene von Theilnahme, zollte.

In einer Mainacht – es war ihr Geburtstag, und seit ihrer Flucht waren zwanzig Jahre verflossen – saß Hugh Graham in dem Zimmer, das sie in den Jahren seiner Jugend geheiligt hatte. Seine Haare waren ergraut, obgleich er noch in der vollen Kraft des Lebens stand. Gedanken an die Vergangenheit hatten ihn seit einigen Stunden beschäftigt, und das Gemach war allmählig ganz dunkel geworden, als er durch ein lautes Pochen an der Hausthüre aus seinen Träumen geweckt wurde.

Er eilte hinunter, und als er öffnete, sah er beim Lichte einer Lampe, welche er unterwegs aufgegriffen hatte, eine weibliche Gestalt durch die Thüre dringen. Sie huschte rasch an ihm vorbei und schwebte die Treppe hinauf. Er sah umher, ob Verfolger in der Nähe waren; er konnte jedoch keines – nicht eines einzigen – gewahr werden.

Er war anfangs geneigt, das Ganze für ein Gebilde seines eigenen Gehirns zu halten, als ihm plötzlich eine unbestimmte Ahnung der Wahrheit die Seele durchzuckte. Er verriegelte die Thüre und eilte verwirrt zurück. Ja, da war sie – hier, in dem Gemach, welches er verlassen hatte, – hier in ihrer alten, unschuldigen, glücklichen Heimath, aber so verändert, daß Niemand, als er, eine Spur dessen, was sie gewesen, an ihr entdecken konnte – hier auf ihren Knieen, – die Hände voll Scham und bitteren Seelenkampfes vor ihrem glühenden Gesicht zusammengeschlagen!

»Mein Gott! mein Gott!« rief sie, »laß mich jetzt sterben! Obgleich ich Tod, Kummer und Schande über dieses Dach gebracht habe, so laß mich doch um deiner ewigen Barmherzigkeit willen in der Heimath sterben.«

Keine Thräne glänzte damals auf ihrem Antlitze, aber sie zitterte und warf scheue Blicke in dem Gemach umher. Alles stand noch an der alten Stelle. Ihr Bette sah aus, als ob sie es erst diesen Morgen verlassen hätte. Der Anblick dieser bekannten Gegenstände bekundete, wie theuer man ihr Andenken gehalten, und das Verderben, das sie über sie selbst gebracht, war mehr, als die bessere Natur des Weibes, welche sie hergeführt hatte, ertragen konnte. Sie sank weinend zur Erde.

In wenigen Tagen verbreitete sich das Gerücht, daß die unkindliche Tochter des Bogenmachers nach Hause gekommen sei, und daß Meister Graham ihr in seinem Hause eine Wohnung eingeräumt habe. Auch sprach man davon, er habe auf ihr Vermögen verzichtet, damit sie es zu mildthätigen Handlungen verwenden möge; deßgleichen habe er gelobt, ihr Schutz in ihrer Abgeschiedenheit zu verleihen, ohne jedoch einander je wieder sehen zu wollen. Diese Gerüchte brachten alle tugendhaften Weiber und Töchter des Bezirks in Feuer und Flammen, besonders, als sie dadurch eine Bestätigung zu erhalten schienen, daß Meister Graham gleich nebenan eine Wohnung bezog. Die Achtung, in welcher er stand, verhinderte jedoch weitere Nachfragen, und da das Haus des Bogenmachers verschlossen blieb und Niemand zum Vorschein kam, wenn öffentliche Schaugepränge und Festlichkeiten umzogen, Niemand aus dem Hause auf den Spaziergängen umherschlenderte oder in den Läden neumodische Stoffe einkaufte, so kamen alle Damen von Bildung darin überein, daß hier kein Frauenzimmer wohnen könne.

Das Gerede über diese Angelegenheit hatte kaum aufgehört, als die Verwunderung der ganzen guten männlichen und weiblichen Bürgerschaft ausschließlich durch eine königliche Proclamation hingenommen und ausgesaugt wurde, kraft welcher Ihre Majestät die Gewohnheit, spanische Degen von ungebührlicher Länge als eine großthuerische und renommistische Sitte, welche nur auf Blutvergießen und öffentliche Unordnung abziele, strenge gerügt und den Befehl ertheilt hatte, daß an einem bestimmten, namhaft gemachten Tage gewisse würdige Bürger sich nach den Stadtthoren begeben und daselbst öffentlich alle Rappiere der Einlaß begehrenden Personen, welche das Normallängemaß von drei Fußen nur um einen Viertelszoll überstiegen, abbrechen sollten.

Königliche Proclamationen nehmen gewöhnlich ihren Gang, mag sich das Volk verwundern, so viel es auch will. An dem bestimmten Tage bezogen zwei Bürger von gutem Ruf ihre Posten an jedem der Thore, unterstützt durch eine Abtheilung der Stadtwache, um dem Willen der Königin Kraft zu geben und diejenigen Rebellen, welche geneigt sein sollten, Widerstand zu leisten, zu verhaften. Einige trugen das statutenmäßige Maß und die geeigneten Instrumente bei sich, um alle ungesetzlichen Degenklingen auf die vorgeschriebene Länge zu verkürzen. Zu Vollzug dieses Erlasses wurde Meister Graham nebst einem andern Bürger zu Ludgate auf dem Hügel vor der St. Paulskirche aufgestellt.

Es sammelte sich eine ziemliche Masse Volks an dieser Stelle, denn außer den Beamten, welche der Proklamation Nachdruck geben sollten, war auch ein buntes Gemisch von Zuschauern aus verschiedenen Ständen zugegen, welche von Zeit zu Zeit, je nach Befund der Umstände, ein Gejubel oder Geschrei erhoben. Ein geputzter junger Höfling war der erste, der sich näherte: er zog eine Waffe von blankem Stahl, die in der Sonne glänzte und funkelte, aus der Scheide, und händigte sie mit der gewähltesten Miene dem Beamten ein, welcher dieselbe, da sie genau drei Fuß maß, mit einer Verbeugung zurückgab. Sodann lüpfte der Cavalier seinen Hut, rief »Gott erhalte die Königin,« und ritt unter dem Beifallgeschrei der Menge durch das Thor ein. Dann kam ein anderer – ein noch besserer Höfling – der eine nur zwei Fuß lange Klinge hatte, worüber der Pöbel, sehr zum Aerger seiner Gnaden, lachte. Sofort kam ein Dritter, ein braver alter Offizier von der Armee, mit einem Degen umgürtet, der wenigstens anderthalb Fuß über Ihrer Majestät Belieben maß. Die Meisten der Zuschauer (besonders die Schwertfeger und Messerschmiede) erhoben nun ein großes Gejubel und lachten herzlich über die Procedur, welche jetzt stattfinden sollte; aber sie täuschten sich, denn der alte Krieger schnallte ganz kaltblütig seinen Degen ab, befahl seinem Diener, denselben wieder nach Hause zu tragen, und ritt zur großen Entrüstung aller Schaulustigen unbewaffnet durch das Thor. Letztere machten sich jedoch einigermaßen dadurch Luft, daß sie über einen hohen, renommistischen Burschen mit einer ungeheuer langen Waffe, der beim Anblick der Vorbereitungen stehen blieb und nach kurzer Ueberlegung wieder umkehrte, ein Geschrei erhoben. Aber obgleich es bereits hoher Mittag war, so hatte man doch noch keinen Degen zum Zerbrechen bekommen, und alle Cavaliere von einigem Rang oder vornehmem Aussehen nahmen ihren Weg nach dem St. Paulskirchhof.

Während dieser Vorgänge war Meister Graham seitwärts stehen geblieben, indem er sich nur auf seine Obliegenheit beschränkte und auf alles Andere wenig acht gab; jetzt trat er vor, als er einen reich gekleideten Herrn zu Fuß, von einem einzigen Diener begleitet, den Hügel heraufkommen sah.

Sobald sich der Mann näherte, hörte die Menge zu lärmen auf und erwartete in großer Spannung den Ankömmling. Meister Graham stand allein im Thorwege, und da der Fremde langsam auf ihn zukam, so hatte es ganz den Anschein, als ob sie Angesicht gegen Angesicht einander gegenübertreten wollten. Der Edelmann (denn ein solcher mochte er dem Aeußeren nach sein) hatte eine hochmüthige und geringschätzende Miene angenommen, um damit die geringe Achtung an den Tag zu legen, welche er gegen die Bürger hegte. Der Bürger dagegen bewahrte die entschlossene Haltung eines Mannes, der sich nicht einschüchtern läßt und sich wenig um einen andern Adel, als den des innern Werthes und des ritterlichen Sinnes kümmert. Vielleicht ahneten beide Theile diese gegenseitigen Gefühle, denn ihre Blicke gewannen, als sie sich näher kamen, einen ernsteren Ausdruck.

»Euren Degen, würdiger Sir.«

In demselben Augenblick, als Graham diese Worte sprach, fuhr er zusammen, trat einige Schritte zurück und legte die Hand an seinen Dolch in dem Gürtel.

»Ihr seid der Mann, dessen Pferd ich vor des Bogenmachers Thüre zu halten pflegte? Ihr seid dieser Mann? Sprecht!«

»Aus dem Wege, du Hund von einem Lehrling!« erwiederte der Andere.

»Ihr seid es, ich kenne Euch nur zu gut!« rief Graham. Niemand, dem sein Leben lieb ist, trete zwischen uns Beide.«

Mit diesen Worten zog er seinen Dolch und stürzte auf den Fremden los.

Dieser hatte um der Untersuchung willen, noch ehe ein Wort gewechselt wurde, seine Waffe aus der Scheide gezogen. Er führte einen Stoß auf seinen Feind, aber der Dolch, welchen Graham in seiner Linken hielt, hatte, wie es damals üblich war, ein breites Blatt, womit derartige Stöße parirt werden konnten, und so wurde die Degenspitze bei Seite gedrängt. Jetzt waren sie dicht an einander. Der Dolch fiel klirrend zur Erde, und Graham, der den Händen seines Gegners den Degen entwand, senkte die Spitze desselben in sein Herz. Als er die Waffe wieder herauszog, brach sie entzwei und ein Stück blieb in der Leiche des Mannes stecken.

All' dieß geschah so schnell, daß die Umstehenden erstaunt zusahen, ohne daß sie einen Versuch machten, sich in's Mittel zu legen; der Mann lag jedoch kaum am Boden, als ein furchtbares Geschrei die Luft zerriß. Der Diener stürzte durch das Thor und rief, sein Herr, ein Edelmann, sei von einem Bürger angegriffen und erschlagen worden. Die Nachricht flog rasch von Munde zu Munde; die St. Pauls Cathedrale, jeder gewöhnliche Buchladen, jede Tabagie in der Nähe des Kirchhofs schüttete einen Strom von Cavalieren sammt ihrem Gefolge aus, die sich zu einer dichten tumultuarischen Masse vereinigten und sich mit dem Schwerte in der Faust nach der Stelle Bahn brachen.

Mit gleichem Ungestüm und sich gegenseitig durch lautes Geschrei und Getobe anspornend, machten die Bürger und das gemeine Volk die Streitsache zu der ihrigen, umkreisten hundert Mann hoch den Meister Graham und. drängten ihn von dem Thore fort. Umsonst schwang er das zerbrochene Schwert über seinem Haupte, umsonst rief er, daß er an der Schwelle von London für den Frieden der geheiligten Heimath sterben wolle. Sie trugen ihn fort und hielten ihn immer so in der Mitte, daß ihn Niemand angreifen konnte, wobei sie sich den Weg nach der City mit den Waffen erkämpften. Das Geklirr von Schwertern, das Gebrause der Stimmen, der Staub, die Hitze, das Gedränge, das Niedertreten von Menschen, die wirren Blicke und die Angstrufe der Weiber an den Fenstern, wenn sie von oben ihre Verwandten oder Liebhaber in dem Haufen erkannten, das unablässige Läuten der Sturmglocken, die rasende Wuth und die Leidenschaftlichkeit des Augenblickes waren fürchterlich. Die am Saume eines jeden Haufens Befindlichen, welche ihre Waffen erfolgreich brauchen konnten, fochten verzweifelt, während die Innern, toll vor gereizter Wuth, über den Häuptern ihrer Vordermänner weg ihre Wehren brauchten und ihre eigenen Kameraden damit niederschlugen. Wo immer das zerbrochene Schwert sich über den Köpfen des Volkshaufens sehen ließ, dahin versuchten die Cavaliere einen neuen Angriff, der jedesmal durch ein plötzliches Klaffen in dem Gedränge, in dem man die Leute mit den Füßen niedertrat, bezeichnet wurde; aber kaum war eine solche Oeffnung entstanden, als die Fluth wieder darüber weg fegte, und abermals drang der Volkshaufen vorwärts: eine verwirrte Masse von Schwertern, Keulen, zerknickten Federn, Bruchstücke von reichen Mänteln und Wämsern und zornige, blutige Gesichter – alles in unentwirrbarer Unordnung untereinander gemischt.

Die Absicht des Volkes war, Meister Graham zu zwingen, daß er sich nach seiner Wohnung flüchten und sich daselbst vertheidigen solle, bis die Behörden in's Mittel treten, oder sie selbst zu Unterhandlungen Zeit gewinnen könnten. Geschah es indeß aus Unwissenheit oder in der Verwirrung des Augenblicks – kurz, sie hielten vor seiner alten Wohnung, welche fest verschlossen war. Man verlor einige Zeit mit dem Aufschlagen der Thüre und damit, daß man ihn nach dem Hause hin drängte. Während dieß geschah, hatten sich ungefähr ein paar Dutzend von der andern Partei in das Gewühl geworfen, und da sie gleichzeitig mit ihm die Thüre erreichten, so schnitten sie ihn von seinen Vertheidigern ab.

»So wahr mir der Himmel helfe, ich werde Niemandem in einer so gerechten Sache den Rücken kehren!« rief Graham mit einer Stimme, welche endlich gehört werden konnte, und wandte sich mit diesen Worten nach seinen Gegnern um. »Am allerwenigsten will ich aber diese Schwelle verlassen, welche diese Verödung Menschen eures Gleichen verdankt. Ich gebe und will keine Schonung! Los!«

Sie hielten für einen Augenblick verlegen inne; aber in demselben Augenblick traf ein Schuß von unsichtbarer Hand, augenscheinlich von einer Person abgefeuert, welche sich Zutritt zu einem der gegenüberstehenden Häuser verschafft hatte, Graham in's Gehirn, und er fiel todt nieder. Ein schwaches Wehklagen tönte durch die Luft – Viele aus dem Getümmel schrieen, sie hätten einen Geist an dem kleinen Fenster in des Bogenmachers Haus vorübergleiten sehen.

Eine Todtenstille folgte. Nach einer kleinen Weile legten etliche glühende und erhitzte Männer in dem Gedränge ihre Waffen nieder und brachten leise die Leiche in das Haus. Andere trennten sich von dem Haufen und entfernten sich zu Zweien oder Dreien, wieder andere flüsterten in Gruppen mit einander, und noch ehe eine zahlreiche Wache heran kam, um die Straße zu säubern, war sie fast leer.

Diejenigen, welche Meister Graham die Treppe hinauf nach einem Bette brachten, erschraken nicht wenig, als sie ein Weib mit zusammengeschlagenen Händen unter dem Fenster liegen sahen. Nachdem sie es umsonst versucht hatten, sie in's Leben zu rufen, legten sie dieselbe in der Nähe des Bürgers nieder, der noch immer mit seiner Rechten das erste und letzte Schwert, das an diesem Tage zu Lud Gate zerbrochen wurde, umfaßt hielt.


Der Riese sprach diese Schlußworte in großer Eile, und in einem Nu war das seltsame Licht, welches die Halle beleuchtet hatte, verschwunden. Joe Toddyhigh blickte unwillkührlich nach dem östlichen Fenster und gewahrte daselbst den ersten bleichen Strahl des Morgens. Dann sah er wieder nach dem andern Fenster, wo die Riesen gesessen hatten. Es war leer. Auch das Weinfaß war fort, und er konnte in der Dunkelheit nur so viel erkennen, daß die zwei großen Figuren stumm und regungslos auf ihren Postamenten standen.

Nachdem er sich die Augen gerieben und eine volle halbe Stunde verwundert hatte, während welcher Zeit der Morgen mit schnellen Schritten herangekommen war, gab er der Schläfrigkeit, welche ihn überwältigte, nach, und fiel in einen erfrischenden Schlummer. Als er wieder erwachte, war es heller Tag. Das Gebäude stand offen, und Arbeiter waren eifrig beschäftigt, die Spuren des Festgelages vom gestrigen Abend wegzuräumen.

Er stahl sich leise die kleine Treppe hinunter und gab sich das Ansehen irgend eines frühen Müssiggängers, der von der Straße hereingekommen war, indem er sich zu den Postamenten begab und abwechselnd deren Figuren mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. Die Züge derselben ließen ihm keinen Zweifel mehr: er erinnerte sich genau des Ausdruckes, welchen sie bei verschiedenen Stellen der Unterhaltung gezeigt hatten, und erkannte in jedem Zug, in jeder Linie die Riesen der entwichenen Nacht. Ueberzeugt, daß hier von keiner eingebildeten Vision die Rede sein könne, sondern daß er Alles mit seinen eigenen Sinnen gehört und gesehen hatte, ging er mit dem festen Entschlusse fort, sich am nächsten Abend auf jede Gefahr hin abermals in Guildhall zu verbergen. Auch nahm er sich vor, den ganzen Tag über zu schlafen, um recht wach und achtsam sein, und namentlich die Figuren in dem Augenblick beobachten zu können, wo sie beseelt würden und wieder in ihren früheren Zustand zurücksänken, denn er machte sich ernstliche Vorwürfe, daß er auf das Letztere nicht schon bei der entschwundenen Gelegenheit besser geachtet hatte.


Correspondenz.

An Master Humphrey.

»Sir!

»Ehe Sie in dem Berichte über Ihre Freunde und über das, was Sie bei Ihren Zusammenkünften thun und sprechen, fortfahren, mögen Sie mich entschuldigen, wenn ich auf die Erwählung für einen der leeren Stühle in Ihrem alten Zimmer Anspruch mache. Weisen Sie mich nicht ohne reifliche Erwägung zurück, denn Sie werden es hintendrein bereuen – ja, bei meinem Leben, Sie werden es bereuen.

»Ich schließe diesem Schreiben meine Karte bei. Ich habe mich noch nie meines Namens geschämt und werde es auch nie. Ich gelte allgemein als ein verteufelt gentlemanmäßiger Kerl und mache diesem Charakter Ehre. Wenn Sie Belege dafür wünschen, so erkundigen Sie sich bei den Mitgliedern unseres Clubs. Fragen Sie Jeden, der dahin kömmt, um seine Briefe zu schreiben, welcher Art meine Unterhaltung ist. Fragen Sie ihn, ob er wohl glaubt, daß meine Stimme für Ihren tauben Freund passen wird, wenn er überhaupt noch etwas hören kann. Fragen Sie die Bedienten, was sie von mir halten. Es ist keiner unter den Schurken, der nicht von dem bloßen Hören meines Namens zitterte. Dieß erinnert mich indeß – sprechen Sie nicht so viel von Ihrer Haushälterin: es ist ein gemeiner Gegenstand – verdammt gemein.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Sir. Wenn Sie mir Ihre Stimme für einen Ihrer leeren Stühle geben, so werden Sie einen Mann in Ihrer Gesellschaft haben, der einen Schatz von gentlemanischer Bildung besitzt, ob welchem Sie erstaunen werden. Ich kann ihnen etliche Anekdoten über einige schöne Frauen von Stand mittheilen – Frauen aus den höchsten Cirkeln der Gesellschaft. Ich kenne den Namen eines Jeden, der in den letzten fünfundzwanzig Jahren eine Ehrensache hatte. Ich kenne die Einzelnheiten eines jeden Haders und Streites, die in dieser Zeit bei Wettrennen, am Spieltisch oder sonst wo stattgefunden haben. Ich heiße nur die Chronik der Gentilität. Sie dürfen sich daher für sehr glücklich schätzen – bei meiner Seele, Sie können sich zu meiner Erwerbung gratuliren, obgleich ich selbst es sage.

»Es ist ein ungemein guter Gedanke von Ihnen, daß Sie Niemand wissen lassen, wo Sie wohnen. Ich habe es gleichfalls versucht, aber man hat sich immer so viel um mich gekümmert, daß man mich bald auffand. Ihr tauber Freund ist ein schlauer Bursche, daß er so geheim mit seinem Namen thut. Ich habe auch dieß versucht, es hat mir aber immer fehlgeschlagen. Ich werde mir's zur Ehre rechnen, seine Bekanntschaft zu machen – sagen Sie ihm dieß, nebst meinen Komplimenten.

»Sie müssen in Ihrer Kindheit ein schnurriges Käuzlein gewesen sein – verdammt schnurrig. Was Sie in Ihrem ersten Blatte nicht Wunderliches über das Gemälde geschrieben haben – zwar Prosa, aber verteufelt gentlemanmäßig erzählt. Bei derartigen Stellen könnten Sie mich nebst einem Zuge aus dem Leben mit großem Erfolg einführen – fühlen Sie das nicht?

»Ich erwarte mit Spannung Ihr nächstes Blatt, um zu erfahren, ob Ihre Freunde in Ihrem Hause und auf Ihre Unkosten leben, was, wie ich durchaus nicht zweifle, der Fall sein wird. Trügt mich diese Voraussetzung nicht, so kenne ich einen prächtigen Kerl (einen ausgezeichneten Gesellschafter), der stolz darauf sein würde, sich Ihrem Kreise anzuschließen. Vor einigen Jahren sekundirte er vielen Preiskämpfern und machte einmal auch aus Liebhaberei einen Handel auf eigene Faust ab; seitdem hat er mehrere Postwagen kutschirt, etlichemale alle Lampen auf der rechten Seite der Oxfordstraße zerschlagen, sechsmal alle Klingelgriffe in Bloomsbury-Sqare abgerissen und außerdem an mehreren sehr frequentirten Straßenkreuzungen das Gas abgedreht. Was das Gentlemanische anbelangt, hat er nicht seines Gleichen, und ich darf wohl sagen, daß er nächst mir am besten für Ihre Zwecke paßt.

»Ihrer Antwort entgegen sehend
zeichne ich mich

etc. etc.«

Master Humphrey meldet diesem Herrn, daß seinem Gesuche weder für ihn selbst, noch für seinen Freund entsprochen werden kann.


Master Humphrey von der Wanduhrseite seines Kaminwinkels.

Meine alte Gefährtin sagt mir, es sei Mitternacht. Das Feuer scheint helle und prasselt so laut und lustig, als habe es seine Freude daran, zu brennen. Die heitere Grille auf dem Herde (mein beständiger Gast), diese röthliche Flamme, meine Wanduhr und ich scheinen die Welt unter sich zu theilen und die einzigen wachen Wesen zu sein. Der eben noch hochgehende, brausende Wind ist dahingestorben und murmelt nur noch heiser in seinem Schlafe. Ich liebe alle Jahreszeiten der Reihe nach und bin vielleicht geneigt, die gegenwärtige für die beste zu halten; doch Vergangenheit oder Zukunft, – vorzugsweise liebte ich immer diese friedliche Nachtzeit, wenn lange begrabene Gedanken, begünstigt durch die Dunkelheit und das Schweigen, sich aus ihren Gräbern stehlen und um die Schauplätze entschwundenen Glückes und vergangener Hoffnung schweben.

Der volksthümliche Glaube an Geister hat eine merkwürdige Verwandtschaft mit dem ganzen Gange unserer Gedanken in einer solchen Stunde, und scheint ihre nothwendige und natürliche Folge zu sein. Denn wer kann sich wundern, daß der Mensch einen unbestimmten Glauben an Erzählungen von körperlosen Geistern hegt, welche durch einst theure Plätze wandern, wenn er selbst, kaum weniger als sie von seiner alten Welt getrennt, beharrlich bei entschwundenen Gefühlen und vergangenen Zeiten weilt, und der Geist seines früheren Ichs die Plätze und Menschen umschwebt, die in früheren Tagen sein Herz erwärmten? In dieser ruhigen Stunde geschieht es, daß ich in dem Hause einkehre, wo ich geboren wurde, und die Gemächer durchwandle, welche die Schauplätze meiner Kinder-, Knaben- und Jünglingsjahre waren; daß ich umherschweife bei meinen begrabenen Schätzen (obgleich sie nicht in Gold oder Silber bestehen), und um meinen Verlust traure; daß ich die Asche der erlöschten Feuer wieder besuche und mich stillschweigend neben den alten Bettstätten wieder aufstelle. Wenn mein Geist, nachdem mein Körper dem Staube anheimgefallen, je wieder zurückgleiten sollte zu diesem Gemach, so folgt er nur dem Zuge, den er so oft zu Lebzeiten des alten Mannes genommen, und fügt den Gegenständen seiner Betrachtung nur einen weitern Wechsel bei.

Bei all' meinen müßigen Gedanken finde ich eine kräftige Unterstützung in verschiedenen Sagen, die mit meinem ehrwürdigen Hause in Verbindung stehen; sie sind im Munde der Nachbarn und so zahlreich, daß es hier kaum einen Schrank oder einen Winkel gibt, der nicht seine eigene Schauergeschichte hätte. Als ich zuerst auf den Gedanken kam, hier meine Wohnung zu nehmen, wurde mir versichert, daß es vom Dache bis zum Keller spuke, und ich glaube, die üble Meinung, welche meine Nachbarn ehemals von mir unterhielten, hatte besonders darin ihren Grund, daß ich in der ersten Nacht nach meinem Einzuge nicht in Stücke zerrissen, oder mindestens vor Entsetzen wahnsinnig wurde; denn ohne Zweifel hätte ich in jedem dieser beiden Fälle auf dem kürzesten Wege den höchsten Gipfel der Popularität erreicht.

Doch abgesehen von allen Märchen und Gerüchten, – wer harmonirt so sehr mit allen meinen Gedanken und Träumereien, als mein lieber, tauber Freund? und wie oft habe ich Ursache, den Tag zu segnen, der uns Beide zusammenführte? Es thut mir in der Seele wohl, daß es von allen Tagen im Jahre gerade der Christabend sein mußte, mit dem wir von Kindheit auf immer etwas Freundliches, Herzliches und Wackeres verknüpfen.

Ich war ausgegangen, um mich an dem Glücke Anderer und an den kleinen Zeichen von Festlichkeit und Lust zu freuen, deren die Straßen und Häuser an diesem Tage so viel bieten, und hatte dabei bereits einige Stunden verloren. Auf einmal machte ich Halt, um mir eine heitere Gesellschaft zu betrachten, welche zu Fuß nach ihrem Zusammenkunftsorte durch den Schnee eilte, und wandte mich sodann um, um einer Kutsche voll Kindern nachzusehen, welche wohlbehalten vor dem willkommenen Hause abgesetzt wurden. Einmal betrachtete ich verwundert, wie sorgfältig der Arbeiter sein Kleines in dem bunten Federhut dahintrug und wie sein Weib, geduldig hinterdrein trabend, selbst der Sorgen für ihre Festtagskleider vergaß, wenn sie mit dem Kinde schäkerte, welches über des Vaters Schultern weg jubelte und lachte; ein andermal unterhielt ich mich mit irgend einer vorübergehenden Scene von Galanterie oder Courmacherei, und freute mich in dem Glauben, daß für diesen Abend wenigstens die halbe Welt der Armen froh war.

Als die Nacht einbrach, streifte ich noch immer durch die Straßen, denn ich fühlte Geselligkeit in den glänzenden Feuern, die ihren warmen Widerstrahl auf die Fenster warfen, an denen ich vorbeiging, und vergaß ganz meiner Einsamkeit, indem ich mir das frohsinnige Treiben, welches überall vorherrschte, vergegenwärtigte. Endlich blieb ich zufällig vor einem Wirthshause stehen, an dessen Fenster ich einen Speisezettel stecken sah, und dieß machte mich neugierig, zu erfahren, welche Art von Leuten allein im Gasthofe speisten.

Ich glaube, einsame Leute sind, ohne es selbst zu wissen, gewöhnt, die Einsamkeit als ihr ausschließliches Vorrecht zu betrachten. Ich hatte eine lange, lange Reihe von Jahren diesen großen Festtag allein in meinem Zimmer zugebracht, und ihn nie für etwas anderes, als für einen allgemeinen Freudentag betrachtet. Nur einen Haufen Gefangener und Bettler nahm ich, und zwar mit kummervollem Herzen, davon aus: aber dieß waren nicht die Leute, für welche Wirthshausthüren offen stehen. Waren wohl Gäste drinnen, oder diente der Speisezettel als bloße Förmlichkeit? Ohne Zweifel bloße Förmlichkeit.

Ich suchte mich zu dem letzteren zu bereden und ging weg; aber ehe ich noch wenige Schritte gekommen war, blieb ich stehen und sah zurück. Es lag so etwas Verführerisches in der Lampe über der Thüre, daß ich nicht widerstehen konnte. Ich begann zu fürchten, es möchten viele Gäste da sein, – junge Leute, vielleicht im Kampfe mit der Welt, Menschen, die wildfremd an diesem großen Orte waren, deren Freunde in weiter Entfernung wohnten, und deren Mittel zu gering waren, um zu denselben reisen zu können. Diese Vermuthung erzeugte in meinem Innern viele trübe Bilder, die ich nicht mit nach Hause tragen wollte, weßhalb ich es vorzog, keck der Wirklichkeit entgegen zu treten. Ich kehrte daher um und ging hinein. Ich war halb erfreut, halb that es mir leid, nur eine einzige Person in dem Speisezimmer zu finden, – erfreut, zu sehen, daß es nicht mehr waren, und leid that es mir, denken zu müssen, daß er so ganz allein da saß. Er sah nicht so alt aus als ich, aber dennoch stand er, wie ich, in einem weit vorgerückten Lebensalter, wie denn auch seine Haare fast weiß waren. Ich machte zwar bei meinem Eintreten und Platznehmen mehr Geräusch, als gerade nöthig war, weil ich hoffte, seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen und ihn sodann in der guten alten Form dieser Jahreszeit begrüßen zu können; er erhob jedoch seinen Kopf nicht, sondern ließ denselben auf seiner Hand ruhen, und hatte sich bei seinem halbbeendigten Mahle in Nachdenken verloren.

Ich ließ mir etwas geben, um dadurch Anlaß zu erhalten, in dem Zimmer zu bleiben, (ich hatte früh gespeist, weil meine Haushälterin auf den Abend von einer guten Freundin zu einem Festmahle eingeladen war), und setzte mich an eine Stelle, wo ich meine Beobachtungen anstellen konnte, ohne dem Fremden lästig zu fallen. Nach einer Weile blickte er auf. Er bemerkte, daß Jemand eingetreten war, konnte aber nur sehr wenig von mir sehen, da ich im Schatten und er im Lichte saß. Er war traurig und gedankenvoll, und so hütete ich mich, ihn durch eine Ansprache zu stören.

Ich möchte gerne glauben, daß es etwas Besseres als Neugierde war, was meine Aufmerksamkeit anzog und mich gewaltig zu diesem Herrn hintrieb, denn nie sah ich ein so geduldiges und freundliches Gesicht. Er hätte sollen von Freunden umgeben sein, und doch saß er hier – niedergeschlagen und allein, wo doch alle Menschen die Ihrigen um sich versammelt hatten. So oft er aus seiner Träumerei erwachte, versank er wieder in dieselbe, und es war klar, – was auch immer der Gegenstand seiner Gedanken sein mochte, sie waren schwermüthiger Art und wollten sich nicht niederkämpfen lassen.

Er war nicht an die Einsamkeit gewöhnt. Ich gewann bald diese Ueberzeugung, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, daß andern Falls sein Benehmen hätte verschieden sein müssen, weil er dann gewiß wenigstens einiges Interesse an der Ankunft eines Fremden genommen haben würde. Auch entging es mir nicht, daß er keinen Appetit hatte, denn er versuchte vergeblich, zu essen, schob von Zeit zu Zeit den Teller bei Seite und sank dann in seine frühere Haltung zurück.

Sein Geist weilte, wie ich mir dachte, bei früheren Weihnachtsabenden. Viele davon tauchten nach einander auf, nicht mit einer weiten Kluft zwischen jedem, sondern in einer ununterbrochenen Reihenfolge, wie die Tage einer Woche. Er mochte es wohl ganz anders finden, das Erstemal (denn es war für mich eine ausgemachte Sache, daß es das Erstemal sein mußte,) in einem stillen, leeren Zimmer zu sitzen, ohne sich um eine Seele kümmern zu können. Ich konnte mich nicht entbrechen, ihm in Gedanken durch Reihen angenehmer Gesichter zu folgen, und dann mit ihm nach diesem trübseligen Ort mit seinem Mistelzweig, der in den Dünsten der Gaslampe hinwelkte, und seinen Stechpalmästen, die bereits durch einen Samum von Dämpfen des Gesottenen und Gebratenen ganz ausgetrocknet waren, zurückzukehren. Sogar der Kellner war in seiner Heimath auf Besuch, und sein Amtsverweser, ein armer, magerer, ausgehungerter Mann, hielt Weihnachten im Wammse.

Ich nahm immer größeres Interesse an meinem Freunde. Seine Mahlzeit war vorbei; die Flasche Wein, welche man ihm vorgesetzt hatte, blieb lange unberührt stehen, bis er endlich mit bebender Hand ein Glas füllte und es an seine Lippen brachte. Irgend ein zarter Wunsch, dem er sonst an diesem Tage Worte zu leihen pflegte, oder irgend ein theurer Name, dem er einen Toast zu bringen gewöhnt war, zitterte einen Augenblick auf demselben. Er stellte das Glas rasch nieder, – erhob es noch einmal, – stellte es wieder hin, – drückte die Hand vor sein Gesicht, – ja – und Thränen stahlen sich ihm die Wangen herunter, deß bin ich gewiß.

Ohne mich mit einer Ueberlegung aufzuhalten, ob ich recht thue oder nicht, ging ich durch das Zimmer, setzte mich an seiner Seite nieder und legte leise meine Hand auf seinen Arm.

»Mein Freund,« begann ich, »Verzeihung, wenn ich Sie bitte, von den Lippen eines alten Mannes Trost und Zuspruch anzunehmen. Seien Sie versichert, daß ich Ihnen nichts vorzupredigen gedenke, was ich nicht durch Erfahrung erprobt habe. Welcher Kummer Sie auch drücken möge, lassen Sie den Muth nicht sinken, – ich bitte, seien Sie guten Muths.«

»Ich sehe,« versetzte er, »daß es Ihnen Ernst ist, und bin fest überzeugt, daß Sie es gut meinen; aber –«

Ich nickte mit dem Kopfe, um ihm dadurch anzudeuten, daß ich wohl wisse, was er sagen wolle, denn ich hatte bereits aus einem gewissen gespannten Ausdrucke seines Gesichtes und aus der Aufmerksamkeit, womit er mich während meiner Worte beobachtete, entnommen, daß sein Gehörsinn mangelhaft war.

»Es sollte eine Art Freimauerei zwischen uns bestehen,« sagte ich, indem ich von ihm auf mich deutete, um ihm meine Worte verständlicher zu machen, – »wenn auch nicht um unserer grauen Haare, so doch um unseres Mißgeschickes willen. Sie sehen, daß ich nur ein armer Krüppel bin.«

Ich habe mich bei meinem Leiden, seit dem schweren Augenblicke, da es mir zuerst in's Bewußtsein kam, nie so glücklich gefühlt, als in jener Stunde, in welchem er mit einem Lächeln, das seitdem freundlich meinen Lebenspfad erleuchtet, meine Hand ergriff und wir so Seite an Seite beisammen saßen.

So nahm meine Freundschaft mit dem tauben, alten Herrn ihren Anfang, und wann ward je der leichte und unbedeutende Dienst eines zur rechten Zeit gesprochenen freundlichen Wortes mit solcher Liebe und Anhänglichkeit vergolten, als wie er sie mir erwiesen hat?

Er brachte ein aus Pergamentblättern bestehendes Büchlein nebst einem Bleistift zum Vorschein, um uns bei dem Beginne unserer Bekanntschaft gegenseitig den Verkehr zu erleichtern, und ich entsinne mich noch recht wohl, wie ungeschickt und verlegen ich mich benahm, wenn ich meinen Antheil an dem Gespräch niederschrieb, während er mit der größten Leichtigkeit das, was ich sagen wollte, errieth, noch ehe ich es zur Hälfte aufgezeichnet hatte. Er theilte mir mit bebender Stimme mit, daß er nicht gewöhnt sei, diesen Tag allein zuzubringen, sondern daß er sonst immer einen kleinen festlichen Zirkel um sich versammelt gehabt hätte; und als er bemerkte, daß ich auf seinen Anzug blickte, ob er etwa Trauerkleider trüge, fügte er hastig bei, dieß sei es nicht, denn wenn es wäre, so glaube er, er würde es leichter ertragen können. Von jener Zeit an bis auf diesen Augenblick haben wir den Gegenstand nicht wieder berührt. Wir sind zwar seitdem bei jeder Wiederkehr desselben Jahrestages beisammen gewesen, und obgleich wir uns nach der Mahlzeit Hand in Hand zuzutrinken pflegen und mit freundlicher Geschwätzigkeit jeden Umstand unseres ersten Zusammentreffens zurückrufen, so vermeiden wir doch diesen einen Punkt, als bestünde darüber eine Uebereinkunft zwischen uns.

Inzwischen haben wir nicht unterlassen, unsere gegenseitige Freundschaft und Achtung zu kräftigen, und es entspann sich unter uns eine so innige Anhänglichkeit, daß ich zuversichtlich glaube, der Tod wird sie nur auf eine kleine Weile unterbrechen, um sie in einem andern Dasein ungestört fortdauern zu lassen. Ich weiß kaum, wie es mit unserem Verkehre zugeht, aber er hat längst aufgehört, für mich taub zu sein. Er ist häufig der Genosse meiner Spaziergänge, und selbst in den überfülltesten Straßen beantwortet er mir den unbedeutendsten Blick, die geringste Geberde, als könnte er meine Gedanken lesen. Aus der ungeheuren Zahl von Gegenständen, welche in rascher Reihenfolge vor unsern Augen vorbeigleiten, wählen wir häufig einen und denselben für unsere Beobachtungen und Bemerkungen aus, und wenn sich einer dieser kleinen Zufälle ereignet, so strahlt wenigstens für eine halbe Stunde ein Zug von Freude über sein Antlitz, den ich nicht zu beschreiben vermag.

Das häufige Einkehren in sein Inneres hat ihn zu einem tiefen Denker gemacht, und durch seine lebhafte Einbildungskraft wird es ihm leicht, seltsame Ideen zu erfassen und anzuspinnen, – ein Umstand, durch den er für unsere kleine geschlossene Gesellschaft unschätzbar wird und unsere beiden Freunde oft in großes Erstaunen versetzt. Wesentliche Unterstützung verleiht ihm hiebei eine große Pfeife, die, seiner Versicherung zufolge, vordem das Eigenthum eines deutschen Studenten war. Mag dem nun sein, wie ihm wolle, – jedenfalls hat sie ein sehr alterthümliches und geheimnißvolles Aussehen, und ihr Umfang ist so bedeutend, daß er vierthalb Stunden braucht, um sie auszurauchen. Ich habe Grund, zu glauben, daß mein Barbier, der die Hauptautorität eines Häufleins von Klatschbrüdern ist, welche sich jeden Abend hart neben uns in dem Laden eines kleinen Tabakhändlers versammeln, von dieser Pfeife und den auf den Kopf geschnitzten wunderlichen Figuren Anekdoten erzählte, ob denen allen Rauchern der Nachbarschaft die Haare zu Berge standen, und ich weiß, daß meine Haushälterin, obgleich sie das genannte Rauchinstrument in hohen Ehren hält, doch hinsichtlich desselben ein gewisses unheimliches, abergläubisches Gefühl nicht unterdrücken kann, vermöge dessen sie nur ungerne nach Eintritt der Dunkelheit allein mit demselben im Zimmer bleiben würde.

Welcher Kummer auch mein tauber Freund erlebt haben, welcher Schmerz noch in irgend einem geheimen Winkel seines Herzens weilen mag, – jetzt ist er ein heiteres, gefälliges, glückliches Wesen. Unglück kann auf einen solchen Mann nur gute Wirkungen üben, und wenn ich den Spuren desselben in seinem edlen Wesen und seiner ernsten Gemüthlichkeit folge, so kann ich um so weniger über die Heimsuchungen murren, die mir selbst widerfahren sind. Hinsichtlich der Pfeife habe ich mir eine eigene Theorie erdacht; ich kann mich nämlich des Gedankens nicht erwehren, daß sie einigermaßen mit dem Anlasse, der uns zusammenführte, in Verbindung steht, denn ich erinnere mich, daß es geraume Zeit anstand, ehe er überhaupt nur von ihr sprach; als er es aber that, geschah es mit vieler Zurückhaltung und in einer wehmüthigen Stimmung, und dann währte es wieder eine ziemliche Weile, bis er sie wieder zum Vorschein brachte. Neugierde macht mir übrigens hinsichtlich dieses Punktes nichts zu schaffen, denn ich weiß, daß die Pfeife zu seiner Ruhe und seinem Seelenfrieden beiträgt, und eines weiteren Grundes bedarf es nicht, um ihr meine höchste Gunst zu Theil werden zu lassen.

So verhält sich's mit dem tauben Herrn. Ich kann jetzt seine Gestalt hervorrufen, wie sie, in bescheidenes Grau gekleidet in der Kaminecke sitzt. Wenn er den Rauch aus seiner Lieblingspfeife pafft, wirft er mir einen Blick zu, übervoll von Herzlichkeit und Freundschaft und erzählt mir mit frohem Lächeln die freundlichsten und gemüthlichsten Dinge; dann erhebt er die Augen zu meiner Wanduhr, die eben im Begriffe ist, zu schlagen, blickt von ihr auf mich zurück und scheint sein Herz zwischen mir und ihr zu theilen. Was mich anbelangt, so ist es nicht zu viel behauptet, wenn ich sage, daß ich mich gerne von einem meiner armen Glieder trennen wollte, wenn er nur die Stimme der alten Uhr hören könnte.

Von unsern zwei Freunden war der erste sein Leben lang einer jener bequemen, wunderlichen Müssiggänger, von denen die Welt zu sagen pflegt, sie seien Niemands Feinde, als die eigenen. Für einen Beruf erzogen, der nicht für ihn paßte, und in der Aussicht auf ein Vermögen herangewachsen, das er nie erbte, hatte er alle Wechselfälle durchgemacht, deren ein solches Dasein fähig ist. Er war nebst seinem jüngeren Bruder (da sie schon als Kinder ihre Eltern verloren hatten) von einem reichen Verwandten erzogen worden, welcher sie an den Gedanken gewöhnte, daß sie sich dereinst in seine Habe theilen dürften; aber zu träge, um dem Vetter den Hof zu machen, und zu ehrlich, um ihm zu schmeicheln, verlor der ältere Bruder allmählich immer mehr und mehr die Gunst des launenvollen alten Mannes, und der jüngere, welcher nicht versäumte von der Gelegenheit Vortheil zu ziehen, triumphirt jetzt in dem Besitze eines ungeheuren Reichthums. Sein Triumph besteht indeß darin, daß er seine Schätze in erbärmlicher Abgeschiedenheit hütet und wahrscheinlich bei der Ausgabe eines jeden Shillings einen größeren Schmerz fühlt, als sein Bruder je über den Verlust der ganzen Erbschaft empfand.

Jack Redburn – er war schon in der Kinderschule, wo man jedes andere Kind mit Master und seinem Zunamen titulirt, ›Jack Redburn‹, und blieb es sein ganzes Leben lang, sonst wäre er wohl ein reicher Mann geworden – Jack Redburn ist seit den letzten acht Jahren mein Hausgenosse. Er versieht die Stelle meines Bibliothekars, meines Sekretärs, meines Hausmeisters, meines ersten Ministers – kurz er ist der Direktor aller meiner Angelegenheiten und der Generalinspektor meines Haushaltes. Er ist etwas musikalisch, schriftstellert ein wenig, hat etwas von einem Schauspieler, malt ein Bischen, ist kein übler Zimmermann und ein vortrefflicher Gärtner, da er sein ganzes Leben über ein wundervolles Geschick für Alles besaß, was ihm nichts nützte. Er hat Kinder sehr gerne und ist der beste und freundlichste Krankenwärter, den man nur immer finden kann. Er hat mit allen Abstufungen der Gesellschaft verkehrt und das Leben in seiner äußersten Bedrückung gesehen, doch gab es nie einen weniger selbstsüchtigen, einen gefühlvolleren, enthusiastischeren und argloseren Menschen, und ich darf sagen, wenn auch nicht Viele weniger Gutes gethan haben, als er, so gibt es doch auch nicht Viele, die weniger Uebles in der Welt anstifteten. Ich weiß nicht, welche Laune der Natur solche wunderliche Abweichungen erzeugen mag: so viel aber weiß ich, daß sie nicht selten sind, und daß der König dieser ganzen Rasse Jack Redburn ist.

Ich wäre nicht wenig verlegen, wenn man sein Alter von mir zu wissen verlangte. Seine Gesundheit ist keine von den besten; auch sticht das Haar, welches sein Gesicht beschattet, stark in's Eisengraue und giebt ihm ein ziemlich abgelebtes Aeußere. Demungeachtet aber betrachten wir ihn als einen ganz jungen Burschen, und wenn ein jugendlicher Geist, der die rauheste Berührung mit der Welt überlebt hat, seinem Besitzer einen Anspruch auf dieses Prädicat verleiht, so ist Jack Redburn sogar ein Kind zu nennen. Die einzigen Störungen seiner sorglosen Heiterkeit sind regnerische Sonntage, an denen er gerne ungemein religiös und feierlich wird, oder allenfalls ein Abend, wenn er auf seiner Flöte eine besonders schwermüthige Weise geblasen hat. Bei letztgenannten Anlässen hat er eine gewisse Vorliebe für's Geheimnisvolle oder Schreckliche. Als einen Beweis von der Gewalt dieser Stimmung verweise ich meine Leser auf die dem Uhrkasten entnommene Erzählung, welche auf den nächsten Blättern folgt. Er brachte sie mir erst kürzlich in der Mitternachtsstunde und teilte mir mit, der Hauptstoff sei einem Traume entnommen, welchen er in der letzten Nacht gehabt habe.

Seine Wohnung besteht aus zwei freundlichen, nach dem Garten hinaussehenden Zimmern, und es gehört zu seinen Hauptvergnügungen, das Möbelwerk derselben zu ordnen und wieder zu ordnen, so daß es schon alle nur erdenkliche Stellungswechsel hat durchmachen müssen. Während der ganzen Zeit seines Hierseins hat er, glaube ich, keine zwei Nächte mit dem Kopfe an derselben Stelle geschlafen, und so oft er eine Aenderung vornimmt, ist es auch gleich wieder zu Ende mit derselben. Meine Haushälterin wollte im Anfang fast närrisch werden über diese unablässigen Wechsel; doch fand sie sich allmählich darein und harmonirt nunmehr so gut mit ihrem Hausgenossen, daß sie sich oft ganz ernsthaft darüber berathen, welche Schlußveränderung zunächst vorgenommen werden solle. Wie immer jedoch diese Vorkehrungen sein mögen – stets sind sie ein Muster von Nettigkeit, und jeder der vielen mit seinen mannigfaltigsten Beschäftigungen in Verbindung stehenden Gegenstände findet sich an einem eigenen ganz passenden Plätzchen. Bis vor zwei oder drei Jahren war er einem gelegentlichen Anfalle unterworfen, der ihn gewöhnlich bei dem schönsten Wetter heimsuchte und in Folge dessen er sich mit besonderer Sorgfalt kleidete; er ging dann unter dem Vorwande eines Spazierganges aus und kam mehrere Tage nicht wieder zum Vorschein. Diese Anfälle von Unordnung machten endlich immer länger und längere Intermissionen, bis sie endlich ganz und gar ausblieben, und nun geht er selten aus, außer etwa an einem schönen Sommerabend, wo er ein wenig im Freien umherstreicht. Ob er noch immer in dieser Hinsicht seiner Beharrlichkeit nicht recht traut und sich deßhalb scheut, einen ordentlichen Rock zu tragen, weiß ich nicht; aber wir sehen ihn selten in einem andern Obergewand, als in einem alten gespensterartig aussehenden Hauskleid mit unverhältnißmäßig großen Taschen, welche stets mit einer Sammlung von Raritäten gefüllt sind, die er aufliest, wo er ihrer habhaft werden kann.

Was unserem Freunde theuer ist, steht auch unserem Herzen nahe, und so trifft es sich, daß der Vierte unter uns Herr Owen Miles ist – ein sehr würdiger Mann, der Jack mit viel Liebe behandelte, ehe der Letztere durch Zufall mir und meinem tauben Freunde in den Weg geführt wurde, was ich bei einer späteren Gelegenheit erzählen werde. Herr Miles war vordem ein reicher Kaufmann; als ihm jedoch der Tod seiner Gattin einen herben Schlag versetzte, zog er sich vom Geschäft zurück und wählte ein ruhiges, anspruchsloses Leben. Er ist ein ausgezeichneter Mann von durchaus gediegenem Charakter, obgleich nicht von der schnellsten Fassungsgabe; auch hegt er einige unterhaltliche Vorurtheile, deren Entfaltung wir jedoch nicht vorgreifen wollen. Er hat vor uns eine hohe Achtung, aber den Jack Redburn betrachtet er als eine Art angenehmes Wunder, dem er sich vertraulich zu nähern wagt. Er glaubt nicht nur, daß nie ein Mensch lebte, der so viel zu leisten im Stande war, sondern daß auch Keiner Alles so geschickt zu thun vermochte, als Jack, und lenkt nie meine Aufmerksamkeit auf irgend etwas von seinem sinnreichen Thun und Treiben, ohne mich an den Ellbogen zu stoßen und mir ins Ohr zu flüstern – »Wenn er es nur zu seinem Gewerbe gemacht hätte, Sir – wenn er es nur zu seinem Gewerbe gemacht hätte!« –

Sie sind unzertrennliche Gefährten. Man könnte fast glauben, Jack sei nicht im Stande, etwas ohne Herrn Miles zu thun, obgleich dieser ihm nie Beihilfe leistet. Er mag lesen, schreiben, malen, zimmern, im Garten arbeiten, Flöte spielen oder was immer treiben, so ist Herr Miles an seiner Seite, bis an's Kinn in seinen blauen Rock geknöpft und mit einem Gesichte voll ungläubigen Entzückens zusehend, als könne er dem Zeugniß seiner eigenen Sinne nicht trauen und als habe er sein Bedenken, ob Jemand anders, als im Traume so geschickt sein könne.

Dieß sind meine Freunde: ich habe jetzt sowohl sie, als mich selbst eingeführt.



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